Cover: Laura Perls, Meine Wildnis ist die Seele des Anderen

Laura Perls
Meine Wildnis ist die Seele des Anderen
Der Weg zur Gestalttherapie

Die Mitbegründerin der Gestalttherapie im Gespräch mit Daniel Rosenblatt u.a.

Herausgegeben von Erhard Doubrawa
Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg

Anlässlich des 100. Geburtstages von Laura Perls erschien der Klassiker »Der Weg zur Gestalttherapie« in einer erheblich erweiterten Ausgabe:
Die Basis bilden die Gespräche des amerikanischen Gestalttherapeuten Daniel Rosenblatt mit Laura Perls.
Hinzugekommen sind weitere Interviews, besonders zum Selbstverständnis der Therapeutin, und zahlreiche Würdigungen der Persönlichkeit und der Arbeit Laura Perls durch Kollegen und Schüler.
Mit zahlreichen seltenen Bilddokumenten.

gikPRESS 2017 (Neuauflage)
GIK Gestalt-Institute Köln & Kassel
256 Seiten , Paperback: 23,80 EUR, eBook: 15,99 EUR

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 Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 Aus dem Buch:

Inhalt

Anke und Erhard Doubrawa: Vorwort (Leseprobe 1) 7

Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa: Laura Perls' Werkleben (Leseprobe 2) 14

Biografische Übersicht (Leseprobe 3) 17

Die Gespräche

Der Weg zur Gestalttherapie
Laura Perls im Gespräch mit Daniel Rosenblatt (daraus: Leseprobe 4) 25

Gestalttherapie ist immer politisch
Auszüge aus einem Werkstattgespräch mit Laura Perls im Gestalt-Institut Köln 117

Aus dem Schatten hervortreten
Laura Perls im Gespräch mit Edward Rosenfeld 121

Der Therapeut ist ein Künstler
Laura Perls im Gespräch mit Nijole Kudirka 149

Ein Trialog
Laura Perls im Gespräch mit E. Mark Stern und Richard Kitzler 163

Nachrufe und Erinnerungen

Daniel Rosenblatt: Nachruf auf Laura Perls 189

Kristine Schneider: Meine Wildnis ist die Seele des Anderen 203

Erinnerungen von Kollegen und Schülern 219

Anmerkungen 239

Index 243

Foto: Laura Perls
Laura Perls, Foto Mitte der 1980er Jahre, © Theo Skolnik

Anke und Erhard Doubrawa:
Zur erweiterten Neuauflage anlässlich Laura Perls' 100. Geburtstag

Wir freuen uns, Ihnen anlässlich des 100. Geburtstags von Laura Perls, der Mitbegründerin der Gestalttherapie, nun den Klassiker Der Weg zur Gestalttherapie in einer erheblich erweiterten Ausgabe vorlegen zu können.

Die Basis dieses Buches bilden Gespräche des amerikanischen Gestalttherapeuten Daniel Rosenblatt mit Laura Perls. Hinzugekommen sind weitere Interviews, besonders zum Selbstverständnis der Therapeutin.

Zahlreiche Würdigungen der Persönlichkeit und Arbeit Laura Perls durch Kollegen und Schüler runden dieses Buch ab, das Besonderheit und Wirkung der Mutter der Gestalttherapie aufzeigt und auch erfahrbar macht.

Erweitert wurde das Buch zudem um seltene Bilddokumente aus ihrem Leben, die hier z.T. zum ersten Mal veröffentlicht werden.

An dieser Stelle möchten wir allen herzlich danken, die zum Erscheinen von Meine Wildnis ist die Seele des Anderen beigetragen haben.

Köln, im Januar 2005

Anke und Erhard Doubrawa, Gestalttherapeuten

 

Anke und Erhard Doubrawa:
Vorwort

»Gestalttherapie« ist heute kein exotischer Außenseiter im Bereich der Psychotherapie mehr. Das Verständnis der Gesellschaft ist größer geworden für einen ganzheitlichen Ansatz, der Körper und Seele im Zusammenhang sieht, der den Therapeuten (und seine Befindlichkeit) nicht aus dem Blickfeld entfernt, der Verständnis für das Staunenswerte, Sinnliche und Spirituelle hat, der aber auch den sozialen und politischen Anteil an psychischen Problemen nicht leugnet.

Nicht nur das Verständnis der Gesellschaft für die Gestalttherapie ist gewachsen. Auch die Gestalttherapie hat sich gewandelt: Sie ist heute eher bereit, sich zu professionalisieren. Mit der Professionalisierung steigt auch das Interesse, sich der Wurzeln und Ursprünge, der Geschichte und der Theorien der Begründer dieser Therapieform zu vergewissern. Dabei stoßen wir zunehmend auf die Tatsache, dass die Begründer der Gestalttherapie - hauptsächlich Fritz Perls, Laura Perls und Paul Goodman - durchaus systematische, wissenschaftliche, klinische sowie philosophische, politische und soziologische Ansätze verarbeitet haben.

Mit dem vorliegenden Buch machen wir ein ebenso menschlich liebenswertes wie wissenschaftlich interessantes Dokument der »oral history« der Gestalttherapie zugänglich: Laura Perls, die Frau von Fritz Perls, schildert ihre Sicht der Dinge, behutsam geleitet durch die Fragen von Daniel Rosenblatt, ihrem »Schüler«. Dan gehört zu der ersten Generation von Gestalttherapeuten nach den Begründern der Gestalttherapie.

Fritz Perls ist bis heute die Identifikationsfigur der Gestalttherapie. Der eigenständige Beitrag seiner Frau Laura bleibt häufig unerwähnt, obwohl sie von Anfang an maßgeblich an der Entwicklung der Gestalttherapie beteiligt war. Nicht nur das. Laura Perls steht für einen ganz bestimmten, von Fritz durchaus abweichenden Stil: für liebevolle Aufmerksamkeit, für Wohlwollen, Einfühlungsvermögen und »Support« (Unterstützung) der KlientInnen in einer sehr bodenständigen Arbeit. Sie steht gleichsam für die »mütterliche« Dimension der Gestalttherapie. Sie leistete viel »Schattenarbeit«, wie es Ivan Illich nennt. (Illich ist übrigens stark von einem anderen Mitbegründer der Gestalttherapie, Paul Goodman, beeinflusst.) Illich versteht unter »Schattenarbeit« diejenige Arbeit, die erforderlich ist, damit man überhaupt arbeiten kann. Und die erstere bleibt häufig im Schatten - so wie Lauras Beitrag für die Gestalttherapie.

In den Jahren, in denen Fritz Perls zum erfolgreichen »Guru« einer psychotherapeutischen Bewegung an der amerikanischen Westküste wurde und sich zunehmend von den - früher selbst mitentwickelten - Grundlagen der Gestalttherapie distanzierte, hielt Laura diesen die Treue, arbeitete weiter an der Verdeutlichung dieser und lehrte weiter am New Yorker Institut für Gestalttherapie.

