Cover: Einladung zur Gestalttherapie

Erhard Doubrawa / Stefan Blankertz
Einladung zur Gestalttherapie
Eine Einführung mit Beispielen

Neuauflage 2018: Jetzt auch als eBook
Ein Gestalt-Bestseller: Gesamtauflage mehr als 40.000


Dieses Buch bietet eine leicht verständliche Einführung in die Gestalttherapie; es zeigt wie Gestalttherapie heilt und für wen diese Therapieform gut ist.
In einem erzählenden, sehr persönlichen Stil zeigen die Autoren, wie das zugrundegelegte humanistische Menschenbild der Gestalttherapie ihre Ziele bestimmt: Mündigkeit und seelisches Wachstum des Klienten.
Zahlreiche Beispiele machen das Buch zu einer anschaulichen Einstiegslektüre.

gikPRESS 2018 (Neuauflage)
GIK Gestalt-Institute Köln & Kassel
130 Seiten , Paperback: 12,80 EUR, eBook: 7,99 EUR

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 Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 Aus dem Buch:

Erhard Doubrawa / Stefan Blankertz
Einladung zur Gestalttherapie

Inhalt

Einladung (Leseprobe 1)

Zur Gestalttherapie
Fangen wir direkt schon mal an (Leseprobe 2) · Wer Ihnen das alles erzählt · Was Gestalttherapie nicht ist

Erhard über die Schulter geschaut
Aus der gestalttherapeutischen Arbeit
Der Gestaltbohrer (Leseprobe 3) · Drei Erinnerungen aus meinen Lehrjahren · Gitte: Das Sakrament der Ehe · Petra, vom Kleinmachen (Leseprobe 4)· Der Therapeut ist nur Steigbügelhalter (Leseprobe 5) · Paare · Reisen ist doch unser Hobby · Wenn ich in der Therapie einschlafe · Der Engel der Geschichte

Stichworte zur Gestalttherapie
Aus Erhards Zettelkasten
Sprache der Ehrfurcht · Dankbarkeit für das Wichtigste · »Wir sind doch nur die Opfer« · Wohlwollen · Heilung durch Erleben, nicht durch Verstehen · Die Begegnung · Existentielle Augenblicke · Kontakt · Das Recht des Klienten, in seinem Leben zu scheitern · Von der Figur zum Grund · Anarchie gibt's nicht auf Krankenschein(Leseprobe 6)

Die gestalttherapeutische Theorie kurz skizziert
Wie psychische Probleme entstehen · Diagnostische Möglichkeiten · Das Selbst im Feld · Gestalttherapie und Psychoanalyse · Die politische Dimension

Klient eines Gestalttherapeuten werden

Gestalttherapeut werden

Kleine Geschichte der Gestalttherapie

Literaturhinweise

Die ersten Rückmeldungen

"Erhard Doubrawa und Stefan Blankertz ist ein wirklich hervorragendes Buch gelungen; beim Lesen dachte ich: das ist der Geist, in dem ich mir wünsche, daß Gestalttherapie ausgeübt wird. Erfrischend aufrichtig; Fokus auf Bewußtheit, nicht auf vorschnellem Machen; respektvoll und achtsam; und kritisch gegenüber Norm und Normalität, und Macht und Herrschaft. Ausgezeichnete Einführung für alle Gestalttherapie-Neulinge, egal ob professionell oder als Klient oder Interessent."

Detlev Kranz, Hamburg, Buchempfehlung auf der Internetseite "www.gestaltpsychotherapie.de"

"Sie (Die Autoren) wollten in leicht verständlicher Weise zeigen, was Gestalttherapie ist und wie sie arbeitet. Ein Anliegen, das gelungen ist. Ohne Einschränkung. Das Buch ist durch zahlreiche Fallbeispiele zu Therapieverläufen sehr anschaulich. Der erzählende, persönliche Stil erleichtert das Lesen und Verstehen erheblich."

Monika Salchert, Buchbesprechung in der "Bergischen Post" vom 13. 4. 2000

"Ich habe in den letzten Jahren selten einen Text gelesen, der einerseits die Gestalttherapie für Laien verständlich erklärt und gleichzeitig unterhaltend und frisch daherkommt. ... Ich fühle mich als Gestalttherapeut nicht nur in meiner Arbeit beschrieben, sondern auch in der speziellen Gestalt-Stimmung, die bei mir/meinen Klienten immer wieder neu entsteht, diese Mischung aus Humor und Ernst-nehmen, aus Spontaneität, Kreativität, Wohlwollen und manchmal auch Millimeterarbeit. Danke auch für solche Überschriften (und dazugehörige Texte) wie ‚Anarchie gibt's nicht auf Krankenschein'."

