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Michael Vincent Miller
Unser Verhältnis zur Welt gestalten und verwandeln
Über Kunstwerke und Symptome


Aus der Gestaltkritik 2/2006

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

  • Gestalttherapie und ihre Weiterentwicklung
  • Gestalttherapie als spirituelle Suche
  • Gestalttherapie als politische Praxis

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik 2-2006:

Michael Vincent Miller
Unser Verhältnis zur Welt gestalten und verwandeln
Über Kunstwerke und Symptome

 

Michael Vincent Miller (Foto von Torsten Bastert)Michael Vincent Miller (Foto von Torsten Bastert)

In unserer Zeitschrift sind bereits drei Beiträge von Michael Vincent Miller erschienen, die wir hiermit Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen möchten:

 

Nach Michael Vincent Millers Beitrag »Die Ästhetik des Commitments: Was Gestalttherapeuten von Cézanne und Miles Davis lernen können« in der vorhergehenden »Gestaltkritik« (1/2006) freuen wir uns, als historisches Dokument auch seinen bereits ein Viertel Jahrhundert alten Beitrag zu Kunst und (Gestalt-)Therapie als deutsche Erstveröffentlichung drucken zu können.
Der Herausgeber

 

Die Theorie der Gestalttherapie macht über weite Strecken Gebrauch von Begriffen, die wir üblicherweise der Kunst zuordnen. Sie tut dies in viel grundlegenderer Weise als bloß durch die Heranziehung aktueller Vergleiche und Metaphern aus dem Bereich der Kunst, mit denen sich Prinzipien der Psychologie veranschaulichen lassen. Vielmehr »ist Gestalt selbst ein ästhetisches Konzept«, (1) wie Laura Perls in dem Interview »Aus dem Schatten hervortreten« (Gespräch mit Edward Rosenfleld, 1978) betonte. Sie und Paul Goodman sind die Haupturheber dessen, daß die Beschäftigung mit dem Wesen der Kunst in die Gestalttherapie einging. Man findet diesen Gedanken in Laura Perls Schriften, die leider nur recht verstreut und nicht sehr zahlreich erschienen. Sie hat ihn aber auch immer wieder und durchgängig in ihrer Ausbildungsarbeit dargelegt. Wenn man aber eine zusammenhängende schriftliche Darstellung sucht, muß man sie bei Goodman nachlesen. In der von ihm stammenden Hälfte des Buchs, das er gemeinsam mit Fritz Perls und Ralph Hefferline (2) herausbrachte, pflanzt Goodman Gestalttherapie mitten in ein Feld aus ästhetischen Werten und psychologischen Grundsätzen, und dieses Buch ist auch heute noch der bedeutendste Beitrag zur Theorie der Gestalttherapie, der uns vorliegt.

Warum nahm Kunst eine so zentrale Rolle in der Entwicklung der Gestalttherapie ein? Zum einen liegt das daran, daß sie von Klinikern und Denkern entwickelt wurde, die alle, wenn auch in unterschiedlichem Maße, selber künstlerisch aktiv waren. So lieferte Goodman nicht nur wichtige theoretische Beiträge zur Theorie dieser neuen Art von Psychotherapie, sondern er verfaßte auch Gedichte, Romane, Theaterstücke sowie Gesellschafts- und Literaturkritiken. Er war auf dem Wege, einer der bedeutendsten Literaten zu werden. Laura Perls hatte in jungen Jahren noch in Deutschland Musik und modernen Tanz studiert, woraus sich bei ihrer therapeutischen Arbeit mit Klienten ihr großes Interesse an den Bewegungen und Rhythmen des Körpers erklärt. Fritz Perls wiederum hatte in seiner Jugend bei Max Reinhardt Schauspiel gelernt.

Fritz Perls trug zur Orientierung der Gestalttherapie an der Kunst zwar nicht unmittelbar bei, da seine Interessen in andere Richtungen gingen. Doch hat seine frühere Begeisterung fürs Theater sicherlich seinen Therapiestil und seine Ausbildungsmethode mitgefärbt. Daraus entstanden auch sein Ansatz mit dem »heißen Stuhl« und seine Vorliebe, Patienten ihre Neurosen wie auf einer Bühne darstellen zu lassen. Jedoch Laura Perls und Paul Goodman, die eine Zeitlang eng zusammenarbeiteten und sich gegenseitig beeinflußten, fanden in der Kunst geradezu das Vorbild für ideale Entfaltung und wandten es auf alle menschlichen Aktivitäten an. Dieses Ideal wurde zu ihrem Maßstab für Gesundheit und Krankheit und ihr Leitfaden für die praktische Psychotherapie.

Zum anderen gibt es noch speziellere Gründe dafür, daß die Kunst das brauchbarste Modell zur Entwicklung der Gestalttherapie abgab. Die Prinzipien der Gestalttherapie bekamen von der experimentellen Gestaltpsychologie den Anstoß, in der menschlichen Erfahrungsbildung Eigenschaften am Werke zu sehen, die man durchaus als ästhetisch auffassen kann. Gestaltpsychologen wie Köhler, Koffka und Wertheimer hatten in ihren Untersuchungen über Wahrnehmung und Kognition gezeigt, daß Menschen dazu neigen, ihre Erfahrungen in Ganzheiten anzuordnen, die durch Form, Struktur und Einheitlichkeit gekennzeichnet sind. Die Gestalttherapie führte diesen Ansatz ein Stück weiter und stellte heraus, daß Aktivitäten gerade insoweit gesund sind, als sie in schöpferischer Autonomie stattfinden. Hieraus ergab sich die Aufassung der Gestalttherapie, daß die Menschen ihre natürlichen Möglichkeiten dann am besten entfalten können, wenn man ihnen den Freiraum läßt, ihr Leben bei einem Minimum an äußeren Einflüssen selber zu regeln. Dies ist eine der Quellen des gestalttherapeutischen Radikalismus, der eine anarchistische Position einnimmt und im Gegensatz steht zu sogenannten »liberalen« Ideologien, die die Manipulation des einzelnen durch Experten fördern, sei es der Kinder durch die Eltern, der Bürger durch Sozialarbeiter und Wohlfahrtsstaat oder der Therapiepatienten durch Behavioristen und ärztliche Autoritäten.

Solch ein anarchistischer Radikalismus, der sich zum Teil aus Werten speist, die der Kunst innewohnen, liegt eigentlich Amerikanern noch näher als Europäern. Fritz und Laura Perls kamen aus einem europäischen Milieu, das von Psychoanalyse, Gestaltpsychologie und Existanzialismus geprägt war. Dies waren geistige und klinische Strömungen, mit denen Goodman auch durchaus vertraut war. Aber dank Goodman wurde Gestalttherapie auch stark von der typisch amerikanischen Tradition radikaler Sozialkritik geprägt, die gegen die Übel der bestehenden Gesellschaft stets das Ideal der Kunst emporhielt. In diese Tradition gehören beispielsweise Emerson, Thoreau, Whitman, in gewissem Maße auch Veblen und Dewey, Randolph Bourne und Lewis Mumford. Goodman war vielleicht der modernste Vertreter dieser Richtung.

