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Daniel Rosenblatt
"
Viel mehr, als einfach nur die Frau von Fritz Perls"
Laura Perls' Beitrag zur Gestalttherapie


Aus der Gestaltkritik 2/2012:

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus Gestaltkritik 2/2012:

Daniel Rosenblatt
"Viel mehr, als einfach nur die Frau von Fritz Perls"
Laura Perls' Beitrag zur Gestalttherapie

Laura Perls im Gestalt-Institut Köln
Laura Perls am 14. 6. 1988 im Gestalt-Institut Köln / GIK Bildungswerkstatt.
Mit Daniel Rosenblatt und Erhard Doubrawa (links).
Reproduktion von einem Video-Film, © GIK.

 

Der folgende Beitrag ist Daniel Rosenblatts Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Festschrift für Laura Perls (zu ihrem 75. Geburtstag). Ich würde mich sehr freuen, wenn dieser Text auch Ihr Interesse an Laura Perls, der Mitbegründerin der Gestalttherapie, wecken würde. In diesem Falle möchte ich Sie auf dreierlei hinweisen:

Der Herausgeber

 

Blickt man auf die Geschichte der Gestalttherapie von ihren Wurzeln bis zum heutigen Stand (1980), dann wird sichtbar, dass Laura Perls mit allen Aspekten von deren Entwicklung in Verbindung steht. Dabei hatte sie diese Rolle keineswegs bloß deshalb, weil sie die Frau von Fritz Perls war.

In der Anfangszeit war Laura eine aktive Mitstreiterin von Fritz, sie war Freundin, Lehrerin, Schülerin und Kollegin zugleich. Die beiden hatten ähnliche Ideen, Theorien, Erfahrungen, Freunde, ja sogar Liebhaber, und sie tauschten alles miteinander aus. Ihre ursprüngliche Unzufriedenheit mit der Freud’schen Orthodoxie führte beide auf neue Wege der Suche nach Sinn. Zum Beispiel war Fritz Mitarbeiter bei Goldstein und Schilder, Laura war Studentin bei Goldstein, Wertheimer und Gelb. Fritz war bei Reich und Karen Horney in Analyse, Laura machte Eurythmie und Gymnastik nach Loheland und Gindler. Laura studierte bei Tillich und Buber und kannte sich in Phänomenologie und Existenzialismus besser aus, Fritz war mehr politisch orientiert. Fritz hatte bei Max Reinhard gelernt, Laura war ausgebildete Pianistin, und so ergänzten sich ihre Interessen an Theater und darstellenden Künsten.

Als „Das Ich, der Hunger und die Aggression“ entstand, war dies eine Gemeinschaftsunternehmung, bei der sie die Manuskripte einzelner Kapitel miteinander austauschten und wechselseitig überarbeiteten. Auch bei „Gestalttherapie“, das größere Abschnitte aus der Feder von Paul Goodman enthält, gaben sich Fritz und Laura gegenseitig Kapitel zur Ergänzung und Überarbeitung.

Schon als 1952 in New York das Gestaltinstitut gegründet wurde, war Laura dabei, und als Fritz drei Jahre später nach Florida überwechselte, blieb sie für die nächsten dreißig Jahre bis heute immer noch dabei. Sie war in diesem Institut immer die bestimmende Person.

Interessant ist auch der besondere Charakter des New Yorker Instituts. Es hat eine so lockere und anarchische Organisation, dass sich manche Mitglieder schon beschwerten, sie hätten lieber etwas stärker Strukturiertes, Autoritäres, Traditionelles. Aber trotz anhaltenden Drucks blieb das New Yorker Institut seiner ursprünglichen Gestalt treu und mutierte nicht in eine Institution, die Abschlüsse vergibt. Es wurde keine Mühle zur Zertifizierung einer geschlossenen Elite von Profis. Darin spiegelt sich auf vielfältige Weise die Persönlichkeit von Laura wider: großzügig, offenherzig, akzeptierend, unterstützend, frei von Zwang. Für eher traditionell eingestellte Geister bedeutete dies zeitweilig eine erhebliche Herausforderung.

Über ihre Bemühungen um Kontinuität des New Yorker Instituts hinaus hat sich Laura dreißig Jahre lang für die Ausbildung von Gestalttherapeuten in Amerika und Europa eingesetzt. Mit Sicherheit hat sie bei der Ausbildung von mehr Gestalttherapeuten mitgewirkt als irgendjemand sonst. Als dann Fritz seine wildeste und wirrste Lebensphase erlebte, als er am tiefsten depressiv war, allen Halt verlor und durch die Welt zog – da war Laura am Platz, hielt das New Yorker Gestaltinstitut aufrecht, sorgte für Kursangebote, ja beantwortete sogar selber Telefonanrufe und Briefe. So wie sie ihren Kindern ein Elternhaus bereithielt, so bewahrte sie dem flügge werdenden Institut ein Nest, und es passt ins Bild, dass die Arbeitstreffen über Jahrzehnte hinweg in ihrem Wohnzimmer stattfanden.