Theo Schreiber, Aachen

"Wir möchten Euch unsere Freude über Euer neues Buch mitteilen: Ihr habt da ein ganz ‚leichtes' und eingängiges und alle Ebenen der ‚Gestalttherapie' aufzeigendes, liebevolles Buch geschrieben. Wir haben es in unserem Urlaub mit großem Spaß und Interesse gelesen. Endlich mal ein Text, den man auch weiterempfehlen kann, damit andere spüren, was Gestalt ist. Super."

Barbara Smith und Rainer Wetz, Köln

"Ich habe Ihr Buch von einem lieben Menschen geschenkt bekommen. Und beim Lesen ist mir aufgefallen, wie gut dieser Mensch es mit mir meint. Sie haben ein wirklich hilfreiches Buch geschrieben. Es ist überwiegend gut verständlich. Aber vor allem macht es Mut - endlich selbst mit einer Gestalttherapie zu beginnen. Davor habe ich mich schon lange gedrückt. Aber jetzt!"

Bettina Marx, Wiesbaden

"Ich habe Euer Buch verschlungen! Mir hat der lockere Stil, die Herzlichkeit, das Wohlwollen, mit dem Du, Erhard, Deine Klienten und Dich selbst beschreibst, Einblicke in Deinen "Zettelkasten" und Deine eigenen Erfahrungen gewährst, sehr gefallen - da waren viele Anregungen zum Weiterdenken und -fühlen, vieles was Lust macht auf mehr Gestalt - vielen Dank."

Thomas Becher, Köln

 

Leseprobe 1

Einladung

Provokative Einfühlsamkeit

Der Klinikseelsorger – selbst ein Gestalttherapeut – besucht die Station mit AIDS-Kranken. Der junge Mann, den er schon seit einigen Monaten begleitete, hat stark abgenommen. Sieht zum Herzzerreißen aus. Spindeldürr und klapprig. Der Seelsorger begrüßt ihn mit den Worten: »Bei der Auferstehung des Fleisches wirst du aber leer ausgehen.«

Einen Moment ist es mucksmäuschenstill im Krankenzimmer. Dann bricht schallendes Gelächter aus. Der junge Mann lacht am lautesten und schlägt sich klatschend auf seine dürren Beine.

Gestalttherapeutischer Schluß: Der Klient erwartet – mit Recht – Ehrlichkeit vom Therapeuten. Er erwartet, daß er das Augenscheinliche wahrnimmt und auch benennt. Nicht Verschweigen hilft, sondern nur ein – liebevolles – Benennen.

Was Sie erwartet

… wir laden Sie, lieber Leser, ein … ebenso zum Lachen wie zum Weinen … ebenso zum Durchdenken wie zum Nachfühlen … ebenso zum Beharren auf dem, was Sie sind, wie zum Loslassen und Verändern … ebenso zum harmonischen Eingliedern in Ihre Umgebung wie zum aggressiven Rebellieren.

Wenn Sie am Ende sagen können, was »Gestalttherapie« ist, um so besser. Wenn nicht, auch nicht schlimm: Es geht uns nicht darum, Ihnen Lehrbuchwissen zu vermitteln, sondern Sie in einen Prozeß einzubinden, von dem wir hoffen, daß er für Sie erfreulich ist.

Manche sagen, man könne »Gestalttherapie« nicht beschreiben, sondern nur erleben. Da ist etwas Wahres dran. Darum haben wir, der erfahrene Gestalttherapeut Erhard und der beinharte Theoretiker Stefan, uns zusammengetan, um ein Wagnis zu beginnen: Ein Buch über Gestalttherapie, das die Gestalttherapie erlebar macht und dennoch nicht auf die Tiefe der Einsichten verzichtet, die die Gestalttherapie hinsichtlich des Menschen, seiner Psyche und seiner Gesellschaft bereithält.