Laura fühlte sich mehr mit Fritz' »Konkurrenten« verbunden, dem politisch aktiven Paul Goodman, dem Führer der amerikanischen Schüler- und Studentenbewegung der frühen 1960er Jahre und leidenschaftlichen Kämpfer gegen die Kriegshysterie der amerikanischen Regierung.

Laura knüpfte stets an ihre »deutsche Erfahrung« an und betonte nachdrücklich, dass Therapie immer politische Arbeit sei und den Kampf gegen die Barbarei von Krieg und Faschismus beinhaltet.

Sowohl an der theoretisch-philosophischen Fundierung der Gestalttherapie als auch an ihrer Körperorientierung hat Laura Perls entscheidend mitgewirkt. Als Studentin war sie von dem religiösen Anarchisten Martin Buber und dem religiösen Sozialisten Paul Tillich sehr beeindruckt. Sie brachte einen humanen Existenzialismus in die psychologische Theorie ein, wie sie ihn bei Buber und Tillich kennen gelernt hatte. In der Entstehungsphase der Gestalttherapie war auch die Bezeichnung »Existenzialistische Therapie« diskutiert, jedoch wegen der in jenen Jahren verbreiteten »nihilistischen« Ausprägung des Existenzialismus letztlich verworfen worden. Neben dem Existenzialismus wurde Laura Perls von der Phänomenologie Edmund Husserls beeinflusst. Sie hörte Vorlesungen von Husserl, und möglicherweise traf sie dabei mit der - inzwischen heilig gesprochenen - Mystikerin Edith Stein zusammen, die zu dieser Zeit Assistentin bei Husserl war.

Den Kopf frei für Philosophie bekam Laura durch ihre langjährige Begeisterung für den Modern Dance, Gindlers Bewegungsarbeit und durch ihre Leidenschaft für die Musik. Ihre Erfahrungen mit Bewegungsarbeit und Tanz und deren therapeutischen Wirkungen ließen Laura dann die Körper-Dimension der Gestalttherapie begründen. Die Leib-Seele-Einheit war keine abstrakte Forderung von Laura, sondern Ausdruck ihres positiven Lebensgefühls.

Zum ersten Mal werden hier eine Reihe von Gesprächen veröffentlicht, die Daniel Rosenblatt mit Laura zwei Jahre nach dem Tod von Fritz führte. Dan war Lauras zweiter Klient in New York, ihr späterer Schüler und Kollege und schließlich ihr engster persönlicher Vertrauter in ihren letzten Lebensjahren. Ihm verdanken wir, dass Lauras Erinnerungen für die Nachwelt bewahrt werden konnten.

Laura Perls antwortet offen, erzählt aus der spontanen Erinnerung heraus über ihre Kindheit und Jugend, ihre Studienzeit in Frankfurt, ihre Flucht als linke Jüdin aus Nazi-Deutschland nach Holland und später nach Südafrika, über ihre Ehe mit Fritz Perls und den gemeinsamen Weg von der Psychoanalyse zur Gestalttherapie und über die Gründung des New Yorker Instituts für Gestalttherapie.

Den Lesern dieses Buches wird Laura Perls' besondere Bedeutung für die Gestalttherapie deutlich. Die Absicht dieses Buches besteht dagegen nicht darin, die Ereignisse in historiografischer Exaktheit zu rekonstruieren - es handelt sich um sehr persönliche, subjektive Erinnerungen.

Laura Perls engagierte sich besonders für zwei zentrale Aspekte der Gestalttherapie - »Support« (die Unterstützung des Klienten) und »Commitment« (die freiwillige Selbstfestlegung, auch die des Therapeuten). Sie lebte Support und Commitment auch vor. Dies wird sehr deutlich in einem ihrer schönsten Vorträge: »Commitment - Hingabe und Selbstfestlegung in Freiheit«.

Wir haben diesen bemerkenswerten Gesprächen Daniel Rosenblatts sehr persönlichen Nachruf auf Laura Perls beigefügt, den er unmittelbar nach ihrem Tod für die australische Zeitschrift für Gestalttherapie »At the Boundary« schrieb. Den Gesprächen aus den 1970er Jahren angefügt haben wir kurze Ausschnitte aus einem Werkstattgespräch mit Laura Perls und Daniel Rosenblatt 1988 im Gestalt-Institut Köln. Mitveranstalter dieses Werkstattgesprächs war Milan Sreckovic, der sich wie kein zweiter im deutschen Sprachraum für Lauras Werke eingesetzt hat. Und so sollen diese Vorbemerkungen nicht schließen ohne den Hinweis auf Laura Perls erstes Buch (eine Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen), das von Anna und Milan Sreckovic herausgegeben wurde und ohne sie nicht entstanden wäre: Laura Perls: Leben an der Grenze. Essays und Anmerkungen zur Gestalt-Therapie.

Daniel Rosenblatt hat die Transkripte der Gespräche noch einmal mit Laura Perls durchgesprochen. Trotzdem ist hin und wieder etwas unklar geblieben bzw. konnte Laura sich nicht mehr an alle Namen erinnern. Hier bitten wir die Leser um Mithilfe, um Lücken vielleicht in der nächsten Auflage schließen zu können.

Köln, im Januar 1997

Anke und Erhard Doubrawa, Gestalttherapeuten

Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa:
Laura Perls' Werkleben

Geboren wurde sie als Laura Posner 1905 in Pforzheim. Sie stammt aus einer jüdischen Juweliersfamilie. Sie hat eine Schwester und einen Bruder. Als einziges Mädchen besucht sie ein Gymnasium und fängt nach dem Abitur zunächst ein juristisches Studium an, wechselt jedoch schnell zu Philosophie und Psychologie.

In Frankfurt besucht sie Seminare und Vorlesungen u.a. von Max Scheler, Paul Tillich, Kurt Goldstein, Adhemar Gelb (der ihr Doktorvater wird) und Martin Buber.

In einem Kolloquium, das Goldstein und Gelb gemeinsam halten, lernt sie 1926 Fritz Perls kennen. Sie folgt ihm auf seinen verschlungenen Lebenspfaden, hält sich jedoch stets im Hintergrund.

Allerdings ist ihr Einfluss auf die Theorieentwicklung zunächst von Fritz und später von der gesamten Gestalttherapie enorm.

Nach der Geburt ihrer Tochter Renate 1931 beschäftigte sich Laura mit dem Verhalten von Säuglingen beim Stillen. Psychoanalytiker sprachen hier von »oral-sadistischen Impulsen«. Laura (und Fritz) versuchten, dieses Verhalten nicht (ab)wertend zu betrachten, sondern als erste Versuche einer sich die Umwelt zum eigenen Überleben aneignenden, natürlichen Auseinandersetzung, die sie im positiven Sinne Aggression nannten.

