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Michael Vincent Miller
Isadore From - ein Nachruf


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik 1-2002:

Michael Vincent Miller
Isadore From - ein Nachruf

 


Isadore From (Foto: John C. Espy)

 

Isadore Froms Tod am 27. Juni 1994 markiert das Ende einer Ära der Gestalttherapie, den Abschluß eines Kapitels, das sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt. Seine Beiträge zur Gestalttherapie sind mit ihrer ganzen Geschichte verwoben. Während der frühen 1950er Jahre schloß er sich dem kleinen Zirkel an, der sich in Frederick und Laura Perls' Apartment in Manhattan traf und dort diskutierte. Da seine vorangegangenen Studien sich hauptsächlich um Philosophie, nicht um Psychologie, gedreht hatten, war er in der Lage, einer wichtigen Einsicht, die viele andere Mitglieder der Gruppe ansatzweise hatten, eine klare und definierte Form zu geben: nämlich daß die weitreichende Auswirkung des radikalen Bruchs der Gestalttherapie mit der Psychoanalyse nichts weniger bedeutete als eine Wende im zugrundeliegenden Paradigma, um das menschliche Handeln zu verstehen - eine Wende weg von der kausalen Naturwissenschaft hin zur Phänomenologie Husserls und seiner Schüler.

Von dieser Zeit an war Isadores Treue zur Gestalttherapie unerschütterlich. (Wenn die Verwendung des Vornamens hier einen familiären Anschein erweckt, muß ich hinzufügen, daß ich es ungewöhnlich steif und formal fände, über ihn zu schreiben und nur seinen Nachnamen zu gebrauchen. Für jeden, der mit ihm gearbeitet oder sich mehr als fünf Minuten mit ihm befaßt hat, wurde er unmittelbar »Isadore«. Ich erinnere mich nicht, daß ihn jemand als »Mr From« ansprach - außer vielleicht ein Klempner oder ein Postbote, der in seinem Stadthaus auf der Upper West Side klingelte.) Er praktizierte und lehrte mehr als drei Jahrzehnte lang kontinuierlich Gestalttherapie in New York. Er reiste auch regelmäßig, sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa - dort besonders nach Deutschland und Italien -, um Trainings- und Supervisions-Gruppen zu leiten. Es wäre nicht irreführend zu sagen, daß Isadore From neben Frederick Perls, Laura Perls und Paul Goodman die Entwicklung der Gestalttherapie am meisten beeinflußt hat. Und Isadores Stimme war dabei mindestens ebenso wichtig wie die der anderen. Aber jetzt sind alle diese Stimmen verstummt.

Zu den Eigenschaften bzw. Qualitäten, für die Isadore von denen, die mit ihm gearbeitet haben, verehrt wurde, zählten seine Integrität und Präzision. Ob er lehrte, supervidierte oder Psychotherapie praktizierte, seine Arbeit war immer von untadeliger Qualität: Sie war gewissenhaft und scharfsinnig, obwohl er durchaus fähig war, in die wilden Gewässer der Intuition hinauszusegeln, wenn die Situation ihn dazu drängte. Einen wichtigen Anteil an seiner ungewöhnlichen Fähigkeit, frei umherzuschweifen und sich trotzdem im Einklang mit den innersten Anliegen eines Patienten oder eines Trainees zu befinden, hatte die Tatsache, daß er nicht um jeden Preis recht behalten mußte. Wie ein guter naturwissenschaftlicher Forscher betrachtete er seine Ideen als vorläufige Hypothesen, die gleichermaßen für Bestätigung wie für Widerlegung offen waren.

Aber wenn ich gezwungen würde, das Zentrum von Isadores Einfühlsamkeit in ein Wort zu fassen, so würde ich »Passion« wählen. Natürlich ist es nötig, diesen beladenen Begriff sorgfältig zu definieren, wenn man ihn in unseren Zeiten gebrauchen möchte. Außerdem hätte Isadore in seiner üblichen Art von mir verlangt, ihn sorgfältig zu definieren. »Passion« ist schließlich in der modernen Welt in Verruf gekommen. Unsere post-romantische Geisteshaltung ist zerrissen und ambivalent, weil wir in vielerlei Hinsicht noch vom romantischen Ideal bestimmt sind, das viele von uns jedoch intellektuell ablehnen, denn wir setzen »Passion« mit irrationalen Impulsen gleich, die zu Fanatismus, Besessenheit oder sogar Mißbrauch führen können. »Passion« erscheint dem kühlen postmodernen Temperament sowohl als zu passiv und egoistisch als auch als ein zu Ich-schwaches Nachgeben gegenüber inneren Sehnsüchten oder überwältigenden äußeren Versuchungen.

