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Stefan Blankertz
Wie kann man die Aggression verteidigen?
Ein Interview


Aus der Gestaltkritik 1/2011:

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus Gestaltkritik 1/2011:

Stefan Blankertz
Wie kann man die Aggression verteidigen?
Ein Interview

Stefan Blankertz (Foto: Hagen Wilsch)
Stefan Blankertz (Foto: Hagen Wilsch)

Marko Strab: Der Titel deines neuen Buches, »Verteidigung der Aggression«, hört sich zunächst einmal als schwer erträglicher Widerspruch zur Sehnsucht nach Liebe, Verbundenheit und Frieden an. Was hat dich veranlasst, zum jetzigen Zeitpunkt ein Buch zu schreiben, in welchem du die Aggression verteidigst?

Stefan Blankertz: Genau diese falsch interpretierte Sehnsucht, Marko, die ja auch immer mehr unter Gestalttherapeuten um sich greift. Wenn wir nicht lernen, Konflikte um das auszutragen, was zwischen uns steht oder was uns nicht passt und so weiter, dann ist das, was herauskommt vielleicht Harmonie, aber das, was man früher »Grabesstille« nannte. In den zu Unrecht gescholtenen und für alle Übel haftbar gemachten 1960er Jahren sagte man »Konformismus« dazu. Es entsteht eine Enge, ein Muff, ein Zwang zum Gleichklang, bis dann nur noch ein Ausweg möglich scheint, nämlich um sich zu schlagen. Fritz Perls und Paul Goodman haben beide an ganz verschiedenen Beispielen gezeigt, wie aus diesem Engegefühl, die eigentliche Grundlage der Angst, der Wunsch nach Explosion entsteht. Fritz eher im privaten Bereich, Paul mehr im politischen. Beides halte ich für sehr aktuell. Mit der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie kann ich mir die gewaltbereite Welt viel besser erklären als mit anderen Theorien, ob es um politische Gewalt und Krieg oder um die im Weltmaßstab gesehen kleineren, privaten Dramen geht. Ich habe das Buch also geschrieben, um diesen Erkenntnisgewinn mit anderen zu teilen. Und ich habe es jetzt geschrieben, weil die gestalttherapeutische Aggressionstheorie zunehmend unter Beschuss gerät, sogar innerhalb der Gestalt-Community. Das beunruhigt mich. Denn damit wird ein zentrales Konzept aufgegeben, das meiner Meinung nach die Identität der Gestalttherapie berührt, auch ihre Identität als Therapieform, die über bloße Therapie hinausgeht, indem sie sozial­kritische Aspekte hat.

Strab: Aber könnte das, was du als »zunehmenden Beschuss« bezeichnet hast, nicht darauf zurückzuführen sein, dass jene Aggressionstheorie von Fritz Perls unhaltbar oder wenigstens überholt ist? Hängt sie also nicht an der Gestalttherapie wie ein alter Zopf, der endlich einmal abgeschnitten gehört? Immerhin stammt diese Theorie aus der Zeit, als Wohlstand und Konformität herrschte; und da war es vielleicht ein heilsames Konzept, den Klienten zu sagen, sie sollten mal gehörig auf dem Busch klopfen. Aber in einer Zeit, wo es Auslandseinsätze der Bundeswehr gibt und wo das Problem in zunehmender Gewalt an Schulen und auf den Straßen besteht, scheint das Konzept einer positiv bewerteten Aggression überholt zu sein.

