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Paul Goodman
Gedanken eines Steinzeitkonservativen
Interview mit dem Mitbegründer der Gestalttherapie


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritk verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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 Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 2-2003):

Paul Goodman
Gedanken eines Steinzeitkonservativen
Interview mit dem Mitbegründer der Gestalttherapie

 

Foto: Paul Goodman bei einer Straßenaktion in New York (60er Jahre)
Paul Goodman bei einer Straßenaktion in New York (in den 60er Jahren)
Foto: (c) The Gestalt Journal

Zur Einführung:

Stefan Blankertz, Wer war Paul Goodman?

Ein "Werkleben"

Goodman: ein unbequemer Zeitgenosse, eine unbequeme Hinterlassenschaft für die Gestalttherapie. An seiner Person scheiden sich, rund dreißig Jahre nach seinem Tod und ungefähr fünfzig Jahre nach Erscheinen des Buches "Gestalt Therapy", die Geister: Für die einen ist er bloß der Mitautor jenes Buches und keiner weiteren Erwähnung wert. Für die anderen ist er heute mehr denn je der Garant für eine nicht-angepasste und theoretisch fundierte Psychotherapie.

Wer ist die Person Paul Goodman? Was war er für eine Person, ehe er die Gestalttherapie mitbegründete? Und was für eine, als er dann zum "Star" des anti-autoritären Bürgerprotestes wurde - und nach dem Abklingen der Protestbewegung auf den Misthaufen der Geschichte geworfen werden sollte? War er, wie manche es gern verstehen möchten, einfach ein erfolgloser Gossendichter und Querkopf, dessen wirres Gerede nur in einer wirren Zeit kurze Aufmerksamkeit erregen konnte? Oder gibt es einen roten Faden, der sein Leben und sein Werk durchzieht und auch heute noch interessant macht?

 

Kindheit und Jugend

Paul Goodman, jüdischer Abstammung, wurde 1911 in Greenwich Village, New York, geboren. Von den Eltern, von Beruf Schausteller, vernachlässigt, wuchs er unter der Sorge seiner Schwester Alice und verschiedener Tanten auf. Sein Bruder Percival (Jahrgang 1904) hatte sich früh selbstständig gemacht und in Paris an der "Ecole des Beaux Arts" studiert. Er wurde Architekt.

Paul musste sich sein Studium der Literatur und Philosophie, das er 1931 in Chicago begann, durch Jobben verdienen. Nebenbei eignete er sich autodidaktisch Deutsch und Griechisch an; Latein und Französisch hatte er bereits auf der Schule gelernt. In diese Zeit fallen seine ersten literarischen Arbeiten von Wert, die er teils in kleinen Avantgarde-Magazinen veröffentlichen konnte.

Nachdem Goodman mit der - unveröffentlichten - Arbeit "The Formal Analysis of Poems" [Die formale Analyse von Gedichten] und mündlichen Prüfungen u.a. über Erkenntnistheorie und Kants Ästhetik zum Ph.D. promoviert hatte und an der "University of Chicago" einen Lehrerposten antrat, schien seine Karriere festzustehen. Sein Thema war Shakespeare. Die Methode der Deutung war die sich auf Aristoteles stützende immanente ("formale") Analyse der "Chicago School of Critics", aus der Goodman entstammte.

Allerdings verlor Goodman seine Stelle 1940, weil er ein offenes Ausleben seiner Homosexualität sowohl als sein Recht als auch als pädagogisch sinnvoll proklamierte. Aus dem gleichen Grund musste er seine danach angetretene Tätigkeit an der "Manumit School" und am "Black Mountain College" aufgeben, beides renommierte "alternative" Institutionen. Zur selben Zeit wurde seine Kurzgeschichte "A Cerimonial" [Eine Zeremonie] (1940) gedruckt, die in literarischen Kreisen für Aufsehen sorgte. Susan Sontag zählt Goodmans frühe Kurzgeschichten zur wichtigsten Prosa der nordamerikanischen Literatur.