Foto: Laura Perls
Laura Perls, Foto Mitte der 1980er Jahre, © Theo Skolnik

Worum ging es Laura bei ihrer nicht nachlassenden Aktivität zur Ausbildung von Gestalttherapeuten? Gestalttherapie hält nicht nur eine stabile theoretische Grundlage bereit, auf der man menschliches Verhalten verstehen kann, sondern sie brachte auch viele innovative Techniken hervor, mit denen ein Individuum seine Blockaden und Selbstunterbrechungen auf dem Wege zu neuen Gestalten überwinden kann. Dabei muss ich an dieser Stelle gestehen, dass ich Lauras Beitrag zur Entwicklung von Techniken nicht aus erster Hand kenne. Als ich nämlich 1948 bei ihr in Therapie war, existierten weder Gestalttherapie noch ihr Namen. Mir waren Fritz und Laura als „un-orthodoxe Freudianische Psychoanalytiker“ empfohlen worden, als psychoanalytische Abweichler, als politische Linke. Ich hatte bei Laura zwei Termine in der Woche, ich saß aufrecht und konnte ihr ins Gesicht sehen, und sie war nebenbei am Stricken und manchmal am Rauchen – ja, in dieser lang vergangenen Zeit war sie das wirklich. Sie war ehrlich und direkt und teilte manchmal offen mit, was in ihr selbst vorging. Sie sprach mit mir über meine Atmung, meine Haltung, meinen Körper. Allerdings die berühmten Gestalttechniken kamen damals noch nicht vor.

Als ich dann später in den sechziger Jahren in eine ihrer Ausbildungsgruppen ging, hatte sie eine ganze Palette solcher Techniken auf Lager, und ich habe viele davon übernommen. Wo sie genau herkamen und welchen Anteil Laura an ihrer Entwicklung hatte, kann ich allerdings nicht sagen. Laura dämpft auch gerne allzu große Begeisterung für Techniken. Sie hält sich lieber an die Leitlinie, Techniken im passenden Moment zu erfinden, so dass sie zum einzelnen Klienten passen, aber sie möchte Techniken nicht zum Selbstzweck werden lassen. Diese Auffassung kann ich meinerseits nur unterschreiben. Mir ist wohl bewusst, dass einige ihrer Techniken sehr wirkungsvoll sind, so wie einige der von mir verwendeten ja auch. Doch mit ihrem Grundsatz trifft sie den Nagel auf den Kopf: Techniken sind nur Techniken und nicht mehr. Sie können sehr wirkungsvoll sein, sind es manchmal aber auch nicht. Worauf sich ein Therapeut verlassen sollte, sind darum nicht Techniken an sich, sondern seine eigene Person und sein Kontakt mit dem Klienten.

Laura hat auch Gruppentherapien geleitet und ihre Konzeption vorangebracht. Auch Gruppentherapie kann, wenn auf rechte Weise praktiziert, ein wirksames Instrument zu persönlichem Wachstum sein, vielleicht sogar noch wirksamer als Einzeltherapie. (Auf jeden Fall bei meinen Klienten ist es so, dass einige von Gruppentherapie mehr profitieren als von Einzelsitzungen, zum Teil vorübergehend, zum Teil sogar über eine lange Zeit). Laura war mutig genug, mit ihrer psychoanalytischen Vergangenheit und Einzelsitzungen zu brechen, um neue Möglichkeiten auszuloten, wie man Gruppen leiten kann.

Ihr eigener Stil, eine Gruppe zu leiten, war ganz anders als der von Fritz. Er hatte einen Hang zum leeren Stuhl und autoritärer Leitung, bei der die übrigen Gruppenmitglieder vor allem als Zuschauer und Chorus dienten. Die Gestaltarbeit war auf ihn zentriert, das übrige wurde ausgefiltert. Zu Laura hingegen passt es besser, dem Verlauf des Gruppenprozesses zu vertrauen. Sie kann sehr wohl eine starke Führungsposition wahrnehmen (mir klingt noch heute einiges, was sie zu mir sagte, in den Ohren), aber sie war auch beweglich genug, der Gruppe ihren eigenen Lauf zu lassen.

An Laura ist auch bedeutsam, dass sie rund fünfundvierzig Jahre als hervorragende Therapeutin tätig war. Frühere Patienten aus ihrer Zeit in Südafrika, denen ich über verschlungene Pfade begegnete – die ich hier nicht nachzuzeichnen brauche – erinnerten sich tief beeindruckt an ihr Wirken. Eine Frau, dich ich vor einer Weile bei einer Feier in Cleveland traf, erklärte in aller Ruhe, ihre Teilnahme an einem von Lauras Workshops hätte ihr das Leben gerettet. Und jüngst in Belgien machte ich Bekanntschaft mit Therapeuten, die an ein, zwei ihrer Workshops teilgenommen hatten und ihr Lob in höchsten Tönen sangen. Meine eigene Therapie bei Laura, vor dreiunddreißig Jahren, dauerte gut zweieinhalb Jahre, und ich kann nur sagen, sie hat mein Leben von Grund auf verändert. Unter den vielen Therapeuten, mit denen ich im Lauf des Lebens Erfahrungen sammelte, war sie eindeutig die beste. Ich kann mich heute noch an viele Sitzungen erinnern und an das, was Laura damals sagte. Einiges von dem, was ich meinen eigenen Klienten heutzutage vermittle, geht direkt auf das zurück, was ich von Laura lernte.

Durch die Jahrzehnte hindurch konnte man also immer darauf bauen, dass Laura da ist: als Therapeut, Ausbilder, Gruppenleiter, als Erneuerer, Mitbegründer und Bewahrer des Gestaltinstituts New York und als wichtiger Kooperationspartner bei der Weiterentwicklung der Theorie der Gestalttherapie. All diese Linien setzt sie auch heute noch fort, auch wenn sie ihren Einsatz für Einzeltherapien zeitlich reduziert hat.

Und hinter all dem Laura als Person, wer ist sie? Wer ist der Mensch, der so lange, so intensiv und so fruchtbar tätig war? Wie ist Laura als Individuum, ganz privat?