Blankertz: Die gestalttherapeutische Aggressionstheorie ist in der Zeit des Zweiten Weltkriegs vorbereitet worden und zwar sowohl von Lore und Fritz Perls als auch von Paul Goodman. Das, was diese Psychoanalytiker oder, wenn ich an Paul Goodman denke, diese psychoanalytisch inspirierten Schriftsteller umtrieb, war die Frage, wie die breite Zustimmung zum Krieg, dem Ersten und den Zweiten Weltkrieg, anders als durch den Meister [Freud] erklärt werden kann, also nicht mit dem Todestrieb. Gestützt auf Wilhelm Reich sagten sie: Die Menschen sehnen sich nicht nach dem Tod, sondern danach, die beengenden Verhältnisse abzuschütteln. Diese Verhältnisse sind jedoch so tief in ihren Körper eingeschrieben, oder mit Wilhelm Reich gesagt: sie drücken sich so sehr in ihrem Muskelpanzer aus, dass es ihnen erscheint, als ginge das nur über den Tod. Dass sie sich, wie du am Anfang gesagt hast, nach Frieden und Harmonie sehnen, ist nur eine oberflächliche Rationalisierung: Darunter lauert die Aggression. Und auch die Aussage, die 1960er Jahre seien eine konfliktfreie Wohlstandsgesellschaft, ist ja selbst eine ideologische Darstellung. Immerhin gab es den Vietnamkrieg, es gab Bandenkriege auf den Straßen, es gab Rassenkrawalle und so weiter. Die These von der »zunehmenden Gewalt« kann durchaus bezweifelt werden. Nochmals: Die gestalttherapeutische Aggressionstheorie erklärt Ausbrüche von Destruktivität und Gewalt, aber eben nicht in der traditionellen Weise: Als Antwort müssten wir alle unsere aggressiven Impulse kontrollieren, Stichwort Affektkontrolle. Sondern die Unterdrückung der individuellen aggressiven Impulse führt zu den großen Ausbrüchen: Die, wie es in dem Buch »Gestalt Therapy« heißt, vorzeitige Beendigung von Konflikten ist das Problem.

Strab: Trotzdem die Gegenfrage: Lässt sich der Weg zu Frieden, Unversehrtheit, psychisch und körperlich, und Glück nicht mehr über den Verzicht auf Aggression realisieren? Denn wenn die Hooligans einfach losschlagen, weil sie Frust haben oder nur mal so aus Bock auf Krawall, ist das doch sicherlich nicht heilsam, weder für sie noch für die Umwelt oder die Gesellschaft als ganzer. Was für eine Gesellschaft kommt dabei heraus, wenn jeder seine aggressiven Impulse auslebt?

Blankertz: Dabei kommt die Gesellschaft heraus, die wir uns sauer verdient haben. Im Ernst: Nach der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie hat jeder aggressive Impuls einen rationalen Kern. Der aggressive Impuls ist die kraftvolle, energetische Annäherung an ein Ziel, das schwierig zu erreichen ist, also bei dessen Erreichung Widerstände überwunden oder Konflikte ausgetragen werden müssen. Wenn der aggressive Impuls sein konkretes Ziel verloren hat, dann ist das schon das Ergebnis der Deformation. Diejenigen, die scheinbar sinnlose Gewalt anwenden und sich selbst verletzten oder sogar noch behaupten, Spaß dabei zu haben, haben bereits die Verbindung zu ihrem Körper und zu ihren Bedürfnissen verloren. Interessant ist, dass die gestalttherapeutische Aggressionstheorie hier eben nicht sagt: Da müssen wir jetzt erst mal die Affektkontrolle lernen, bevor wir weitersehen können.

Strab: Halt mal, Stefan: Wenn jemand nicht erreicht, was er mit seinem aggressiven Impuls will, dann wird er neurotisch und schlägt um sich? Muss die Gesellschaft jeden Willen erfüllen? Das geht ja schon allein darum nicht, weil die Mitglieder einer Gesellschaft oft etwas wollen, was sich gegenseitig ausschließt!

Blankertz: Das Konzept, dass die Gesellschaft für die Bedürfnisbefriedigung zu sorgen habe und dass dann alles gut werde, ist der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie zufolge das Verhängnis. Es geht nicht darum, dass die Gesellschaft ein Bedürfnis »erfüllt«. Das ist paternalistisch; das ist der »Nanny-State«, wie die Angelsachsen sagen. Die Kinder werden erwachsen, weil die Fürsorge nie genau das trifft, was jemand braucht. Darum ist es immer besser, für sich selbst sorgen zu können. Darum brauchen wir die Aggression. Und im Konflikt darum, ob ich bekomme, was ich will, kann ich auch mal verlieren. Das ist natürlich und das ist in Ordnung. Das führt der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie zufolge nicht per se zur Neurose oder zur Destruktivität. Vielmehr macht es krank, wenn ich gar nicht erst versuchen darf, das zu bekommen, was ich will. Wenn dieser aggressive Impuls dauerhaft frustriert wird, kommen wir dahin, dass wir gar nicht mehr wissen, was wir wollen. Und dann eben ist Therapie notwendig, damit wir wieder lernen zu spüren, was wir wollen. Ob wir danach in der Lage sind, das auch zu bekommen, liegt außerhalb der Zuständigkeit von Therapie, aber auch der Zuständigkeit von Gesellschaft.

