Cover: Die Seele berühren. Erzählte Gestalttherapie

Erhard Doubrawa
Die Seele berühren
Erzählte Gestalttherapie

Erheblich erweiterte Neuauflage 2018
Jetzt auch als eBook!


Erhard Doubrawa arbeitet seit vielen Jahren als Gestalttherapeut. Er ist Gründer und Leiter der Gestalt-Institute Köln und Kassel (GIK), wo er auch als Ausbilder tätig ist.
In diesem Buch versammelt der Autor Geschichten, die er vielfach in seiner Arbeit erzählt hat - einzelnen Klientinnen und Klienten, in Workshops und Gruppen. Sie haben schon oft dazu beigetragen, daß Menschen sich wieder öffnen und sich so von anderen seelisch berühren lassen konnten.
Ein Klassiker der Gestalttherapie in einer erheblich erweiterten Neuauflage.

gikPRESS 2018 (Erheblich erweitere Neuauflage)
GIK Gestalt-Institute Köln & Kassel
188 Seiten , Paperback: 15,80 EUR, eBook: 9,99 EUR

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 Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Aus dem Buch:

Erhard Doubrawa
Die Seele berühren
Erzählte Gestalttherapie

Die ersten Rückmeldungen

»Ich bedanke mich für Dein neues Buch. Deine Ehrlichkeit und Offenheit hat mich sehr angerührt. Nachdem ich angefangen hatte zu lesen, konnte ich nicht mehr aufhören. Du erklärst mir Gestalttherapie ›mit Fleisch und Blut‹, nicht nur als Skelett. Und so, daß ich sie verstehe.« (Herbert Greif, Nideggen)

»In einer sehr belastenden Zeit (weil sehr viel und ›schwere‹ Arbeit) haben Deine Erzählungen auch meine Seele berührt. Ich konnte schon während des Lesens spüren, wie die harte Kruste des ›diagnostisch-psychoanalytischen touches‹ in meiner Arbeit sich aufzulösen begann und ich wieder offen und unbefangen (mit Lachen und Weinen) auf meine Patienten zugehen kann. Da ich auch dem einen oder anderen meiner Supervisanden diese ›Wohltat' angedeihen lassen möchte, bestelle ich noch drei weitere Exemplare Deines Buches.« (Elke Geser-Schellkopf, Gestalttherapeutin, Bayreuth)

»Lieber Erhard, hab' Dank für Dein wunderbares neues Buch. Es hat mich wahrhaftig tief erreicht. Ich konnte gar nicht aufhören zu lesen. Gerade erlebte ich eine Zeit, in der ich das Gefühl hatte, mich verschlossen zu haben. Es war wie eine Schutzhülle um mich entstanden, weil so viele Situationen um mich herum mich sehr beschäftigten und bewegten. Ich dachte schon, ich hätte mal wieder ›alles gut verpackt‹. Da kam Dein Buch und ich spürte wie mein Herz sich öffnete ... und meine Tränen liefen ... und die Schutzhülle mußte gar nicht mehr sein!« (Carina Gadebusch, Remscheid)

»Sie haben mir das wieder ein sehr schönes Buch geschickt. Eins, das wirklich an vielen Stellen anrührend ist, und so viele lebendige Facetten gestalttherapeutischer Arbeit und IHRER gestalttherapeutischen Arbeit und Person offenbart. So z.B.

  • die verschiedenen ›Botschaften‹, die im Weinen und in Tränen liegen können
  • die Bedeutung der ›Haltung‹ in der Arbeit, gegenüber der Reduktion auf Techniken
  • die Wichtigkeit von Demut. Sie kann als Schutz des Klienten wie des Therapeuten dienen. Das geht einher mit dem, was Sie später beschreiben:
  • sich dessen bewußt zu werden, was die ›Heiligkeit‹ der Ausübung von Therapie ausmacht.« (Detlev Kranz, Gestalttherapeut, Hamburg)

»Ich habe Dein neues Buch sehr gerne gelesen und war von seiner Lebendigkeit sehr beeindruckt. Oft hatte ich beim Lesen das Gefühl, du seiest bei mir und würdest mir das alles in einem Gespräch erzählen. Ich glaube, besser und verständlicher für den, der es nicht so mit den Fachbegriffen hat oder sich in der Materie besonders gut auskennt, kann man Gestalttherapie nicht mehr erklären.« (Gabriele Önal, Tübingen)

»Dein Buch hat mir sehr gefallen, ich war häufig berührt und den Tränen nahe. Die Erzählung von Deinem Vater hat auch mich wieder ermutigt, meine Mutter nochmal anders zu sehen oder ihr anders zu begegnen. Das Buch habe ich schon weitergegeben und auch weiterempfohlen, die Resonanz war ähnlich meinen Empfindungen.« (Martina Feldmayer-Ott, Köln)

Inhalt

Weinen angesichts von Schönheit
Heilung und Erzählen - einleitende Gedanken (Leseprobe 1)
Was ist Gestalttherapie?

