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Erhard Doubrawa
Gestalttherapie und Achtsamkeit

Aus der Gestaltkritik 2/2009:

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus Gestaltkritik 2/2009:

Erhard Doubrawa
Gestalttherapie und Achtsamkeit

Erhard DoubrawaErhard Doubrawa

Zusammenfassung

Man sollte meinen, Achtsamkeit sei eine in der Psychotherapie selbstverständliche Haltung. Die gegenwärtige Diskussion um den Begriff zeigt jedoch, wie schwer es ist, diese Haltung in der Praxis wirklich zu leben. Dieser Beitrag entwickelt die Haltung der Achtsamkeit im Verhältnis zum gestalttherapeutischen Begriff des Gewahrseins und leitet daraus eine Systematik der Intervention ab. Sie betrifft die Frage, wie TherapeutInnen ihr inneres Erleben diagnostisch nutzen und wie sie es den KlientInnen im therapeutischen Prozess zur Verfügung stellen.

 

Fazit

Achtsamkeit ist die Haltung. mit der TherapeutInnen sich auf dem Weg der Demut halten und sich vor dem unbewussten Ausagieren von Omnipotenzfantasien schützen. Der Begriff der "Achtsamkeit" schließt somit auch eine gewisse Selbstkritik der Gestalttherapie ein. In den Anfängen hat die Forderung nach "Authentizität" mitunter dazu verleitet, dass (Gestalt-)TherapeutInnen meinten, aufkommende Gefühle unmittelbar "ausagieren" zu sollen. Noch heute prägt das teilweise das Bild, das von der Gestalttherapie existiert. Achtsamkeit dagegen ist eine Haltung. die zu einer "selektiven Authentizität" (Ruth C. Cohn) führt und ein verletzendes "Agieren" (Handeln ohne Gewahrsein) der TherapeutInnen zu verhindern sucht.

 

Gewahrsein: Das zentrale Konzept der Gestalttherapie

Mit Gestalttherapie wird eine Ende der 1940er Jahre in den USA begründete Richtung der Psychotherapie bezeichnet, die vor allem darauf abzielt, die Kontakt- und Wahrnehmungsfähigkeit im Hier und jetzt zu stärken.

Entwicklungsgeschichte. Das theoretische Grundlagenwerk "Gestalt Therapy" wurde von dem emigrierten deutschen Psychoanalytiker Fritz Perls (1893-1970), dem Psychologen Ralph Hefferline (1910-1974) und dem Schriftsteller Paul Goodman (1911-1972) verfasst und 1951 veröffentlicht - unter Mitwirkung der Psychoanalytikerin Laura Perls (1905-1990). Die Verbindung mit dem Jugendprotest (Paul Goodman) und der Hippiekultur (Fritz Perls) in den 1960er Jahren brachte der Gestalttherapie eine Popularisierung, aber auch den Ruf des Aussteigertums. Inzwischen hat die Gestalttherapie den Anschluss an die klinische und psychologische Diskussion und Forschung gesucht.

Gestaltpsychologie. Der Begriffsbestandteil "Gestalt" bezieht sich auf die Gestaltpsychologie, die Ende des 19. Jahrhunderts in Österreich und Deutschland entwickelt wurde. Die Gestaltpsychologen (u.a. Wolfgang Köhler, Kurt Lewin, Kurt Goldstein) befassten sich mit den Wahrnehmungsvorgängen und beschrieben sie als ganzheitlichen Prozess: Aus dem Hintergrund all dessen, was wahrgenommen (gehört, gesehen, gerochen, ertastet, geschmeckt, empfunden) werden kann, werden sinnvolle Einheiten - "gute bzw. prägnante Gestalten" - gebildet, die sich aus den Interessen und aus dem Vorwissen der/des Wahrnehmenden ergeben. Die BegründerInnen der Gestalttherapie machten sich diese Erkenntnisse zunutze und fragten, welche psychischen Mechanismen dazu führen, dass Menschen keine prägnanten Gestalten bilden und wie therapeutische Interventionen aussehen müssen, um zu einer guten Gestaltbildung zurückzufinden.