Wir geben Ihnen zunächst unter der Überschrift »Zur Gestalttherapie« einen groben Überblick, was wir unter Gestalttherapie verstehen, wer wir sind, und was wir unter Gestalttherapie nicht verstehen. (»Grenzen ziehen« ist aus gestalttherapeutischer Sicht eine wichtige Lebenstätigkeit!) Dann lassen wir Sie dem Erhard bei seiner gestalttherapeutischen Arbeit »über die Schultern« blicken.

Auf diese Weise erhalten Sie einen kleinen Einblick in die Praxis der Gestalttherapie. Unter der »Skizze der gestalttherapeutischen Theorie« finden Sie zentrale Ideen kurz und knapp dargestellt. Es erschien uns lebendiger (wenn auch methodisch gesehen unsystematisch), die Praxis und die Ideen vor die Erläuterung der gestalttherapeutischen Grundbegriffe zu setzen: Wenn Sie schon einen Eindruck davon haben, wie die Gestalttherapie arbeitet, werden Ihnen die Begriffe hoffentlich nicht fremd und leblos erscheinen.

Ein paar Worte zur »Geschichte der Gestalttherapie« stehen am Ende, obwohl die meisten Einführungen mit ihr anfangen. Wir aber haben den Eindruck, daß es langweilig ist, Sie mit Namen, Daten und Entwicklungen zu konfrontieren, die sich auf eine Theorie und Praxis beziehen, von der Sie vielleicht noch nicht viel wissen. Falls Sie allerdings lieber mit der Geschichte beginnen – lesen Sie ruhig »von hinten nach vorn«. Das ist uns genauso recht. Nur Sie können am Ende sagen, ob uns das Wagnis, Sie zur Gestalttherapie einzuladen, gelungen ist. Bis dahin: Viel Spaß.


Leseprobe 2

Zur Gestalttherapie
Fangen wir direkt schon mal an…

Vergessen bitte Sie alles, was Sie eventuell schon über die Gestalttherapie gehört haben. Sie haben noch nichts von ihr gehört? Um so besser.

Gestalttherapie ist eine Einladung. Eine Einladung, daß Sie sich in der Welt – neu? – orientieren. Neu? Muß nicht sein. Bestimmen Sie Ihren Standort. Schauen Sie sich genau um. Nehmen Sie wahr, wie Sie sitzen oder liegen, während Sie diese Zeilen lesen? Hart oder weich? Angenehm oder unbequem? Wie ist die Luft? Genügend Sauerstoff? Zu warm oder zu kalt? Genau richtig sollte es sein. Sie brauchen jetzt nicht gleich zum Fenster zu stürzen und es zum Lüften aufreißen. Fragen Sie sich lieber, warum Sie es gern so stickig haben! Lernen Sie, ihre Vorlieben zu schätzen. Verändern Sie sie nicht. Und wenn Sie das erreicht haben, werden Sie merken, daß sich alles um Sie herum verändert hat – ebenso wie Sie selbst mittendrin. Das nennen die Gestalttherapeuten das Paradox der Veränderung.

»Therapie« heißt ja bekanntlich so viel wie »Heilung«. Wenn Sie Husten haben, wissen Sie genau, worin die Heilung bestünde: keinen Husten mehr haben. Bei körperlichen Beschwerden besteht das Kriterium der Heilung in einer gewissen körperlichen »Normalfunktion«. Viele psychologische Richtungen gehen ähnlich vor: Man versucht, eine psychische »Norm« zu definieren, und alles, was da abweicht, wird »wegtherapiert«. Aber wollen Sie das? Sicherlich wollen Sie, daß ihr Körper »normal« funktioniert und Sie keine Schmerzen oder Beeinträchtigungen haben. Das könnte jedoch tief innen in Ihrer Seele ganz anders sein: Sie wollen gar kein »Normalbürger« mit statistischen Durchschnittseigenschaften und Durch-schnittsbedürfnissen sein. Wenn das so ist, sind Sie bei der Gestalttherapie richtig: Denn der Gestalttherapeut fragt nicht danach, wie Sie vom Durchschnitt abweichen. Er fragt danach, ob Sie sich mit sich wohlfühlen. Er möchte, daß Sie sich angemessen verhalten – angemessen Ihrer tatsächlichen Umwelt gegenüber und angemessen sich selbst gegenüber, so wie Sie nun einmal sind.