Durch ihren wechselseitigen Austausch wird von Goodman und Laura Perls insbesondere eine fruchtbare Synthese dieser europäischen und amerikanischen Strömungen geleistet. Welche Schlußfolgerungen sich aus ihrem Kunstverständnis für Theorie und Praxis der Psychotherapie ergeben, wird in den folgenden Darlegungen erörtert.

Kunst und Psychotherapie sind schon oft verglichen worden, doch selten so, daß dies eine der beiden wesentlich erhellt hätte. Es trägt kaum zur Klärung bei, wenn man sagt, beide seien »kreativ«, oder sich selbst auszudrücken sei therapeutisch, oder Therapeuten seien weniger Wissenschaftler als Künstler.

Doch Kunst und Therapie haben tatsächlich Gemeinsamkeiten, die aus ein und derselben Quelle schöpfen, nämlich dem Bestreben des Menschen, sein gegebenes Verhältnis zur Welt zu gestalten und zu verwandeln. Beide setzen formale Verfahren und Fertigkeiten ein, um diese Wirkung zu erzielen. Beide enthalten Erfahrungen in einem bestimmten Rahmen oder Medium, so daß sie aus dem Strom des täglichen Lebens herausgehoben werden. Dazu überarbeiten, choreografieren, dramatisieren, kondensieren, revidieren, kurz: re-organisieren sie das Leben. Doch mit welchem Zweck? In der Kunst zumindest kann die Erzeugung eines formalen Werks ein Zweck in sich selber sein. Auf Therapie trifft das so nicht zu, wobei man allerdings sagen könnte, in diesem Fall sei das Kunstwerk man selbst.

Es gibt noch einen anderen gemeinsamen Zweck der beiden: etwas Neues in den Vordergrund zu holen, auf das altbekannte, eingespielte Verhalten ein neues Licht zu werfen. Insofern schaffen beide neue Informationen. Tatsächlich scheinen große Werke der Kunst einen unerschöpflichen Vorrat an Informationen zu bergen. Man kann sich einem Meisterwerk wieder und wieder zuwenden und jedes Mal verjüngt daraus hervorgehen. Dies meinte auch Ezra Pound, als er sagte: »Dichtung ist Neues, das neu bleibt«. Wie sie dies schafft, bleibt dabei oft rätselhaft.

Allerdings bietet der Psychologe und Kunstphilosoph Rudolf Arnheim eine faszinierende Teilerklärung für dieses Rätsel an. Er sagt, daß »der Begriff ›Information‹ wörtlich Formgebung bedeutet, und Form benötigt Strukturen«. (3) Darum erscheint die Frage neuer Information in Kunst und Psychotherapie nur auf den ersten Blick als etwas anderes als ihr Formalismus. Beide bringen neue Information durch eine Umwandlung des Vertrauten hervor. Sie schöpfen eine neue Form, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet, alte Regeln und Gewohnheiten mit neuen Möglichkeiten zusammenführt (so gesehen ist Wordsworth’s Prinzip der dichterischen Schöpfung  - »Gefühl, das noch einmal in Ruhe bedacht wird« - etwas ähnliches wie Freuds Verständnis der freien Assoziation). Auf diese Weise bieten sie Gelegenheit zu Entdeckungen und machen es wahrscheinlicher, daß Vergessenes, Übersehenes oder Unterdrücktes wieder zu Tage kommt.

Man kann Träume, Fantasien und dergleichen unter diesem Blickwinkel betrachten. Sie sind Schöpfungen, doch für sich genommen noch keine Kunstwerke oder Therapievorgänge. Wohl sind wir die Schöpfer unserer Träume, doch für Kunst und Therapie ist entscheidend, sie noch einmal zu schöpfen und weiterzuverarbeiten. Allerdings kommt es in den Programmen und manchmal auch in der Praxis beider Gebiete vor, daß diese Unterscheidung verwischt wird. So meinten zu Beginn des 20. Jahrhunderts manche surrealistischen Dichter und Maler unter dem Einfluß einer romantisch verklärenden Freud-Rezeption, daß sich durch freie Assoziation das Unbewußte öffne und ihm unmittelbar Kunst entströme. Um die Jahrhundertwende verkündete der französische Schriftsteller Lautreamont: »Schönheit, das ist die Möglichkeit, daß sich eine Nähmaschine und ein Regenschirm unvermutet auf dem Seziertisch begegnen«. Dies ist im besten Falle eine skurrile, doch nicht sehr tragfähige Definition; dennoch wurde sie von vielen Surrealisten für eine Theorie der Kunst genommen.

Das surrealistische Programm nahm also irrtümlich das Material der Träume schon für vollendete Kunst (wobei jedoch große surrealistische Dichtung und Malerei das Programm überschritt und zu einer intensiven Formgestaltung gelangte). Dies erinnert im Grundsatz an einige moderne Tendenzen in der Psychotherapie, die die Entladung roher Gefühle oder die Flucht in Gedankenwelten, sogenannte Phantasieübungen, so verstehen, als handele es sich bereits um Therapie. Gute Therapeuten hingegen, genau wie gute Literaten, betrachten Träume, Erinnerungen und Gefühle als etwas Unvollendetes. Wenn in der Psychoanalyse ein Patient einen Traum einbringt, vervollständigt der Therapeut seine Bedeutung, indem er den symbolischen Sinn des Trauminhalts und der zugehörigen Einfälle des Patienten deutet. Ein Gestalttherapeut seinerseits könnte den Klienten dazu bewegen, den Traum als eine neue Erfahrung in Szene zu setzen, um seine Bezüge in die Vergangenheit mit den lebendigen Momenten der Gegenwart in Verbindung zu bringen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Schulrichtungen ähnelt ein wenig dem Unterschied zwischen einer Seminarveranstaltung zur Literaturgeschichte und einem Workshop für kreatives Schreiben.

Wie läßt sich nun das Alltagsleben eines Menschen einordnen? Es handelt sich bei ihm weder um ein Kunstwerk noch um eine Therapiesitzung. Psychotherapie steht im gleichen Verhältnis zum Leben, wie es die Kunst tut: Beide sind spezialisierte Unternehmungen mit strukturellen und qualitativen Unterschieden gegenüber dem gewöhnlichen Leben. Jedoch ihr Wert entspringt derselben gemeinsamen Quelle, die tief im Menschen angelegt ist - der Kraft, Formen zu schaffen und Erfahrungen so umzuformen, daß neue Ganzheiten entstehen. Diese Fähigkeit ist so tief im menschlichen Bewußtsein und Handeln verankert, daß man sie als Ursprung nahezu allen Lernens, Wachsens und Wandels ansehen kann.