Dann wendeten sie sich dem Übergang vom Saugen zum Kauen zu. Dieser Übergang kennzeichnet eine neue Stufe der »Aggression«, die notwendig ist. Wenn an dieser Stelle die Aggression gehemmt wird, legt das den Grundstein für spätere Probleme des Individuums, sich der Umwelt aggressiv zu nähern. Zunächst sprachen sie von »oralem Widerstand« (später ist, bildlicher, von »Beißhemmung« die Rede).

Mit diesen Überlegungen schuf Laura die Grundlage der späteren gestalttherapeutischen Theorie der Aggression. In einem Vortrag 1939 formulierte Laura die zentrale Gleichung der neuen Aggressionstheorie: »Die Verdrängung der individuellen Aggression [führt] unweigerlich zu einem Anstieg der universellen Aggression« (Vortrag über Friedenserziehung in Johannisburg 1939, zit. n.: Laura Perls, Leben an der Grenze, S. 14f). Sie half Fritz im südafrikanischen Exil, das Buch Das Ich, der Hunger und die Aggression (1944) zu schreiben. Sie bestand jedoch nicht darauf, als Mitautorin genannt zu werden.

Paul Goodman entwickelte in Anschluss an Freud und Reich ähnliche Überlegungen und benutzte dazu den Begriff »natürliche« oder »gesunde Gewalt«, deren Unterdrückung zum universellen Kriegs- und Zerstörungswunsch führe. Seine entsprechenden Aufsätze (und den Roman The Grand Piano) lasen Laura und Fritz Perls noch in Südafrika; so war es ganz folgerichtig, dass sie Paul Goodman aufsuchten, nachdem sie Ende der 1940er Jahre nach New York gingen. Paul Goodman wurde ihr Klient, Geliebter, Freund und Kollege.

Auch an dem Buch Gestalt Therapy von 1951 hat Laura einen großen, jedoch nicht ganz genau festzustellenden Anteil. Wieder verzichtet sie darauf, als Autorin in Erscheinung zu treten. Allerdings wählt man sie, um ihr Anerkennung und Respekt zu zollen, zur Präsidentin des »New York Institute for Gestalttherapy«, das sie in antibürokratischer und antiautoritärer Weise führt.

Laura und Fritz entfremdeten sich zunehmend. Fritz ging nach Kalifornien und Laura blieb in New York bei den Freunden der ursprünglichen Gestaltgruppe.

Anlässlich von Fritz' Tod sorgte Laura für einen Eklat, als sie Paul Goodman die Rede auf der Trauerfeier in New York halten ließ. Goodman hatte zwar mit Laura am Telefon geweint, als sie ihm von seinem Tod berichtete, wollte es sich jedoch nicht versagen, bei der Rede auch Kritik an dem verstorbenen Mitstreiter zu üben.

Noch mehr als zwanzig Jahre setzte Laura ihre im Gegensatz zu Fritz »stille« Gestaltarbeit fort. Sie betonte die Vorsicht und Zurückhaltung bei der Arbeit, wies darauf hin, dass der Klient Unterstützung (»support«) benötige und betonte die Wichtigkeit von Theorie, Philosophie und Kunst bei der Ausbildung von Gestalttherapeuten.

Erving Polster: »Bei Laura hatte ich meine allererste Einzelsitzung. Sie kam zu einem Workshop, in dem wir auch Einzelsitzungen hatten, und ich hatte eine bei ihr. Innerhalb sehr kurzer Zeit machte sie ein paar Sachen mit mir, die mir die Augen öffneten. Inzwischen weiß ich, dass es sehr einfache Dinge waren, aber mit weitreichenden Folgen.

Es ging um meinen Vater. Ich hatte etwas über meinen Vater gesagt, und dann machte ich einen Moment lang die Erfahrung, wie es war, mein Vater zu sein. Ich konnte fühlen, wie umfassend und stark sie in diesem Moment mit mir verbunden war. Sowohl bei ihr als auch bei den anderen spürte ich einen großen Reichtum an Erfahrung. Ich dachte, dass ich von ihr eine Menge über Sprache und Bewegung lernen könnte.

Als ich später einen ihrer Workshops besuchte, bemerkte ich, dass sie sich sehr fein und sehr genau auf bestimmte Dinge einstellte, die die Teilnehmer taten. Sie wusste, wie sie so etwas entwickeln konnte. Was mir bei ihr auffiel, und was ich bei Fritz oder Paul Weisz nicht gesehen hatte, vielleicht nicht einmal bei Isadore, war - wie soll ich es nennen? - eine bestimmte Art des warmen Einfühlens, ein Sich-Einwärmen in den anderen. Sie kam einem körperlich näher. Sie lächelte. Nebenbei sagte sie ermutigende Dinge. Und sie scheute sich nicht, durch ihre Gesten und Bewegungen ganz klar und deutlich Unterstützung zu geben« (in: Anke und Erhard Doubrawa [Hg.], Erzählte Geschichte der Gestalttherapie, Wuppertal 2003, S. 200f).

Daniel Rosenblatt: »[Therapie bei Laura Perls.] Ich erinnere mich, dass wir zusammensaßen und rauchten und dass sie strickte! Das war aber nicht feindselig, sie war immer da. Es ist ein Kontrast aus der Sicht der Gestalttherapie, weil kein Gestalttherapeut je stricken würde, aber das kriegte ich gar nicht mit, ich hatte nicht den Eindruck, dass sie nicht aufmerksam war. Ich glaube, dass zu jener Zeit viele weibliche Analytiker strickten, einfach weil sie so viel Zeit mit rumsitzen verbrachten. Sie machte bzw. wir machten damals keine freien Assoziationen.

Die andere Sache, die mir natürlich sofort einfällt, ist, dass ich 23 war und Laura ungefähr 43, weil sie 20 Jahre älter ist als ich, und zu jener Zeit war sie eben für mich eine Frau mittleren Alters. Da ich nun fast 20 Jahre älter bin als sie damals, ist es schwer für mich, mir das vorzustellen. Ich meine, sie war damals wirklich eine junge Frau, wenn man so will, ungefähr in eurem Alter, und der Abstand zwischen 23 und 43 war sehr groß, aber ich habe aufgeholt. Sie erschien mir damals viel älter und mütterlicher; aber wahrscheinlich teilweise nur aus meiner damaligen Sicht.

Anna [Sreckovic]: Ich möchte etwas mehr darüber hören, wie es für dich nach deinen Erfahrungen mit der Psychoanalyse war, mit Laura zu arbeiten. Was war das Besondere an ihrer Arbeit in jenen Tagen?