Wenn wir Lauras Leben betrachten wollen, müssen wir bis an seinen Anfang zurückblicken. Die elementaren Lebensdaten sind: Lore Posner wurde 1905 in Pforzheim geboren, einer Stadt am Rande des Schwarzwalds und nicht weit entfernt von Frankfurt. Ihre Eltern waren wohlhabende jüdische Kaufleute mit dem Lebensstil der oberen Mittelschicht und weitgehender Assimilierung an die wilhelminische Gesellschaft. Laura wuchs auf mit Dienstboten, Musikunterricht, Teegesellschaften, edler Kleidung und Gesellschaftsspielen mit ihren Cousins, kurz: in einer Welt wie der von Familie Bellamy in „Das Haus am Eaton Place“ (1) , die bloß auf der anderen Seite des Ärmelkanals spielt und wo der Kaiser nicht Wilhelm hieß, sondern wo sein Onkel (2) Edward auf dem Throne saß. Ganz so reich waren Laura Perls‘ Eltern natürlich nicht, und überdies waren sie Juden, die auch nach Assimilierung einen Sinn für ihre jüdischen Wurzeln bewahrt hatten.

Nun hat Laura ihrerseits für ihre Herkunft einen Sinn bewahrt, und sie lässt sie in sehr angenehmer Weise erkennen. Sie ist offenkundig eine Patrizierin: ihr fürstliches Gefährt, ihr aufrechter Gang, ihre Freundlichkeit und Zuvorkommenheit. Damit ist nicht gesagt, sie sei herablassend oder sie könne nicht selber für sich sorgen, kochen, einkaufen und selber die Betten machen. Richtig ist vielmehr, dass sie eine Lady im besten alten Sinn des Wortes ist: gebildet, aufgeweckt, energisch, höflich, ausgewogen, durchdacht, selbstbewusst, feinfühlig, anmutig. Auch hat sie für ihre jüdische Abkunft einen Sinn bewahrt, gewiss nicht mit Versatzstücken, wie sie ein Komiker aus der Bronx für billige Lacher ausschlachtet, doch als eine Tiefendimension ihres Hintergrunds. So schöpft Laura mit Leichtigkeit aus zwei Kulturen: aus der deutschen Hochkultur des zwanzigsten Jahrhunderts, und aus dem jüdischen Stettl mit seiner Wärme und Geborgenheit, wie sie in der Familie Posner weitergegeben wurden.

An dieser Stelle ist eine Bemerkung über Lauras Feminismus angebracht. Als Angehörige der oberen Mittelschicht setzte sie sich mit dem deutschen Erbe von Kirche, Küche, Kinder auseinander, aber auch mit dem jüdischen Erbe männlicher Vorherrschaft in Religion und Wirtschaft. Keine Sekunde kam sie auf die Idee, eine Männerhasserin zu werden, und ihre Weiblichkeit und Sexualität gab sie auch nicht auf vielmehr ergänzte sie ihr Leben um eine Karriere als Akademikerin und Freiberuflerin. Später wurde sie Ehefrau, Mutter und Großmutter, doch ihre Karriere opferte sie dafür nicht. Sie hatte nie das Gefühl, zwischen Familie und Beruf wählen zu müssen. Sie verwirklichte beides. Vielleicht kam ihr dabei zugute, dass die Programmatik des Feminismus erst später auftauchte, und sie daher nicht zu einer falschen Wahl getrieben werden konnte. Wie dem auch sei, es ist eines von Lauras Wundern, wie sie es schaffte, so persönlich, freundlich, warmherzig und angstfrei zu wirken (ich wage kaum zu sagen, so „weiblich“), und gleichzeitig eine derartig beeindruckende Berufsarbeit und Karriere hinzulegen.

So wie Laura mit ihrer Art des Feminismus ihrer Zeit voraus war, so waren es Laura und Fritz mit ihrer Einstellung zur Homosexualität. Ich glaube nicht, dass sie in ihrem schriftlichen Werk an irgendeiner Stelle ausdrücklich auf dieses Thema eingehen, aber welche Ansichten sie dazu einnahmen, geht aus ihrer Lebenspraxis klar hervor. (An einer Stelle im Buch „Gestalttherapie“ wird speziell auf Homosexualität eingegangen, aber im Wesentlichen nur in einem Beispiel für unerkannte Loyalität). An der sexuellen Präferenz eines Menschen hatte weder Laura noch Fritz besonderes Interesse. Lange bevor die Schwulenbewegung die Psychiatrie zwang, ihre etablierten Auffassungen über Homosexualität als Krankheit zu revidieren, hatten Fritz und Laura in ihrem Privatleben und ihrer Berufsarbeit damit aufgehört, der Frage, wer mit wem schläft, Beachtung zu schenken. Viele ihrer Freunde und Mitarbeiter waren ohnehin homosexuell, so dass Gestalttherapie über den Umgang mit Homosexualität nicht viel umzudenken hatte. Vorurteile gegen Homosexuelle gibt es in den Kreisen der Gestalttherapie fast nicht, und das ist zu einem großen Teil Folge der praktizierten Grundhaltung von Fritz und Laura.

Noch ein anderes wichtiges Thema möchte ich kurz erwähnen, das in Darstellungen über Fritz und Laura öfters ausgeklammert oder vergessen wird: ihre politischen Haltungen. Zwar wurden Fritz und Laura wohl nie formelle Mitglieder irgendeiner Partei, doch waren sie außerordentlich politische Menschen. Deutschland hatten sie nicht verlassen wegen des Antisemitismus der Nazis, sondern wegen deren Faschismus. Fritz war bei Wilhelm Reich in Therapie, als jener der deutschen kommunistischen Partei angehörte. Mitglieder einer kommunistischen oder sozialistischen Partei waren weder Fritz noch Laura, aber von der Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Umbruchs waren beide überzeugt.