Darum kann es für Psychologie und Psychotherapie so gewinnbringend sein, das Wesen der Kunst zu verstehen. Die Gestalttherapie hat es im Begriff des »Kontakts« zusammengefaßt, einem etwas ungeschickten und in letzter Zeit überstrapazierten Fachausdruck, der die Fähigkeit eines Menschen bezeichnet, der ihn umgebenden Welt zu begegnen, sie zu durchdringen und ihr etwas Neues abzugewinnen. Kontakt bedeutet keine mechanische Anpassung von Selbst und Welt aneinander, weil Menschen Form gebende und Verbindungen schaffende Lebewesen sind.

Gestalttherapie kennt keine Wahrheiten im Sinne einer Lehre, wie man mit Patienten »richtig« umgeht und kommuniziert. Sie vertritt jedoch die folgende Überzeugung: Wenn jeder Mensch in der Art und Weise geht und spricht, die genau für ihn die richtige ist, dann entfaltet er in seinen Aktivitäten genau jene Qualitäten, nach denen wir auch Kunst beurteilen - Anmut und Wirtschaftlichkeit, Notwendigkeit und Beweglichkeit. Anders gesagt, Kontakt genügt dem Diktum »Wahrheit ist Schönheit«.

Daraus folgt, daß das gute Leben (bzw. das »gesunde« Leben, da heutzutage in unserer Kultur die moralische Dimension durch die therapeutische ersetzt wurde) wohlgeformt und schön anzusehen ist. Dabei darf man sich das gute Leben aber kaum als störungsfrei vorstellen. Das wäre doch zu weit von der Natur entfernt, als daß es uns auf Dauer interessieren würde. Ähnlich einem Kunstwerk, das uns anzieht und herausfordert, enthält auch ein ernstzunehmendes Leben Elemente von Kampf und Versöhnung, bestandenen Prüfungen, überwundenen Hindernissen, Schwierigkeiten und Leid genau so wie Schönheit und Freude. Es ist zu vielschichtig, um es auf einen Garten Eden zu reduzieren. Im Mittelalter und in der Renaissance sprachen manche Theologen von »felix culpa«, von glücklicher Sünde, denn diese bringt uns über den naiven Stillstand des Gartens hinaus und führt fruchtbare Herausforderungen in unser Leben ein.

Ich möchte betonen, daß diese Sicht auf die menschliche Existenz nicht einfach eine gedankliche Spielerei ist. Vielmehr liegt in dieser vorhin dargelegten Sichtweise etwas zutiefst Moralisches, das meines Erachtens zum Wesen der Gestalttherapie dazugehört. Allzu viele sogenannte humanistische Psychotherapeuten, auch viele Gestalttherapeuten, haben in ihrem Eifer, die unterdrückenden Nachwirkungen des Puritanismus auszuräumen, alle Urteile über gut und böse über Bord geworfen. Ich gebe zu, daß man einen Moralismus, der mittels Vorschriften und Verboten über andere Menschen Macht ausüben will, bekämpfen muß. Doch die Perspektive, die ich darlegen will, ist nicht von solch doktrinärer Art, sondern sie respektiert das Wesen der Dinge und macht sich darüber Gedanken, mit welchen menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften sich eine »Passung« zwischen Natur und Selbst am besten einrichten läßt. Sie sieht auch noch die Existenz von Einzelheiten hinter all den Ganzheiten und Gestalten der Erfahrung, die einem in den Werken jedes ernstzunehmenden Künstlers, Wissenschaftlers und Philosophen begegnen.

Es ist gar nicht abwegig, auch Pathologie aus dieser Perspektive zu betrachten. Denn so wie Wahrheit durch Natürlichkeit und Vollständigkeit als schön erscheint, so sind die »Wahrheiten« der Neurose einseitig, dogmatisch verzerrt und zutiefst unvollständig. So fühlt sich die chronisch depressive Person als häßlich, und sie tut dies zu recht, denn Depression ist häßlich. Menschen mit Depression rauben sich selbst die Würde, ihre Trauer, ihren Schmerz und ihren Ärger zu kennen und zu fühlen, so daß diese in ihre Zukunftspläne eingehen könnten. (4) Weil im Zustand der Depression die Gefühle durch die unerledigten Reste früherer Erfahrungen blockiert werden, unterbleibt ihre Integration. Sie vergiften sich wechselseitig, bekämpfen sich unter einander und können nicht frei in das gegenwärtige Leben des Menschen einfließen. Wie bei allen Neurosen, mündet dies in Erschöpfung, ohne von der Stelle zu führen. Es kommt weder zur Katharsis (Reinigung durch das Drama) noch zur Epiphanie (Sichtbarwerden des Göttlichen).

Damit soll nicht behauptet werden, Gesundheit käme von der engelsgleichen Seite der Person und Krankheit von der dämonischen. Ganz im Gegenteil: Beide haben ihren Ursprung im gleichen schöpferischen Impuls, im angeborenen Bestreben des menschlichen Organismus, sich selber zu bestimmen und seine Beziehungen zur Umwelt selbst zu gestalten.

Kleine Kinder werden von den meisten Menschen gerne als völlig hilflos und abhängig angesehen. Gewiß sind sie auch abhängig, doch sind sie nicht so ohnmächtig, wie es erscheinen mag. Denn sie beginnen bereits mit geringen  motorischen Kräften und noch wenig Eleganz, ihren Bedürfnissen nachzugehen und sie in Interaktionen einzubringen. Wem dies als zuviel Projektion aus der Sicht des Erwachsenen und als bloßes Gegenteil der Projektion von Hilflosigkeit erscheint, der möge sich die sorgfältigen Untersuchungen von Barry Brazelton und Mitarbeitern anschauen. Diese fanden nämlich sehr viel über die kunstvollen Verhaltensweisen heraus, die bereits von gesunden Neugeborenen an den Tag gelegt werden. Zum Beispiel konnten sie mit ihren Untersuchungen nachweisen, daß Babies bereits im Alter von drei Tagen Einfluß auf ihre Beziehung zur Umwelt nehmen und dabei erste Ansätze eines persönlichen Stils praktizieren. Jedes Kind entwickelt schon dann sein unverwechselbares Muster der Neugier und Beschäftigung, der Zustimmung und der Ablehnung.

