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Stefan Blankertz
Waffen kreuzen in der Gestalttherapie?
Ein Interview


Aus der Gestaltkritik 1/2013:

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus Gestaltkritik 1/2013:

Stefan Blankertz
Waffen kreuzen in der Gestalttherapie?
Ein Interview

Stefan Blankertz (Foto: Horst ter Haar, 2010 im GIK)
Stefan Blankertz (Foto: Horst ter Haar, 2010 im GIK)

Bitte beachten Sie auch das Buch von Stefan Blankertz zum Thema: »Verteidigung der Aggression. Gestalttherapie als Praxis der Befreiung« und die zahlreichen Beiträge des Autors in unserer Zeitschrift "Gestaltkritik" (alle Texte in voller Länge online).
Nach dem Erscheinen von Stefan Blankertz Buch »Verteidigung der Aggression. Gestalttherapie als Praxis der Befreiung« hat Marko Strab bereits ein Interview mit Stefan Blankertz geführt, das wir in Gestaltkritik 1/2011 veröffentlicht haben: »Wie kann man die Aggression verteidigen?«.
Der Herausgeber

Marko Strab: In der DVG-Zeitung "Gestalttherapie" 1/2013 ist ein Artikel von dir, Stefan, erschienen unter dem geheimnisvollen Titel "Der Waffengang". Ihm sind gleich zwei heftige Entgegnungen an die Seite gestellt, eine von Eberhard Fehrmann und eine von Albrecht Boeckh. Das ist ungewöhnlich. Kränkt dich das?

Stefan Blankertz: Im Gegenteil, ich freue mich darüber, dass endlich eine Diskussion mit offenem Visier anstatt eines unwürdigen Schattenboxens um den Aggressionsbegriff in der Gestalttherapie zu beginnen scheint.

Strab: Kannst du kurz umreißen, worum es in dieser Diskussion geht oder nach deiner Meinung gehen sollte?

Blankertz: Seit einigen Jahren stellen Hilarion Petzold und Frank-M. Staemmler ein zentrales Theorem der Gestalttherapie, das zur positiven Notwendigkeit der Aggression für ein gesundes und glückliches Leben, in Frage. Damit berühren sie meines Erachtens die Identität der Gestalttherapie. Verschiedentlich habe ich die Aggression verteidigt. In dem Essay "Der Waffengang" ist der Aufhänger ein Amoklauf Ende letzten Jahres in den USA und der flugs daraus gezogene Schluss, jetzt müsse der private Waffenbesitz verboten werden. Ich dagegen verteidige das Recht des privaten Waffenbesitzes. Das ist wohl der Trigger, der Gestalttherapeuten erkennen lässt, dass sie einer Richtung angehören, die ursprünglich gegen den Mainstream schwimmt.

Strab: Ein politisches Thema …

Blankertz: Die Gestalttherapie ist politisch oder sie ist nicht. Und zwar politisch im Sinne der Parteinahme für das Individuum und seine freiwillige Vergesellschaftung gegen staatliche Überwältigung.

Strab: Deine Kritiker sehen dich ganz anders im Fahrwasser des neokonservativen, staatszerstörenden, asozialen, waffenstarrenden Mainstreams, gegen den die sozialen Funktionen des Staates und der erreichte Grad an Zivilisiertheit bewahrt werden müsse. Der Titel deines Aufsatzes, "Der Waffengang", enthält eine Anspielung auf Ernst Jüngers Essay "Der Waldgang". Eberhard Fehrmann zitiert verschiedene Quellen, die sagen, dass Ernst Jünger als "Totengräber der Weimarer Republik" zu gelten habe, und er bedauert die Verbindung zwischen Gestalttherapie und der jüngerschen Kriegsverherrlichung. Hast du noch nicht genug Gegenwind, Stefan? Musste das sein, dass du zusätzlich den mindestens heftig umstrittenen Ernst Jünger ohne Not mit ins Boot geholt hast?

Blankertz: Die völlige Ahnungslosigkeit von Fehrmann in diesem Punkt hat mich echt aus den Latschen gekickt. Niemand muss sich mit Ernst Jünger auskennen, aber dann sollte man gefälligst die Klappe halten.