Die Arbeit der Klienten
Auch ich war einst Klient
Die Seele berühren
Zwei Paare
Allerlei zwischen Himmel und Erde (Leseprobe 2)
Die Mokassins meines Vaters (Leseprobe 3)

Die Arbeit der Therapeuten
Mein Erleben - Quelle meiner Arbeit
Der männliche Therapeut
Den Klienten schützen (Leseprobe 4)
Den Therapeuten schützen
Den richtigen Therapeuten finden

Autobiographische Skizzen
Wie ich Gestalt annahm
Spiritualität
Politische Gestalttherapie
Die Gestalt wird deutlich

Bonus Tracks
Sich berühren lassen
Vom Schutzschirm der Schüchternheit
Von Klienten-Therapeuten und Therapeuten-Klienten
Gestalttherapie und Achtsamkeit
Literaturempfehlungen

Leseprobe 1

Heilung durch Erzählen - einführende Gedanken

Man bat einen Rabbi, dessen Großvater ein Schüler des Baalschem gewesen war, eine Geschichte zu erzählen. »Eine Geschichte«, sagte er, »soll man so erzählen, daß sie selber Hilfe sei.« Und er erzählte: »Mein Großvater war lahm. Einmal bat man ihn, eine Geschichte von seinem Lehrer zu erzählen. Da erzählte er, wie der heilige Baalschem beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater stand und erzählte, und die Erzählung riß ihn so hin, daß er hüpfend und tanzend zeigen mußte, wie der Meister es gemacht hatte. Von der Stunde an war er geheilt. So soll man Geschichten erzählen.« (Martin Buber)

In diesem Buch geht es mir darum, Gestalttherapie auf eine Weise vorzustellen, daß sie für Sie, liebe Leserinnen und Leser, erfahrbar wird. Am besten trifft das, was ich damit meine, die einleitend zitierte Anekdote, die ich bei Martin Buber im Vorspann zu seinen »Erzählungen der Chassidim« gefunden habe.

Ich habe sie zum ersten Mal gelesen, als ich Student der katholischen Theologie war. Damals beschäftigten wir uns mit der Frage, wie Glaubenserfahrungen zu vermitteln sind. Wir entdeckten, daß dies nur »narrativ« geschehen kann - erzählend also.

Ich freue mich, daß ich jetzt - mehr als 25 Jahre später - wieder an eine ähnliche Stelle komme. Heute frage ich mich, wie gestalttherapeutische Erfahrungen weitervermittelt werden können. Wieder entdecke ich, daß dies eigentlich nur erzählend möglich ist. So möchte ich nun damit beginnen, von meinen gestalttherapeutischen Erfahrungen zu erzählen: von meinen Erfahrungen als Klient, von meinen Erfahrungen in der gestalttherapeutischen Ausbildung, vor allem aber von meinen Erfahrungen, die ich als Gestalttherapeut und später als Lehrer der Gestalttherapie machen durfte.

Das Ziel der Gestalttherapie fasse ich gern als »sich wieder öffnen« zusammen: Wir mußten uns nämlich allzu oft verschließen. Aus Schutz und um zu überleben, haben wir uns abgeschirmt mit einer glatten, undurchsichtigen Oberfläche. Derart sind eingekapselte »Entzündungen« entstanden, Reste von früheren Verlusten und Verletzungen. Gestalttherapie lädt uns ein, uns behutsam wieder zu öffnen, damit das, was der Heilung bedarf, an die Oberfläche treten und endlich abgeschlossen werden kann. Auf diese Weise können wir uns wieder für das Zwischenmenschliche öffnen, für den anderen, für das Du. Und so können schließlich wieder Begegnungen und Berührungen geschehen und Beziehungen und Bindungen eingegangen werden.

Lassen Sie sich also von mir mitnehmen, wenn ich »meine« Geschichten erzähle, Geschichten, die die Seele berühren:

  • Geschichten von Klienten, die zuerst einmal meine Seele, die Seele des Therapeuten, berührt haben.
  • Geschichten von Klienten, die sich in der therapeutischen Arbeit geöffnet haben und sich von mir, dem Therapeuten, seelisch berühren ließen.
  • Geschichten schließlich, die hoffentlich auch Sie in Ihrer Seele berühren werden, denn das ist die beste Voraussetzung, damit Heilung geschehen kann.

Es sind Geschichten, die ich vielfach in der therapeutischen Praxis erzählt habe - einzelnen Klienten, in Therapiegruppen und auch bei Ausbildungen. Sie haben schon oft dazu beigetragen, daß Menschen die Verhärtungen ihrer Seele überwanden und sich für andere wieder erreichbar machten.

Lassen Sie beim Lesen Ihrer Seele freien Lauf. Nur sie kennt den Weg. Vertrauen Sie ihr. Und (bitte!) versuchen Sie nicht, gleich »alles« verstehen zu wollen. Der erste Schritt ist nämlich immer die Erfahrung. Verstehen ist erst ein zweiter, auf seine Weise genauso wichtiger, aber eben erst der folgende Schritt.

Den Ort, den ich mit meinen Geschichten erreichen möchte, ist Ihre Seele. Lauschen Sie, gehen Sie mit, fühlen Sie mit, geben Sie sich Raum. Verstandesmäßig nachvollziehen können Sie Ihre Erfahrungen dann gut in einem nächsten Schritt. Zwischendurch gibt es zwar immer wieder mal etwas Erklärendes, werde ich Gedanken »aus meinem Zettelkasten« einfügen, aber vor allem möchte ich versuchen, Ihnen beim Lesen erfahrbar zu machen, wie Gestalttherapie »funktioniert«.

Ihnen wird sicher auffallen, daß in diesem Buch häufig davon die Rede ist, daß die Klienten weinen, daß den Gruppenteilnehmern Tränen in den Augen stehen und daß es mir als Therapeuten genauso geht.