Gestalttherapie. Probleme bei der Gestaltbildung können nach Auffassung der Gestalttherapie etwa auftreten, wenn das aktuell Wahrzunehmende von vorher gemachten Erfahrungen überlagert wird. Dann wird nämlich nicht mehr wahrgenommen, was da ist, sondern eher, was wir hoffen oder was wir befürchten. Das in der Vergangenheit Erfahrene oder "Gelernte" wird auf das Gegenwärtige projiziert. Zwei Beispiele für solche Projektionen:

Mit der Konzentration auf die (aktuelle) Wahrnehmung widerspricht die Gestalttherapie der psychoanalytischen Orientierung an der Vergangenheit (Geburtstrauma, Kleinkindphasen) und wendet sich der Gegenwart (dem "Hier und Jetzt") zu.

Beziehung. Auch auf dem Gebiet der Beziehung der TherapeutInnen zu den KlientInnen setzt die Gestalttherapie einen anderen Akzent als die Psychoanalyse. Der Gestalttherapie geht es um eine aktive und wechselseitige Beziehung zwischen KlientInnen und TherapeutInnen. Die therapeutische Begegnung selbst ist das Experimentierfeld, auf dem die TherapeutInnen die KlientInnen einladen, ihr Wahrnehmungs- und Kontaktverhalten sowie eventuelle Problempunkte zu erforschen. Im Zusammenhang mit dieser Beziehungsfrage bekommt die dialogische Philosophie von Martin Buber neben der Gestaltpsychologie eine große Bedeutung für die Gestalttherapie. Buber unterscheidet zwischen Ich-Es-Beziehung (das Gegenüber wird als "Sache" behandelt) und Ich-Du-Beziehung (das Gegenüber wird als Subjekt geachtet). Die Philosophie Bubers wird von der Gestalttherapie als Aufforderung an TherapeutInnen gelesen, mit den KlientInnen in einen achtungsvollen, heilenden Dialog einzutreten, in der die GesprächspartnerInnen sich gegenseitig als verantwortliche Subjekte wahrnehmen.

 

Psychotherapie und Achtsamkeit

Wenn "Achtsamkeit" neuerdings ein zentraler Diskussionsgegenstand in der Psychotherapie geworden ist, so kann das einigermaßen verwundern. Worum geht es in der (psycho-)therapeutischen Beziehung, wenn nicht um Achtsamkeit? Und wie kann man sich vorstellen, dass Psychotherapie erfolgreich sein könnte ohne Achtsamkeit? Wenn in der Psychotherapie von der Notwendigkeit der Achtsamkeit gesprochen wird, geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit Defiziten in der Psychotherapie. Zwei Dimensionen sind mir wichtig.

 

Geteilte Achtsamkeit ist keine

Achtsamkeit schließt Ganzheitlichkeit ein. Um das zu erklären, beginne ich mit einer Analogie: Psychotherapeuten werfen somatischen Ärzten oft vor, Symptome zu kurieren, ohne die Möglichkeiten psychischer Verursachungszusammenhänge in Betracht zu ziehen. Sie achten also unter Umständen nicht die Bedeutung des Symptoms. Die Erfahrung mit psychotherapeutischer Praxis zeigt jedoch, dass das Achten der Verursachungszusammenhänge allein noch nicht ausreicht. Denn ebenso wie ein somatischer Arzt ein Symptom wie z.B. Magen- oder Kopfschmerzen rein körperlich "wegtherapieren" kann, kann ein Psychotherapeut ein solches Symptom isoliert betrachten und mit der "geeigneten" Intervention beseitigen, ohne den Gesamtzusammenhang im Leben der KlientInnen zu beachten.

Das Symptom achten. Nach gestalttherapeutischer Ansicht ist ein Symptom Ausdruck von schöpferischer Anpassung: Mit dem Symptom wird ein Problem gelöst. Eine Veränderung kann nur heilsam sein, wenn im Leben der KlientInnen genügend Unterstützung vorhanden ist, um das ursprüngliche Problem auf eine andere, bessere Weise zu lösen. KlientInnen und TherapeutInnen müssen dazu zunächst im Symptom die Kraft zur schöpferischen Anpassung achten. Aus der Wiederentdeckung dieser Kraft fließt dann (erfahrungsgemäß) Kraft in das vorsichtige Experimentieren mit anderen Lösungsmöglichkeiten. Aus der Achtsamkeit ergeben sich so betrachtet für mich drei psychotherapeutische Haltungen:

Die Haltung der Vorsicht macht auch das Wesentliche der zweiten Dimension aus, die ich mit dem Begriff der Achtsamkeit verbinde.