Das Kriterium für Heilung in der Gestalttherapie ist kein äußerer Maßstab, sondern die innere Gestalt: Fügt sich alles, was Sie sind, zu einem guten Ganzen? Oder gibt es Brüche und Widersprüche, Ungereimtheiten und Selbstbehinderungen, die Ihnen das Leben unnötig schwer machen? (Wir sagen: »unnötig«, denn ein leichtes Leben verspricht die Gestalttherapie nicht. Das tun nur Scharlatane). Dann können wir mit der Gestalttherapie schauen, was sich machen läßt, um das zu ändern.

Das wichtigste Instrument der Gestalttherapie, um herauszubekommen, was denn nun angemessen ist, ist die Wahrnehmung. Das sei ja simpel, denken Sie. Haben Sie schon einmal festgestellt, wie wenig Sie (und, unter uns gesagt, wir alle) wirklich wahrnehmen? Zu Beginn des Kapitels haben wir Sie gefragt, in welcher konkreten Umgebung Sie dieses Buch lesen. Wir haben bei den Fragen einiges vergessen: Farben zum Beispiel und Gerüche. Versuchen Sie einmal, Ihre nächste Umgebung ganz genau zu beschreiben. Das ist gar nicht so einfach und ziemlich langwierig. Vergessen Sie sich selbst dabei nicht: Was haben Sie an? Wie atmen Sie? Schmerzen vielleicht Ihre Augen? Wie geht es Ihrem großen Zeh?

(Meiner ist kalt.) Das meiste, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen könnten, geht an uns vorüber. Das ist übrigens auch gar nicht schlimm. Es ist im Normalfall sogar ein Glück. Denn wenn wir immer alles ganz genau wahrnehmen wollten, kämen wir nie dazu, irgendetwas zu tun (außer wahrzunehmen). Die menschliche Wahrnehmung ist so angelegt, daß immer nur das Wichtige in den Vordergrund rückt. Das andere wird beiläufig als Hintergrund wahrgenommen. So nehmen Sie nicht genau wahr, wie es Ihrem Fuß geht. Aber ist er »eingeschlafen«, tritt die Wahrnehmung des Fußes in den Vordergrund und die andere Tätigkeit, etwa das Lesen dieses Buches, tritt in den Hintergrund, und Sie schütteln Ihren Fuß aus. Diesen Vorgang nennt die Gestalttherapie Figur-und-Grund-Prozeß.

In den Prozeß von Figur und Grund braucht durch Therapie nur dann eingegriffen zu werden, wenn er nicht mehr so abläuft, daß Sie zufrieden sind. Beispielsweise sind Sie so darauf fixiert, dieses Buch zu lesen, daß Sie vergessen, etwas zu essen. Das ist schlecht. Also sollten Sie lernen, ihrem Bauch und dessen Bedürfnissen mehr zuzuhören. Oder umgekehrt, Sie haben eine derartige Abneigung gegen das Lesen, daß Sie, sobald Sie dies Buch aufschlagen, Durst bekommen, das Buch weglegen und erst einmal etwas zu trinken holen. Auf diese Weise kommen Sie mit dem Lesen nicht weiter. Da sollten Sie dann lernen, wahrzunehmen, was Sie wirklich in einem Moment wollen.

Die therapeutische Arbeit an der Wahrnehmung ist eher mit dem Erleben als mit dem Verstehen verbunden. Wahrnehmung stellt immer eine enge Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Umgebung (zu der auch Ihr Körper gehört) her. Sie nehmen Ihre Befindlichkeit und die Befindlichkeit ihrer Umgebung wahr, und das meiste, was Sie wahrnehmen, hat auch einen Gefühlswert. Wahrneh-mung ist nicht wertfrei. Bei vielen Gerüchen, die Sie wahrnehmen, kommen Ihnen Erinnerungen, gute oder schlechte. Auf jeden Fall wird fast jeder Geruch entweder angenehm oder unangenehm sein. Das gleiche gilt für Farben, Formen und dergleichen mehr.

In der Gestalttherapie wird darum mit Ihrem eigenen Erleben gearbeitet: Indem Sie Ihre Wahrnehmung schärfen, erleben Sie sich und Ihre Umwelt. Dadurch kommt eine Veränderung zustande, wenn es um eine solche geht. Ihnen wird nicht, wie in manchen anderen Psychotherapien »erklärt«, wie Sie in der Welt sind und wie die eventuell unheilvollen Verstrickungen zustande kommen. Nicht das Verstehen (aufgrund von Erklärung), sondern das Erleben (aufgrund von Wahrnehmung) heilt nach Ansicht von der Gestalt-herapie.