Strab: Da werde ich noch nicht schlau draus.

Blankertz: Entschuldigung, Marko, da sind mir die Pferde durchgegangen. Also der Reihe nach. "Der Waldgang" von Ernst Jünger ist 1951 veröffentlicht worden, also nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist eine Theorie totalitärer Systeme. Was das Establishment der jungen Bundesrepublik daran irritiert hat und bis heute irritiert, ist, dass Jünger nicht nur die Erfahrungen von Nationalsozialismus und Bolschewismus verarbeitet, sondern auch keinen Unterschied zur Demokratie macht.

Strab: Das ist ja auch eine herbe Herausforderung. Das gleiche kreiden dir ja auch Fehrmann und Boeckh an, nämlich dass du den Staat als Leviathan, als Monster charakterisierst und nicht zwischen totalitären Systemen und der demokratisch verfassten Bürgergesellschaft unterscheidest. Ganz ad personam bemerkt Fehrmann: "Herr Blankertz aber lebt in der Bundesrepublik und wird dort von braven Hütern des Gesetzes geschützt." Du als ausgewiesener Staatskritiker lebst und publizierst unbehelligt. Ist das nicht ein netter und lieber Vater Staat, behütend, gütig, sorgend, und auch gegenüber spätpubertären Eskapaden nachsichtig?

Blankertz: In der Tat ist es angenehmer in einem solchen Staat zu leben, als verfolgt, gefoltert und ermordet zu werden. Aber es gab mal eine Zeit, in der wusste man dies als "repressive Toleranz" zu erkennen. Ich möchte noch die Sache mit Ernst Jünger weiterspinnen, an ihr wird einiges deutlich. Ernst Jünger hat sich als 18-Jähriger freiwillig zum Dienst im Ersten Weltkrieg gemeldet, um einem langweiligen Zivilleben und vor allem der ungeliebten Schule zu entfliehen, um "etwas zu erleben", wie er in seinem Tagebuch notierte. Das stimmt genau mit Goodmans Theorie darüber überein, warum Menschen beim Krieg, dem "Massenselbstmord ohne Schuldgefühl", mitmachen. In Jüngers Kriegstagebuch findet sich kein einziges nationalistisches Wort; er ist auch der militärischen Hierarchie und Disziplin gänzlich indifferent gegenüber. Es geht ihm nicht um Vaterlandsverteidigung, in dessen Taumel etwa auch Martin Buber eingestimmt hat und aus dem ihn sein Freund Gustav Landauer, ein Anarchist, erst später herausholen konnte. Zugegeben ist Jüngers Stellung zwischen den Weltkriegen dubios. Er engagiert sich in konservativen Kreisen, allerdings ist er nie Nationalsozialist. Dass Adolf Hitler sein Kriegsbuch "In Stahlgewittern" toll fand, daran ist Jünger vielleicht nicht ganz unschuldig, aber vor allem hat es ihm später nicht weniger als sein Leben gerettet. Jünger hatte enge Kontakte zu Widerstandskreisen und wäre, wäre er nicht von dieser gleichsam irrationalen Wertschätzung Hitlers geschützt worden, höchstwahrscheinlich hingerichtet worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg widmet sich Jünger ganz des essayistischen und literarischen Auslotens der in einem totalitären Gesellschaftsgeflecht übrig gebliebenen Schlupflöcher für individuelles ethisches Verhalten. Ich glaube, dass sein "soldatischer" Anspruch, immer dem eigenen Gewissen und nie dem Befehl zu gehorchen, zwar ehrenwert ist und in der Tradition der Philosophie des Thomas von Aquin steht, aber eben nie "soldatisch" gewesen ist. Das ist ein großer Irrtum von Jünger, eine Illusion oder eine Utopie, wie man es nimmt, aber es ist keineswegs ehrenrührig, sich darauf zu beziehen. Und wenn die Führer der demokratischen Nationen dazu übergehen, Krieg mit unbemannten Drohnen zu führen, nehmen sie die Möglichkeit zu ethischem Handeln und zu individueller Verantwortung, zu einem lebendigen Gewissen völlig weg.