Muß Gestalttherapie also unbedingt mit Weinen zu tun haben? Muß nicht. Hat aber häufig. Das hängt damit zusammen, daß Weinen einfach geschieht, wenn wir die Starre verlassen und wieder in Bewegung und in Fluß kommen.

Weinen gehört erfahrungsgemäß dazu, wenn wir »existentielle Augenblicke« erleben - Begegnungen stattfinden, die erfüllt sind vom Licht dessen, was der jüdische Religionsphilosoph (und indirekt ein wichtiger geistiger Vater der Gestalttherapie) Martin Buber, »Ich-Du-Momente« genannt hat, Momente der Begegnung, in denen wir uns in unserem Wesen angesprochen und gemeint wissen.

Der Begriff »existentieller Augenblick« stammt von dem amerikanischen Psychotherapeuten Len Bergantino. Er bezeichnet damit diesen lebensstiftenden Moment, der echtes Leben, nicht einfach nur »Überleben« bedeutet. Bergantino beschreibt den »existentiellen Augenblick« als eine Begegnung von Wesen zu Wesen, als zeitweise Überwindung der Rollen, als heilende Berührung, die tiefe Gefühle auslöst - und zwar sowohl beim Klienten, als auch beim Therapeuten. Häufig ist das mit Tränen verbunden und nicht selten übrigens auch mit einer gleichsam existentiellen Scham, die zeigt, wie nah wir unserem Wesen sind, unserer Mitte, unserer Seele.

Len Bergantino weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß diesen »existentiellen Augenblicken« eine spirituelle Dimension eigen ist. Der humanistischer Psychologe Abraham A. Maslow stellte ähnliches fest, als er sich mit seelisch »besonders gesunden« Menschen beschäftigte. Diese Menschen, die sich oft gar nicht als religiös verstanden, wußten um die Erfahrung spiritueller Momente der Aufhebung des Getrenntseins: Gipfelerlebnisse - Momente der Verbundenheit, des Dazugehörens. Momente des Heilseins, des Ganzseins.

In allen geschilderten Fällen wurden die Namen und biographischen Informationen zum Schutz der Klienten verändert. Meine Therapeuten und Lehrer, meine Kollegen und Freunde, die ich in Dankbarkeit erwähne, haben natürlich ihre richtigen Namen behalten.

Wegen der leichteren Schreib- und Lesbarkeit verwende ich in diesem Buch die grammatikalisch männliche Form gleichermaßen für Männer und Frauen.

 

Leseprobe 2

Aus: Allerlei zwischen Himmel und Erde
Carmen - oder: Der stille Segen

Carmen nahm zwei oder drei Jahre an meiner Gestalttherapie-Gruppe teil. Dann kam sie eine Weile einzeln zu mir. Es ging dabei vor allem um ihr sehr angespanntes Verhältnis zu ihrem geschiedenen Mann Ernst. Das hätte ihr eigentlich egal sein können - wäre da nicht ihr gemeinsames Kind gewesen - Florian, kanpp vier Jahre alt. Ihrem Sohn wollte sie die Beziehung zum Vater nicht »verbauen«, wie sie sagte. Es war sogar noch mehr: Sie sah es als ihre Aufgabe an, Florian den Kontakt zum Vater zu ermöglichen.

Einen Tag in der Woche holte Ernst den kleinen Florian zuhause ab. Und am Ende des Tages brachte er ihn zurück. Er unternahm viel mit ihm an diesen Tagen. Sie gingen zusammen in den Zoo oder fuhren mit einem Rheinschiff stromaufwärts nach Rodenkirchen, gingen Eis essen und schließlich fielen sie noch in den einschlägigen Spielzeuggeschäften und Kaufhäusern der Stadt ein. Das war zu viel- fand Carmen. Den Beleg für ihre Annahme sah sie darin, daß Florian in der jeweils darauf folgenden Nacht bettnäßte.

Und wenn sie ihren Sohn fragte, wie der Tag mit Papa war, dann gab der Kleine nur eine ausweichende Antwort: »Ging so.« Carmen war geneigt, dies als Hinweis dafür zu nehmen, daß Florian gar nicht sonderlich gern mit seinem Vater zusammen war.

Ich widersprach dieser Ansicht, sondern sah darin vielmehr einen Versuch des Sohnes, einen weiteren Konflikt zwischen den geschiedenen Eltern abzuwenden. Ich nahm an, daß er befürchtete, Carmen würde gekränkt sein, wenn er berichten würde, wie schön der Tag mit Papa wirklich gewesen sei.

Carmen war überrascht und irritiert über diese Sichtweise. Aber weil ihr das Wohl ihres Kindes am Herzen lag, war sie bereit, sich versuchsweise einmal auf meine Interpretation einzulassen.

»Da trägt der kleine Flori ja eine fürchterliche Last«, sagte sie.»Mein Gott, ich wäre ja tatsächlich schon gekränkt, wenn er sich bei seinem Vater wohl fühlen würde.« Sie errötete. Scham breitete sich dann bei ihr aus. Sie konnte mich gar nicht mehr direkt anschauen, sondern blickte vor mir auf den Boden.