Die Arbeit an der Wahrnehmung bringt noch ein zentrales Kennzeichen der Gestalttherapie mit sich: Die Gestalttherapie hat ihr Augenmerk auf der Gegenwart, auf, wie die Gestalttherapeuten sagen, dem Hier-und-Jetzt. Wahrgenommen (und erlebt) wird immer in der Gegenwart. Natürlich kann die Wahrnehmung, zum Beispiel von Zimtduft, eine Erinnerung etwa an Weihnachten in der Kindheit wachrufen. Gleichwohl bleibt die Wahrnehmung in der Gegenwart. Es ist auch nur die Gegenwart, in der Sie handeln und eventuell etwas verändern können. Die Vergangenheit steht fest (jedenfalls von den Fakten her, nicht aber von der Beurteilung her), und die Zukunft steht noch nicht fest. Wenn Sie sich also zu stark auf die Vergangenheit fixieren, werden Sie nichts ändern können. Wenn Sie dagegen mit Ihren Gedanken stets versuchen, die Zukunft vorwegzunehmen, werden Sie immer nur daran denken, etwas zu tun, den Zeitpunkt des Handelns allerdings häufig verpassen.

Wahrnehmen heißt also auch: sich nicht durch Erinnerungen in der Vergangenheit festhalten oder durch Angst vor der Zukunft bewegungsunfähig machen zu lassen, sondern um sich zu schauen und festzustellen, was »wirklich Sache ist«. Auf diese Weise stärkt die genaue Wahrnehmung unsere Handlungsfähigkeit.

Leseprobe 3

Erhard über die Schulter geschaut
Aus der gestalttherapeutischen Arbeit
Der Gestaltbohrer

Vor einigen Jahren schenkte mir mein Freund Horst ter Haar eine kleine silberne Bohrmaschine zum Anstecken. Er hatte sie bei einer Goldschmiedin für mich anfertigen lassen. Dieser »Gestaltbohrer«, wie er ihn nannte, stand für die Art und Weise, wie mich Horst – wenn wir Gruppen gemeinsam leiteten – hatte arbeiten sehen.

Inzwischen schäme ich mich manchmal, wenn mir der kleine silberne Bohrer wieder in die Hände fällt, etwa beim Aufräumen. Ich schäme mich jetzt, weil mir dann so manche Gruppenteilnehmer/innen einfallen, die ich vielleicht mit der »bohrenden« Arbeit verletzt haben könnte.

Heute erlebe ich meine Arbeit anders. Eher langsam. Mit mehr Wohlwollen. Weniger konfrontativ. Ich lasse mir mehr Zeit. Ich folge vor allem den Phänomenen. Ich habe das Vertrauen, daß irgendwann die Figur in den Vordergrund tritt, die wirklich wichtig ist. Vertrauen, daß der Klient sich wirklich für diese Figur öffnen kann.

Für dieses Sich-Öffnen versuche ich, Raum zu schaffen, der frei von Bewertungen ist. Genauer: frei von den Bewertungen durch die erlernten (»introjizierten«) Moralvorstellungen (die Freud »Über-Ich« nannte). Einen Raum, in welchem wir betrachten und erforschen können. Einen Raum, in welchem wir nicht mit »flotten« Wertungen zur Hand sind. Einen Raum, in welchem Wohlwollen die Arbeit des Erforschens fördert und unterstützt. Dann kann Wichtiges vom Klienten benannt und gezeigt werden. Ohne, daß ich etwa »nach-bohren« muß. Nein, ich unterstütze ihn dann bei der Selbst-Entdeckung. Er ist es, der die Heilung vollzieht – nicht ich für ihn.

Ich bin bei dieser Arbeit nicht »bohrend«. Nicht »hart-näckig«. Wohl aber »beharrlich«! Ich folge dem Klienten. Manchmal locke ich ihn auch. Doch mein Locken kann, nein: es darf nicht die Hauptsache der Therapie sein. Die Hauptsache sind vielmehr die Schritte, die der Klient von sich aus geht.

In einer Gruppe werden manche Teilnehmer bereits unruhig, während ich noch zuhöre – und zuschaue. Denn die Figur zeigt sich nicht immer in Worten, manchmal äußert sie sich in einer kleinen Geste. Eine geringfügige Veränderung der Körperhaltung, ein verändertes Atmen.