Neugeborene entwickeln regelrechte Strategien, wie sie mit den Anforderungen anderer an sie umgehen. Wenn die Zuwendung eines Erwachsenen zu einer unerwünschten Störung wird, klinkt sich eines der Kinder einfach aus und stellt sich schlafend, ein anderes bekommt einen Wutanfall (ähnlich wie es Erwachsene auf etwas kompliziertere Weise auch tun). So etwas sind keine bloß passiven Reaktionen. Vielmehr sind es Abfolgen von Ja und Nein, mit Hilfe derer schon diese kleinen Wesen eine Abgrenzung zwischen sich und der Welt erzeugen; es ist wie ein Auftakt zur Identität. Dies sind die Anfänge von Selbstdefinition, aus denen die Kontakt-Herstellung erwächst. Wohl kann auch ein geliebtes Haustier einen Menschen hingebungsvoll anblicken, doch wird sich darin nie die gleiche Art von Suche nach dem Geben und Nehmen einer Beziehung verwirklichen, in der zugleich Elemente des Selbstausdrucks enthalten sind.

Viele Theorien der Entwicklungspsychologie haben unterstrichen, daß die Wahrnehmung von Gefahren in der familiären Umgebung einen großen Einfluß auf die Entwicklung des Charakters eines Menschen hat. Aus der Perspektive der Gestalttherapie bewirken Gefahren, daß die angeborenen schöpferischen Kräfte von ihrem Zweck der Kontaktherstellung abgelenkt und zur Errichtung von Schutzmechanismen umgelenkt werden. Oder genauer gesagt, wenn es wirkliche Gefahren gibt, dann ist der Schutzmechanismus die angemessenste Form von Kontakt, die ein Kind unter diesen Umständen zum Zweck seiner Bedürfnisbefriedigung an den Tag legen kann. Wenn Eltern zum Beispiel auf das Weinen oder Schreien des Kindes typischerweise mit Abwendung oder mit Ärger reagieren, dann wird das Kind daraus lernen, seine Tränen und Schreie zu unterdücken, damit es weiterhin die elterliche Zuwendung erfährt, derer es bedarf. Würde es mit Schreien oder Wutanfällen weitermachen, bestände die Gefahr, die Eltern zu verlieren, schweren Mangel zu erleiden und im schlimmsten Fall zu sterben. Der Aufbau von Schutzmechnismen kann sehr kunstvoll sein, wenn sie jedoch für immer fortbestehen, verhindern sie Wachstum, schnüren die Persönlichkeit ein und verringern die Fähigkeiten, mit denen in anderen Situationen Kontaktherstellung möglich wäre.

Neurotische Symptome sind ein Beispiel für das, was der Nationalökonom Thorstein Veblen als »erlernte Unfähigkeit« bezeichnete. Veblen bezog sich damit auf eine Art kultureller Verknöcherung, die eintritt, wenn Menschen bestimmte Fertigkeiten und Verhaltensmuster allzu fest erlernen. Denn dadurch werden sie in anderen Hinsichten blind und gelähmt; sie können auf neue Entwicklungen nicht mehr neuartig reagieren, ja sie können sie nicht einmal wahrnehmen. Als im 18. Jahrhundert die britischen Rotröcke (die nach ihrer Uniform benannten britischen Soldaten) (5) in Reih und Glied in die Wildnis Neu-Englands marschierten, um den Aufstand der Kolonien niederzuschlagen, konnten sie von Heckenschützen aus der Deckung von Bäumen und Felsen heraus mit Leichtigkeit aufgerieben werden. Denn diese hoch trainierten britischen Soldaten, die auf europäischen Exerzierplätzen zur Perfektion gedrillt worden waren, wußten mit Kugeln aus allen Richtungen nicht umzugehen und konnten ihnen nichts entgegensetzen.

Neurotische Symptome gleichen dieser gut geschmierten britischen Kampfmaschine. Sie stellen Fertigkeiten dar, die auf den Schlachtfeldern der Kindheit erworben wurden, aber inzwischen zu Museumsstücken wurden. Während revolutionäre Kunst dem Klischee den Kampf ansagt und in ihrem Anspruch auf eine Bewußtseinserneuerung die eingeschliffenen Bräuche über Bord wirft, verharren Symptome am konservativen Pol des Kreativitätsspektrums. Symptome beruhen auf bestehenden, ausgereiften Techniken zur Bewältigung von Notsitutionen, damit die Angst in Schach gehalten werden kann. Die ursprüngliche Krise ist schon lange vorüber, doch ihr Schatten wirkt im Einzelnen noch als Ängstlichkeit nach und hält die immer gleiche Schutzreaktion fortwährend am Laufen. Symptome sind voller Wiederholungen und langweilig wie schlechte Kunst, die niemanden interessiert.

So entsteht der Teufelskreis des neurotischen Charakters, eine Form von Verhextheit, ein Leben in langweiliger und dennoch anstrengender Benommenheit. Die Monotonie ist eines der auffälligsten Merkmale der Neurose, sie geht mit dem Verlust des Improvisationstalents einher. Für Therapeuten ist aber wichtig, im Blick zu behalten, daß Symptome genau wie Kunst einer gemeinsamen menschlichen Fähigkeit entspringen: dem Vermögen, durch Umformung der Wirklichkeit etwas herzustellen. Um seine Neurose hervorzubringen, braucht der Künstler genau so viel Leidenschaft und Disziplin, Witz und Originalität wie für ein Gedicht oder ein Gemälde.

Der Gedanke, daß der Neurotiker seine Neurose wie ein Künstler erzeugt, ist mehr als nur eine bloße Metapher. Otto Rank nannte den Neurotiker einen »verhinderten Künstler«.  Er nahm an, daß der Künstler und der Neurotiker gleichermaßen von großer Sehnsucht nach Unsterblichkeit umgetrieben würden, von einem Verlangen, die Begrenzungen des gewöhnlichen Geschöpfseins zu überschreiten. Dadurch würden sie auch der Angst zu entkommen suchen, ein isoliertes Individuum zu sein. Der Unterschied zwischen Künstler und Neurotiker sei derselbe wie überhaupt der Unterschied zwischen Gesundheit und Krankheit. Der Künstler habe nämlich akzeptiert, daß er ein begrenztes Individuum ist, und er setze seine Angst um in die Schöpfung eines symbolischen Mediums als äußerem Stellvertreter für sein Selbstgefühl. Dies gelte, soweit er als Künstler tätig ist; natürlich könne er sich an anderen Stellen in seinem Leben immer noch neurotisch verhalten. Auf diese Weise könne der Künstler schöpferisch wirken, Begonnenes vollenden und zu neuen kreativen Herausforderungen mit dem Risiko neuer Unsicherheit voranschreiten. Hingegen sei der Neurotiker fortwährend damit beschäftigt, seine eigene Persönlichkeit zu manipulieren, um Unsicherheit und Angst unter Kontrolle zu bringen und sein Leben vorhersagbar zu machen. Habe er sich erst einmal selbst zum Objekt gemacht, höre er nicht mehr damit auf, sich um sich selbst zu drehen, könne damit jedoch niemals zu Ende kommen. Darum ist der Neurotiker ständig kritisch mit sich selbst, stellt an sich völlig unerfüllbare Anforderungen der Perfektion und endet als eine Persönlichkeit, die unter Schuldgefühlen und Unzufriedenheit verkrüppelt wird.