 

Achtsamkeit ist Vorsicht

Gestalttherapie arbeitet daran, das Gewahrsein der KlientInnen zu erhöhen, weil sie davon ausgeht, dass das Wahrnehmen und die Akzeptanz dessen, was ist, die Grundlage für alle Veränderungsprozesse bildet. Darüber hinaus nutzen GestalttherapeutInnen ihr eigenes Gewahrsein im Kontakt mit den KlientInnen als diagnostisches Instrument. (Das geht auf Miriam und Erving Polsters [2000] Aussage zurück: "TherapeutInnen sind ihr eigenes Instrument.") Allerdings reicht Gewahrsein allein nicht aus, denn es könnte zu Verletzungen einladen. Gestalttherapeutisch gesehen ergibt sich aus dem Dreiklang von "Wahrnehmung", "Gewahrsein" und "Achtsamkeit" Folgendes:

Warum es meines Erachtens nötig ist, dass ergänzend zum Gewahrsein die Achtsamkeit tritt, möchte ich an einem Erlebnis deutlich machen.

Verletzung. Vor einiger Zeit hatte ich ein Vorgespräch mit jemandem, der bei uns am Gestalt-Institut Köln ausgebildet werden wollte (und sich nach diesem Gespräch auch tatsächlich angemeldet hat). Er fragte mich, ob wir in unserer Arbeit dem Klienten unser inneres Erleben mitteilen. Ich nickte zustimmend, hielt dann aber inne und fragte ihn, was er damit meine. Er erklärte, dass er an einem Therapie-Workshop teilgenommen habe und sei sehr angetan davon, wie authentisch der Therapeut sein eigenes inneres Erleben in den therapeutischen Prozess eingebracht habe. Er habe einem Workshop-Teilnehmer z.B. ganz offen und spontan Folgendes gesagt: "Ich fühle mich von Ihnen gelangweilt."

Zumindest bemühe ich mich, dies nicht so zu machen. Der Satz - "Ich fühle mich von Ihnen gelangweilt." - ist meiner Auffassung nach nicht das Mitteilen von innerem Erleben. Es handelt sich vielmehr um eine Projektion aufseiten des Therapeuten, weil er nicht über sich und sein Erleben spricht (obwohl er es durch die Formulierung "fühle" nahe legt, das zu tun). Anscheinend gibt das Sprechen vom Gefühlten die Erlaubnis, alles Mögliche unhinterfragt auszudrücken, in diesem Fall also einen Vorwurf an den Klienten, als sei dieser daran schuld, dass der Therapeut sich langweile. Natürlich war der Klient in diesem Falle Anlass für das Erleben des Therapeuten, aber nicht für seine Interpretationen, Projektionen oder Ähnliches.

Ich unterscheide also zwischen dem unmittelbaren Erleben und der Bedeutung, die ich diesem Erleben gebe. Wie fühlt sich das an, was ich - manchmal auch selbst - vorschnell "langweilig" nenne? Was sind die Phänomene meines Erlebens? Und wie kann ich sie phänomenologisch beschreiben? Um das herauszufinden, muss ich mich beschränken und die vorschnelle Benennung "langweilig" weglassen. Ich stelle also fest: "Ich fühle mich müde. Meine Energie ist niedrig. Ich bin unkonzentriert. Leicht zusammengesunken. Kann den Klienten gar nicht anschauen. Mein Kopf ist etwas gesenkt. Ich atme wenig und ein wenig schwer." Außerdem höre ich diese Stimme in mir: "Reiß dich zusammen. Du kannst dich doch nicht so gehen lassen. Hier, vor deinem Klienten, das solltest du eigentlich besser können. Nach so vielen Jahren Ausbildung. Und immer noch nichts gelernt." Und ... und ... und ... Diese Stimme möchte ich einfach mein "Über-Ich" nennen, das sich nun also auch eingeschaltet hat. O Schreck, als Gestalttherapeut darf ich das Über-lch gar nicht haben. Das ist ja eine psychoanalytische Kategorie. Besser drücke ich diesen "verbotenen" Gedanken schnell weg. Jetzt fühle ich mich schon viel wohler und kann auf einmal "wahrnehmen", dass es eigentlich der Klient ist, der mich langweilt. Und weil das Mitteilen von innerem Erleben eine der originären Aufgaben von GestalttherapeutInnen ist. werde ich ihm das mitteilen: "Ich fühle mich von Ihnen gelangweilt." Damit ist meine therapeutische Projektion perfekt.