Strab: Puh, starker Tobak ...

Blankertz: Bitte, noch eine Erinnerung von mir dazu. Einer meiner Geschichtslehrer, ein echt konservativer Knochen, irgendwie ein kleiner Ernst Jünger, war im Zweiten Weltkrieg Stukaflieger. Er erzählte, wie er sich auf einen russischen Unterstand zustürzen lässt, abdrücken will, während der russische Soldat merkt, dass seine Flak Ladehemmung hat. Völlig in Rage verlässt er seinen Unterstand und läuft mit beballter Faust auf das nahende Stuka an. Mein Lehrer sagte, dass er, befehlswidrig, ohne zu schießen beigedreht habe. Das hat mich schon damals als linksradikalen Schüler schwer beeindruckt. Eine von Obamas Drohnen hätte geschossen. Noch ein Beispiel: 1905 brach der Sozialrevolutionär Kaljajew ein Attentat auf Großfürst Romanow ab, nachdem er bemerkte, dass dessen Frau und die jungen Neffen ebenfalls in der Kutsche saßen. Eine von Obamas Drohnen hätte geschossen.

Strab: Hat diese politische Diskussion noch etwas mit Gestalttherapie zu tun?

Blankertz: O ja, Marko, jedenfalls wenn es die Gestalttherapie von Paul Goodman, von Lore und Fritz Perls ist.

Strab: Und was?

Blankertz: Die Begründungsmütter und -väter der Gestalttherapie waren in der an Wilhelm Reich anknüpfenden Freudtradition auf der Suche nach einer Methode, um die psychosomatischen Folgen der Überwältigung des Individuums durch soziale Gewalt so weit zu mildern, dass sie Widerstandskraft entwickeln können. 2011 in Wien auf dem Kongress der deutschsprachigen Gestaltverbände zur Goodmans 100. Geburtstag habe ich gesagt, dass dieser Ansatz von Goodman (und ich sehe nicht, dass es in diesem Punkte einen Dissens zu Fritz oder Lore gegeben habe), nicht etwa anachronistisch sei, sondern aktueller denn je: Der Staat ist inzwischen in damals unvoraussehbarerweise gewachsen. Man (oder frau) hat es angehört und genickt und ist darin fortgefahren, über den bedauerlichen Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung zu klagen. Jetzt mache ich es an einem konkreten Beispiel klar, am privaten Waffenbesitz, weise darauf hin, wie viel Gewalt der Staat einsetzen muss, um so etwas durchzusetzen, und sie schreien "Aua!". Gut, Botschaft angekommen. Auf welcher Seite stehen die Gestalttherapeuten heute? Die Zahl der Opfer von Wohlfahrtsbürokratie nimmt zu, Kriege werden permanent geführt, wieder haben wir tausende von traumatisierten Soldaten, die aus Afghanistan zurückkehren, "die" Gesellschaft und auch unsere tapferen Gestalttherapeuten schließen die Augen, weil es ja ein demokratischer Staat ist, der da tötet; täglich hungern weiterhin Millionen Menschen, die Krise kommt in Europa an, Griechenland, Spanien und so weiter …

Strab: Aber ist die Krise, wenn ich deinen Wutausbruch mal unterbrechen darf, Stefan, nicht das Ergebnis von neoliberalem Wildwest, gegen die der Staat eingreifen muss? Ist die Krise nicht das Ergebnis von unregulierten Märkten, Kapitalismus? Boeckh etwa rekurriert auf den "unkontrollierten Finanzkapitalismus".

Blankertz: Mit Verlaub, Marko. Das Geldwesen hat nun gar nichts mit Markt oder Kapitalismus zu tun, es ist in Staatshand. Und genau das ist das Ziel des Staates, dass die Menschen die von ihm produzierten Krisen dem Markt, dem Kapitalismus, der Freiheit zuschreiben, und ihn zur Hilfe rufen. Das perfekte System für Staatswachstum.