Jede Psychotherapie hat ein bestimmtes Menschenbild. Die Psychoanalyse neigt zu einer tragischen Sicht. Sie stellt den Menschen als Spielball zwischen Eros und Tod dar, der einerseits der Zivilisierung bedarf, andererseits durch Beschränkungen stets zum Opfer wird. Das Ich versuche, auf dem stürmischen Meer der Triebe einen Kurs einzuhalten, doch gelinge es ihm kaum, überhaupt an Bord zu bleiben. Die Heilung im Therapieprozeß bestehe darin, diese unausweichlichen Schwierigkeiten einzusehen und mit den daraus folgenden Einschränkungen leben zu lernen.

Auch die Gestalttherapie zielt darauf, die Begrenzungen und Halbheiten des Lebens akzeptieren zu lernen, doch sie schlägt auf dem Weg dahin den Ton einer Komödie an, ganz im Sinne der klassischen Werke (etwa der Komödien von Shakespeare oder der Göttlichen Komodie von Dante). Der Lebensweg sei mit Irrtümern, Mißverständnissen, Eigensinnigkeit und Stolz gepflastert. Wenn diese Einsicht erst einmal ans Licht befördert sei, entstünden daraus Lösungen und Integration. Gestalttherapie hat diese Hoffnung deshalb, weil sie daran glaubt, daß der Mensch zu einem großen Teil selber seines Glückes Schmied ist. Tragödie sieht den Charakter als Schicksal an, Komödie jedoch als ein Produkt des Willens.

Tatsächlich sind beide Perspektiven nötig. Ein Gleichgewicht zwischen den tragischen und den komischen Seiten des Lebens herstellen zu helfen, ist eine der Funktionen der Ironie. In der Kunst, besonders der Literatur, ist Ironie ein sehr wirksames Mittel, um verschiedenartige Erfahrungen zur Synthese zu bringen. Mit Wahrnehmungen aus dem Blickwinkel der Ironie kann man vielschichtige Wirklichkeiten erfassen, denn zu jeder Bedeutung, die man einem Ereignis zuschreibt, liefert die Ironie noch eine weitere, oft gegenteilige, hinzu. Sie bindet diese verschiedenen Bedeutungen zu einer Ganzheit zusammen. Eine der segensreichen Auswirkungen von Ironie besteht darin, daß sie Wahlmöglichkeiten eröffnet.

Darum eignet sich Ironie als ein außerordentlich wertvolles Instrument für Psychotherapie. Wenn man die Dinge erst einmal im Lichte von Ironie betrachtet hat, kann man nicht mehr so leicht damit weitermachen, Unglück für eine Bestimmung des Schicksals zu halten.

Am besten veranschauliche ich, was ich damit sagen will, mit der Fallgeschichte aus einer Psychotherapie mit einem Bühnenschriftsteller. Bei unserer ersten Begegnung erzählte er mir von der Krise, die ihn zu einem Anruf bei mir bewegt hatte. Er und seine Frau stehen kurz vor einer Scheidung. Ihre freien Abende werden von erbitterten Streitigkeiten verschlungen. Ich höre ihm zu, beobachte ihn aber auch dabei, um außer dem von ihm Präsentierten auch noch seine momentane Präsenz zu erfassen. Obwohl er ein drahtiger, sportlich wirkender Mann ist, ächzt er unter den Lasten seiner Depression. Zweifellos rührt ein Teil seiner Last aus der Ehekrise her. Aber man kann leicht erkennen, daß er auch sonst schon in einer ähnlichen Verfassung war wie jetzt. Seine flache Stimme, die hängenden Schultern, der Blick eines Opfers, die selbst-abwertende Ausdruckweise stammen aus Jahren innerer Traurigkeit und Sorge.

Er gibt an, daß ihn die Schlachten mit seiner Frau in einem Zustand zurücklassen, in dem er von Schuld und Enttäuschung völlig gelähmt ist und noch Tage lang unfähig ist, seiner Arbeit nachzugehen. In einer minutiösen Schilderung der Schläge und Gegenschläge eines seiner Kämpfe läßt er mich auch wissen, daß er befürchtet, wie sein Vater zu werden. Seinen Vater stellt er als einen steifen, zurückgezogenen Mann dar, der seiner Familie mit Gleichgültigkeit begegnet, ausgenommen den Fall, daß er Beschwerden vorzubringen hat. Äußerlich ist sein Vater zwar ein erfolgreicher Geschäftsmann, doch hat er sich in den Gedanken hineingesteigert, daß er sein ganz Leben vertan habe. Darauf folgte ein so schwerer depressiver Zusammenbruch, daß er mehrmals stationär behandelt werden mußte. Der Bühnenautor befürchtet nun, sein eigenes Schicksal könne dem seines Vaters gleichkommen: Seine Ehe würde scheitern, alles würde nur an ihm gelegen haben, er würde die Kraft zum Schreiben verlieren, sein Leben würde in Sinnlosigkeit versinken.

Selbstmitleid, hartnäckige Schuldgefühle und eine Untergangsstimmung sind die großen Themen, die mein Klient mitbringt. Weil dies der Stoff für Tragödien, zumindest für Melodramen ist, frage ich ihn nach seinen Bühnenstücken. Zu meiner Überraschung stellt sich heraus, daß er Satiren verfaßt. Als ich den Anflug von Stolz höre, mit dem er mir dies mitteilt, frage ich nach, ob er je in einem seiner eigenen Stücke mitgespielt habe. Er hat es noch nie. So schlage ich ihm vor, mir die Geschichte seines jüngsten Ehekampfes noch einmal vorzustellen, diesmal jedoch so, daß ich das Publikum wäre und er die Darstellung so gestalte, als sei sie eine seiner zynischsten Satiren. Außerdem solle er selber beide Hauptrollen spielen, erst die eine, dann die andere. Zunächst widersetzt er sich solch einer albernen Idee, doch ich bestehe darauf. Doch dann, nach ein paar Minuten der Rollenunsicherheit, findet er in das Spiel hinein und gewinnt daran Vergnügen. Er wird zu einem sehr lustigen Menschen und packt ein ganzes Repertoire alter Gesten aus, als er entdeckt, wie vorhersagbar ihrer beider Argumentationen sind. Er wußte haargenau, mit welcher Bemerkung er seine Frau aus dem Konzept bringen konnte, und es klappte ganz nach Plan. Er wußte, wie sie ihm in den Arm zu beißen versuchte, wenn er nach ihr langen wollte, während sich beide donnernde Ultimaten an den Kopf warfen. Jetzt beginnt ihm alles ein wenig übertrieben zu erscheinen. Und es steigt auch Traurigkeit über dieses Schauspiel auf. Aus seiner neu gewonnenen Distanz spürt er mehr von ihrer beider Elend. Seine Sorge gilt nun nicht nur sich selbst, sondern auch ihr. Für einen Augenblick zumindest hat sich seine Depression in etwas Großzügigeres und für beide Nützliches verwandelt.