Nach einer Weile sagte ich ihr, daß ich wisse, wie sehr sie sich um das Wohl ihres Sohnes sorge. Ich wisse auch, daß es ihr ein Anliegen sei, den Kontakt von Vater und Sohn zu fördern. Schließlich fügte ich hinzu, daß ich in meiner Arbeit mit geschiedenen Eltern immer wieder dasselbe feststellen konnte: Der eine war gekränkt, wenn des Kind gerne zum anderen ging. Dem liegt oft die Befürchtung zugrunde, das Kind vielleicht an den anderen verlieren zu können.

Carmen hörte mir aufmerksam zu und entspannte sich dabei ein wenig. Dann sah sie mir in die Augen, und bestätigte, daß ihr diese Angst »auch nicht unbekannt« sei. Ihre Augen röteten sich etwas. Ein paar Tränen stiegen ihr in die Augen. Nach einer Weile sagte sie ganz friedlich: »Gut zu wissen, daß es anderen geschiedenen Eltern auch nicht anders geht.«

Dann wendeten wir uns wieder ihrem Sohn zu. Sie sagte, das Funktionalisieren des Kindes in der Auseinandersetzung mit Ernst, ihrem geschiedenen Mann, sei das letzte, was sie wolle.

Dies ermutigte mich zu den nächsten Schritten mit ihr. Ich sagte ihr, daß für mich längst noch nicht ausgemacht sei, warum Flori bettnässe. Daß es natürlich am stressigen Tag mit seinem Vaterliegen könne, der all diese Aktivitäten vielleicht auch deshalb inszeniere, damit Flori gerne zu ihm komme und sich wohl bei ihm fühle. Er wolle seinen Sohn nicht an sie, Carmen, verlieren.

Wieder schaute mich Carmen erstaunt und irritiert an. »Ach, der auch?!« - entglitt es ihr, und dann stellte sich eine weitere Entspannung bei ihr ein. Sie wirkte noch friedlicher auf mich. »Und was könnte ich tun, daß Flori nicht zwischen uns beiden zerrissen wird?«

»Na, zum Beispiel dem Flori gute Wünsche für den Tag mit seinem Vater mit auf den Weg geben«, schlug ich vor.

»Da beiß ich mir doch lieber die Zunge ab!« rief Carmen empört. Sie blickte mich kurz an, errötete wieder und starrte dann ganz lange auf den Boden.

Ich fragte sie nach eine Weile, ob sie vielleicht zu einem Experiment bereit sei: Sie solle gar nichts sagen, allerdings jeden Donnerstag, wenn Ernst ihren Sohn morgens abholte, denken, während der Kleine die fünf Treppenstufen zur Haustür hinunterstieg: »Flori, du sollst es gut haben. Ich wünsche dir einen schönen Tag mit deinem Vater.« Dazu fand sich Carmen bereit.

Etwa vier Wochen später erschien Carmen ganz aufgeregt zur Sitzung. Noch bevor wir uns hinsetzten, sprudelte es aus ihr hinaus: Sie habe sich genau an meine Anweisung gehalten. Flori habe bereits zum zweiten Mal hintereinander in der Nacht nach dem Tag mit seinem Vater nicht ins Bett gemacht. Sie sagte das mit einer Mischung von Ungläubigkeit und großer Freude. Ja, sie strahlte richtig dabei. Ich freute mich mit ihr und strahlte auch.

Carmen wurde auf einmal sehr traurig. »Dann stimmt das also wirklich, daß Flori versucht hat, einen weiteren Konflikt zwischen Ernst und mir zu verhindern. Der kleine Kerl hat wirklich so eine ungeheure Verantwortung übernommen!« Und fügte dann noch bestimmt hinzu: »Das ist mir überhaupt nicht recht.«

Ich bat sie, erst einmal noch nichts weiter zu unternehmen, sondern »bloß« das Experiment noch einige Wochen fortzusetzen und zu vertrauen, daß es eine gute Wirkung habe.

Carmen willigte ein. Flori hat seitdem wirklich nicht mehr gebettnäßt. Schließlich nach vielleicht zwei Monaten passierte etwas schier unglaubliches. Flori wandte sich an einem Donnerstagmorgen, bevor Ernst ihn abholte, vertrauensvoll an Carmen: »Mama, darf ich mein Fahrrad mitbringen, das bei Papa steht?« Carmen mußte sehr an sich halten, damit ihre Empörung nicht aus ihr raus platze. Sie hatte nicht gewollt, daß Ernst dem Kleinen im Alleingang ein Fahrrad schenkt. Sie schwieg also einen Moment, fragte dann aber genauer nach. So erfuhr sie, daß Ernst ihm das Fahrrad bereits zu Weihnachten geschenkt hatte. In Floris Sprache: »Das Christkind hat mir das Rad zu Papa gebracht.«

Und Weihnachten war nun schon über vier Monate her. So lange hatte Flori das Geschenk vor Carmen geheimgehalten. Carmen erschrak. Um eine solche Geheimhaltung ein für alle mal für die Zukunft zu verhindern, willigte sie ein. Ja, er könne das Fahrrad heute abend ruhig mitbringen.

Bald darauf klingelte Ernst. Carmen hatte sich in der Zwischenzeit etwas beruhigt. Sie brachte den kleine Sohn an die Tür und sah, wie er freudig die Treppe hinunterhopste, seinem Vater entgegen. Sie dachte wieder ihren »stillen Segen« - so nannte sie das Experiment nämlich in der Zwischenzeit. Ganz unerwartet mußte sie ein wenig lächeln. »Diese beiden Gauner!« dachte sie und spürte Wärme für Sohn - und Vater. Einen kleinen Moment lang. Ihr Herz öffnete sich wieder ein Stückchen für ihren geschiedenen Mann.