Strab: Aber ist das nicht ein Luxusstandpunkt desjenigen, der in einem staatlich befriedeten Land lebt, wie Boeckh schreibt: "Wer in Ländern lebt, in welchen der Schutz des Staates nicht über die Zentren der Städte hinausreicht, wird sich über die Leichtfertigkeit wundern, mit der Stefan Blankertz in seinem Artikel aus anarchistisch-libertärer Tradition heraus das Gewaltmonopol des Staates als ein dem Amoklauf ähnliches Phänomen betrachtet."

Blankertz: Dieser Satz folgt genau dem Muster, das ich ansprechen wollte: Kernlegitimation des Staates nach allen Staatstheorien ist es, inneren und womöglich auch äußeren Frieden zu sichern. Wenn ihm das nicht gelingt, soll das ein Aufruf sein, mehr von dieser Institution, die ihrer (angeblichen) Aufgabe nicht nachkommt, die an ihr scheitert, zu schaffen, anstatt nach Alternativen zu suchen? Das ist, was Goodman als pragmatischer Anarchist nicht verstehen konnte: Da klagen die Menschen über Schulen, über Kriminalität auf den Straßen, über Jugendarbeitslosigkeit, und alles, was erlaubt ist, ist über eine Ausweitung derjenigen Institutionen zu sprechen, die das verbockt haben. Dabei war Goodman ja ganz wenig radikal, er wollte nicht das ganze System umstürzen, außer den militärisch-industriellen Komplex abschaffen, sondern einfach erreichen, dass hier und da das Experimentieren mit Alternativen erlaubt werde. Die einzige Korrektur, die ich nach der zwischenzeitlichen Erfahrung an der politisch-therapeutischen Sozialphilosophie Goodmans anbringen möchte, lautet, dass der Staat diese Freiheit nicht gewähren kann, weil sie seinen Bestand gefährdet. Er kann alle Vorschläge integrieren, wenn sie im Rahmen seiner Institutionen durchgeführt werden, aber nichts außerhalb von ihnen. Da hatte Goodman ein Illusion; er sagte, "der Präsident ist mein Angestellter".

Strab: Im Übrigen geht Boeckh mehr als Fehrmann auf die Diskussion der Aggressionstheorie ein. Dass mit der positiven Aggression, dem "Kerndogma der Gestalttherapie", "prinzipiell alle Formen des Kontaktes und der Interaktion von Organismus und Umwelt" beschrieben werden, hält er für einen "Geburtsfehler der Gestalttherapie-Theorie". Mit der Aggression würden die sozialen Beziehungen "nicht, bzw. nicht in ihren wesentlichen Aspekten beschrieben". Dagegen sollten die Gestalttherapeuten Lore Perls, Gary Yontef, Erhard Doubrawa und Frank Staemmler folgen und im Sinne Bubers den "Beziehungsaspekt" deutlicher im den Vordergrund stellen.

Blankertz: Ja, Boeckh erwähnt auch Kohut und seine psychoanalytische Entwicklungstheorie des Selbst, an der sich die Gestalttherapeuten ein Vorbild nehmen sollten. Ich ergänze das hier, weil doch gerade bei Kleinkindern der Weg zum Begreifen über das Angreifen so greifbar wird, auch die Lust und Freude am Zerstören, am De-strukturieren, aber im Verhältnis zwischen Eltern und Kind auch der gegenseitige Aggressionsaspekt immer da ist: Das Kind, das auf seine Bedürfnisse aufmerksam macht, die Eltern, die notwendige Begrenzungen vornehmen oder auch nur ihren eigenen Raum suchen und schützen müssen. Als wenn Freud da nicht schon viel zu beobachtet hätte. Und dass das der Liebe, der Beziehung keinen Abbruch tut. Es wird hier ein völlig unsinniges Entweder-Oder aufgebaut, eine Entgegensetzung, die Perls und Goodman gerade nicht wollten: Liebe und Aggression sind, anders als bei Freud, nicht Gegensätze, sondern Verbündete.