»Passion»« kann jedoch auch etwas viel aktiveres und konzentriertes bedeuten, so wenn wir von einer »passionierten Beschäftigung« sprechen, einer Leidenschaft für eine Sache, der wir unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. From war in demjenigen Sinne passioniert, den Kierkegaard im Kopf gehabt haben muß, als er einem Buch den Titel gab: »Reinheit des Herzens bedeutet, eine Sache zu wollen«. Nur wenige Menschen scheinen diese Fähigkeit zu haben. Isadore ist einer von denen, die sie hatten, sowohl persönlich als auch intellektuell. Solche Passion verlangt eine grundlegende Ernsthaftigkeit, allerdings nicht jene Art Ernsthaftigkeit, die sich schwer auf die Seele legt wie die puritanische Theologie. Es ist mehr die spielerische Ernsthaftigkeit, die der holländische Historiker J. Huizinga in seinem wundervollen Buch »Homo Ludens« als zivilisierende Tugend beschreibt. Huizinga meinte, daß diese Form tiefgründigen Spiels das Herz der Kultur, der Kunst und der Religion sei. In Isadore Froms Praxis war sie auch das Herz der Psychotherapie.

»Passion« in diesem Sinne ist, wie Isadore uns erklärt haben würde, nicht passiv. Sie hat einen bedeutenden aggressiven Anteil. Auch hinsichtlich des Begriffs »Aggression« ist eine genaue Definition erforderlich. Wenn Isadore von »Aggression« sprach, beabsichtigte er, daß das Wort in dem positiven Sinne verstanden wird, in welchem die Gestalttherapie »Aggression« interpretiert: als eine nützliche, ausdrucksstarke und kreative menschliche Kraft, etwas zu schaffen oder etwas zu bewirken, sich selbst bereitwillig der Welt zurückzugeben und von der Welt zu empfangen. Dies ist alles, nur nicht die feindselige kriegsähnliche Machtausübung über andere, an die wir heute generell denken, wenn man von »Aggression« spricht. Diese Art des Machtwillens gründet, wie Isadore gesagt haben würde, nicht in freier und spontaner Aggression. Sie ist eher ein Symptom der unterdrückten Aggression, ein Zustand, der die Menschen dazu bringt, Kontrolle und Sicherheit in ihren Beziehungen erzwingen zu wollen. Solch feindselige Aggression ist Ausfluß der Furcht vor Impotenz oder von Gier, die aus frustrierten Bedürfnissen erwächst.

Um die positive Bedeutung von Aggression in der Gestalttherapie zu illustrieren, unterschied Isadore dazwischen, ein Musikstück anzuhören [listening to a piece of music], was er als aggressiv betrachtete, da man sich selbst, seine Persönlichkeit und Geschichte in die Erfahrung einbringt, und »der Musik zuzuhören« [hearing the music], was er für eine allgemeinere Form des ziellosen und darum unbestimmteren Aufnehmens hielt. Der gleiche Unterschied gilt nach From für Schauen [looking] und Sehen [seeing]. Nicht, daß es falsch sei, zuzuhören oder zuzusehen, aber Leute, die charakteristischerweise sagen »ich sehe, was gemeint ist« oder »ich höre zu«, introjizieren vielleicht oder ziehen sich auf eine andere Weise aus der Unterhaltung zurück. Typische Bemerkungen wie diese sind Hinweise, die den Therapeuten auf die Notwendigkeit genauerer Nachforschungen aufmerksam machen.