Dan [Rosenblatt]: Nun, sie war sehr persönlich und direkt, und ich hatte nicht das Gefühl, dass ich mich wie ein Patient verhalten sollte. Sie arbeitete nicht nach einem medizinischen Modell, und ich fühlte mich immer als Person angesprochen und nie als jemand, der bewertet wurde, fühlte mich nie als Kranker. Ich konnte mit ihr über meine Erfahrung sprechen und hatte nie das Gefühl, dass sie mir nicht direkt antwortete. Ich hatte nie den Eindruck, mich zu unterwerfen, gezwungen oder von oben herab behandelt zu werden. In der Psychoanalyse muss man, selbst wenn der Analytiker ein warmherziger Mensch ist, die Position des Patienten hinnehmen. Die Couch benutzte sie (im Gegensatz zu Fritz) nicht mehr. In der Arbeit mit ihr erfuhr ich sehr deutlich, was es heißt, authentisch zu sein« (in: A. u. E. Doubrawa [Hg.], Erzählte Geschichte der Gestalttherapie, Wuppertal 2003, S. 267f).

Quelle: Stichwort »Perls, Laura« in: Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, Wuppertal 2005.

 

Laura Perls
Biografische Übersicht

1905 Am 15. 8. 1905 wird Laura Posner in Pforzheim in einer wohlhabenden Juweliersfamilie geboren.

1908 Beginn einer lebenslangen Leidenschaft: der Musik. Ab ihrem fünften Lebensjahr erhält Laura dann Klavierunterricht. Sie musiziert täglich (bis ins hohe Alter).

1911 Einschulung in eine private Mädchenschule in Pforzheim.

1913 Ab 1913 Tanz- und Bewegungsunterricht (Dalcroze-Kurse, später Kurse in rhythmischer Gymnastik).

1916 Besuch des Gymnasiums in Pforzheim. Laura ist das einzige Mädchen in ihrer Schulklasse.

1923 Laura beginnt das Studium der Rechtswissenschaften in Frankfurt/Main.

1926 Studienwechsel zur Psychologie und Philosophie. Ihre Lehrer sind u.a.: die Gestaltpsychologen M. Wertheimer; K. Goldstein, A. Gelb; der Philosoph E. Husserl; die Existenzialisten P. Tillich und M. Buber.

Aus dem Umfeld der (kritisch-marxistischen) »Frankfurter Schule« der Sozialwissenschaften heraus aktive Beteiligung am gesellschaftspolitischen Geschehen.

Intensives Studium von Ausdruckstanz und rhythmischer Bewegungsarbeit.

Begegnung mit dem Psychoanalytiker Fritz Perls (geb. am 8. 7. 1893 in Berlin) im Gelb-Goldstein-Seminar.

1927 Laura beginnt eine psychoanalytische Ausbildung: Psychoanalyse bei K. Landauer; Lehranalyse bei E. Fromm-Reichmann.

1929 Heirat mit Fritz Perls am 23. 8. 1929 und Umzug nach Berlin.

1931 Am 23. 7. 1931 wird ihr erstes Kind, Renate, geboren.

Laura Perls macht bei Elsa Gindler in Berlin sensitive Körper- und Bewegungsarbeit.

1932 Beginn der eigenen Psychoanalytischen Praxis unter Supervision von O. Fenichel.

Promotion in Frankfurt/Main bei A. Gelb mit einer Dissertation zu einem gestaltpsychologischen Thema über visuelle Wahrnehmung.

Politische Aktivitäten in der Antifaschistischen Liga.

1933 Aus politischen Gründen Flucht nach Holland. Laura Perls Schwester und Mutter sterben später im Konzentrationslager.

1934 Emigration nach Johannesburg in Südafrika auf Initiative von Ernest Jones.

Zusammen mit Fritz Perls dort Gründung des ersten Südafrikanischen Instituts für Psychoanalyse und Beginn der Ausbildung von Psychoanalytikern.

1935 Am 23. 8. 1935 wird ihr zweites Kind, Steve, geboren.

1936 Fritz hält einen Vortrag über »Orale Widerstände« auf der Internationalen Psychoanalytischen Konferenz in Marienbad in der Tschechoslowakei. Dabei stützt er sich ausführlich auf Lauras Beobachtungen der Nahrungsaufnahme ihres ersten Kindes, Renate.

1937 Fritz und Laura Perls wird zusammen mit vielen anderen von der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung die Ausbildungsbefugnis entzogen. Die Begründung für diese Maßnahme lautete: Sie seien vorher nicht als Trainer in Europa tätig gewesen.

1939 Laura hält einen Vortrag unter dem Titel How to Train Children in Peace?* im Rahmen der ersten Frauenfriedenskonferenz in Johannesburg, Südafrika.

1942 Erstveröffentlichung von Ego, Hunger, and Aggression. Untertitel der ersten Ausgabe: Eine Revision der Freudschen Analyse (dt. »Das Ich, der Hunger und die Aggression«). Das Buch haben Fritz und Laura Perls gemeinsam erarbeitet. Allerdings wird nur Fritz als Autor genannt, obwohl Laura ganze Teile selbst verfasst und andere ausformuliert hat. Im Vorwort zur ersten Ausgabe wird jedoch Lauras bedeutender Beitrag zum Buch von Fritz gewürdigt.

1947 Emigration in die USA (New York).

Praxiseröffnung. Unter ihren ersten Klienten waren P. Goodman, I. From, D. Rosenblatt und andere spätere Mitarbeiter und Freunde.

1949 Anmerkungen zum Mythos des Leidens*

1950 Der Psychoanalytiker und sein Kritiker. Zuerst erschienen unter dem Titel: The Psychoanalyst and the Critic, in: Complex, 2 (1959), S.41-47*

1951 Erstveröffentlichung des Buches Gestalt Therapy (dt. in zwei Bänden Gestalttherapie: Grundlagen und Gestalttherapie: Praxis) von F. Perls - R. Hefferline - P. Goodman. Damit erhält ihre Psychotherapieform die offizielle Benennung. Laura bleibt auch hier ungenannt, obgleich sie am ganzen Diskussions- und Entstehungsprozess des Buches entscheidend mitgewirkt hat.

1952 Begründung des New Yorker Instituts für Gestalttherapie. Leitung einer der ersten Gestalttherapie-Ausbildungsgruppen.

1953 Über die Psychologie des Gebens und Nehmens. Zuerst erschienen unter dem Titel: Notes on the Psychology of Give and Take, in: Complex, 9 (1953-54).*

Stützung (Support) - Anmerkungen zu den Grundlagen des Kontaktprozesses. Vorlesungsnotizen aus den Anfangsjahren des New York Institute for Gestalt Therapy.*

1956 Zwei Beispiele für Gestalttherapie. Zuerst erschienen unter dem Titel Two Instances of Gestalt Therapy, in: Case Reports in Clinical Psychology, 2 (1956).*

1957 Zum ersten Mal nach ihrer Flucht reisen Fritz und Laura Perls nach Deutschland. Laura besucht dabei u.a. Max Horkheimer; einen wichtigen Vertreter der »Frankfurter Schule«.