 

Leseprobe 3

Aus: Die Mokassins meines Vaters
Aktion Lebensborn

Gudrun hatte sich auf eine, wie sie sagte »seltsame« Weise, in ihrer Herkunftsfamilie nicht zuhause gefühlt. Und genauso seltsam war es für sie, daß sie - die so gerne auf Weltreisen ging - sich überall sonst auf der Welt zuhause fühlte.

Sie saß mir gegenüber im Kreise ihrer Gruppe. Dort unter dem großen Fenster. An den Heizkörper gelehnt. Ein grauer regnerischer Tag. Ein typischer schmutzig-feuchter Tag im winterlichen Köln. Selbst durch die Oberlichter drang nicht genügend Helligkeit in unseren Gruppenraum. Wir hatten das Licht anschalten müssen.

Und dann berichtete Gudrun von ihrem Weihnachtsbesuch bei ihrer Familie. Sie war am ersten Weihnachtsfeiertag zusammen mit ihren drei Geschwistern und deren Familien in das kleine Eifeldörfchen gereist. Sie alle, zusammen fünfzehn Leute, hatten einen langen Nachmittagsspaziergang im Schnee gemacht, die klare, frische Eifelluft und den Blick über die heimatlichen Hügel, Täler und Wälder genossen. Dann waren sie wieder ins Elternhaus zurückgekehrt und saßen im Wohnzimmer bei Kaffee und Weihnachtsgebäck beisammen. Sie aber fühlte sich wieder auf diese »seltsame«Weise fremd und nicht »richtig« zuhause.

Ich fragte genauer nach, wie es ihr ergangen sei. Sie beschrieb den weiten Abstand zwischen allen. Zwar füllten die fünfzehn Leute das elterliche Wohnzimmer, aber gleichzeitig fühlte es sich für Gudrun so an, als wäre ein meilenweiter Abstand zwischen allen und als säßen alle irgendwie einzeln und verloren da. Die einzelnen wirkten für Gudrun so weit auseinander, daß ihre Arme nicht lang genug wären, sich an den Händen zu fassen.

Mir wurde kalt beim Zuhören, obwohl es in unserem Gruppenraum angenehm warm war. Mir war, als streiche eine unendliche Traurigkeit durch den Raum. Es war mucksmäuschen still. Als ich mich umblickte, sah ich, wie einige Gruppenteilnehmer fröstelten. Sie schlossen den Reißverschluß ihrer Weste, knöpften ihre Strickjacke noch einen Knopf höher zu oder wickelten ihre Füße in eine Decke. Außerdem erschien es mir, als hätten sich die Wände unseres Gruppenraumes ausgedehnt und als sei der Abstand zwischen den Teilnehmern größer geworden. Ein unangenehmer kühler Windzug pfiff zwischen uns durch.

Ich beschrieb Gudrun meine Wahrnehmung und meine Bilder. Sie sagte, daß es sich genau so bei ihr zuhause anfühle. Ich fror noch mehr, bekam Gänsehaut auf meinen Unterarmen.

Mir war unbehaglich. Gleichzeitig ist mir als Gestalttherapeuten so etwas natürlich auch bekannt: nämlich daß wir im »Hier-und-Jetzt« manchmal genau die Stimmungen (ja sogar Körperempfindungen!) erleben können, von denen die Klienten berichten.

*

Ich habe das Schreiben gerade für eine kleine Weile unterbrochen, das Fenster geschlossen, weil mir ein wenig kühl geworden ist. Hier vor mir auf dem Tisch eine Kerze angezündet und Kaffee aufgesetzt. Ja, jetzt ist mir wieder behaglicher. Wieder einmal stelle ich fest, daß ich auch beim Schreiben tiefe Gefühle habe, die eng mit dem zusammenhängen, was ich berichte. Hatte ich nicht gerade von Kühle und Dunkelheit geschrieben?

Ich wärme mir meine kalten Hände an der warmen Kaffeetasse und blickte hinüber zur ruhig flackernden Kerze in ihrem Glas.

*

Also, wie ging's weiter? Ich fragte Gudrun, was in ihrer Familie los sei. Denn das, was sie erzählte und wie es mir und uns hier im Raum dabei erging, erschien mir so bemerkenswert, daß ich sie einladen wollte, es noch weiter zu öffnen und zu erforschen.

Sie sagte, daß das Kälte- und Distanzgefühl bei ihr eigentlich schon immer da gewesen ist, jedenfalls solange, wie sie sich zurückerinnern könne. Ihre drei Geschwister erlebten es ähnlich, sogar ihre Nichten und Neffen. Die kleinste von ihnen hatte nach einem Sommerbesuch bei ihren Großeltern zu ihrer Mutter gesagt, daß es dort immer so kalt sei. Beeindruckt von der Stärke der Wirkung, die ich bei dieser Arbeit am eigenen Leib erlebte, ließ ich nicht locker. Ich fragte Gudrun, was in ihrer Familie vorgefallen sei. Doch sie wußte keine Antwort.