Solche Hinweise waren für Isadore in der Tat zu beobachtende Indizien, die Störungen im Kontakt anzeigen. In dem Fehlen von Widerspruch und in dem unqualifizierten Lob eines Patienten, der bemüht ist, zu gefallen, vermutete Isadore eine charakterhafte Gewohnheit zu introjizieren. Daher würde er tun, was er konnte, um ihm die Kritik zu entlocken, die der Patient an ihm als Therapeuten hatte, wobei er gleichzeitig vorsichtig vorgehen würde, um zu sehen, wie ängstlich seine Anregungen den Patienten machten. Wenn jemand eine verallgemeinernde, abstrakte Sprache benutzte, um seine Erfahrung in unspezifischen Worten auszudrücken, erklärte Isadore seinen Trainees, sollte man Projektion vermuten, weil solche Unbestimmtheit im Augenblick des Kontaktes einen leeren Raum zwischen den Menschen schafft, der als Projektionsfläche dient.

Er mochte es auch, diese kleinen sprachlichen Verstärker auseinanderzunehmen, die die Leute automatisch benutzen. Daran konnte er zeigen, wie Projektion funktioniert, indem man sie übertreibt. »Was laßt ihr euch lieber sagen«, fragte er eine Gruppe von Trainees: »,Ich liebe dich' oder ,Ich liebe dich wirklich'?« Die zweite Formulierung sollte einen zumindest aufhorchen lassen, schlug er vor, weil der Sprecher projizieren könnte, daß ihm nicht geglaubt wird, was darauf hinweist, daß er selbst Zweifel hat.

In gleicher Weise griff Isadore ritualisierte Phrasen heraus, die wir für normal halten, wie das eingestreute »weißt du« alle paar Sätze. Daran zeigte er die verborgene Annahme von Konfluenz. Das »weißt du« zieht den Zuhörer ins Vertrauen des Sprechers, als ob der Sprecher sagen wollte: »Wir sind uns so nahe, daß du meine Gedanken lesen kannst.« Wenn jemand »weißt du« in dieser Weise benutzte, antwortete Isadore vielleicht: »Nein, ich weiß es nicht. Du sagst es mir.« Damit schärfte er den Blick für die Verschiedenheit zwischen den beiden Personen, die versuchen, durch Sprechen und Zuhören in Kontakt miteinander zu treten. Die Arbeit daran, die Verschiedenheiten zu bewahren, ist in Isadores Sicht der Dinge ein wichtiger Aspekt der Psychotherapie. Ohne Verschiedenheiten lösen sich Beziehungen in Pampe auf.

Daß er in solcher Weise auf sorgfältige, sogar minutiöse Unterscheidungen wert legte, machte für Isadore From seinen Ansatz der Therapie aus. Er fühlte, daß Veränderungen und Wachstum eher in kleinen Schritten als in großen Durchbrüchen vonstatten gehen. In dieser Hinsicht wich seine Meinung stark von der Frederick Perls' ab. Patienten könnten besser kleine Schritte assimilieren, dachte Isadore, als überwältigende Dramen. Darüber hinaus können kleine Veränderungen deutliche Spuren hinterlassen: Selbst wenn man in einer festgefügten Gestalt nur eine winzige Änderung vornimmt, ist das Ergebnis eine neue Konfiguration.

Darum schenkte Isadore in seiner Arbeit fast jeder eigenartigen Geste und jedem eigenartigen Wort, in denen sich jemand dem anderen darstellt, große Aufmerksamkeit: wie derjenige sitzt, geht, grüßt, sich verabschiedet, durchatmet oder nicht; außerdem beachtete er (dem folgend, was er aus den frühen Schriften von Reich gelernt hat) alle die Arten, in der sich Angst und Charakter in Muskelverspannungen ausdrücken oder (und das war sein eigener besonderer Beitrag) sich in unbestimmter bzw. ausweichender Sprache zeigen. Der Punkt ist, daß all diese Phänomene an dem beobachtet werden können, was zwischen dem Therapeuten und dem Patienten vorgeht. Darum kann der Therapeut seine Beobachtungen dem Patienten direkt zur Verfügung stellen, damit er sie durch seine eigenen Erfahrungen überprüfen kann.