1959 Der Gestalt-Ansatz. Auf der vierten jährlichen Konferenz der American Academy of Psychotherapy in New York wurden führende Psychotherapeuten fünf verschiedener Therapieschulen zu ihrer Praxis befragt. Laura Perls' Aufsatz entstand aus ihren Antworten auf diese Befragung. Zuerst erschienen unter dem Titel: The Gestalt Approach, in: Annals of Psychotherapy, Vo. 1/2 (1961).*

1965 Bemerkungen zur Angst und Furcht. Vorlesungsnotizen für die Trainingskurse am New York Institute for Gestalt Therapy.

1969 Von 1969 bis 1989 reist Laura jeden Sommer nach Europa. Zuerst leitet sie Workshops in England, Holland und Belgien; später auch in Düsseldorf, Frankfurt/Main, Kleinich, Köln und Pforzheim

1970 Am 14. 5. 1970 stirbt Fritz Perls im Weiss-Memorial-Krankenhaus in Chicago an einem Herzanfall nach einer Operation wegen eines Pankreas-Karzinoms.

1972 Im Jahr 1972 führt Daniel Rosenblatt mehrere intensive Gespräche mit Laura Perls über den Weg der Gestalttherapie. Sie werden auf Tonband aufgenommen und später transkribiert und noch einmal mit Laura Perls besprochen.

Die Transkripte wurden 1997 zum ersten Mal in der Edition des Gestalt-Instituts Köln/GIK Bildungswerkstatt im Peter Hammer Verlag unter dem Titel Der Weg zur Gestalttherapie veröffentlicht und sind in dem vorliegenden Buch vollständig enthalten.

Einige Aspekte der Gestalt-Therapie. Vortrag unter dem Titel Some Aspects of Gestalt Therapy gehalten bei der Konferenz der Mid-Atlantic Group Therapy Association, Washington, D.C., USA. Erschienen in Ortopsychiatric Association, 1973.

1974 Grundlegende Begriffe und Konzepte der Gestalttherapie. Zuerst erschienen unter dem Titel Comments on the New Directions, in: E.W.L. Smith (Hg.), The Growing Edge of Gestalt Therapy, Seaucus, New Jersey, 1976.

1976 Laura Perls gibt ihre Privatpraxis in New York auf und widmete sich ausschließlich der Ausbildung.

1977 Begriffe und Fehlbegriffe der Gestalttherapie. Vortrag anlässlich der Konferenz der Europäischen Gesellschaft für Transaktionsanalyse in Seefeld, Österreich. Erschienen unter dem Titel Concepts and Misconceptions of Gestalt Therapy, in: Voices,

Vol. 14, 3.*

An Anniversary Talk. Vortrag zum 25. Jahrestag der Gründung des New York Institute for Gestalt Therapy. Zuerst erschienen in: The Gestalt Journal, Volume XI II, Number 2, Fall, 1990.**

1980 Auf der Konferenz für Gestalttherapie in Boston wird Laura Perls als die Grand Old Lady der Gestalttherapie gefeiert. Ein Transkript eines Workshops mit Laura Perls, der von der American Academy of Psychotherapists anlässlich der jährlichen Konferenz in New York organisiert wurde. Zuerst veröffentlicht in: Voices, Vol. 18, N. 2 Summer 1982.*

1981 Laura hält einen Vortrag über wesentliche Aspekte der Gestalttherapie vor einem großen Auditorium an der J.W. Goethe-Universität in Frankfurt/Main.

1982 Verleihung der Goldenen Doktorwürde zum 50jährigen Jubiläum ihrer Promotion an der Universität Frankfurt/Main.

1984 In der Reihe »Wege zum Menschen« wird im deutschen Fernsehen der Film »Leben heißt wachsen. Gestalttherapie - Laura Perls« ausgestrahlt.

A Conversation with Laura Perls. Gespräch mit Daniel Rosenblatt. Zuerst erschienen in: The Gestalt Journal, Volume XIV, Number 1 (Spring, 1991).**

1985 Commitment - Hingabe und Selbstfestlegung in Freiheit. Eröffnungsrede über die Theorie und Praxis der Gestalttherapie, die von Gestalt Journal in Provincetown, Massachussets, USA organisiert wurde.*

1987 Laura Perls wird Ehrenmitglied der Deutschen Vereinigung für Gestalttherapie (DVG).

1988 Jeder Roman ist eine Falldarstellung. Vortrag anlässlich der Mitgliederversammlung des New York Institute for Gestalt Therapy.*

Gestalttherapie ist immer politisch. Die Mitbegründerin der Gestalttherapie im Gespräch mit Daniel Rosenblatt im Gestalt-Institut Köln. Auszüge aus diesem Gespräch finden sich auch im vorliegenden Buch.

Leben an der Grenze. Laura Perls im Gespräch mit Milan Sreckovic.*

1989 Laura Perls wird in Pforzheim Ehrenbürgerin.

Laura Perls' erstes Buch erscheint: Leben an der Grenze: Essays und Anmerkungen zur Gestalttherapie (Köln 1989, herausgegeben von Milan Sreckovic).

1990 Laura Perls muss von Februar bis April 1990 in einem New Yorker Krankenhaus behandelt werden. Ihr Gesundheitszustand hatte sich seit Herbst 1989 sehr verschlechtert. Überraschend kehrt sie im Juni 1990 in ihren Geburtsort zurück und zieht dort in ein Altenheim.

Laura Perls stirbt am 13. 7. 1990, einen Monat vor Vollendung ihres fünfundachtzigsten Geburtstags.

Am 16. 7. 1990 wird ihre Urne zusammen mit der von Fritz im Familiengrab der Posners in Pforzheim beigesetzt.

 

* Die so gekennzeichneten Vorträge und Aufsätze sind enthalten in: Laura Perls, Leben an der Grenze: Essays und Anmerkungen zur Gestalttherapie, hg. v. Milan Sreckovic, Köln 1989

* Diese Vorträge und Aufsätze sind enthalten in: Laura Perls, Living at the Boundary, hg. v. Joe Wysong, Highland NY 1992


Foto: Laura Perls
Laura Perls, Foto Ende der 1980er Jahre, © durch Copyright geschützt

Drittes Gespräch, 14. April 1972

Fritz Perls

Laura: Ich lernte Fritz im Winter 1926 durch einen seiner Kollegen an Goldsteins Neurologischer Klinik kennen. Sein Name war Dr. Quadfasel, er war damals das Wunderkind [im Original deutsch] des Instituts. Er war 23 Jahre alt und hatte bereits seinen akademischen Abschluß. Seit damals sind wir gute Freunde geblieben; er lebt seit vielen Jahren in Amerika. 1934 wurde er von den Nazis für einige Zeit inhaftiert. Er ging dann nach London und später nach Amerika. [...]

Dan: Wie war Fritz damals, 1926?

Laura: Fritz war ein hoffnungsloser Zyniker. Während des Ersten Weltkriegs war er verwundet worden und hatte eine Lungenentzündung. Das trug wahrscheinlich dazu bei, daß er später in Afrika emphysemisch wurde und Schwierigkeiten mit dem Herzen bekam. Aber das kam natürlich vor allem vom Rauchen, womit er in den Schützengräben angefangen hatte, als es nicht genug zu essen gab.