Strab: Jeder seines eigenen Glückes Schmied? Das hört sich ja irgendwie nach kaltem Neoliberalismus an!

Blankertz: Goodman war Jeffersonianer. Sein politisches Programm lässt sich in der Frage zusammenfassen: Wie können wir unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und technologischen Bedingungen mehr der ursprünglichen Ideale von Thomas Jefferson verwirklichen?

Strab: Zur politischen Dimension möchte ich gleich auch noch weitere Fragen stellen. Doch noch mal nachgehakt bei der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie. Die Kritiker der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie führen nun Forschungsergebnisse an. Frank Staemmler und Hilarion Petzold sagen klipp und klar: Die gestalttherapeutische Aggressionstheorie ist wissenschaftlich widerlegt. Hältst du an einer Theorie fest, die empirisch als falsch erwiesen wurde? Machen wir uns als Gestalttherapeuten nicht lächerlich, wenn wir uns Forschungsergebnissen verschließen?

Blankertz: Wenn es so wäre, sicherlich. Aber so ist es nicht. Zuerst Petzold und dann Staemmler haben die gestalttherapeutische Aggressionstheorie falsch dargestellt, damit sie sich von den Forschungsergebnissen widerlegen lässt. Das Forschungsdesign lautete: Eine Gruppe von Versuchsteilnehmern füllte einen Fragebogen zu ihrer Aggressionsbereitschaft aus. Dann wurden den Versuchspersonen filmische Darstellungen von Gewalt vorgeführt; und schließlich testete man erneut ihre Aggressionsbereitschaft. Und siehe da, oh Wunder: Die Aggressions­bereitschaft war gestiegen. Sagen Petzold und Staemmler: Entgegen der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie lässt sich also die Aggressionsbereitschaft nicht abbauen durch das Anschauen von Gewaltfilmen. Aber das behauptet die gestalt­therapeutische Aggressionstheorie auch gar nicht. Ganz im Gegenteil …

Strab: Interessant! Du sagst also, Stefan, Aggression ließe sich nicht ausagieren? Es kommt zu keiner Katharsis? Aber was hält die Gestalttherapie dann für eine Therapie bereit?

Blankertz: Ausagieren, Marko, heißt doch, ohne Gewahrsein zu handeln. Das ist immer schlecht. Sinnlose Destruktion lässt sich nur vermeiden dadurch, dass die aggressiven Impulse sich ihrem sinnvollen Ziel annähern können. Goodman sagt klipp und klar: Wenn die zur Ohnmacht Verdammten einen Gewaltfilm ansehen, steigert das ihre Gewaltbereitschaft auf zweierlei Art: Zum ersten ist die aktuelle Situation eine, in der sie zur Bewegungslosigkeit verurteilt sind, zum anderen bekommen sie in ihrer Bewegungslosigkeit die illusorische Möglichkeit vorgeführt, auszubrechen. Sie werden sich mit dem Aggressor identifizieren und das gibt ihnen die Erlaubnis, aggressiv zu sein. Der Ausgang des psychologischen Experimentes, das die Kritiker der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie anführen, ist von Goodman in genau dieser Form vorhergesagt worden. Man kann das nachlesen und ohne irgendeine Interpretationshilfe verstehen. Das Experiment bestätigt Goodman und seine Theorie; es widerlegt ihn bzw. sie in keiner Weise.

Strab: Du meinst, dies sei unzweifelhaft, also keine Interpretation von dir, und das Ziel der Kritiker war es, auf Teufel komm heraus die gestalttherapeutische Aggressionstheorie zu widerlegen? Aber warum sollten sie das wollen? Welchen Zweck verfolgen sie denn deiner Meinung nach damit?

Blankertz: Die gestalttherapeutische Aggressionstheorie ist ein Hindernis auf dem Weg, die Gestalttherapie in die gesellschaftliche Konformität der Institutionen einzugliedern. Die Institutionen sind, wie Goodman im Begriff der »organisierten Gesellschaft« festhielt, immer und ausschließlich an Kontrolle über die Körper und die Köpfe der Menschen interessiert; heute meist unter dem Deckmantel der Fürsorge. Individuelle Widersetzlichkeit, besonders in aggressiver Form, ist stets ein Angriff auf diese Kontrolle. Du hast eben ironisierend von »jeder ist seines Glückes Schmied« gesprochen. Aber das ist genau das Subversive an der Gestalttherapie: Mach dein Ding, such dir Freunde, die es mit dir tun wollen, und zieh es durch. Scheiß auf die Institutionen.