Dieses direkte Zusammenspiel zwischen Beobachtung und Erfahrung war Isadores Meinung nach die primäre Bedeutung der Gegenwart in der Gestalttherapie. Indem er seine Interpretationen und Interventionen - seine »Experimente«, wie er sie nannte - auf den Bruchstücken des Konkreten und Augenscheinlichen aufbaute, erschienen sie oft wie poetisch inspirierte Sprünge und Synthesen. Die letztendliche Quelle seiner Eingebungen war allerdings zum größten Teil das, was unmittelbar gegeben war und darum meist übersehen wurde - das Offensichtliche sozusagen. Die Methode, die dieser Art Psychotherapie innewohnt, könnte als praktische Phänomenologie bezeichnet werden. Um sie zu lehren, versuchte Isadore, seinen Trainees beizubringen, sie auf sich selbst anzuwenden. Wenn er Vorführungen machte, legte er geduldig seine Beobachtungen und Schlußfolgerungen Schritt für Schritt dar. Er hatte kein Interesse an Unklarheit oder Mystik.

Obwohl er der körperlichen Anwesenheit, der Bilderwelt der Träume und jeder Art weiterer Hinweise, die dem Therapeuten nützlich sein können, große Aufmerksamkeit widmete, betrachtete Isadore doch vor allem die Sprache als den vollkommenen Akt des Selbstausdrucks und der Kommunikation des Menschen. Klare Sprache war in seinen Augen ein Zeichen von Gesundheit. Er ging mit dem Stil so sorgsam um wie ein Dichter und mit Bedeutung wie ein Logiker. Sprache bedeutete für Isadore das gesprochene »Idiom« eines Stammes, das eine einflußreiche Schule der Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert die »Umgangssprache« nannte - das heißt, es handelt sich nicht um Jargon und nicht um eine abstrakte, ausgearbeitete Terminologie der Sozialwissenschaft oder Psychologie. Es ist natürlich klar, daß er, wenn er Gestalttherapeuten ausbildete, Begriffe wie »Kontaktgrenze«, »Retroflektion«, »Konfluenz« und so weiter gebrauchte, durch die sich die Gestalttherapie von den herrschenden freudianischen Ansätzen unterscheidet. Aber dann erklärte er diese Konzepte, selbst bei der Vorführung ihrer Anwendung, in einer hinreichend einfachen und präzisen Sprache, um sie unmißverständlich deutlich zu machen.

Es wäre kein zu weit hergeholter Vergleich, Isadore From den Wittgenstein der Psychotherapie zu nennen.

Die Prinzipien der Gestalttherapie widersprechen, anders als bestimmte vorherrschende Richtungen des westlichen Denkens, der Spaltung der menschlichen Natur in eine Serie von Dualitäten wie Bewußtsein und Biologie, Innen und Außen, leuchtendes Ideal und trübe Wirklichkeit. Auch aus diesem Grunde ist die Gestalttherapie oft mit dem Zen-Buddhismus und anderen östlichen Philosophien verglichen worden, ein Vergleich, der nicht ohne Reiz ist. Aber der Osten war nicht der bevorzugte Ort für Isadore Froms Vision der Gestalttherapie. Er war mit jeder seiner Fasern ein westlicher Humanist und zog es vor, wie sein Freund Paul Goodman nach Möglichkeiten zu suchen, innerhalb der klassischen westlichen Tradition eine ganzheitliche Psychologie zu entwickeln. Er glaubte mit Kant, daß man das, was man wahrnimmt, zur Hälfte selbst kreieren würde. Kant war vielleicht der erste, der in modernen Zeiten diese Idee formuliert hat, die im neunzehnten Jahrhundert von englischen und deutschen Romantikern und später von organistischen Denkern wie Bergson, William James und John Dewey aufgegriffen worden ist.

Diese radikale Linie der Erkenntnistheorie (die wie so viele Radikalismen eine Rückwendung zu etwas sehr Altem darstellt) schließt die Subjektivität des Erkennenden in dem Erkannten ein. Sie tauchte gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts auf und bildete eine Opposition gegen die Behauptung der Aufklärung, daß nur die Erkenntnis von Objekten auch eine wertvolle Erkenntnis sei. Die Aufklärung hatte es - neben ihren anderen, positiven Errungenschaften - mit sich gebracht, daß endgültig zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Körper, Ich und Du in der menschlichen Erfahrung unterschieden wurde. Auf diese Weise verlor das Selbst seine enge Verbindung mit dem Anderen und mußte versuchen, sich dieses Andere durch Eroberung wieder anzueignen. Diese Haltung der Eroberung ist in der berühmten Formulierung Bacons ausgedrückt, Wissen - gemeint ist das objektive Wissen um die Natur - sei Macht. Wissenschaft wurde angewandte Wissenschaft, die unser technologisches Zeitalter einleitete.