Dan: Wie war dein erster Eindruck von ihm, erinnerst du dich?

Laura: Mein erster Eindruck war: "Da ist er."

Dan: Du wußtest es sofort? Was war es?

Laura: Da war ein Typ, den ich mochte, intelligent, klar und originell in den kleinen Dingen. Zu dieser Zeit hatte seine Kreativität keinen bestimmten Fokus. Er war kreativ im Reden. Er machte damals eine Analyse, ebenso wie Dr. Quadfasel. Die beiden hatten einen bestimmten Jargon miteinander, in den ich nicht eingeweiht war und eine Erfahrung, die ich nicht teilen konnte. Also machte ich auch eine Analyse. Eigentlich machte ich das, um "in" zu sein. Gleichzeitig studierte ich aber auch Gestaltpsychologie, und ich war damit sehr viel vertrauter als Fritz. Noch vor ein paar Jahren sagte er: "Ich wünschte, ich hätte mehr von Gestalt verstanden als ich noch bei Goldstein war." Manches entging ihm.

Dan: Fritz war bei Goldstein?

Laura: Fritz war damals Volontär, unbezahlter Assistent. Die Leute gingen zu Goldstein, um bei ihm zu studieren, und Fritz war dort für sechs Monate und später noch einmal für ein halbes oder ein ganzes Jahr. Dann kam er zurück, vor allem, um mit mir zusammen zu sein.

Dan: Du sagtest, Fritz sei ein hoffnungsloser Zyniker gewesen als ihr euch zum ersten Mal begegnetet. Aber du sagtest auch : "Das ist er."

Laura: Er hatte so einen Galgenhumor und war ziemlich nihilistisch. Er hatte keinen Kontakt zur Natur, so wie ich ihn immer hatte. Ich bin im Schwarzwald aufgewachsen. Ich ging nach draußen so oft ich konnte, raus aus der Stadt. Das war für ihn etwas ganz Neues. Ich glaube, er kannte die Natur nur aus den Schützengräben, und draußen zu sein war für ihn etwas ganz Unangenehmes.

Dan: Wie kam es, daß er acht Jahre nach dem Krieg noch so verzweifelt war?

Laura: Er hatte nicht das Gefühl irgendwo hinzugehören. Er hatte mit einem Kreis von Halbintellektuellen zu tun und hatte oberflächlichen Kontakt zu allen möglichen Künstlern, Poeten, Schauspielern, zu Schriftstellern und zum Theater. Aber er hatte keinen wirklich vertrauten Kontakt zu irgend jemandem. Er hatte natürlich Freundinnen, sogar eine ganze Menge, aber keine dauerhaften Beziehungen. Es gab eine Frau, mit der es sehr bequem war; sie lebte im selben Haus wie er, einem Haus seiner Mutter, aber er hatte keine weitere Anbindung.

Dan: Das Problem, nirgendwo hinzugehören, hatte er sein ganzes Leben lang.

Laura: Ja, dieses Problem hatte er immer, aber in gewisser Weise hat er sich verändert seit wir zusammen waren, also seit Januar 1927.

Dan: Du erwähntest seinen Zynismus. In welcher Weise war er zynisch?

Laura: Er wollte nichts und niemanden wirklich ernstnehmen. Auf der einen Seite ließ er sich ein, auf der anderen verleugnete er das aber auch wieder. Er machte sich lustig. Er war eher zweifelnd als skeptisch, nihilistisch würde ich sagen.

Dan: Glaubst du, daß die Analyse ihm damals geholfen hat?

Laura: Ein wenig, aber nicht sehr viel. Ich ging zur selben Analytikerin wie er, Clara Happel. Sie ging später auch nach Amerika, Detroit, und starb ziemlich jung an einem Gehirntumor, sie war noch keine fünfzig. Als ich zu ihr ging, war sie Mitte bis Ende Dreißig. Eine sehr aufgeweckte Frau, aber - wie ich inzwischen finde - keine sehr effektive Analytikerin. Später ging sie von Frankfurt nach Hamburg, und ich ging zu Karl Landauer, einem der großen Analytiker, wie ich finde. Zusammen mit Clara Happel, Frieda Fromm-Reichmann und Karl Meng, der später in Basel arbeitete, gründete er das Frankfurter Psychoanalytische Institut. Frieda Fromm-Reichmann war meine erste Lehrerin. Clara Thompson kam viel später. Wir mochten uns nicht sehr. Sie verstand sich ganz gut mit Fritz; ich glaube, sie mochte nur Männer. Clara Thompson taucht in dem Buch Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen unter dem Namen Dr. Fried auf. Das Buch handelt von ihr und dem Institut Chestnut Hill in Maryland, in dem sie damals arbeitete.

 

Lauras Beziehung mit Fritz

Dan: Wie entwickelte sich Fritz' Zynismus während der nächsten 40 Jahre?

Laura: Nun, er wurde etwas milder, aber - nun ja - ich war mir seiner nie wirklich ganz sicher, das konnte man nicht. Und ich hatte nie erwartet, daß er mich heiraten würde, aber ich war sehr in ihn verliebt. Nein, das stimmt nicht ganz; als ich ihm zum ersten Mal begegnete und er die ersten Annäherungsversuche machte, mochte ich seinen Geruch nicht.

Dan: Wegen der Zigarren?

Laura: Ja, und außerdem hatte er einen bestimmten Körpergeruch, den ich dann später gern mochte. Ich denke, es war eine Abwehrhaltung meinerseits. Ich wollte mich nicht einlassen, aber ich ließ mich ein.

Dan: Wie war eure Beziehung?

Laura: Zu Anfang war sie sehr zaghaft. Er war sehr schnell verletzt; eigentlich war er in dieser Hinsicht ein bißchen paranoid. Ich erinnere mich, daß ich ihn einmal auf der Straße traf, ich freute mich, ihn zu sehen. Das Wetter war furchtbar, es hatte geregnet und die Sonne kam gerade heraus. Ich nahm die Gummiüberzieher von meinen Schuhen, und dabei kam ein bißchen Dreck auf seine Kleidung. Anscheinend empfand er das so, als ob ich ihn mit Dreck besudelte, er drehte sich um und ging. Ein paar Tage lang wußte ich gar nicht was los war; ich war ganz unglücklich. Als wir dann zum ersten Mal zusammen aßen - das war in der Universität -, aß er Frankfurter Würstchen. Er nahm sich Senf und bekleckerte mich am Ärmel, und dann meinte er, das sei eine Liebeserklärung. Das ist witzig, ich habe lange nicht mehr daran gedacht, und vor allem nicht in dieser Verbindung. Wenn er mich besudelt, ist es eine Liebeserklärung, wenn ich es tue ... ; und er tat es mehr oder weniger absichtlich. Er war sich dessen sofort bewußt. Ich nicht, weißt du, ich hatte nur meine Schuhe herumgeschlendert.