Laura erzählte mir mal, dass die beiden Amerikaner, die sie und Fritz nach ihrer Übersiedlung von Südafrika nach Amerika am dringendsten kennen lernen wollten, Paul Goodman und Dwight Macdonald waren. Das ist wirklich interessant, denn beide waren keine Therapeuten, sondern herausragende amerikanische Anarchisten. Die politische Bewegung des Anarchismus ist in ihrer reinsten Ausprägung ganz ähnlich mit dem, was Gestalttherapie in ihrer besten Form ist. Es steht kein autoritärer Staat über allem, sondern interessierte Individuen erarbeiten miteinander eine Einigung darüber, was in diesem Augenblick das beste ist. Natürlich steckt darin auch etwas von Dewey’s Pragmatismus.

Fritz mit seiner Empörung über das Vietnam-Abenteuer der USA und mit seiner persönlichen Ungebundenheit ist ein Beispiel für solch eine Form von Anarchismus. Laura mit ihrer Stiftung des New Yorker Instituts und ihrer anti-materialistischen und anti-monetären Einstellung repräsentiert eine andere Ausprägung solchen anarchistischen Gedankens.

Gestalttherapie wurde in der ersten Zeit von Psychiatrie und etablierter Psychologie verlacht. In dem Maße, wie sie allmählich Anerkennung erlangte, ließen die Praktiker der Gestalttherapie aber oft ihre radikale Grundeinstellung zur Gesellschaft sang- und klanglos fallen. Dagegen änderten Fritz und Laura niemals ihre Überzeugung, dass außer dem Leben des einzelnen Menschen auch die Gesellschaft als ganze eine grundlegende Änderung nötig hat. Leider wird dieser Aspekt der Gestalttherapie nur noch in einigen Funktionen von Gruppenprozessen realisiert. Gegenwärtig liegt dieses Anliegen brach, und so harrt dieser Aspekt der Gestalttherapie noch der rechten Umsetzungsformen.

Wenn Laura mit Klienten über ihre Arbeit spricht, erwähnt sie oft Selbstunterstützung und wie sie Bedingungen dafür schafft, dass Klienten sich besser selbst zu unterstützen lernen, dass sie vorhandene Möglichkeiten besser ausschöpfen und in ihre Lebenspraxis einfließen lassen. Ich finde, solch ein Vorgang spiegelt sich auch in ihrem eigenen Leben wider. Sie selbst und die ganze Generation Intellektueller der Weimarer Republik erlebten einen Schlag nach dem anderen. Lauras Mutter kam in einem Konzentrationslager ums Leben, sie selbst verlor in Amsterdam bei der Flucht vor den Nazis ein Kind, ihr Mann entzog sich der anfänglichen Nähe zu ihren Kindern kurz nach der Kleinkindphase, ihr Zufluchtsland Südafrika verfiel dem Rassismus so wie zuvor ihr Herkunftsland. Dennoch ist es nicht Lauras Art, sich niedergeschlagen hinzusetzen und über das Unrecht im Leben zu weinen. Über weite Strecken erwähnt sie diese Tragödien nicht einmal. Stattdessen kümmert sie sich um sich selbst und tut frohen Muts das Nötige, damit das Leben angenehm, interessant und aufregend wird. Und dabei schaut sie sich auch nach anderen um und das gleiche für sie. Es bleibt keine Zeit für Sentimentalitäten, und das meiste, was zu betrauern ist, ist auch abgeschlossen, wenngleich auch nicht alles.

Dem Leser ist inzwischen klar geworden, dass Laura eine mutige Frau ist, die die Herausforderungen ihres Lebens angenommen und aus ihnen das Beste gemacht hat. Heute mit 75 ist sie immer noch voll Energie und Tatkraft. Sie spielt immer noch jeden Tag Klavier, um in Übung zu bleiben, geht im Central Park den Rundweg um das Wasserreservoir und wandert im Sommer in den österreichischen Alpen. Sie veranstaltet Workshops in Europa und Amerika und hält die New Yorker Ausbildungsgruppe am Laufen. Bei allen Treffen im New Yorker Institut macht sie mit. Sie hat Texte verfasst und noch nicht veröffentlicht, sondern arbeitet an ihnen bei passender Gelegenheit weiter. Ich hoffe sehr, dass einmal ein erfahrener Lektor und ein kluger Verleger sie überzeugen können, dass die Manuskripte nun reif sind für den Druck. Sie selbst aber scheut sich, durch ihre Texte noch größeren Ruhm zu erlangen. Was sie noch sucht, ist eine neue Gestalt, die zu den Inhalten passt, die sie in geschriebener Form anzubieten hat. Dies zieht sich manchmal in die Länge, und manchmal hat sie noch nicht die rechte Selbstunterstützung gefunden, um einen Abschluss zu finden, mit dem sie zufrieden sein kann.

Lauras körperliche Präsenz ist ebenfalls der Erwähnung wert. Laura ist oft heiter, energiegeladen und guter Dinge. Ihre Erscheinung ist elegant und attraktiv, ihre Haltung ist aufrecht wie bei einem Tänzer, sie ist im Gleichgewicht und voller Anmut. Im wesentlichen tritt sie heute noch so auf wie damals, als ich sie zum ersten Mal sah, auch wenn sie nicht mehr ganz so beweglich ist wie früher und in den letzten ein, zwei Jahren auch Zeichen einer gewissen Schwächung auftraten. In jedem Fall ist sie nach wie vor hellwach und kann auf alles, was im Gespräch auftaucht, sofort eingehen.