Strab: Gerade in der Kindererziehung und an Schulen wird heute die gewaltfreie Erziehung propagiert. Die Kids sollen ruhig »ihr Ding machen«, wenn du es so aus-drücken willst, aber dabei auch lernen, ihre Bedürfnisse über verbale Konfliktlösungen und Kompromisse zu befriedigen, anstatt zu schlagen, wenn ihnen etwas nicht passt oder ihnen etwas in die Quere kommt. Wo siehst du da den Widerspruch?

Blankertz: Goodman drückt mit dem Begriff der »organisierten Gesellschaft« aus, dass es ein Problem ist, wenn die Gesellschaft schon als »fertig« angesehen wird. Alles ist geregelt und einrichtet. Das aber heißt: Ich kann die Gesellschaft nicht »für mich« passend machen, wie Goodman sagt. Die »gewaltfreie Kommunikation« ist immer von wissenden Erwachsenen aufgenötigt. Es gibt kein Experimentieren. Du musst. Du sollst. Das kommt auf sanften Pfoten und ist darum fast noch unausweichlicher als die alte Erziehung, gegen die man wenigstens noch opponieren konnte. Das, was nicht gesehen wird, ist, dass bei der »Gewaltfreiheit« immer viel Gewalt ausgeübt wird, nämlich gesellschaftliche Gewalt. Sie ist selbstredend rational, weil sie im Dienst des Friedens steht. So wie wir Frieden in Afghanistan stiften: Wir gehen dahin und sagen denen, wie sie gefälligst zu leben haben. In der Tat will kaum einer unter den Taliban leben, ebenso wie kaum ein Schüler zu einer Schule gehen will, in der die Schläger regieren. Und dennoch solidarisieren sich die Unterdrückten nicht mit der wohlmeinenden Gewalt, sondern gebärden sich mindestens zurückhaltend und oft genug feindselig. Warum wohl? Weil die wohlmeinende gleichzeitig die größere Gewalt ist.

Strab: Darüber müssen wir uns ein anderes Mal streiten, Stefan. Ich bleibe vorerst beim Thema Erziehung. Du schreibst ja sogar, dass die Aggression eine positive Rolle in der Moralerziehung spielt. Ist eine solche These die pure Lust an der Provokation? Ziehst du deinen Kick aus den erschreckt aufgerissen Augen der vor den Kopf gestoßenen Riege von Erziehern, Eltern, Lehrern und nicht zuletzt Psychologen?

Blankertz: Durchaus nicht. Die Idee dazu geht sogar auf den ehrwürdigen Jean Piaget zurück, obwohl es bei ihm zugegebenermaßen nicht exakt so steht; also das ist eine Interpretation von mir. Er spricht aber davon, dass für die Moralentwicklung das unbeaufsichtigte Spiel notwendig sei. Warum? Weil sich die Kinder da probeweise mit den verschiedenen Möglichkeiten der Vergesellschaftung auseinandersetzen. Sie lernen, was Verbindlichkeit bedeutet. Piaget benutzt den genialen Ausdruck von den »immanenten Bedingungen der Vergesellschaftung«, die im unbeaufsichtigten Spiel erfahren werden. Aber auch, was es bedeutet, Regeln den Umständen entsprechend zu verändern. Das ist es, was die Stufe der souveränen, autonomen Moral ausmacht. Piaget spricht nicht von Aggression, aber genau das, was er beschreibt, ist mit dem Begriff der positiven Aggression in der gestalttherapeutischen Theorie gemeint. Auch Piagets Betonung des Experimentes, des Ausprobierens, des Erlebens passt zur gestalttherapeutischen Lerntheorie. Pointiert ausgedrückt folgt aus Piaget: Wenn die Kinder keine Möglichkeit zum unbeaufsichtigten Spiel haben, wenn alle Regeln schon festgelegt sind von allwissenden, allmächtigen und allgütigen Erwachsenen, dann kommen sie nie auf die Stufe autonomer Moral. Sie kennen nicht den Eigenwert von Dingen wie Verbindlichkeit und anderen sinnvollen Normen, Regeln usw., sondern sehen in ihnen einzig das ihnen Überstülpte. Damit können wir viel besser als mit allen anderen Ansätzen erklären, warum die nachwachsende Generation so viel Probleme mit den sozialen Werten hat. Also: Ohne individuelle Aggression keine humane Moral und auch kein internationaler Frieden.