Dan: Offensichtlich warst du aufgeregt.

Laura: Ja.

Dan: Wie lange dauerte es, bis eure Beziehung sich richtig entwickelte?

Laura: Oh, unsere Beziehung entwickelte sich sehr schnell. Ich nahm ihn mit zum Wandern. Ja, wir machten einige lange Wanderungen, und er lernte Wandern, was er früher nie getan hatte.

Dan: War er ein Stadtjunge gewesen?

Laura: Er war ein Berliner Stadtjunge gewesen. Wenn er wegging, nahm er das Motorrad. Als wir heirateten, wollte er wieder ein Motorrad anschaffen, aber ich redete es ihm aus, und wir kauften ein kleines Auto.

Dan: Erinnerst du dich an eure Wanderungen, an eure Ausflüge aufs Land?

Laura: Einmal, ich glaube, es war, als wir zum ersten Mal am Rhein entlang wanderten, war er allem, auch mir gegenüber sehr ablehnend. Und plötzlich wurde ich sehr ängstlich und ebenfalls paranoid. Ich hatte das Gefühl, daß er alles, was ich sagte, zurückwies und bezweifelte; ich dachte: Wenn ich noch ein Wort sage, schmeißt er mich in den Rhein oder er schubst mich, oder so. Er tat es nicht. Ich erzählte ihm später, daß ich seither nie mehr Angst vor ihm hatte.

Dan: Wart ihr damals beide in Analyse?

Laura: Ja.

Dan: Wart ihr beide beim selben Therapeuten [Clara Happel]?

Laura: Ja. Später ging ich dann zu Dr. Landauer, er arbeitete zuerst in Berlin und dann in Wien, und wir sahen uns zwischendurch - an kleinen, mittelalterlichen Orten.

Dan: War Fritz mit seinem Medizinstudium fertig, als du ihn kennenlerntest?

Laura: Oh, ja, schon eine ganze Weile. Fritz war dreiunddreißig als ich ihn traf, ich war einundzwanzig.

Dan: War er deine erste Liebesaffäre?

Laura: Ja, meine erste richtige.

Dan: Spürtest du damals seine Verzweiflung?

Laura: Ja, das tat ich.

Dan: Und du nahmst das in Kauf?

Laura: Ja, ich hatte das Gefühl, das zu können, und ich konnte es.

Dan: Das klingt irgendwie erschreckend - jemand, der soviel älter war als du und so unglücklich.

Laura: Er war unglücklich, aber dieses Unglücklichsein blieb sozusagen hinter seinem Zynismus verborgen. Es zeigte sich nicht als Unglücklichsein, sondern als Spott und Überlegenheit.

Dan: Und als Verachtung. - Wie klar war er damals in bezug auf seine Karriere?

Laura: Er beschäftigte sich mit der Analyse, er wollte Analytiker werden. Und er betrachtete seine eigene Analyse als Lehranalyse. Er brauchte sehr lange, um anerkannt zu werden. Zuerst war er bei Clara Happel. Nein, ich glaube davor war noch für kurze Zeit bei Karen Horney, die es uns später ermöglichte, in die Vereinigten Staaten zu gehen. Nach Happel ging er zu Harnick, was insofern unglücklich war, als Harnick zwanghaft war und später paranoid wurde. Ich glaube, er starb in einer Klinik. Harnick war der Ansicht, daß Fritz mich - obwohl er das wollte - nicht heiraten sollte, er meinte, ich würde dann meine Promotion nicht voranbringen und Fritz würde meine Karriere durchkreuzen. Wir heirateten trotzdem, ich bekam ein Kind und ging dann zurück, um die Promotion abzuschließen. Harnick entschuldigte sich später. Schließlich ging Fritz zu Wilhelm Reich, zwei Jahre bevor wir fortgingen.

 

Ehe

Dan: Als ihr euch kennenlerntet lebtest du in Frankfurt?

Laura: Wir lernten uns in Frankfurt kennen, aber Fritz war zwischendurch in Wien und in Berlin. Er kam zurück nach Frankfurt, ging aber dann wieder nach Berlin. Ich blieb in Frankfurt und machte den Abschluß.

Dan: Hattet ihr während dieser ganzen Zeit eine Beziehung?

Laura: Für mich war er der einzige. Ich glaube, er hatte eine ganze Reihe von Affären, aber sie waren ihm nicht wichtig. Er kam immer wieder zurück. Er besuchte mich und ich besuchte ihn. Wir trafen uns alle paar Wochen. Und irgendwie rutschten wir in die Ehe hinein. Wenn er sagt, ich hätte aufs Heiraten gedrängt - das stimmt einfach nicht. Wenn überhaupt, war er derjenige, der am Ende drängte, weil er beweisen wollte, daß auch er Kinder haben und verheiratet sein konnte. Er war fast achtunddreißig als wir heirateten. Wir hatten uns 1926 kennengelernt und heirateten 1930; und Ren [Renate] wurde im Juli des darauffolgenden Jahres geboren.

Dan: Er zog also auch damals umher, wie später auch noch?

Laura: Ja. Aber er konzentrierte sich mehr auf Therapie und Analyse. Als wir in Berlin anfingen, begann er als Psychiater und Neurologe. Nebenher machte er ein bißchen Körpertherapie und Rekreationsarbeit: Diathermie und Massage.

Dan: Kannst du mir ein paar genaue Daten geben, z.B.: Wir lernten uns 1926 kennen, - wann genau er dann fortging, und wohin usw.?

Laura: Ich weiß nicht genau, wann er nach Wien ging, ich glaube, von 1927 bis 1928. Er arbeitete in der Wagner-Jauregg-Klinik und speziell mit Paul Schilder. 1928 oder 1929 kam er nach Frankfurt zurück, und wir gingen nach Berlin, um seine Praxis aufzubauen. 1930 heirateten wir.

Dan: Wann war er bei Karen Horney?

Laura: Das war zu der Zeit, als er das erste Mal allein hierher kam, ich glaube, bevor wir uns kennenlernten. Und auch nur kurz, denn Horney ging ziemlich früh nach Amerika, nicht wegen Hitler. Sie war hierher eingeladen worden und begann zu lehren, aber ich bin mir nicht mehr sicher.

Dan: Das ist interessant: du erwähntest seinen Zynismus; das war seine Art, Freud und all seine anderen Therapeuten in Frage zu stellen, sie auseinanderzupflücken.

Laura: Ja, aber er benutze dazu die psychoanalytischen Techniken.

Dan: Ein großer Teil seiner Arbeit entsprang den psychoanalytischen Techniken.

Laura: Kontinuierliches Interpretieren.

Dan: Ja, und er machte das bis zum Schluß, egal was er dazu sagte. Er sagte, er sei gegen die Interpretation, aber er interpretierte.