Strab: Darüber, dass auch die Liebe der nahrungsanalogen Aggression zugeordnet werde, macht sich Boeckh ja ein wenig lustig, wenn er sagt: "So hat beispielsweise die Begegnung zweier Liebender, auch wenn sie sich ›zum Fressen gern haben‹, nichts mit dem Verzehren einer Banane zu tun."

Blankertz: Mit gleicher Münze zurückgezahlt will ich darauf hinweisen, dass die Evolutionsbiologin Lynn Margulis meint, Sexualität sei aus unvollständigen oder misslungenen Fressvorgängen zwischen Einzellern entstanden.

Strab: "Und", fährt Boeckh fort, "die orale Aggression, mit der ich in einem Apfel beiße, ist nicht zu vergleichen mit der Aggression gegenüber einem als Feind erlebten Konkurrenten."

Blankertz: So?

Strab: Mehr hast du darauf nicht zu entgegnen? Boeckh verweist auf Gabriel Traverso, "der dem am Modell der Nahrungsaufnahme entwickelten Gestalt-Erfahrungszyklus, den er Bubers Ich-Es-Beziehung zuordnet, den interpersonalen Zyklus der Ich-Du-Beziehung gegenüberstellt, in welchem es nicht um Aggression, Zerstörung, Einverleibung und Assimilation, sondern um Begegnung" gehe.

Blankertz: Wie kommt denn das Du mit dem Ich in Kontakt? Im ersten Buch Mose ringt - bei Luther: "kämpft" - Jakob mit einem Engel und ruft: "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn" (32, 27). Die Bezugnahme von Traverso auf Buber scheint mir für die von Boeckh angesprochene Richtung der Gestalttherapeuten symptomatisch zu sein: Es erscheint so, erstens als könne man zwischen Ich-Du- und Ich-Es-Beziehung "wählen" und zweitens als sei die Ich-Es-Beziehung irgendwie moralisch anrüchig oder minderwertig. Dagegen sagt Buber, dass sie lebensnotwendig sei. Und die Ich-Du-Beziehung ist "von Gnaden"; man kann sich empfänglich für sie machen, sie jedoch nicht herbeiführen. Im Übrigen halte ich es, und das wollte ich mit dem Hinweis auf die Geschichte von Jakobs Kampf am Jabbok illustrieren, für ein Gerücht, dass in der Ich-Du-Beziehung keine Aggression vonnöten sei.

Strab: Redest du damit die Aggression nicht, um noch mal mit Boeckh zu sprechen, "schön"? Er meint, "auf jemanden zugehen, an etwas herangehen", sei "nicht vergleichbar mit der destruktiven, feindseligen Aggression, die eine kompensatorische Folge von mangelnder Anerkennung, Deprivation und Frustrationen aller Art sein kann, oder aber vielleicht auch zur ›conditio humana‹ als ›Potential des Bösen‹ dazugehört."

Blankertz: Den ursprünglichen gestalttherapeutischen Aggressionsbegriff sehe ich völlig anders. Es geht weder darum, ihn schönzureden, noch ihn als immer und überall positiv hinzustellen. Erinnern wir uns: Die Theorie ist in, während und aus der Kriegserfahrung heraus entwickelt worden. Perls und Goodman wollten erklären, wie es dazu kommt, dass die Menschen den Krieg und die Massenvernichtung akzeptieren, also keine politische Erklärung, was die Kriegsherren bezwecken, sondern warum die Leute mitmachen. Natürlich kennzeichneten sie die destruktive, feindselige Aggression als kompensatorische Folge. Und die Kompensation ist genau nötig, weil das Raumnehmen, die Bedürfnisbefriedigung, der Kontakt, die Auseinandersetzung, das Ringen um das, was richtig ist, auf der Ebene von Individuen und freiwilligen face-to-face communities unterbleibt. Es ist ja auch durchaus einfacher, sich durch einen allgewaltigen, angeblich gütigen Führer alles richten zu lassen, bis man merkt, dass man an Verbrechen beteiligt war. Bis dahin aber hat man die Eigeninitiative verloren. Wie kann man sie wiedergewinnen? Durch Wiederermächtigung, sagt die Gestalttherapie in der ursprünglichen Form, durch die Neuentdeckung kindlicher direkter und kontaktvoller Aggression gegenüber den Mechanismen stellvertretend aggressiver Institutionen und seelenloser Maschinerien.