Bislang habe ich, direkt oder indirekt, nur viele positive Eigenschaften von Laura angesprochen: ihr Einfühlungsvermögen, ihre Achtung vor dem Andern, ihre Wärme, Echtheit, Offenheit und Unterstützungsbereitschaft, ihre Klugheit, Urteilskraft und die Breite des Horizonts. Was aber ist mit ihren Schwächen? Sie hat uns Gestalttherapeuten beigebracht, nicht nur nach den Aktivposten zu fragen, sondern auch nach den Passivposten. Darauf würde ich antworten, dass Lauras besondere Gaben, wenn sie bis zum Äußersten entwickelt würden, zu ihren größten Schwächen würden. Ihre Wärme und Offenheit, Ihre Unterstützung und Einfühlung, können manchmal zu einem Bumerang werden, dem sie zum Opfer fallen könnte. Sie ist bereit, praktisch jedem auch im Zweifelsfall einen Vorteil zu gewähren, wogegen sie mit der gleichen Bereitwilligkeit selber einen Preis dafür bezahlt, wenn sie sich mal irrte. Manchmal neigt Laura zu leicht zum Vergeben und Vergessen.

Nun will ich Laura aber auch nicht als Heilige darstellen. Sie hat auch sicher kein Interesse daran, wie eine Heilige außerhalb des Lebens gestellt zu werden. Laura kann sehr konfrontativ werden, sie kann bei Bedarf intervenieren, auch sehr direkt sein und ärgerlich werden. Dabei finde ich ihren Ärger sehr interessant, denn selbst wenn er auftritt, setzt sie ihn nicht so ein, wie es manche Therapeuten tun, also nicht als glorreiche Leistung, nicht als einen mit dem Gestaltgebet gerechtfertigten Rückzug aus einem belastenden oder schwierig gewordenen Kontakt. Sie erhebt Ärger nicht zu einem Prinzip des Lebens, sondern lässt ihn ins Leben als eine spezielle Würze einfließen, so dass man ihn noch als ein besonderes Aroma herausschmecken kann, ohne dass er die ganze Mahlzeit übertönt. Laura bleibt nicht in Ärger stecken, lässt sich nicht die Laune verderben, sinnt nicht auf Rache und lässt sich nicht davon auffressen.

Schließlich ist da noch Lauras Geduld. Über Jahrzehnte hat Laura uns alle ertragen, genau wie sie Fritz ausgehalten und dabei immer noch einen Weg gefunden hat, wie sie mit den Schwierigkeiten umgehen und sich selber Unterstützung geben kann, ja sie hat dabei Fritz und uns und jedem, der es brauchte, sogar noch Unterstützung angeboten. Alle von uns, die nicht ganz in unerledigten Geschäften verfangen sind, empfinden große Dankbarkeit für ihre Geduld.

Foto: Laura Perls
Laura Perls, Foto Ende der 1980er Jahre, © durch Copyright geschützt

Bis zu diesem Punkt wird das meiste, was ich sagte, kaum kontrovers gesehen werden. Ich möchte jetzt aber auch Dinge ansprechen, die mehr im Halbdunkeln, Trüben und Schmuddeligen liegen. Ich will mir den Mülleimer vornehmen und einiges an Trümmern, Schutt, Schund und Schand wieder hervorholen. Dabei laufe ich natürlich Gefahr, in die Geheimnisse einer Ehebeziehung, einer Arbeitsbeziehung und wechselseitigen Beeinflussung einzubrechen. Mein Hauptpunkt ist, dass Laura erst in den zehn Jahren seit Fritz‘ Tod 1970 aus dem Hintergrund auftauchte und ihren Platz als eine der Hauptprotagonisten der Entwicklung der Gestalttherapie einnahm.

Gewiss hatte sie schon immer einen Platz inne, doch solange Fritz am Leben war, besetzte er den Platz in der Mitte der Bühne, so wie er es die ganze Ehe hindurch gewohnt war. Laura ihrerseits gab sich damit zufrieden, dass er sich im Scheinwerferlicht fachlicher Beachtung wärmte und sonnte.

Leider hatte Fritz nicht die Größe, wenn er die Geschichte der Gestalttherapie vortrug, die Beiträge anderer zu würdigen. Lauras Stolz lag andererseits vor allem darin, die großen Linien einer künftigen Gestalttherapie schon ausgelegt zu haben, bevor überhaupt die erste Ausgabe von „Das Ich, der Hunger und die Aggression“ in den vierziger Jahren erschien. (3) In einem Interview Anfang der siebziger Jahre benennt sie ganz präzise mindestens zehn Personen in Deutschland, Südafrika und New York, die eine entscheidende Rolle beim Heranreifen ihrer eigenen und Fritzens Überlegungen gespielt hatten. Diese bedeutsame Richtigstellung ist jetzt also offiziell, und ich will nun näher auf sie eingehen.