In dem Maße, wie mein Stückeschreiber zum Komödianten wird, befreit er sich allmählich aus dem endlosen Kreisen um seine Traurigkeit. Er kann nicht mehr daran vorbeisehen, wie schmal der Grat zwischen Tragik und Absurdität manchmal ist. Depression ist einer der Fälle, in dem Absurdität dazu verhelfen kann, eine gewisse Beweglichkeit zurückzugewinnen. Wenn zum Beispiel Menschen, die sich an die Nöte ihrer Kindheit klammern, in dem ganzen Geschehen etwas Witziges zu sehen lernen, haben sie wohl den entscheidenden Schritt zum Erwachsenwerden vollbracht.

In seinen Schriften über die Politik Frankreichs im 19. Jahrhundert schrieb Marx, alle wichtige Epochen der Weltgeschichte ereigneten sich zweimal: beim ersten Mal als Tragödie, beim zweiten Mal als Farce. Natürlich nehmen sich auch beim zweiten Mal die Hauptdarsteller selber sehr ernst. Wir können in Anlehnung an einen Gedanken Freuds sagen, daß sich auf der kleineren Bühne der persönlichen Lebensgeschichte etwas recht ähnliches abspielt. Denn Freud machte uns mit seinen Konzepten der Übertragung und des Wiederholungszwanges klar, daß die Geschichte des Kindes vom Erwachsenen wieder-inszeniert wird. Bestand die ursprüngliche Tragödie darin, daß das Kind in Angst stürzte, so liegt die spätere Farce darin, daß viele Ängste des Erwachsenen wie Spuk und Schattenboxen sind, eine Projektion früherer Spieler und Bühnengestaltungen, eine Tragikomödie in einer Geisterwelt. Wieder nehmen die Hauptdarsteller ihr Stück allzu ernst und verlieren sich letztlich darin. Eine der Aufgaben von Psychotherapie besteht genau darin, die Sinnlosigkeit solch unangemessener Ängstlichkeit aufzudecken.

Der erwähnte Patient war zufällig selber aktiver Künstler. In seiner Kunst hatte er sich dazu hochgearbeitet, seine Erfahrungen mittels Humor zu überformen, doch in seiner Ehe und seinem Leben hatte er sich zu einem Elend wie bei seinem Vater verdammt. Was ich ihm gab, war ein leichter Schubs, seine Kunstfertigkeit aus dem Bereich der Kunst in sein Leben zu überführen. Solche eine Art von Übersetzung steht nicht nur Künstlern zu Gebote, sondern sie ist für jedermann machbar. Gestalttherapie würde sagen, sie ist ein notwendiger Schritt zu weiterem Wachstum.

Ganz gewiss ist die Gestalttherapie weder die erste psychologische Theorie noch erste klinische Methode, die sich der Frage der Kunst widmet. Ich glaube jedoch, sie könnte die erste sein - wenn man einmal von Rank absieht - , die sich mit den ästhetischen wie auch mit den psychologischen Elementen in der Kunst auseinandersetzt.

Die meisten psychologischen Deutungen haben die Kunst behandelt, als läge sie im Grenzbereich zwischen Wahnsinn und Begeisterung, haben sie mal als eine Art Rorschachtest für diagnostische Zwecke benutzt, ein anderes Mal hingegen auf den Sockel der höchsten menschlichen Errungenschaften gestellt. Bei Freud selber kann man die zwiespältige Haltung gut verfolgen; sie schlingert zwischen romantischer Verklärung und rationalistischer Wissenschaft hin und her. Wiederholt erklärte Freud, Künstler und insbesondere Schriftsteller hätten vieles von seinen eigenen Einsichten in die Natur unbewußter Prozesse vorweggenommen. Bei anderen Gelegenheiten jedoch brachte er die Darstellung unbewußten Materials in Kunstwerken nicht so sehr mit Einsichten in Verbindung, als vielmehr mit der Flucht vor einem regressiven Zusammenbruch oder mit einer Verkleidung tabuisierten Phantasien, durch die gesellschaftliche Anerkennung erschlichen würde. Als Mensch mit gehobenem Geschmack anerkannte Freud den veredelnden Wert von Meisterwerken. Andererseits veröffentlichte er den »Moses des Michelangelo« nur anonym, und vermutlich nicht einfach, weil er sich für zu unqualifiziert hielt, sondern auch, weil er es für einen Wissenschaftler eigentlich unwürdig erachtete, solch eine lose Ideensammlung über eine einzelne Skulptur zu verfassen.

 Der Urspung von Kunst liegt nach Freud in der Sublimierung von Triebkonflikten, von Konflikten zwischen verbotenen Lüsten und den Anforderungen der gesellschaftlichen Realität. Diese Erklärung hat etwas Faszinierendes an sich, doch wenn man einem großen Kunstwerk gegenübersteht, hört sie sich reichlich abwegig an. Einer der Gründe für Freuds Neigung, in seinen Theorien Kunst auf etwas Pathologisches zu reduzieren, liegt vielleicht nicht so sehr in seiner persönlichen Einstellung. Vielmehr hat Freud, wie Richard Wollheim (6) meint, meistens die Fragen der Form ausgeklammert und sich ausschließlich um Inhalte gekümmert. In dieser Hinsicht gleicht dies seinem Ansatz der Traumdeutung, in der er ebenfalls Symboliken nachjagt, hinter denen sich Triebe und Konflikte verbergen könnten. Viele moderne Kunst- und Literaturkritiker haben diesen Ansatz von Freud übernommen. Darum gibt es jetzt viel intrigierenden Klatsch über Künstler. Daneben gab es auch einige fruchtbare neue Einsichten, wobei diese allerdings oft nur wenig mit den Kunstwerken selber zu tun haben. Im Anschluß an Freud haben auch viele Theoretiker der Psychologie die Kunst wie einen besonderen Patienten des 19. Jahrhunderts behandelt - als schönes und geheimnisvolles Wesen, begabt und dennoch hysterisch, und das bezaubernd aussieht, wie es um einen theoretischen (Stand-) Punkt drapiert ist.