In unserem Jahrhundert wurde die neue Erkenntnistheorie von Gestaltpsychologen wie Wertheimer und Koffka weitergeführt, die davon überzeugt waren, daß der Akt der Wahrnehmung das vervollständigt, was wahrgenommen wird. Auf diese Weise würden die Menschen Ganzheiten hervorbringen, die durch Formen und Muster charakterisiert seien, die das ausmachen, was an ihnen aktuell erfahren wird. In ganz ähnlicher Weise bestanden auch frühe Phänomenologen wie Brentano und Husserl auf dem subjektiven Element im Wissen. Der gemeinsame Nenner dieser Revolution des Geistes, die von Kant über die Romantiker zu den Phänomenologen führte, war der Versuch, die Spaltung von Subjekt und Objekt zu überwinden und auf diese Weise die Kontinuität zwischen Geist und Natur wieder herzustellen, die in der westlichen Zivilisation von den alten Griechen bis ins Mittelalter eine grundlegende Annahme gewesen war.

All diese Ideen bildeten den intellektuellen Hintergrund, auf dem Isadore From sich mit Frederick und Laura Perls und Paul Goodman zusammenfand. Was ihr Denken auszeichnete war, daß sie gemeinsam die Erkenntnis hatten, daß der Dualismus nicht nur kulturellen Verfall, sondern auch individuelle Neurosen hervorruft. So machten sie einen einzigartigen Schritt: Sie begründeten durch ihre Suche nach Einheit etwas, das sich unmittelbar einsetzen ließ, um individuelles Leiden zu vermindern - eine neue Psychotherapie.

Frederick Perls ging bald nach Kalifornien, um über die Entwicklung und Verbreitung seiner eigenen Vorstellungen von Gestalttherapie zu wachen. Er war immer noch auf die Gegenwart der Erfahrung konzentriert, aber nahm mehr und mehr Techniken aus dem Psychodrama auf, um kathartische emotionale Befreiungen hervorzurufen. Nach einer kurzen Zeit, in der Paul Goodman als Therapeut arbeitete und die Theorie der Gestalttherapie lehrte, über die er so kraftvoll geschrieben hatte, wendete er sich anderen Angelegenheiten zu (obgleich seine sozialen und politischen Gedanken immer stark durch die Prinzipien der Gestalttherapie gefärbt waren). Es war weitgehend Laura Perls und Isadore From überlassen, den ursprünglichen Geist der Gestalttherapie aufrecht zu erhalten, vor allem in ihren Ausbildungsgruppen.

Isadore From blieb ein Purist bezüglich der Gestalttherapie und war in diesem (aber nicht im politischen) Sinne eine konservative Stimme unter den führenden Gestalttherapeuten und Ausbildern. In den letzten Jahren warnte er immer wieder vor einer Verwässerung der Gestalttherapie durch Vermischungen und Strömungen, die Strandgut von anderen psychotherapeutischen Ansätzen, die überall im zwanzigsten Jahrhundert entsprangen, heranspülten. Aber er war kein Ideologe, obwohl es Leute gab, die ihm das vorwarfen. Seine peinsame Sorge zu definieren, was mit dem Gestaltansatz zu vereinbaren ist und was nicht, enthielt keinen Anspruch auf Überlegenheit anderen Ansätzen gegenüber. Seine Sorge war angetrieben von seiner Befürchtung, daß die Gestalttherapie untergehen würde, wenn ihre Unterscheidungsmerkmale nicht deutlich gegenüber anderen vorherrschenden Methoden und Theorien herausgearbeitet würden. Und die Geschichte hat gezeigt, daß seine Befürchtung tatsächlich nicht ganz unbegründet war.