Die Klärung des wechselseitigen Einflusses in Kooperationen ist eine verwickelte und schwierige Aufgabe. In der Kulturgeschichte schlägt man sich damit z.B. noch bei Marx/Engels und Freud/Fließ herum. Im Falle Laura und Fritz kommen zu den wechselseitigen Einflüssen noch ein ganzes Bündel externer Einflüsse hinzu: Sigmund Freud und Wilhelm Reich, Rank und Jung, Kurt Goldstein und Kurt Lewin, Husserl und Buber, Jaspers und Whitehead, Heidegger und Sartre, Tillich und Smuts, Gindler und Selver, Korzybski und Moreno, Norbert Wieder und L. Ron Hubbard, P. Goodman und P. Weisz, sogar Berne und Schütz. Fritz hatte ein geniales Talent, Ideen anderer aufzugreifen und in einen neuen Zusammenhang einzuweben. Während sie zusammenlebten, machte ihm Laura auf führende Denker aufmerksam, die ihm sonst vielleicht entgangen wären. Aus eigenem Antrieb hätte sich Fritz um einen weniger breiten Horizont bemüht; Laura war ihm intellektuell voraus. Da traf es sich für ihn in seiner späteren Phase in Kalifornien mit dem Anti-Intellektualismus der Hippies und den Verführungen durch LSD gut, dass Fritz zum Teil einfach vergaß, welche Entwicklung er selbst genommen hatte und wer alles ihn dabei beeinflusst hatte. Zum Teil verleugnete er dies auch aktiv und schrieb die Entstehung von „Gestalttherapie“ dem Mülleimer zu. Inzwischen verdichten sich aber die Indizien, dass weite Strecken dieses bahnbrechenden Werks aus der Feder von Paul Goodman stammen. Und Goodman seinerseits war mit seiner Gedenkrede auf Fritz der erste, der Lauras Beitrag zum Theoriegebäude von „Gestalttherapie“ in aller Öffentlichkeit benannte.

So wie Fritz die Bedeutung von „Gestalttherapie“ und ihren Mitwirkenden systematisch vergaß, so übernahmen seine Schüler, die er in Esalen ausbildete, seinen Blickwinkel. Wer nur den späten Fritz mit seinen letzten Theorieentwicklungen in Kalifornien oder Cowichan kennen lernte, für den erscheint Lauras Beitrag natürlich nur als unbedeutend. Dies ist in meinen Augen eine Periode, in der Fritz als Schaumann und Schamane auftritt, ein faszinierender Marionettenspieler auf der Bühne öffentlicher Seminare, dessen theoretische Arbeiten aber nur jeder Grille hinterherlaufen, die ihm gerade in den Sinn kam. Dies ist der Fritz, dem man in New York kaum Beachtung schenkt.

Ich habe jetzt nicht vor, in allen Einzelheiten zu entwirren, welche Beiträge zur Entwicklung der Gestalttherapie von Laura stammen. Diese mühevolle Kleinarbeit überlasse ich lieber einem geduldigen Kulturhistoriker. Aber ich möchte Laura bescheinigen, dass sie als Resonanzboden, Kooperationspartner, Katalysator und Pionier kontinuierlich Präsenz zeigt. Selber veröffentlicht hat Laura nur wenig, aber geschrieben und noch nicht veröffentlicht so manches. Doch mir liegen gar nicht in erster Linie ihre Publikationen am Herzen, auch wenn ich an ihre frühen Überlegungen zum Wesen des oralen Widerstands und des Schnullerkomplexes denke (damals bei der Entstehung von „Das Ich, der Hunger und die Aggression“), oder an ihre Versuche zur Klärung des Grenzbegriffs und der Gestaltbildung, oder an ihre Auffassungen zur Wichtigkeit von Support. Bedeutsam waren nicht nur ihre theoretischen Beiträge. Vielmehr liegt ihr entscheidender Beitrag zur Entstehung der Gestalttherapie in ihrer gedanklichen Offenheit, ihrer Förderung begabter Einzelner und ihre Unterstützung für Fritz. In vielen späteren Arbeiten scheint Fritz Ideen nicht mehr durchdacht und verdaut, sondern mehr oder weniger ausgespuckt zu haben. „Gestalttherapie in Aktion“ und „Gestalt-Wahrnehmung“ sind großteils nur Abschriften von Bandaufnahmen. Hätte bei ihrer Herausgabe Laura ihre Hände mit im Spiel gehabt, wären sie wohl weniger volkstümlich geraten, sondern sorgfältiger, fundierter, konzentrierter und weniger egozentrisch. Für viele von uns sind diese späten Arbeiten von Fritz trotz aller Spontaneität und Direktheit eher peinlich. Ja, Fritz der Zauberer tritt dort auf und feiert Triumphe, aber die Theorie der Gestalttherapie verkommt zu einem Chaos und wird von den Vertretern traditioneller Gestaltpsychologie zur leichten Zielscheibe berechtigter Kritik.

Ein noch schwierigeres Thema möchte ich als nächstes anschneiden: die Beziehung zwischen Laura und Fritz. Es gibt nur wenig Gedrucktes, das uns hierbei helfen könnte. In seiner Autobiografie in „Gestalt-Wahrnehmung“ macht Fritz jede Menge feindseliger und wütender Bezugnahmen auf Laura, die vierzig Jahre lang seine Ehefrau war. Hier setzt er eine Spaltung in die Welt: Fritz versus Laura, Fritz gegen Laura, Fritz Anti-Laura. Und Martin Shepard macht damit weiter. Anscheinend meinte er, er müsste Fritz gegen Laura sekundieren, er müsste in dieser Sache von Mann und Frau einseitig Partei ergreifen. Dabei gibt es mehr als nur vage Hinweise, dass er die Darstellung von Fritz und Laura letztlich zum Spiegel seiner eigenen Ehe macht. Klugerweise lässt Jack Gaines Laura und andere selber zu Wort kommen. Allerdings selber steuert er nur wenig Erklärungen bei, und in den Mittelpunkt stellt er zweifellos Fritz.