In der Gegenwart haben sich die Positionen oft geradezu vertauscht: Nun haben einige Kliniker und Berater die Kunst geplündert, um aus ihr Therapietechniken zu gewinnen. Das Ergebnis nannten sie »Kunsttherapie«. Jetzt liegt die Betonung auf den Vorgehensweisen statt auf der Deutung der Inhalte. Die Kunsttherapeuten traten mit einigen sehr ansprechenden Experimenten in Erscheinung, aber genau wie die Psychoanalytiker kümmern auch sie sich nicht besonders um die Verbindung von Form und Inhalt, um die schöne und mächtige Ehe von Medium und Erfahrung. Selbst die führende Kunsttherapeutin Janie Rhyne, die sich zugleich an der Gestalttherapie orientiert, hat wohl das Wesen der Kunst als auch der Gestalttherapie verkannt, wenn sie schreibt: »Schönheit ist Nebensache, wenn wir an der Selbst-Entdeckung arbeiten, und Bewertungen als gut und schlecht bleiben als irrelevant vor der Tür. Es geht allein um die Frage: ›Was kannst du über dich selber herausfinden?‹« (7) In den meisten Fällen kocht die Kunsttherapie Kunst herunter zu etwas, was für dich selber gut ist: Selbstverwirklichung durch unterhaltsame Freizeitaktivitäten und gymnastische Körperübungen. Solch ein Ansatz paßt gut zur herrschenden Beschäftigung mit Techniken der »Selbstverbesserung«, wozu auch die Selbsthilfeliteratur, Masters & Johnson und Biofeedback gehören. Doch wenn man die ästhetische Dimension der menschlichen Aktivitäten außer Acht läßt, weil sie keine Bedeutung für therapeutische Einsichten hätten, dann widerspricht das dem Geist der Gestalttherapie.

Einer anderen modernen Auffassung zufolge geht es in Kunst und Therapie vor allen Dingen darum, sich in Kontakt mit seinen Gefühlen zu bringen. Gefühle werden in den Vordergrund des Erlebens gebracht, als seien sie ein Zweck in sich selbst. Die Kunst wird dabei so ähnlich wie die Pornographie benutzt, um Gefühle aufzuheizen, und der Therapeut wird zum Antreiber, der den Patienten zu einem immer weiteren Anschwellen des emotionalen Ausdrucks bewegt.

Man kann leicht erkennen, wie unsere Kultur aufgrund ihrer Prägung durch die endlosen inneren Selbstprüfungen ihrer puritanischen Ahnen zu diesen Zielen gelangte, besonders in jüngster Zeit, wo sie gegen sich selbst aufbegehrt und ihr Augenmerk von der Sünde abkehrt und stattdessen dem Lustgewinn zuwendet. So hören wir Musik, um die von ihr ausgelösten Gefühle unter die Lupe nehmen zu können, und in Encountergruppen schlagen wir auf Kissen ein, um unseren Ärger wiederzugewinnen (als sei er ein Besitztum von uns). Die Menschen begeistern sich für ihre eigenen Empfindungen wie beim Vorspiel, doch wenn sie dabei stehen bleiben (was Freuds Definion von Perversion entspricht), kommen sie nicht zum wahren Akt der Kontaktaufnahme mit dem, was außerhalb ihrer und um sie herum besteht.

Dennoch gibt es eine reale Möglichkeit zu einer Begegnung zwischen einem selbst und einem Kunstwerk oder einem anderen Menschen, zu denen einen die Empfindungen und Impulse hinbewegen, zumal sie dabei unterstützend wirken. Gefühle helfen dabei, Nahrung zu erlangen durch den Kontakt mit etwas oder jemandem, den wir noch gar nicht kennen. Ohne solchen Kontakt ist kein Wachstum möglich. Anders gesagt, Gefühle setzen uns mit unserer Umwelt auf sehr spezielle Weisen in Verbindung: Sie unterrichten uns über uns selbst in Bezug auf das, was es in der uns umgebenden Landschaft gibt (oder was in ihr fehlt, zum Beispiel im Falle von Trauer). Sie sagen uns, was wir davon benötigen oder was wir damit machen möchten, sei es etwas heranholen, wegstoßen, zerstören oder besitzen. Doch dieser zentrale Zweck unseres Gefühlslebens gerät aus dem Blick, wenn man proklamiert, Gefühle selbst seien bereits die eigentliche Erfüllung.

Somit tragen Gefühle wesentlich dazu bei, welche Weltsicht das Selbst in einem bestimmten Moment entwickelt. Zum Beispiel mit dem Gefühl des Hungers wird eine Weltsicht nahegelegt, in der sich einem Nahrungsquellen anbieten oder in auffälliger Weise fehlen. Diese Weltsicht mag für die meisten von uns nur von kurzer Dauer sein, denn wenn wir den Hunger befriedigt haben, verschwindet sie wieder oder verwandelt sich in ein anderes Gefühl. Doch wenn Hunger chronisch wird, färbt er die gesamte Orientierung in der Welt mit ein und bestimmt den Ton der ganzen Existenz. In einer bestimmten Epoche im Mittelalter, als große Teile Europas dem Hungertode nahe waren, erzielten Witze über das Essen denselben Lacherfolg wie sexuelle Witze bei uns. Und heutzutage sind wir uns alle bewußt, welch großen Einfluß unsere dauernde Beschäftigung mit sexuellen Gefühlen auf die Weltsicht unserer Kultur ausübt, von Kosmetikwerbung über Autodesigns bis zu den Theorien der Psychoanalyse. Wenn die Persönlichkeit dauernd von einer bestimmten Emotion beherrscht wird, ist dies ein Zeichen für Krankheit entweder des Selbst oder seiner Umgebung.

In solchen Fällen sollte sich Psychotherapie weniger um die Intensität von Gefühlen kümmern (wie es manche modernen Reichianer gerne tun), sondern mehr um ihre Qualität, ihre Beweglichkeit und ihre genaue Beziehung zur Umgebung. Dann dient sie nicht nur dazu, unsere Erfahrungen zu vertiefen, sondern auch dazu, unser Wissen über unsere Erfahrungen klarer und deutlicher zu machen. Ein hervorragender Theatercoach erzählte mir, daß er es nicht leiden könne, wenn sich Schauspieler in einen künstlichen Taumel hineinsteigerten, um auf diese Weise die Emotionen auszudrücken, die ihrer Meinung nach zu den dargestellten Charakteren gehören. Deshalb gibt er seinen Schülern die Übung, jemand anderem einen Gegenstand oder eine Person auf so viele verschiedene Arten zu beschreiben, wie sie nur irgend finden können. Die wirklich passende Emotion würden dann ganz natürlich auftauchen, glaubt er. Sie würde als Bestandteil des anschließenden Kontakts ausgedrückt werden und sich dann so verwandeln, daß sie auch wieder zur nachfolgenden Sache passe.