Laura: Ich erinnere mich, daß jemand, der ebenfalls mit meinem Analytiker Karl Landauer arbeitete, ihn einen "Geistscheißer" [im Original deutsch] nannte.

Dan: Es klingt, als wäret ihr in die Ehe 'hineingerutscht', wie du es nennst, weil du das Ab und Zu aushieltst.

Laura: Ja, das stimmt, es war ein Ab und Zu; er konnte diese Art von Beziehung mit mir haben, in der er da war oder wegging, wenn er es wollte.

Dan: So, daß es nicht so bedrohlich war.

Laura: Genau. Ich war immer da. Zu dieser Zeit war ich natürlich ganz verrückt nach ihm. Ich arbeitete daran in meiner Analyse mit Karl Landauer, und irgendwann sagte ich dann zu Landauer, ich hätte das Gefühl, daß ich mich jetzt für oder gegen ihn entscheiden könnte.

Dan: Aber zu dieser Zeit war er der einzige Mann in deinem Leben, auch wenn er nicht immer da war.

Laura: Nun, es gab andere Männer, die gerne etwas mit mir angefangen hätten, aber ich wollte nicht. Ich war mit vielen Männern befreundet, aber mit keinem außer Fritz hatte ich eine intime Beziehung.

Dan: Wußte Fritz das, war es wichtig für ihn?

Laura: Ich denke schon. Er sagte sogar - etwa ein Jahr bevor er starb -, daß ich anders gewesen sei, daß ich in all seinen Beziehungen die einzige Jungfrau gewesen war. Im allgemeinen ging es ihm mehr um Bequemlichkeit und darum, ob die Frauen schon erfahrener waren. Das war ich nicht.

Dan: Du warst also nicht nur die einzige Jungfrau in seinem Leben, sondern auch die einzige, die ihm treu blieb, ohne ihn an sich zu binden. Und wenn er sich fragte, ob er ein Ehemann und Vater sein könnte, hatte er hier zumindest einen traditionellen Hintergrund.

Laura: Ja. Und ich wollte Mutter werden, das wußte er.

Dan: Und eine treue Gattin. Das klingt, als ob unter dem Zynismus ...

Laura: ...ein echtes Bedürfnis lag, das er nie zulassen konnte. Er verleugnete es, er mußte es immer verleugnen.

Dan: So war es bequem.

Laura: Es war mehr als bequem. Für ihn war es eine Rettungsleine.

Dan: Ja, aber wenn du den Zynismus beibehältst, mußt du es gleichzeitig verleugnen und dich darauf verlassen.

Laura: Das ist wahr.

Dan: Wie kamt ihr dann zu dem Entschluß zu heiraten?

Laura: Ich weiß nicht, ob wir einen Entschluß faßten. Wir kamen an einen Punkt, wo wir uns gut damit fühlten, vor allem, als es darum ging, ob wir Kinder haben wollten. Ich war damals fast fünfundzwanzig. Aber ich erinnere mich nicht daran, wie es aufkam. Wir diskutierten nie viel, wir taten die Dinge einfach. Und so war es irgendwann selbstverständlich.

Dan: Das ist interessant in bezug auf die Gestaltformierung: wie es auftauchen und in den Vordergrund treten konnte, ohne daß ihr darüber spracht.

Laura: Ja. Es trat hervor als etwas Unvermeidliches; das war im Herbst 1929. Wir sagten es meinen Eltern, er wollte sie kennenlernen.

Dan: Kannte er deine Eltern bis dahin noch nicht?

Laura: Nein. Sie hatten wohl eine Ahnung, und mein Vater und mein Bruder standen der ganzen Sache anfänglich sehr feindselig gegenüber, vor allem mein Bruder, der einen Detektiv auf Fritz ansetzte, um herauszufinden, welche Vorgeschichte er hatte und aus was für einer Familie er kam. Es stellte sich alles als sehr respektabel heraus. Es waren beruflich respektable Leute, Geschäftsleute. Sein Vater war exzentrisch, so ähnlich wie Fritz, kein Familienmensch.

Dan: Das ist interessant; meinem Bruder ist das auch passiert, und damals fand er das einfach abstrus, Detektive und Recherchen.

Laura: Wir fuhren also Weihnachten zu mir nach Hause. Es war das erste Mal, daß er in meine Heimatstadt kam und meine Eltern sah. Sie schenkten ihm zu Weihnachten eine Skiausrüstung, und wir gingen zum Skifahren, zusammen mit meiner Schwester und ihrem Mann - die beiden waren seit etwa einem Jahr verheiratet.

Dan: Hatte er schon die Praxis in Berlin als ihr heiratetet?

Laura: Ja.

Dan: Und du hattest deine Abschlußarbeit geschrieben, aber die Promotion noch nicht abgeschlossen?

Laura: Mit allem war ich fertig, außer der Dissertation und dem Examen.

Dan: Ich dachte gerade an seine Praxis. Du erwähntest da noch etwas, Massage und ...?

Laura: Diathermie und solche Sachen. Er war ja neurologisch ausgebildet und behandelte Patienten mit lokalen Problemen. Von 1923 bis 1924, während der Inflation, war er ein Jahr in Amerika gewesen, um zu lernen, war aber dann nach Berlin zurückgekehrt.

Dan: Er war in Amerika?

Laura: Er war ein Jahr dort gewesen, ja. Er arbeitete und studierte bei Dr. Rosen [Rosenstock], oder so ähnlich. Er machte die sogenannte Nervenpunkt-Massage, das war irgendwie mit Rolfing verbunden, mit Druckpunkten.


Kurzinfo zum Buch:

Cover: Laura Perls, Meine Wildnis ist die Seele des Anderen

Laura Perls
Meine Wildnis ist die Seele des Anderen
Der Weg zur Gestalttherapie

Die Mitbegründerin der Gestalttherapie im Gespräch mit Daniel Rosenblatt u.a.

Herausgegeben von Erhard Doubrawa
Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg

Anlässlich des 100. Geburtstages von Laura Perls erschien der Klassiker »Der Weg zur Gestalttherapie« in einer erheblich erweiterten Ausgabe:
Die Basis bilden die Gespräche des amerikanischen Gestalttherapeuten Daniel Rosenblatt mit Laura Perls.
Hinzugekommen sind weitere Interviews, besonders zum Selbstverständnis der Therapeutin, und zahlreiche Würdigungen der Persönlichkeit und der Arbeit Laura Perls durch Kollegen und Schüler.
Mit zahlreichen seltenen Bilddokumenten.

gikPRESS 2017 (Neuauflage)
GIK Gestalt-Institute Köln & Kassel
256 Seiten , Paperback: 23,80 EUR, eBook: 15,99 EUR

Dieses Buch erhalten Sie im gut sortierten Buchhandel und online bei
Bod.de
Unter diesem Link können Sie auch im Buch "blättern".

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