Ich möchte vermeiden, die Schlacht mit vertauschten Rollen neu aufzurollen, also nun Laura gegen Fritz, und dabei pro Laura und anti Fritz aufzutreten. Aber das ist leichter gesagt als getan. Denn es geht auch um dokumentarische Ausgewogenheit. Fritz hat seine Autobiografie veröffentlicht, Laura hat aber keine. Meine Zuneigung zu Laura ruft nach einer Verteidigung, und diese Verteidigung hat Laura selber so durchgearbeitet, dass sie über Fritz Anwürfe und Verdrehungen nicht länger verbittert sein muss. Wenn ich von meinem persönlichen Bedürfnis, sie zu verteidigen, Abstand nehmen kann, wenn ich dies zumindest für den Moment zur Seite stellen kann, dann lassen sich die Konturen ihrer beider Leben klarer zeichnen. Sicherlich war Laura, als sie Fritz zum ersten Mal traf, sofort von ihm sehr angetan. Sie sah etwas ganz Besonderes, ja Einmaliges. Fritz war zwölf Jahre älter, Dr. der Medizin, ehemaliger Kriegsteilnehmer. Vermutlich war er zu Beginn ihrer Beziehung nicht ganz so verliebt wie Laura. Natürlich unterliegt jede starke Beziehung mit der Zeit einem Wandel. Die ihrige wurde aber noch kompliziert durch den Triumph Hitlers und der Nazis, die Flucht nach Holland, das Exil in Südafrika, den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die Einziehung von Fritz zum südafrikanischen Militär. Wer könnte sagen, wie viel Schaden auf das Konto dieser sozialen und politischen Turbulenzen geht und wie viel auf normale Reibungen zwischen zwei empfindsamen und klugen Menschen, die sich nie in eine herkömmliche Ehebeziehung gezogen gefühlt hatten? Mit der Zeit fanden beide eine Bleibe in New York und lebten dort, obwohl weiterhin verheiratet, im Großen und Ganzen jeder sein Leben für sich. Laura kümmerte sich um den Haushalt und die fast erwachsenen Kinder, und jeder widmete sich seiner eigenen therapeutischen Praxis. Jeder hatte seine eigenen Liebhaber. Sie fuhren aber fort, inhaltlich eng zusammenzuarbeiten, und gründeten 1952 das New Yorker Gestaltinstitut. 1955 zog Fritz zunächst nach Florida, und in den nächsten fünfzehn Jahren bis zu seinem Tod lebten beide an getrennten Orten. Ein- oder zweimal im Jahr kam er noch nach New York, dann wohnte er immer bei ihr. Wenn Laura ihrerseits an die Westküste fuhr, wohnte sie immer bei ihm. Fritz hatte etwas von Odysseus, wie er um den ganzen Erdball zog, so nach Japan, Israel und Kanada, während Laura mit ihren Verehrern in New York wie Penelope auf ihn wartete. In einem anderen Vergleich erscheint Fritz wie Johnny Appleseed (4), lebenslang auf der Reise, nirgendwo zu Hause. In seinem Erwachsenenleben war die längste Periode am gleichen Ort die Zeit in Südafrika, weil er dort als Flüchtling nicht fort konnte, der Krieg dazwischen kam und die anschließenden Bemühungen um Ausreise so lange brauchten. Während fünfundzwanzig Jahren seines Lebens hielt Laura die Annehmlichkeiten eines gut funktionierenden Haushalts mit Familienleben bereit. Aber von solchem Komfort war Fritz wenig begeistert, und von Haus und Familie genau so wenig. Also gingen sie im Leben getrennte Wege, doch verfolgten sie jeder auf seine Weise ihr gemeinsames Projekt weiter, die Psychotherapie in neue Bahnen zu lenken. Ihre persönlichen Differenzen, ihre Unterschiede in Wesensart und Stil, waren kein Hindernis für den Erfolg, die theoretischen Grundlagen für eine neue Psychotherapie und viele innovative Techniken für die Praxis zu entwickeln.

Die Geschichte ist voll mit Geschichten über Trennungen von Mann und Frau, besonders von hoch begabten und kreativen Partnern, und sie ist voll mit Geschichten darüber, wie bisherige Kooperationspartner an einen Punkt gelangen, wo sie nicht mehr miteinander reden, aber immer noch am selben Strang ziehen, so z.B. Gilbert und Sullivan. Nun gut, auch Fritz und Laura trennten sich, und es liegt mir auf der Zunge, Kritik zu äußern. Einfach Fritz zu kritisieren, wäre aber zu billig. Es wäre wohl weiser, wenn ich es so ausdrückte: Fritz verbrachte sein ganzes Leben in Bewegung, er ging von einem Ort zum andern, von einem Menschen zum nächsten, und das war sein Weg zu leben. Laura dagegen ging ihren eigenen Weg, indem sie ein Nest baute, in New York verankert blieb, und nach Aufzucht der Kinder damit zufrieden war, so weiter zu leben wie bisher. Weder Fritz noch Laura ließen den jeweils anderen völlig los, aber auch keiner von beiden hielt ganz am anderen fest. Ihre Beziehung wirkt wie eine unvollendete Gestalt. Sie wurde von einem Übermaß an Geschichte getrübt, sie konnte sich durch persönliche, soziale, politische und ökonomische Umstände nicht zu voller Schärfe und Lebendigkeit entwickeln. In vieler Hinsicht war ihre Beziehung ein Produkt ihrer eigenen Improvisationen, und vielleicht sollte ich es damit auf sich beruhen lassen. Oder ich geh doch noch einen Schritt weiter. Anstatt zu beklagen, dass Laura und Fritz, dass Fritz und Laura nicht zum glücklichen Musterpaar von Papa und Mutti Gestalt aufgestiegen sind, könnten wir dankbar sein, dass sie trotz ihrer Unterschiede und Reibungspunkte so lange miteinander leben und arbeiten konnten und dabei das schöpfen konnten, was für uns alle so fruchtbar wurde.