Meist sind solche kleinen Veränderungen dem Klienten gar nicht bewußt, sind nicht »in seinem Gewahrsein«, wie wir Gestalttherapeuten sagen. Meine Aufgabe als Therapeut ist es hier, seine Aufmerksamkeit auf sie hin zu lenken, damit er sein Gewahrsein auch in diese Richtung entfalten kann.

Gestalttherapeutischer Schluß: In der »langsamen« Arbeit habe ich das Vertrauen, daß dem Klienten klar wird, wie er zu handeln hat (z. B. um ein Bedürfnis zu befriedigen), weil eine Figur in seiner Wahrnehmung deutlich (»prägnant«) werden darf. Er fühlt dann, daß er genug Energie zum Handeln zur Verfügung hat. Mit Prägnanz geht Energie einher.

Wie geht das praktisch vor? Also, ein Klient spricht von seinem Beruf. Er betont nachdrücklich, daß er seine Arbeit im großen Ganzen gern mache und guten Mutes am Morgen zur Arbeit gehe. Doch während er das betont, knurrt sein Magen. Auffällig. Ich frage ihn, worüber sein Magen knurrt.

»Ja,« antwortet der Klient, »fast hätte ich es vergessen. Aber seit einigen Wochen ärgere ich mich häufig über etwas, nein, über jemanden auf der Arbeit. Seltsam, fast hätte ich es wieder vergessen.« Und nun nimmt er sich Zeit, darüber ausführlich zu sprechen. Sein Magen begleitet die Erzählung mit Knurren. Daraus erwächst, was wir (nach Erving und Miriam Polster) ein Gestaltexperiment nennen: Ich bitte den Klienten, die Geschichte knurrend zu erzählen.

Das Ergebnis: Der Klient hat viel Spaß dabei. Denn spielerisch findet er Zugang zu seiner Aggression – zu seiner Kraft.


Leseprobe 4

Petra, vom Kleinmachen

Petra hatte sich von Klaus, ihrem Ehemann, getrennt, den sie so sehr liebte. Sie war einfach nicht mit seiner »Aggressivität« in der Sexualität klargekommen. Sie fühlte sich bedroht von seiner Lust, mochte es nicht, wenn er sie »richtig anpackte«. Sexualität hatte für Sie nur sehr wenig mit Lust und Heftigkeit zu tun. Sie mochte gerne Schmusen. Weiche Sexualität. Und so kamen die beiden in diesem Bereich nicht miteinander zurecht.

Inzwischen hatte sie einige Freunde gehabt und gute Erfahrungen mit »weicher« Sexualität gemacht, Zärlichkeit genossen. Doch immer hat sie an Klaus denken müssen. Schließlich kamen die beiden erneut zusammen. Nach kurzer Zeit ängstigte Petra sich wieder vor der Sexualität mit Klaus, vor seiner kraftvollen Lust. Gerade in dieser Zeit erinnerte sie sich an eine wirklich schlechte Erfahrung, die sie mit einem Mann gemacht hatte, als sie 15 Jahre alt war (also vor mehr als 25 Jahren). Sie war von diesem Mann bedrängt worden, als sie nicht bereit war, mit ihm zu schlafen. Sie fand sich nackt mit ihm in seinem Bett wieder. Sie erinnerte sich noch gut an sein großes Glied, steif und heiß. Was dann geschah, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Übrig geblieben war jedoch die Angst vor bedrängender Sexualität.

Nun wollte sie aber mit Klaus zusammenbleiben. So schlug ich ihr als ihr Therapeut folgende Phantasie vor: Sie solle sich sein erigiertes Glied vorstellen, wenn sie zusammen Sex hatten. Dann sollte sie sich sagen: »Warte nur, ich mach Dich klein!« Diese Therapie fand in der Gruppe statt. Während der Arbeit hatte sich die Atmosphäre sehr gelockert. Die Leute – ganz besonders die Frauen – lachten und hatten viel Spaß bei diesem Gedanken. Bei unserem nächsten Gruppenwochenende, rund acht Wochen später, berichtete Petra von ihren guten Erfahrungen auf einem für sie ganz neuen Gebiet: Sie hatte ihre eigene lustvolle und aggressive Sexualität entdeckt. Sie genoß diese sehr.

Gestalttherapeutischer Schluß: Liebe, Lust und Aggression sind keine Gegensätze – wer sie auseinander reißt, wird unglücklich. Manchmal muß man den anderen sogar »klein machen«, um ihn groß zu lieben.