Man vergleiche einmal die folgenden Feststellungen:

»…die Umwandlung von Widerstand, Spannungen und Erregungen, die für sich genommen zu bloßen Ablenkungen verleiten könnten, in eine Bewegung hin zu einem umfassenden und erfüllenden Ergebnis.« (8)

Könnte es eine bessere Definition von Psychotherapie geben?

»Der Konflikt zwischen einer Vielzahl unverträglicher und unbewältigbarer Erfahrungen wird erst in dem Moment sichtbar, da die Mittel zu seiner Deutung und Transformation zur Verfügung stehen.« (9)

Die erscheint als eine zutreffende Beschreibung dessen, was bei der Schaffung eines Kunstwerks vonstatten geht.

Die erste Formulierung ist John Dewe’s Definition der Ästhetik. Die zweite ist Laura Perls’ Beschreibung des Therapieprozesses, den sie tatsächlich ausdrücklich mit der »Schaffung eines Kunstwerks (der höchsten Form integrierter und integrierender Erfahrung des Menschen)« (10) vergleicht. Die Ähnlichkeiten beider sind sehr auffällig. Beide betonen die organische Verbindung eines bereits bestehenden Inhalts, der nach Zergliederung oder Auflösung strebt, mit einer neuen Form, die ihn in etwas besser Geordnetes, Vollständigeres und Befriedigenderes überführt.

In der Psychotherapie tritt die Zergliederung in Form von Symptombildungen und einer Fesselung an die Vergangenheit in Erscheinung. Die Menschen kommen in Therapie wie gescheiterte Künstler, die ihre Talente verschwenden und ihre Leidenschaften in die falsche Richtung schicken. Nachdem sie ein Selbst geschaffen haben, das auf der Kontrolle ihrer Angst beruht, produzieren sie nun Werke, die sich ständig wiederholen, fragmentiert sind - und wenig überzeugend. In der Therapiesitzung mit dem Bühnenautor, die ich weiter oben beschrieb, sind sowohl sein depressiver Charakter als auch seine Theaterstücke schöpferische Leistungen. Doch in den meisten Bereichen seines Lebens wird sein kreativer Impuls von Angst beherrscht, und nur ein Bereich, nämlich die Kunst, zeugt von gelungener Angstbewältigung.

So ist also nicht der Therapeut, sondern der Klient der Künstler, wie unbefriedigend seine Werke auch immer sein mögen. Symptome und ihre Abkömmlinge in der Therapie, die gewöhnlich Widerstand genannt werden, sind trotz allem auch noch leidenschaftliche Versuche zu leben, und sie verdienen Respekt. Die vorhin zitierte Transformation durch Synthese können ein Individuum von Symptomen und der Vergangenheit befreien, ohne die beiden einfach wegzuwerfen, denn letzteres käme einer erneuten Unterdrückung gleich und würde vermutlich in nichts anderem als einem Ersatz durch andere Symptome münden. Die Synthese dagegen ist ein Weg, die Lebensquellen wieder freizulegen, die durch ihre Bindung an Vergangenheit und Symptome eingemauert sind. Dann können sie als Wissen und Fertigkeiten ins gegenwärtige Leben einfließen. Leider haben sich Psychotherapeuten zu oft wie Chirurgen benommen, die Gummihandschuhe anziehen und ein krankes Organ oder Gefäß herausoperieren. Doch eine Neurose kann man nicht amputieren, ohne die Persönlichkeit des Patienten weiter zu beeinträchtigen. Der Psychotherapeut wirkt weniger wie ein Arzt oder ein Künstler, stellte Laura Perls einmal klar, sondern mehr wie ein Kunstkritiker, der sich darum bemüht, daß ein Mensch Urteilsvermögen und Gestaltungsspielräume für seine Produktionen wiedergewinnt. (11)

 

Anmerkungen

01        »Aus dem Schatten hervortreten«, Laura Perls im Gespräch mit Edward Rosenfeld, in: »Meine Wildnis ist die Seele des Anderen. Der Weg zur Gestalttherapie«, Laura Perls im Gespräch mit Daniel Rosenblatt u.a., hrsg. von Anke und Erhard Doubrawa (Wuppertal: Peter Hammer Verlag, 2005), S. 121ff.

02        F. Perls, R. Hefferline, and P. Goodman, Gestalt Therapy: Excitement and Growth in the Human Personality (New York: Julian Press, 1951); dt. Gestalttherapie, München 1980: dtv.

03        Rudolf Arnheim, Entropy and Art: An Essay on Disorder and Order (Berkeley: Univ. of California Press, 1971), S. 18.

04        Diese Gedanke geht auf meinen Kollegen Richard Borofsky zurück.

05        Ich verdanke das Beispiel der Rotröcke dem Kunstkritiker Harold Rosenberg, der es als Vergleich dafür heranzog, wie manche Epochen der Malerei in zu engen Konventionen erstickten. [The Tradition of the New (New York: Grove Press, 1961), S. 13-15].

06        Richard Wollheim, »Neurosis and the Artist,« Times Literary Supplement, March 1, 1974, S. 203-4.

07        Janie Rhyne, »The Gestalt Art Experience« in Gestalt Therapy Now, herausgegeben von Joen Fagan und Irma Lee Shepherd (Palo Alto: Science and Behavior Books, 1970), S. 275.

08        John Dewey, Kunst als Erfahrung (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995).

09        Laura Perls, »Two Instances of Gestalt Therapy« in Recognitions in Gestalt Therapy, herausgegeben von Paul David Pursglove (New York: Funk and Wagnalls, 1968), S. 45; dt. in: dies., Leben an der Grenze (Köln 1989: EHP), S. 61.

10        ebenda

11        Laura Perls, »The Psychoanalyst and the Critic«, in: Complex (Sommer 1950), S. 44; dt. in: siehe Anm. 9.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 

Michael Vincent Miller (Foto von Torsten Bastert)Michael Vincent Miller (Foto von Torsten Bastert)

 

Michael Vincent Miller, Ph.D.

1939 in San Francisco geboren, lehrte an der Stanford University und am Massachusetts Institute of Technology.

Heute lebt und arbeitet er als Klinischer Psychologe und Gestalttherapeut in Cambridge, Massachusetts. Er ist Autor zahlreicher Fachbeiträge zu Theorie und Praxis der Gestalttherapie. In deutscher Sprache erschien sein Buch »Macht - Liebe - Angst. Wege aus dem Beziehungsterror« im Carl Hanser Verlag, München/Wien.

Der folgende historische Text ist zuerst erschienen: Michael Vincent Miller, Notes on Art and Symptoms. In: The Gestalt Journal, 1980, 3(1):86-98. Wir danken Joe Wysong (Herausgeber) und Michael Vincent Miller (Autor) für die freundliche Übersetzungs- und Abdruckgenehmigung.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Thomas Bliesener.

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