Nun weiß ich vor allem aus der Arbeit des Therapeuten Bert Hellinger, daß es auch »systemische« Wirkungen gibt, das heißt: manchmal wirkt etwas in eine Familie hinein, was vorher passiert ist, etwas, das vor der Ehe der Eltern oder sogar in vorangegangenen Generationen geschehen ist. Darum änderte ich mein Nachfragen ein wenig. Ich erkundigte mich, ob es sonst etwas bemerkenswertes in ihrer Familie gegeben hätte, vielleicht bevor ihre Eltern heirateten. Oder noch früher. Ein Familiengeheimnis?

 

Auf einmal war es Gudrun ganz klar. Na sicher gab es da etwas. Es wurde und wird immer noch völlig verschwiegen. Gudruns Großvater, der ihr sehr zugetan war, hatte es ihr kurz vor seinem Tode erzählt. Ihr Vater wäre bei der SS gewesen. Doch nicht bei der kämpfenden Truppe, nein, er sei zur Aktion »Lebensborn« abkommandiert worden und hätte mit auserwählten »germanischen« Frauen »germanische« Nachkommen zeugen müssen. Irgendwo im Sauerland sei das gewesen, ganz in der Nähe von Warstein. Es sei völlig geheim gehalten worden. Sogar die Post von ihm sei als Wehrmachtspost getarnt gewesen.

»Da mußt Du ja eine riesige Menge von Halbgeschwistern haben«, entglitt es mir. Gudrun war völlig perplex. Mit offenem Mund starrte sie mich eine Weile an. Dann schloß sie ihren Mund. Schluckte. Nickte.

»Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht«, sagte sie. »Obwohl es mir jetzt sehr naheliegend erscheint.«

»Wie viele Halbgeschwister mögen es wohl sein?« fragte ich.

Gudrun wurde aufgeregt. Zuerst stieg ihr eine leichte Röte ins Gesicht. Dann fingen ihre Augen an zu leuchten. »Vielleicht fünfzig, vielleicht einhundert, vielleicht sogar noch mehr«, sagte sie mit einem breiten Grinsen.

Ich hatte erwartet, daß die Tragik und die Schwere dieser Geschichte Platz greifen würden. Aber ich wurde völlig überrascht: Leichtigkeit, Beweglichkeit und Freude verbreiteten sich. Wärme erfüllte den Gruppenraum. Da zog jemand seine Strickjacke aus. Dort legte jemand seine Decke, in die er seine Füße gehüllt hatte, beiseite. Und Gudrun? Gudrun strahlte glücklich!

Es war, als kämen wir uns hier in der Gruppe alle einander körperlich näher. Als würde der Gruppenraum plötzlich schrumpfen. Als säßen wir Schulter an Schulter beieinander. Natürlich war das nicht der Fall. In Wirklichkeit hatte sich räumlich nichts verändert, es erschien mir nur so.

Gudrun sprach weiter. »Gerade hatte ich eine überwältigende Phantasie. Ich habe mir ein Familienfest in der Eifel vorgestellt. Etliche hundert Leute. In jedem Alter. Viele Sechzigjährige. Und einige Endfünfziger. Mit ihren Familien. Ihren Kindern und ihren Kindeskindern. Aus aller Herren Ländern. Sprachen mit fremden Zungen. Aber - alle feiern gemeinsam. Für die Kleinen gibt es Karussells und Stände mit Süßigkeiten, wie auf einer Dorfkirmes. Für die älteren ein Zelt mit Tischen und Bänken. Nur, daß dieses Fest nicht auf dem Sportplatz des kleinen Eifeldorfes stattfindet, sondern vor dem Haus meiner Eltern, auf dem kleinen Hof, der Straße vordem Haus, den Seitenstraßen - und ums ganze Haus herum. Musik wird gespielt. Deutsche. Holländische. Englische. Französische. Spanische. Portugiesische. Italienische. Griechische. Und getanzt wird miteinander. Ausgelassen und fröhlich.«

Während ich jetzt schreibe sind mir Tränen in die Augen gestiegen. Tränen der Rührung und der Freude.

»Alle Anwesenden ziehen schließlich einen weiten Kreis um meinen Vater«, führte Gudrun ihre Phantasie fort, »und um meine Mutter, die alle freundlich und liebevoll anschauen, dann auch um mich und meine drei Geschwister und deren Kinder. Alle rücken näher zusammen, stehen Schulter an Schulter beieinander, bewegen sich sanft zu einem leichten Summen.«

Hier brach Gudrun mit ihrer Phantasie ab, blickte sich im Gruppenraum um und schaute die anderen Gruppenteilnehmer an. Sie strecke die Hände nach den Seiten aus. Die beiden direkt neben ihr griffen nach ihren Händen. Bald faßten alle im Raum die Hände ihrer Nachbarn. So saßen wir noch lange im Kreis.

Schwerelosigkeit hatte sich hier im Raum ausgebreitet. Jeder trug dazu bei, berichtete über die befreiende Wirkung von Gudruns Familienfest-Phantasie, von den bunten Bildern, die jeder in sich dabei gesehen hatte. Und von der eigenen Rührung und Freude.

Schließlich erzählte ich Gudrun von einem wunderbaren Bild, das mein Lehrer Hunter Beaumont uns geschenkt hat: »Du schöpfst ein Glas Wasser an der Nordseeküste aus dem Meer und schüttest es dann wieder hinein. Stell dir vor, daß du nach vielleicht zehn Jahren, wenn das Meer, das ja immer in Bewegung ist, das Wasser aus dem Glas überall in den Weltmeeren verteilt hätte, in Australien wieder ein Glas Wasser aus dem Meer schöpfst: Dann wären immer noch winzige Teilchen aus dem ersten Glas drin.« Und ich fügte hinzu: »Deshalb bin ich überhaupt nicht erstaunt, daß du dich überall auf der Welt so zuhause fühlen kannst.«

Bald darauf war unser Wochenende vorüber, und wir trennten uns voneinander. Doch der Abschied dauerte diesmal viel länger als sonst. Noch eine ganze Weile hörte ich die fröhlichen Stimmen der Teilnehmer im Hausflur. Erst langsam kehrte Stille in unserem Institut ein.