Kürzlich traf ich Petra beim Einkaufsbummel in der Stadt. Inzwi-schen ist sie, wie ich erfuhr, seit vielen Jahren glücklich mit Klaus verheiratet. Sie erzählte mir, daß sie mit der Ausbildung zur Sexualtherapeutin begonnen hat. Das hat mich sehr berührt.


Leseprobe 5

Der Therapeut ist nur der Steigbügelhalter

Stattgefunden hat das folgende vor fast zwei Jahren in einem Wochenendworkshop, an welchem mehr Männer als Frauen teilnahmen. Nun könnte man vermuten, daß mehr über die Arbeit geredet wurde, als tatsächlich gearbeitet wurde. Das wird Männern ja nachgesagt. Doch das war ganz gewiß nicht der Fall.

Allerdings wurde nach den (tiefen und bewegenden) Arbeiten noch über die Arbeiten gesprochen, um sie besser zu verstehen. Im Rahmen eines solchen Gesprächs sagte ich, daß der Klient das Recht habe, zu scheitern. Ich als Therapeut dürfe mich nicht in das Schicksal des Klienten einmischen. Sich nicht einzumischen, sei manchmal schwer auszuhalten, denn da käme ich mit meinem »Größenwahnsinn« (Narzißmus) in Kontakt. Manchmal erläge ich meinem Narzißmus, hätte ihn nicht gut im Griff.

Darauf erzählte Alex, ein praktischer Arzt, daß er seine Arbeit in ähnlicher Weise nur als ein »Steigbügelhalter« verstehe. Ich bat ihn, in der Gruppe aufzustehen, und den »Steigbügelhalter« vorzumachen. Er tat dies bereitwillig.

Alex steht also mitten in der Gruppe und macht mit den Hände eine Geste, als würde er einen Steigbügel halten, damit der Reiter hineintreten kann. Dabei hält er seinen Kopf leicht gesenkt, blickt auf seine Hand und den imaginären Steigbügel in ihr. Stille breitet sich in der Gruppe aus. Fast andächtig. »So sieht Demut aus,« sage ich. Einige weinen gerührt. Auch ich.

 
Leseprobe 6

Anarchie gibt's nicht auf Krankenschein

Gestalttherapie bekommen Sie nicht als Kassenleistung. Das ist unseres Erachtens auch nicht verwunderlich.

Der Grund für die Ablehnung des Gestaltansatzes durch die Krankenkassen ist sicherlich nicht Unwirksamkeit. Gestalttherapie ist nämlich ein höchst wirkungsvoller psychotherapeutischer Ansatz. Bereits kurz nach der Entwicklung der Gestalttherapie fand sie Anwendung in Bereichen, in denen man viel davon versteht, ob ein Ansatz effektiv ist oder nicht, nämlich in der Organisationsentwicklung und im Coaching von Führungskräfte der Wirtschaft. Bis heute ist das so. Bei einem bekannten multinationalen Konzern beispielsweise ist immer ein Gestalttherapeut dabei, wenn sich die Führungskräfte international treffen. Seine Aufgabe besteht darin, die TeilnehmerInnnen aus all den unterschiedlichen Ländern und Kulturen zur wirksamen Zusammenarbeit zu animieren - und sie zu ermutigen, echte Konflikte auszutragen.

Daß Kassen in Deutschland die Gestalttherapie nicht bezahlen, ist nur auf einem anderen Hintergrund verständlich, nämlich wenn man sich die politische Dimension dieses Ansatzes in Erinnerung ruft. Die Gestalttherapie will Menschen dabei unterstützen, ihr Subjektsein zu entfalten und ganz in Besitz zu nehmen. Dieses Anliegen hat ganz eindeutig politische Implikationen. Anarchistische Bewußtseinsbildung auf Krankenschein - das ist doch wirklich nicht zu erwarten.

Dazu kommt, daß Gestalttherapie sich nicht der kategorisierenden und brandmarkenden herkömmlichen Diagnostik und Krankheitslehre unterwirft. Sie spricht, wie Sie in den vorangegangenen Abschnitten lesen konnten, gar nicht von Krankheit im seelischen Sinne. Störungen, hinderliche Symptome versteht sie eher als frühere Problemlösungsversuche, die heute bloß neue und z.T. größere Probleme mit sich bringen.