Ich möchte diese Einleitung mit drei persönlichen Erinnerungen an Laura schließen. Sie sollen nicht die größte Enthüllung, die tiefste Einsicht oder die gewichtigste Lehre darstellen. Sie sind einfach nur das, was mir als Antwort einfiel, als ich mich fragte, was von Laura ich mit anderen am liebsten teilen würde.

Das erste ist eine Begebenheit aus Lauras ersten Tagen in New York, wie sie sie mir erzählte. Obwohl Laura schon in Berlin und Johannesburg gelebt hatte, war sie wie viele andere Europäer von einer Furcht vor der herzlosen Monsterstadt, vor dem Metropolis von Fritz Lang, erfüllt. Als sie Ende der vierziger Jahre in New York eintraf, hatte sie eine gut eingeführte Praxis, eine wunderschöne Wohnung mit Schwimmbad, Tennisplatz und Dienstpersonal aufgegeben und machte sich Sorgen, was nun auf sie zukäme. In den ersten Tagen passierte es ihr, dass sie mitten auf dem Weg durch Manhattan ängstlich und müde wurde. Also legte sie im Bryant Park, gleich hinter der Öffentlichen Bibliothek, ein paar Minuten Pause ein. Sie nahm Platz und dachte hin und her, wie sie mit New York besser klarkommen könnte. Da kommt ein Eichhörnchen auf sie zugehüpft, bremst vor ihr und bettelt um Nüsse. Als Laura das sah, kehrte ihr Mut zurück. Wenn es im großen harten New York sogar für Eichhörnchen genug Möglichkeiten zum Überleben gibt, dann würde sie selbst es doch ebenfalls schaffen, für sich zu sorgen und ein gutes Leben zu haben.

In einer anderen Geschichte erzählte mir Laura, dass sie zu Beginn ihrer gemeinsamen Zeit mit Fritz entdeckte, was für einen starken Körpergeruch er hatte. Ich fragte ganz unschuldig, was sie denn dagegen gemacht hätte, ob sie zum Beispiel Deodorant ins Spiel gebracht hätte. „Nein“, lächelte sie mich an, „ich habe den Geruch mögen gelernt“.

Die dritte Erinnerung ist, wie sie an einem Wochenende mit meinen Nichten umging. Sie waren Heranwachsende und wurden gerade erst groß, hatten aber schon davon gehört, dass Laura irgendetwas mit Gestalttherapie zu tun hatte. Eine von ihnen wollte für die Schule einen Aufsatz darüber schreiben, also bat sie Laura um ein Interview. Laura war bei ihren Antworten nicht die Spur von besserwisserisch, sondern behandelte meine Nichte wie eine Erwachsene. Sie ging auf ihre jugendlichen Fragen geduldig ein, stellte Irrtümer behutsam richtig und vermittelte ihren Respekt vor der Lernbegier meiner Nichte. In diesem Sinne nahm sie sich eine halbe Stunde Zeit, um ihre Fragen zu beantworten, ihr ein Verständnis von Gestalttherapie zu vermitteln und ein tieferes Verständnis ihrer selbst.

 

Anmerkungen

(1) Anm. d. Ü. Die britische Fernsehserie „Upstairs, downstairs“ der siebziger Jahre erlebt seit 2010 Fortsetzungen , www.updown.org.uk
(2) Anm. d. Ü. Im englischen Original irrtümlich „Cousin“. Tatsächlich ein Cousin Wilhelms II. war der russische Zar Nikolaus II.
(3) Anm. d. Ü. Ego, Hunger and Aggression: Manuskript 1941/42. Hektografie in 3 Bänden, Johannesburg, ohne Verlagsangabe, 1943. Erste Druckausgabe in Band 1: Durban, Knox Publishing Company, 1944
(4) Anm. d. Ü. John Chapman, genannt Appleseed, zog nach dem Tod seiner Verlobten sein Leben lang als Missionar der Neuen Kirche durchs Land, trug einen Kochtopf auf dem Kopf und hatte die Hosentaschen voll Apfelsamen. https://de.wikipedia.org/wiki/Johnny_Appleseed

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Foto: Daniel Rosenblatt
Foto: © Oliver Heisch, 2006

Dr. Daniel Rosenblatt (1925 - 2009) studierte in Harvard und Cambridge und erlernte Gestalttherapie bei Laura Perls. Nach einer langjährigen akademischwissenschaftichen Tätigkeit arbeitete er weit mehr als 40 Jahre in seiner privaten psychotherapeutischen Praxis in New York.

Er war „Fellow“ und ehemaliger Vizepräsident des New Yorker Instituts für Gestalttherapie und leitete Ausbildungsgruppen in Gestalttherapie in den USA, Europa, Australien und Japan.

In unserer Edition des Gestalt-Instituts Köln veröffentlichten wir von Daniel Rosenblatt: „Gestalttherapie für Einsteiger“, „Gestalttherapie für alle Fälle“, „Zwischen Männern. Gestalttherapie und Homosexualität“ und seine Gespräche mit Laura Perls, der Mitbegründerin der Gestalttherapie („Meine Wildnis ist die Seele des Anderen. Der Weg zur Gestalttherapie“).Bitte beachten Sie auch die zahlreichen Beiträge des Autors in unserer Zeitschrift "Gestaltkritik" (alle Texte in voller Länge online).

Der obige Beitrag ist zuerst erschienen in: The Gestalt Journal, 1980:3(1):5-15. Wir danken der Rosenblatt-Foundation für die freundliche Genehmigung der deutschen Erstveröffentlichung an dieser Stelle. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Bliesener.

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