Strab: Wenn wir das alles zugeben, bleibt aber doch, dass man landläufig eben etwas ganz anderes unter »Aggres­sion« versteht. Braucht die Gestalttherapie denn wirklich die Theorie der positiven Aggression oder wäre es im Sinne der gesellschaftlichen Anerkennung nicht besser, auf diesen umstrittenen Begriff zu verzichten?

Blankertz: Wenn es nur um Worte ginge, wäre ich der erste der sagen würde: Lasst uns einen anderen, womöglich besseren, jedenfalls weniger missverständlichen Begriff wählen. Aber wenn wir am Inhalt der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie festhalten, werden wir anecken, unter welcher begrifflichen Flagge auch immer wir segeln. Denn es geht ja darum, dass das Ziel der organisierten Gesellschaft darin besteht, das Individuum mundtot zu machen. Jeder, der dem Individuum ein Sprachrohr gibt, verstößt gegen den heiligen Konsens der Demokraten und anderer Gutmenschen. Die Menschen sind dumm und müssen vor sich selbst geschützt werden: Nur wer das sagt, hat die gesellschaftliche Zustimmung auf seiner Seite. Jeder andere ist böser Neoliberaler, Turbokapitalist, Heuschrecke, kalter Verfechter von Individualismus und Darwinismus, verficht eine Dschungelmentalität und das Recht des Stärkeren. Und genau für all dies steht die Gestalttherapie, jedenfalls in ihrer ursprünglichen Formulierung.

Strab: So langsam wird mir einiges klarer, auch wenn ich noch nicht weiß, ob ich dem zustimmen kann. Der Untertitel deiner Streitschrift lautet »Gestalttherapie als Praxis der Befreiung«. Dieser Titel verwirrt zum einen, denn viele wollen sicherlich lieber von der Aggression oder, wie du gerade gesagt hast, dem kaltherzigen Individualismus und Turbokapitalismus befreit werden, als dies alles zu verteidigen. Und dann handelt dein Buch von der Theorie und nicht von der therapeutischen Praxis.

Blankertz: Theoriefeinde, habe ich mal geschrieben, sind die eigentlichen Konformisten. Wer sich den Zwängen der Praxis kritiklos anpasst, kann nicht anderes, als das Bestehende zu perpetuieren. Die Praxis zwingt dazu: Die Klienten wollen unter den gegenwärtigen Bedingungen besser funktionieren. Die Therapeuten müssen unter den gegenwärtigen Bedingungen ihren Lebensunterhalt verdienen. So einfach ist das. Aber die Theorie ist auch eine Form der Praxis: Sie kann sagen, was schief läuft. Sie kann aufdecken, wie das Getriebe läuft, wie die »organisierte Gesellschaft« funktioniert. Damit hat sie die Eigenschaft, dass sie Befreiung denkmöglich hält. Indem die Gestalttherapie sich nicht in therapeutischer Praxis erschöpft, weist sie über die Praxis hinaus auf eine mögliche Praxis der Befreiung. Befreiung vom Diktat des gewaltsamen Konformismus, Befreiung vom Aggressionsverbot und damit Befreiung von sinnloser Destruktivität, Befreiung von neurotischer und zwanghafter Selbst- und Fremdzerstörung.

Strab: Was hat dich als Sozialwissenschaftler dazu veranlasst, dich an die Gestalttherapie zu wenden, um eine solche, für viele bestimmt absonderliche Utopie der Befreiung zu formulieren?

Blankertz: Die Welt in ihren kritischen Punkten zu erklären, um die Möglichkeit der Besserung zu eröffnen, darin besteht mein Ziel. Dieses Ziel hat ja schon in sich einen therapeutischen Klang, jedenfalls wenn wir davon ausgehen, dass die Menschen sich nicht aus freien Stücken dem Verhängnis unterwerfen. Paul Goodmans Schriften lernte ich schon Anfang der 1970er Jahre kennen. Ich war ein mit der Schule unglücklicher Schüler und mich faszinierte Goodmans Schulkritik. Und ich folgte seiner Denkbewegung, die da sagte, dass Veränderung nur möglich ist, wenn es gelingt, die Menschen wieder ein Stück zu sich selbst zu führen, das aber heißt nicht Innerlichkeit, sondern Kontakt zu sich und zu anderen aufzunehmen, Freiräume zu erkennen und auszunutzen, von dort ausgehend weitere Freiräume zu erkämpfen und so weiter.