Strab: Ich sehe schon, Stefan, du bist uneinsichtig, widerrufst nicht, du verstockter Heide, sodass zu befürchten steht, "weitere intellektuelle Amokläufe in Verteidigung der Aggression" stünden uns "ins Haus".

Strab: Die Kennzeichnung meines Essays als "intellektueller Amoklauf" ist "intellektueller Rufmord" und gewiss eins: intellektuell aggressiv. Insofern tut Boeckh selbst, was er ablehnt.

Strab: Stefan, danke für dieses Gespräch.

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Stefan Blankertz (Foto: Horst ter Haar, 2010 im GIK)
Stefan Blankertz (Foto: Horst ter Haar, 2010 im GIK)

Stefan Blankertz ist Sozialwissenschaftler und Schriftsteller (www.stefanblankertz.de). Er arbeitet als Theorietrainer am »Gestalt-Institut Köln (GIK)«. In enger Zusammenarbeit mit dem GIK hat er das computergestützte, auf der Gestalttherapie basierende Diagnose-Instrument »Gestalttypen-Indikator GTI« (www.gti-coaching.de) entwickelt. Mit Erhard Doubrawa verfasste er das »Lexikon der Gestalttherapie«, das ebenfalls in der Edition GIK im Peter Hammer Verlag erschienen ist.
Weitere Buchveröffentlichungen in der Edition GIK: »Gestalt Begreifen. Ein Arbeitsbuch zur Gestalttherapie-Theorie« (entstanden im Rahmen von Stefan Blankertz' Lehrtätigkeit am Gestalt-Institut Köln GIK), »Wenn der Chef das Problem ist. Ein Ratgeber«, »Meister Eckhart: Heilende Texte« (kommentiert auf dem Hintergrund der Gestalttherapie), »Die Therapie der Gesellschaft« sowie - gemeinsam mit Erhard Doubrawa - »Einladung zur Gestalttherapie. Eine Einführung mit Beispielen« und »Lexikon der Gestalttherapie«.
Bitte beachten Sie auch sein Buch zum Thema: »Verteidigung der Aggression. Gestalttherapie als Praxis der Befreiung« und seine zahlreichen Beiträge in unserer Zeitschrift "Gestaltkritik" (alle Texte in voller Länge online).

Marko Strab hat gerade seinen Master in Psychologie gemacht und plant nun seine Dissertation über Freuds Moses-Interpretation zu schreiben. Nach dem Erscheinen von Stefan Blankertz Buch »Verteidigung der Aggression. Gestalttherapie als Praxis der Befreiung« hat er bereits ein Interview mit dem Autor geführt, das wir in Gestaltkritik 1/2011 veröffentlicht haben: »Wie kann man die Aggression verteidigen?«.

Cover: Verteidigung der Aggression

Stefan Blankertz
Verteidigung der Aggession
Gestalttherapie als Praxis der Befreiung

Herausgegeben von Anke und Erhard Doubrawa

Für Glück im Leben und mehr Frieden in der Welt müssen unterdrückte Aggressionen freigesetzt werden. Diese provokante These haben Perls, Hefferline und Goodman 1951 im Gründungsdokument der Gestalttherapie aufgestellt. In der Phase der Anpassung der Gestalttherapie an institutionelle Rahmenbedingungen ist diese These zum Ärgernis geworden. Stefan Blankertz' Buch ist ein engagiertes Plädoyer für eine Gestalttherapie, die zu ihren Wurzeln zurückfindet.

Edition Gestalt-Institut Köln / GIK Bildungswerkstatt
im Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2010
90 Seiten, Paperback,13,90 Euro
Wir senden Ihnen dieses Buch gerne auf Rechung - natürlich versandkostenfrei!

Bestellanschrift: gik-gestalttherapie@gmx.de

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