Doch selbst die scheinbar rein phänomenologische Beschreibung - "Ich merke, wie meine Energie weggeht." - kann die gleiche Verletzung auslösen, wenn ich sie unhinterfragt ausspreche. Gordon Wheeler (2006) weist darauf hin, dass es dem natürlichen Prozess der Gestaltbildung entspricht, eine scheinbar wertungslose Beschreibung um die Dimension der Bewertung zu ergänzen. Wenn die TherapeutInnen demnach sagen: "Meine Energie geht weg", kann es durchaus sein, dass die KlientInnen hören: "Sie langweilen mich."

Unterstützung. Eine Deutung aufseiten der KlientInnen, das mitgeteilte Erleben der TherapeutInnen sei eine versteckte Verletzung, kann nie ganz ausgeschlossen werden, wird jedoch seltener, wenn die Beziehung zwischen den KlientInnen und den TherapeutInnen eine gewisse unterstützende Qualität erreicht hat: Die KlientInnen müssen sich sicher fühlen, dass die TherapeutInnen mit der phänomenologischen Beschreibung keine Abwertung intendieren (obwohl sich eine solche natürlich immer wieder einschleichen kann). TherapeutInnen müssen zunächst daran arbeiten, dass KlientInnen ihnen die Achtsamkeit auch abnehmen können. Es reicht nicht aus, wenn TherapeutInnen beteuern, sie würden es "ehrlich" meinen. KlientInnen haben meist so schlechte zwischenmenschliche Erfahrungen gemacht, dass sie berechtigte Zweifel an derartigen Beteuerungen haben. Diese Zweifel sind für diese KlientInnen nützliche Weggefährten und freundliche Vorsichtsschilder, sich nicht erneut verletzen zu lassen.

Unterstützung ist demnach nicht nur ein "Thema" im Leben der KlientInnen, sondern auch ein Thema der Beziehung zwischen ihnen und den TherapeutInnen. Vorsicht ist bei diesem Thema die wichtigste Haltung der TherapeutInnen. Das muss so nachdrücklich immer wieder betont werden, denn die Haltung der Vorsicht widerspricht dem Anliegen sowohl von KlientInnen und TherapeutInnen auf schnelle und sichtbare "Erfolge" im Heilungs- oder Veränderungsprozess. Stefan Blankertz (2003) bezeichnet dieses gestalttherapeutische Prinzip der "Selbst­beschränkung" als ein "therapeutisches Paradox".

 

Drei Stufen (gestalt-)therapeutischer Intervention

Aufgrund der hier skizzierten Überlegungen zur Achtsamkeit habe ich drei Stufen der gestalttherapeutischen Intervention herausgearbeitet.

 

Gewahrsein der TherapeutInnen

Das wichtigste Kennzeichen dieser Stufe besteht darin. dass sie "unsichtbar" bleibt. Ich bemühe mich um eine Haltung der Präsenz meinem Erleben und den KlientInnen gegenüber. Mein Erleben bezeichnet meine innere Wahrnehmung; das, was ich an den KlientInnen wahrnehme, ist meine äußere Wahrnehmung. Ich versuche, weder die innere noch die äußere Wahrnehmung zu werten, sondern bemühe mich darum, meine Wahrnehmungen für mich phänomenologisch zu beschreiben. Die Beschreibung dessen, was ich wahrnehme, wird nicht spontan geäußert, sondern findet im Stillen statt. Ich kommuniziere höchstens, dass ich z.B. gerade in mich hineinspüren möchte und dafür ein wenig Zeit brauche; darum würde ich jetzt gerade einen Moment schweigen. Ich lade die KlientInnen ein, auch in sich hineinspüren, wenn sie mögen.

Obwohl ich die erste Stufe der gestalttherapeutischen Intervention als "unsichtbare" Intervention beschrieben habe, handelt es sich bereits um eine wirkliche Intervention. Es ist ein recht verbreitetes Missverständnis, dass eine Intervention immer sichtbar, hörbar etc. sein müsse. Denn die Präsenz, die ich als Therapeut in mir aufzusuchen versuche, hat eine Feldwirkung. Sie unterstützt die Klientinnen, auch selbst Präsenz aufzusuchen. Das kennen wir auch aus anderen Zusammenhängen, z.B. der Meditation. Wenn ich alleine meditiere, dann fällt mir das oft schwer. In der Gemeinschaft fällt mir das viel leichter, so als würde ich dann von den anderen mitgetragen.