Strab: Dein Angriff auf die »organisierte Gesellschaft«, deine Verteidigung von Individualismus und, wenn ich dich richtig verstehe, Liberalismus und sogar Kapitalismus hört sich ja eher politisch als therapeutisch an. Was ist überhaupt dein gesellschaftliches Ziel oder dein politischer Hintergrund?

Blankertz: Mein oberstes Ziel heißt immer Toleranz. Das, was mich aufregt, ist jede Beschneidung nicht nur von Meinungs- und Glaubensfreiheit, sondern auch all die Beschneidungen der Freiheiten, anders zu handeln und zu leben, als es den vorgegebenen Bahnen entspringt. Dieses Ziel vereint Liberalismus und Anarchismus. Goodman vertrat beides: Liberalismus als Hintergrund und Anarchismus als Radikalisierung in einer historischen Situation, in der der offizielle Liberalismus seinen Frieden mit der »organisierten Gesellschaft« gemacht hatte.

Strab: Also nicht der Anarchismus des »schwarzen Blocks« und der militanten antikapitalistischen Aktion? Die würden ja auch zur Aggression passen!

Blankertz: Anarchismus ist ein Begriff, der ebenso in Verruf geraten ist wie der der Aggression. Die Gruppen, die du erwähnst, verstehen, wenn sie sich als Anarchisten bezeichnen, den Inhalt nicht mehr. Ihre Aggression unterscheidet sich kaum von der der Hooligans und der Rechtsradikalen. Es ist neurotische Gewalt, in Goodmans Worten: unnatürlich. Denn sie zielen nicht darauf ab, dass mehr Freiraum entsteht, sondern üben eine noch extremere Form der Intoleranz aus als der Staat, den sie angeblich bekämpfen. Der Anarchist strebt, wie Goodman sagt, Autonomie und In-Ruhe-gelassen-werden für sich und seine freiwillig gebildete Gruppe an, nicht aber die Hoheit darüber, wie andere handeln, was andere denken, tun oder lassen. Kommunismus und Kapitalismus, sagt Goodman, sind beide dann und solange mit dem Anarchismus kompatibel, wie sie freiwillig sind. Und dies war seiner Meinung nach auch das Ideal von Thomas Jefferson.

Strab: Noch etwas anderes. Im Vorgespräch hast du mir am Telefon erzählt, Stefan, dass das neue Buch von Peter Handke eine Art Bestätigung für die gestalttherapeutische Aggressionstheorie enthält. Es ist viel über »Noch immer Sturm« geschrieben worden, in manchen Städten laufen Adaptionen für das Theater; aber von gestalttherapeutischer Aggressionstheorie war da nie die Rede.

Blankertz: Es geht in Handkes Erzählung darum, wie die slowenische Minderheit in Österreich den Zweiten Weltkrieg erlebt. Das kristallisiert sich an seiner eigenen Familie. Dabei stellt er dar, dass von österreichischen Slowenen der einzige bewaffnete Widerstand gegen die Nazis auf dem so genannten Reichsgebiet ausging. Dies vorausgeschickt. Aber er beschreibt sehr differenziert, wie die Familienmitglieder auf den Ausbruch des Kriegs reagiert haben. So tritt auch die ältere Schwester der Mutter auf, Ursula, die von der Familie schlecht behandelt wurde. Sie sagt: »Im Krieg, so habe ich gedacht, werde ich endlich meinen Platz finden« (S. 17). Und selbst die Mutter, die im Krieg einen ihrer Brüder verliert, sagt: »Ja, ohne Krieg hätten wir nie einander geschrieben. Ohne den Krieg hätte ich nichts Schriftliches in der Hand von meinen Brüdern. Ah, der Krieg! Gelobt seist du, Krieg! Durch dich sind meine Brüder in der Welt herumgekommen« (S. 56). Und einer der Brüder, Valentin, sagt: »Mir persönlich hat der Krieg bis jetzt fast nur Gutes gebracht, nicht wahr? Sogar Deutschland ist für mich schon der Westen, das Weltoffene« (S. 82).

Strab: Und das summiert sich zu einer Verteidigung der kriegerischen Aggression? Muss man Goodman so verstehen?