Ich erinnere mich noch, wie ergriffen ich war, wie ergriffen ich nach Hause ging. Der Himmel über Köln war ein wenig aufgerissen. Es regnete gerade einen Moment nicht. Ich sah ein wenig Abendrot. Manchmal blendete mich sogar die untergehende Sonne, wenn sie zwischen den Wolken hervorblinzelte.

 

Leseprobe 4

Aus: Den Klienten schützen
Reinhildes Großzügigkeit

Es geschah am letzten Abend meiner offenen Supervisionsgruppe. Reinhilde berichtete von ihrer Arbeit mit einer jungen Frau, etwa Mitte zwanzig. Die junge Frau, Gabi, sei vor fast eineinhalb Jahren zum ersten Mal zu ihr gekommen. Sie habe unter verschiedenen Phobien gelitten. Während der gemeinsamen therapeutischen Arbeit hätten sich die meisten dieser Ängste gelegt - zumindest insofern, als sie Gabis Alltag heute nicht mehr sehr einschränkten.

Des weiteren beschrieb Reinhilde ihre Klientin als recht kontrollierte Frau, als fern von ihren eigenen Gefühlen - genauer: Sie sei fern davon, diese auszudrücken und mitzuteilen. Auffällig war die Wärme, die ich in mir fühlte, während ich Reinhildes Schilderungen zuhörte. Wärme im Sinne von Rührung. So, als wären Tränen und Freude in mir auf einmal zusammengebunden und ganz nah spürbar.

Ja, ich erinnere mich - jetzt beim Schreiben - auch noch an die Stelle, wo ich meine Rührung zum ersten Mal ganz deutlich wahrnahm. Reinhilde hatte liebevoll davon gesprochen, daß ihre Klientin Gabi ihre Gefühle »kontrolliere« - und hinzugefügt: »Das ist eigentlich eine ganz gute Lösung für einen Menschen, der viele Ängste hat. Ich finde gar nichts falsch daran. Ich habe das vor einiger Zeit auch zu Gabi gesagt, und sie war dann richtig erleichtert, hat sich auch etwas entspannt.« Das ist übrigens auch ein schönes Beispiel dafür, was wir Gestalttherapeuten meinen, wenn wir davon sprechen, daß alles, was ist, seine Berechtigung hat, notwendiger Weise ist, wie es ist, weil es dazu beitrug, Not zu wenden und die schwierigen Zeiten im Leben überlebbar zu machen. Auch die Neurosen sind eigentlich eine äußerst kreative Leistung unserer Klienten.

Dann berichtete Reinhilde von der Therapiestunde mit Gabi, die vor knapp einer Woche stattgefunden hat. Die junge Frau, die bisher zu den Therapiestunden immer pünktlich erschienen war, habe sich diesmal 40 Minuten verspätet. Als Reinhilde ihr dies bei der Begrüßung noch im Flur der Praxis sagte, sei diese sehr erschrocken und habe heftig zu weinen begonnen.

Reinhilde habe sie sanft in den Praxisraum geschoben, hin zum Sessel und ihr bedeutet, sich hinzusetzen. Sie habe »einfach« begonnen, mit Gabi zu arbeiten, und den folgenden Klienten gebeten, eine halbe Stunde später wieder zu kommen, was ohne Probleme möglich war. Aber, so fügte Reinhilde an, sie hätte sich diese Zeit auch für Gabi genommen, wenn der nächste Klient keine Zeit gehabt hätte. Sie hätte ihn dann notfalls gebeten, an einem anderen Tag wiederzukommen.

Gabi habe ihr - weiter unter heftigem Weinen - erzählt, daß ihre Mutter ganz plötzlich sehr schwer erkrankt sei. Ein bösartiger, schon weit fortgeschrittener Magenkrebs sei bei ihr vor zwei Tagen diagnostiziert worden. Ihre Mutter, die ohnehin häufig vom Sterben und Sterbenwollen spreche, habe dies erneut und drastisch getan und damit Gabi stark erschreckt. Die suizidalen Tendenzen der Mutter übrigens waren den beiden - Reinhilde und Gabi in der bisherigen therapeutischen Arbeit - als maßgeblich für Gabis Ängste deutlich geworden. Nun war es jedoch viel ernster. Gabis Mutter würde wahrscheinlich bald sterben.