Vielleicht war er etwas zu starr darin, nicht anzuerkennen, daß die Gestalttherapie von der Aufnahme frischer Ideen aus anderen neu entstehenden Therapieformen Nutzen ziehen könnte. Allerdings wußte er wie kein anderer, wie eklektisch die Ursprünge der Gestalttherapie waren, in der Psychoanalyse, Gestaltpsychologie, Phänomenologie und Existentialismus mit Techniken aus Körpertherapien und Theater verbunden worden sind. Alarmiert haben ihn allerdings vor allem Entwicklungen innerhalb der Gestalttherapie selbst: Die späten Lehren von Frederick Perls beunruhigten ihn, nämlich daß Perls wohl auf die Herstellung von Bekehrungserfahrungen abzielte und darum ziemlich blumige Techniken hervorbrachte, sich aber eher wenig um die theoretische Untermauerung kümmerte. Ebenso beunruhigte ihn, daß Leute mit einer unzureichenden Ausbildung in Gestalttherapie sie teils aufgrund von Perls Anstrengungen, teils als Folge unserer therapeutischen Kultur voreilig mit anderen Ansätzen vermischten und diese Mixtur als gelungene Integration verkauften. Außerdem beunruhigte ihn, daß der theoretische Schlüsseltext - Goodmans weitgespannte Umformung von Perls ursprünglichen Ideen im zweiten Teil des Buches, das sie zusammen mit Ralph Hefferline verfaßt hatten - jahrelang [in den USA] vergriffen war.

Unter den Hinterlassenschaften, die die Gestalttherapie Isadore From verdankt, befinden sich der reiche Sinn für ihre Ursprünge sowie die Erkenntnis, daß ihre Theorie und Praxis ein reichhaltiges und stimmiges Ganzes bilden. Er hat nie gesagt, daß die Entwicklung am Ende sei. Er hat immer betont, daß noch viel Arbeit zu tun ist. Außerdem hat er tatsächlich nie die Möglichkeit ausgeschlossen, daß die Gestalttherapie sich von Nachbardisziplinen nähren könne. Meiner Meinung nach fühlte er einfach ziemlich richtig, daß die Gestalttherapie zunächst für sich selbst einen sicheren Hafen brauche. Er betrachtete sein Lebenswerk als Versuch, dieses Ziel zu erreichen.

In dem Maße, in welchem die Gestalttherapie sich weiter entwickelt und vielleicht auf andere Ansätze übergreift, braucht sie vielleicht mehr denn je einen festen Halt in der Hinterlassenschaft von Isadore. Die ist eine Sache der Selbsterhaltung, wie jemand, der auf der Treppe auszurutschen droht und nach dem Geländer greift. Und nicht nur der Selbsterhaltung, denn dies ist der beste Weg für die Gestalttherapie, ihren Horizont zu erweitern.

Letztlich verlangt gute gestalttherapeutische Praxis, wie Isadore sagen würde, wenn er nur unter uns weilen würde, um es uns ein letztes Mal zu sagen, daß wir im Kopf behalten, daß die fruchtbarsten Integrationen aus Zusammentreffen herrühren, ob es sich um Personen oder Denkschulen handelt - Zusammentreffen, bei denen jeder seine eigene separate Existenz klar definiert hat.

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Michael V. Miller (Foto: Torsten Bastert)

Michael Vincent Miller

1939 in San Francisco geboren, lehrte an der Stanford University und am Massachusetts Institute of Technology.

Heute lebt und arbeitet er als Klinischer Psychologe und Gestalttherapeut in Cambridge, Massachusetts. Er ist Autor zahlreicher Fachbeiträge zu Theorie und Praxis der Gestalttherapie. In deutscher Sprache erschien sein Buch "Macht - Liebe - Angst. Wege aus dem Beziehungsterror" im Carl Hanser Verlag, München/Wien.

Der nebenstehende Nachruf ist unter dem Titel »Elegiac Reflections on Isadore From« erschienen in »The Gestalt Journal«, »Studies in Gestalt Therapy« und »The British Gestalt Journal«.

Wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung der deutschen Erstübersetzung.

Aus dem Amerikanischen von Stefan Blankertz.

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