Blankertz: Das genau nicht, Marko. Handke versprachtlicht hier aber die Motive, die Goodman nennt, die dazu führen, sich mit dem Krieg, oder, wie er sagt, dem »Massenselbstmord ohne Schuldgefühle« zu identifizieren: Die Motive bestehen darin, aus dem Käfig ausbrechen zu wollen, den die gesellschaftlichen Umstände um den Körper gelegt haben. Aber der Krieg ist keine Lösung. Dann beschreibt Handke auch das, was Goodman gegen bewaffneten Kampf generell eingewandt hat: Die Widerstandskämpfer richten zwei Leute hin, die sich ihrer Meinung nach nicht konform verhalten haben (S. 110ff). Einer der Widerstandkämpfer erschrickt über sich selbst, als er gegen einen Säugling wütet, Kind einer Slowenin und eines Deutschen; er bemerkt nämlich, »dass ich sogar in dem käsigen Säugling da den Feind sehe« (S. 79). Und schließlich schlägt auch noch »der gute Frieden in einen bösen um« (S. 140), wie der Erzähler am Ende resigniert feststellt, denn die Widerstandskämpfer werden im Nachkriegsösterreich schnell zu Aussätzigen. Krieg bringt keine positive Lösung, ist nicht positive Aggression im Sinne der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie: Krieg ist keine Praxis der Befreiung.

Strab: Da bin ich ja beruhigt. Wenn man dein Buch durchblättert, fällt auf, dass es schon formal nicht wie ein übliches Sachbuch daherkommt. Es gibt kleine Paragrafen, mal länger, meist aber ziemlich kurz, zum Teil bestehen sie aus unkommentierten Zitaten, mal Thomas von Aquin, mal Meister Eckhard, mal Paul Goodman, dann wieder kommt die Besprechung eines Films von John Ford oder eine Geschichte aus einem fiktiven Land, das du Ruritanien nennst. Und der Leser soll sich da selbst einen Reim draus machen.

Blankertz: Genau. Mein Text ist nicht-sequenziell, das heißt, du kannst ihn aufschlagen und irgendwo beginnen, von da aus zurück oder nach vorn gehen, verweilen, wo es dir interessant erscheint, oder überschlagen, was dich in dem Moment nicht anspricht. Das Wichtigste ist, dass du dir selbst deine eigenen Gedanken machst. Das will ich anregen.

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Stefan Blankertz (Foto: Hagen Wilsch)
Stefan Blankertz (Foto: Hagen Wilsch)

Stefan Blankertz ist Sozialwissenschaftler und Schriftsteller (www.stefanblankertz.de). Er arbeitet als Theorie­trainer am »Gestalt-Institut Köln (GIK)«. In enger Zusammenarbeit mit dem GIK hat er das computergestützte, auf der Gestalttherapie basierende Diagnose-Instrument »GTI Gestalttypen-Indikator« (www.gti-coaching.de) entwickelt. Mit Erhard Doubrawa verfasste er die »Einladung zur Gestalttherapie« und das »Lexikon der Gestalttherapie«, die ebenfalls im Peter Hammer Verlag erschienen sind.

Marko Strab studiert Psychologie in Leipzig, ist auf dem besten Weg, Psychoanalytiker zu werden und entdeckt gerade seine Leidenschaft für die Gestalttherapie.

 

Cover: Verteidigung der Aggression

Stefan Blankertz
Verteidigung der Aggession
Gestalttherapie als Praxis der Befreiung

Herausgegeben von Anke und Erhard Doubrawa

Für Glück im Leben und mehr Frieden in der Welt müssen unterdrückte Aggressionen freigesetzt werden. Diese provokante These haben Perls, Hefferline und Goodman 1951 im Gründungsdokument der Gestalttherapie aufgestellt. In der Phase der Anpassung der Gestalttherapie an institutionelle Rahmenbedingungen ist diese These zum Ärgernis geworden. Stefan Blankertz' Buch ist ein engagiertes Plädoyer für eine Gestalttherapie, die zu ihren Wurzeln zurückfindet.

Edition Gestalt-Institut Köln / GIK Bildungswerkstatt
im Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2010
90 Seiten, Paperback,13,90 Euro
Wir senden Ihnen dieses Buch gerne auf Rechung - natürlich versandkostenfrei!

Bestellanschrift: gik-gestalttherapie@gmx.de

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