Nun begann unser eigentlicher Supervisionsprozeß. Reinhilde sprach von ihrem Zweifel, ob sie überhaupt mit ihrer Klientin weiterarbeiten dürfe, ob das professionell überhaupt vertretbar sei, wo sie doch mit dem Tod »selbst so ein Ding laufen hat«. Ihre Schwester sei vor sieben Jahren tödlich verunglückt, mit dem Auto gegen einen Baum gefahren. Sie hätten sie deshalb vor der Beerdigung gar nicht mehr sehen dürfen. Reinhilde weinte, während sie uns in der Gruppe dies erzählt. Sie habe in der ganzen letzten Zeit immer wieder an ihre Schwester und an deren Tod denken müssen. Und jetzt, seitdem Gabi von ihrer sterbenskranken Mutter berichtet habe, denke sie noch viel mehr an sie. Nun weint sie stärker. Dann spürte ich auf einmal Scham in mir. Noch während ich dieser in mir nachging, sprach Reinhilde weiter, davon, daß man nicht wisse, ob der Tod ihrer Schwester nicht eigentlich ein »Selbstmord« war. Ihre Schwester sei so unglücklich und schwermütig gewesen. Das war damals, als Reinhildes Tochter noch ganz klein und sehr schwer krank war. Zu dieser Zeit habe sie überhaupt keine Kraft gehabt, ihre Schwester - die in einer anderen Stadt lebte - zu unterstützen.

Ich fragte sie, ob sie deshalb mit sich hadere. Sie antwortete:»Heute nicht mehr. Ich habe das in der Zwischenzeit akzeptiert. In jener Zeit hatte ich wirklich keine Kraft. Gleichzeitig tut es mir so schrecklich leid, auch wenn ich keine Schuld empfinde. Mir ist aber deutlich, daß ich, wenn ich mit Gabi weiterarbeite und sie begleite, während ihre Mutter stirbt, auch immer wieder an den Tod meiner Schwester werde denken müssen. Mein eigener Schmerz und meine eigene Trauer werden dann immer wieder viel Raum einnehmen. Ich fürchte, dann nicht mehr Gabi und ihrem Schmerz gerecht werden zu können.« Sie wandte sich direkt an mich: »Erhard, findest du es als mein Supervisor vertretbar, daß ich weiter mit Gabi arbeite?«

Ich antwortete mit einer Gegenfrage: »Bist du bereit mit Gabi weiterzuarbeiten, auch um den Preis, daß deine Schwester dir bei deiner Arbeit dann immer gegenwärtig sein wird? Daß sie also immer in deiner Arbeit mit Gabi dabei sein wird?«

Reinhilde zögerte keinen Augenblick. »Natürlich bin ich dazu bereit. Kein Zweifel.«

»Darin liegt eine ungeheure Großzügigkeit, die ich zu schätzen weiß«, sagte ich.

Reinhilde weinte einen Moment still. Dann wurde sie ganz ruhig und strahlte mich - mit Tränen in die Augen - an: »Was du gesagt hast, berührt mich sehr«, sagte sie. »Ich möchte wirklich gern mit Gabi weiterarbeiten, auch um den Preis, den du genannt hast. Gabi liegt mir am Herzen.«

Eine Leichtigkeit und Freundlichkeit breitete sich im Gruppenraum aus. Wie ein frischer warmer Windhauch, der durch den Raum zog. Mit Tränen der Rührung in den Augen schaute ich mich im Gruppenraum um und blickte in zahlreiche bewegte Gesichter. Dankbarkeit und Freude breiteten sich in mir aus. Ich spürte, wie nah meine Schüler mir und meinem Herzen sind.

 

 Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 
Erhard Doubrawa
Erhard Doubrawa (Foto von Horst ter Haar)

Erhard Doubrawa, 1955, arbeitet seit vielen Jahren als Gestalttherapeut. Er ist Gründer und Leiter der "Gestalt-Institute Köln und Kassel (GIK)", wo er auch als Ausbilder tätig ist (www.gestalt.de). Private Praxen in Köln und Kassel. Außerdem gibt er die Gestalttherapie-Zeitschrift "Gestaltkritik" heraus (www.gestaltkritik.de). Er ediert die Reihe gikPRESS zur Theorie und Praxis der Gestalttherapie (www.gikpress.de).
Eigene Buchveröffentlichungen u.a.: (gemeinsam mit Stefan Blankertz) "Einladung zur Gestalttherapie. Eine Einführung mit Beispielen" und "Lexikon der Gestalttherapie". Gemeinsam mit Frank M. Staemmler "Heilende Beziehung. Dialogische Gestalttherapie".

Bitte beachten Sie auch die zahlreichen Beiträge des Autors in unserer Zeitschrift "Gestaltkritik" (alle Texte in voller Länge online).

 

Cover: Die Seele berühren. Erzählte Gestalttherapie

Erhard Doubrawa
Die Seele berühren
Erzählte Gestalttherapie

Erheblich erweiterte Neuauflage 2018
Jetzt auch als eBook!

Erhard Doubrawa arbeitet seit vielen Jahren als Gestalttherapeut. Er ist Gründer und Leiter der Gestalt-Institute Köln und Kassel (GIK), wo er auch als Ausbilder tätig ist.
In diesem Buch versammelt der Autor Geschichten, die er vielfach in seiner Arbeit erzählt hat - einzelnen Klientinnen und Klienten, in Workshops und Gruppen. Sie haben schon oft dazu beigetragen, daß Menschen sich wieder öffnen und sich so von anderen seelisch berühren lassen konnten.
Ein Klassiker der Gestalttherapie in einer erheblich erweiterten Neuauflage.

gikPRESS 2018 (Erheblich erweitere Neuauflage)
GIK Gestalt-Institute Köln & Kassel
188 Seiten , Paperback: 15,80 EUR, eBook: 9,99 EUR

Dieses Buch erhalten Sie im gut sortierten Buchhandel und online bei
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Unter diesem Link können Sie auch im Buch "blättern".


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