 

Gewahrsein der KlientInnen

Hier geht es jetzt um das Gewahrsein des Klienten, zu dessen Entwicklung und Entfaltung die Gestalttherapie beitragen will. Die TherapeutInnen fragen die KlientInnen nach ihren Wahrnehmungen. Sie stellen zuerst ganz offene und weite Fragen, damit die KlientInnen ihr eigenes aktives Wahrnehmen entfalten können. In unserem Beispiel: "Was nehmen Sie gerade wahr?"

Bei der Beantwortung dieser Frage müssen die KlientInnen nicht unbedingt entdecken, dass sie das Gleiche wahrnehmen wie die TherapeutInnen. Wenn ich z. B. traurig bin, dann darf ich von meinem Klienten nicht erwarten, dass er ~ sozusagen geführt durch meine pädagogisch-therapeutischen Fragen - herausfindet, er selbst sei traurig. Vielmehr geht es darum, dass mein Klient herausfindet, was bei ihm ist und das kann z.B. Wut sein. Nicht selten nehmen mein Klient und ich nicht einfach dasselbe in uns wahr, sondern Aspekte desselben Prozesses, z.B. Trauer und Wut. Ein anderes Mal haben meine inneren Wahrnehmungen gar nichts mit einem Klienten hier vor mir zu tun, sind vielmehr begründet in mir, in meinem aktuellen Erleben, meiner aktuellen Lebenssituation oder ... oder ... oder. Manchmal handelt es sich bei meinen Wahrnehmungen auch um das, was die Psychoanalyse "Gegenübertragungen" genannt hat: Sie sind meine (unbewusste) Antwort auf die (ebenfalls unbewusste) "Übertragung" meines Klienten auf mich. Die Frage der Gestalttherapie lautet, wie mit dieser Form der Projektion (Übertragung und Gegenübertragung) auf eine therapeutisch sinnvolle Weise umzugehen ist.

Wenn KlientInnen bei der Frage nach ihrer Wahrnehmung nichts auffällt, könnten die TherapeutInnen auch gezielter fragen, den Fragefokus also enger machen (dies aber erst nach einer offenen Frage): "Was nehmen Sie wahr, gerade jetzt, während Sie sprechen?" Oder einen noch etwas engeren Fokus wählen: "Was fällt Ihnen im Kontakt mit mir auf, während Sie jetzt mit mir sprechen?"

Dabei ist es entscheidend, dass die TherapeutInnen in einer Haltung der Demut bleiben und es nicht "besser" wissen, sondern sich dienend zur Verfügung stellen. Manchmal spüren KlientInnen noch nichts; noch ist ihnen ihre Wahrnehmung verschlossen. Dann sind TherapeutInnen besonders gefährdet, überheblich zu werden, also zu meinen, sie seien das "Modell" des besseren, des "besser gewahren" oder des "besser integrierten" Menschen. Doch das wäre Missachtung. KlientInnen sind nicht ohne Grund so, wie sie sind, nämlich von ihrer Wahrnehmung getrennt. Dies ist vielmehr eine Schutzreaktion z.B. nach erfahrenem Schmerz. Die mit dieser Sichtweise verbundene Haltung achtet und würdigt die KlientInnen.

 

Zurverfügungstellen der eigenen Wahrnehmungen

Erst im dritten Schritt steht - möglicherweise - ein Zurverfügungstellen der eigenen Wahrnehmungen durch die TherapeutInnen. Aus der skizzierten vorsichtigen Haltung heraus können sie den KlientInnen ihre Fremdwahrnehmung zur Verfügung stellen (z.B. "Ich nehme wahr, dass Sie Tränen in den Augen haben und schlucken.") oder auch ihr inneres Erleben mitteilen (z.B. "Ich nehme wahr, dass ich mich gerade schäme und scheu zu Boden blicke.").

Doch dies wird i.d.R. nicht gleich am Anfang einer Therapie geschehen, wenn die KlientInnen die gestalttherapeutische Arbeitsweise noch nicht kennen. Wenn die eigene Wahrnehmung an KlientInnen mitgeteilt wird, muss klar sein, dass dies ausschließlich dazu dient, die KlientInnen zur Entfaltung ihres Gewahrseins zu ermutigen und es weiterzuentwickeln. Soweit wie möglich sollte ausgeschlossen sein, dass die Mitteilung der Wahrnehmung als wertende Aussage missverstanden wird. An die Mitteilung der Wahrnehmung werden die TherapeutInnen immer Fragen stellen, die die Wahrnehmungsaktivität der KlientInnen fördern, z.B.: "Was nehmen Sie jetzt wahr?" (Frage nach dem, was für die KlientInnen jetzt im Vordergrund steht, jetzt für sie prägnant ist.) Und dann vielleicht: "Wie geht es Ihnen damit, dass ich Ihnen dies mitgeteilt habe?" Oder: "Was machen Sie mit dem, was ich Ihnen mitgeteilt habe?" (Frage danach. wie die KlientInnen die Mitteilung auf- oder annehmen: ob sie sie zum Anlass nehmen, ihr Gewahrsein zu entfalten, oder z.B. zum Anlass, sich Selbstvorwürfe zu machen, dass ihnen das vorher nicht selbst aufgefallen ist.)