Vielmehr sind immer mehr Menschen bereit, für ihre Gestalttherapie auch die finanzielle Verantwortung zu übernehmen. Das hat schon für sich genommen eine positive Wirkung.

Als ein Bekannter mir vor einigen Wochen davon berichtete, daß seine Krankenkasse mehr als 300 Stunden Psychoanalyse für ihn im letzten Jahr (allein in einem Jahr!) bezahlt hatte, war ich durchaus empört. 300 Stunden! Die wenigsten Gestalttherapie-KlientInnen brauchen mehr als 100 Stunden. Für manchen reichen 50 Stunden Gestalttherapie aus, um neue Schritte gehen zu können.

Man müßte mal die Zeit- und Geldverschwendung ausrechnen, die eine von der Krankenkasse finanzierte Psychoanalyse bedeutet und das dann dem gegenüberstellen, was man als Klient spart, wenn man für seine Gestalttherapie selbst aufkommt…

Daß Selbstzahlung oft schon der erste Schritt zur Heilung bedeutet, möge diese kurze Erinnerung verdeutlichen:

Ein iranischer Student kam zu mir in die Praxis. Er sei zutiefst depressiv. Seine Freundin habe ihn aufgefordert, eine Therapie zu machen, sonst würde sie sich von ihm trennen. Also saß er in sich gesunken in meiner Praxis, sprach mit extrem leiser Stimme. Er berichtete, daß er überhaupt nicht mehr in die Fachhochschule zum Technik-Studium ginge. Eigentlich würde er nur noch zuhause sitzen und rumhängen. An zwei Tagen in der Woche arbeite er für seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer, das reiche.

Ich sagte ihm, daß er eine Gestalttherapie bei mir selbst bezahlen müsse. Ich wolle mit ihm bis auf weiteres zwei Stunden wöchentlich arbeiten. Als ich ihm meinen Stundensatz sagte, wich er erschrocken zurück: »Dann muß ich ja zwei weitere Tage Taxi fahren.« Ich fragte ihn, ob sein Arbeitgeber das ermöglichen könne.

»Der schon,« antwortete er. Nach dieser kostenlosen ersten Probesitzung verlies er meine Praxis. Ich rechnete nicht ernsthaft damit, ihn noch einmal wiederzusehen. Aber nach etwa sechs Wochen rief er mich an und sagte, daß er nun zur Gestalttherapie bereit sei. In der Tag arbeite er dann zwei Tage wöchentlich mehr, um so seine Sitzungen bezahlen zu können. Später einmal hat er mir für mein Beharren auf den zweimal wöchentlich stattfindenden Therapiesitzungen gedankt. So sei er aus seiner Starre wieder in Bewegung gekommen.

Fazit: Selbstzahlung heißt, selbst Verantwortung zu übernehmen - und das ist bereits der erste Schritt zur Heilung.

 

 Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 
Die Autoren: Doubrawa und Blankertz (rechts)

Foto: Doubrawa und Blankertz (rechts)Foto: Hagen Willsch

Erhard Doubrawa, 1955, arbeitet seit vielen Jahren als Gestalttherapeut. Er ist Gründer und Leiter der "Gestalt-Institute Köln und Kassel (GIK)", wo er auch als Ausbilder tätig ist (www.gestalt.de). Private Praxen in Köln und Kassel. Außerdem gibt er die Gestalttherapie-Zeitschrift "Gestaltkritik" heraus (www.gestaltkritik.de). Er ediert die Reihe gikPRESS zur Theorie und Praxis der Gestalttherapie (www.gikpress.de). Buchveröffentlichungen in der gikPRESS u.a.: "Die Seele berühren. Erzählte Gestalttherapie".

Stefan Blankertz, 1956, ist Sozialwissenschaftler und Schriftsteller (editiongpunkt.de). Seit vielen Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Paul Goodman, dem Mitbegründer der Gestalttherapie. In der gikPRESS erschien u.a. "Gestalt begreifen. Ein Arbeitsbuch zur Theorie der Gestalttherapie".

Gemeinsam haben die beiden das "Lexikon der Gestalttherapie" veröffentlicht.

Bitte beachten Sie auch die zahlreichen Beiträge der Autoren in unserer Zeitschrift "Gestaltkritik" (alle Texte in voller Länge online).

 

Cover: Einladung zur Gestalttherapie

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Hunrodstr. 11
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(0800) GESTALT bzw. (0800) 4378258
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