Das Zurverfügungstellen der eigenen Wahrnehmungen der TherapeutInnen wirkt als Intervention im Rahmen der "paradoxen Veränderung" (Beisser 1997). Die Veränderung geschieht. Sie stellt sich ein, wenn ich das, was ist, angenommen habe. TherapeutInnen "machen" die Veränderung ebenso wenig wie die KlientInnen. Die Seelen der KlientInnen bahnen sich selbst einen Weg, wenn das, was ist, mit Gewahrsein erfasst ist. Die Beihilfe der TherapeutInnen besteht in ihrer Präsenz (sie fördern Gewahrsein) und darin, dass sie den Raum für die Eigenbewegung der Seelen der KlientInnen auf achtsame Weise offen halten. KlientInnen beschreiben oft, dass sie Veränderung wie ein Geschenk erfahren haben, das ihnen zugefallen ist. Manche nennen es auch Gnade.

 

Literatur

1 Beisser A. Wozu brauche ich Flügel? Ein Gestalttherapeut betrachtet sein Leben als Gelähmter. Wuppertal: Hammer, 1997

2 Blankertz S. Gestalt begreifen: Ein Arbeitsbuch zur Theorie der Gestalttherapie. Wuppertal: Hammer, 2003

3 Polster E, Polster M. Gestalttherapie (1975). Frankfurt: Fischer, 2000

4 Wheeler G. Jenseits des Individualismus: Für ein neues Verständnis von Selbst, Beziehung und Erfahrung. Wuppertal: Hammer, 2006

 

Weiterführende Literatur

5 Blankertz S, Doubrawa E. Lexikon der Gestalttherapie. Wuppertal: Hammer, 2005

6 Doubrawa E. Die Seele berühren: Erzählte Gestalttherapie. Wuppertal: Hammer, 2001

7 Fuhr R, Gremmler-Fuhr M, Sreckovic M. Handbuch der Gestalttherapie. Göttingen: Hogrefe, 2001

8 Hartmann-Kottek L. Gestalttherapie. Berlin: Springer, 2004

9 Perls F, Hefferline R, Goodman P. Gestalttherapie (1951). 2 Bände. München: DTV, 1980

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Erhard DoubrawaErhard Doubrawa

Erhard Doubrawa arbeitet seit vielen Jahren als Gestalttherapeut. Er ist Gründer und Leiter des Gestalt-Instituts Köln (GIK), wo er auch als Ausbilder tätig ist. Außerdem gibt er die Gestalttherapie-Zeitschrift Gestaltkritik heraus. Im Peter Hammer Verlag ediert er zusammen mit seiner Frau Anke, die als niedergelassene Psychotherapeutin tätig ist, eine Reihe zur Theorie und Praxis der Gestalttherapie. Buchveröffentlichungen u.a.: "Die Seele berühren: Erzählte Gestalttherapie", sowie - gemeinsam mit Stefan Blankertz - "Einladung zur Gestalttherapie: Eine Einführung mit Beispielen" und "Lexikon der Gestalttherapie".

Bitte beachten Sie auch die zahlreichen Beiträge des Autors in unserer Zeitschrift "Gestaltkritik" (alle Texte in voller Länge online).

Zuerst erschienen in der Zeitschrift: PiD Psychotherapie im Dialog: Psychoanalyse, Systemische Therapie, Verhaltenstherapie, Humanistische Therapien. Herausgegeben von Thomas Heidenreich und Johannes Michalak. Nr. 3, September 2006, 7. Jahrgang (Themenheft: Achtsamkeit und Akzeptanz) © PiD - Georg Thieme Verlag KG Stuttgart, 2006. Veröffentlichung an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung des Georg Thieme Verlags Stuttgart - wofür wir uns ganz herzlich bedanken.

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