 

Der rebellische Schriftsteller

Da ihm der Zugang zu den akademischen Institutionen versperrt war, lebte Goodman weiterhin von Gelegenheitsjobs und sein Einkommen lag nur knapp über dem Existenzminimum. Seine Bücher wurden von kleinen Verlagen, die keine Honorare zahlen konnten, in geringen Auflagen gedruckt. Obwohl er unter den Literaten ein Geheimtipp war, verkauften sich seine Bücher nur schlecht. 1941 erschien "Stop Light: 5 Dance Poems" [Rotlicht: 5 Tanzgedichte], fünf Bühnenstücke, für die er die Form des japanischen "Noh" benutzte. Das war während des Krieges - kurz nach Pearl Harbor - nicht sehr populär. Ein Jahr später, 1942, schrieb er "Don Juan, or: The Continuum of the Libido" [Don Juan, oder: Die Einheit der Libido]. Dieses ungewöhnliche, in keine literarische Gattung einzuordnende Buch wiesen alle Verleger auf Grund der offenen Behandlung der Sexualität zurück; es erschien vollständig erst nach Goodmans Tod. Indem er dieses "Museum der Libido" (so seine eigene Charakterisierung des Buches) schrieb, lehnte er die Anpassung an seinen Ruf als ein "Avantgarde-Phänomen" und den Kompromiss mit der Kulturindustrie radikal ab. Offenheit der Sprache empfand er als Voraussetzung für gute Literatur. Er gebrauchte sexuelle Themen jedoch nie als "unterhaltsame Provokation", sondern im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit den "Fakten des Lebens", die den Leser mit einbezog.

Aus den Elementen Literatur, akademische Bildung und Erfahrung als Deklassierter entwickelte sich bei Goodman ein Denken und ein Stil von bemerkenswerter Intensität. Schon die Kurzgeschichte "A Cerimonial" [Eine Zeremonie] (1940) und der Roman "The Grand Piano" [Der Flügel] (1941) zeigten das Wesen von Goodmans Kritik: gegen die Institutionen und gegen die Unbekümmertheit der Menschen, die sich von Institutionen ein "übliches" Leben aufzwingen lassen. "A Cerimonial" beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Werbesprache, ausgehend von einer gegen die Werbung gerichteten direkten Aktion. In "The Grand Piano" steht ein New Yorker Junge im Mittelpunkt des Geschehens, der sich um die Schulpflicht herumdrückt. "Die Stadt als Schule. Zurück zu Sokrates."

Gegen Ende des Jahres 1944 sollte Goodman zum Wehrdienst eingezogen werden. Seine strikte Weigerung brachte ihn in die Gefahr, ins Gefängnis zu kommen. (Er wurde dann aber doch ausgemustert.) Die Frage, ob ein Revolutionär den Wehrdienst in jedem Falle verweigern sollte, oder das "kleinere Übel" zu wählen habe, war unter den progressiven Literaten und radikalen Linken heftig umstritten. Bereits während des Krieges sah Goodman den deutschen Faschismus nicht als "Natur"-Katastrophe an, sondern als Folge auch der Vorkriegspolitik der Vereinigten Staaten. Der Mehrheit des amerikanischen Volkes war bis zum Kriegsausbruch dies zumindest vage bekannt. Die "Isolationisten" vermochten jedoch keine wirklichkeitsmächtige Politik zu entwickeln. Dieser Zusammenhang wurde im Krieg auch und gerade von den Linken vergessen, verdrängt und seine Benennung ausgegrenzt.

Gegen die Logik vom "kleineren Übel" lautete Goodmans Argumentation: Wenn es in einer konkreten Situation nur die Wahl zwischen einem "größeren" und einem "kleineren" Übel gäbe, hätten wir, die Bürger, politisch etwas falsch gemacht. Anstatt uns der Wahl zu unterwerfen, müssten wir den Fehler ausfindig machen und mit aller Kraft beseitigen. Auf den Weltkrieg bezogen hieß das für Goodman: Anstatt zwischen faschistischem Terror, demokratischem Imperialismus und totalitärem Stalinismus zu wählen und dabei - was immer man wählte - selbst zum Militaristen zu werden, forderte er nun erst recht zum konsequenten Pazifismus auf. Diese Überlegung fand Verständnis bei den Anarchisten. Die literarischen Avantgarde-Blätter und die marxistisch orientierten Zeitschriften, die bis dahin einige seiner Arbeiten veröffentlicht hatten, strichen Goodman allerdings nun aus dem Programm.

Goodmans Vergewisserungen über die Pflicht zur Wehrdienstverweigerung, gegen die Idee der Koalition mit dem kleineren Übel und über die Umstände, unter denen man Gefängnisstrafen in Kauf nehmen muss, bildeten sein erstes weder literarisches noch literaturkritisches Werk, "The May Pamphlet" [Das Manifest vom Mai] (1945). In diese Zeit fallen auch eine Reihe von psychologisch-politischen Essays, in denen Goodman eine "linke" Freud-Deutung über Wilhelm Reich hinaus versuchte.

Nach dem Krieg betätigte sich Goodman weiter literarisch; aber er veröffentlichte daneben immer mehr politische, soziologische und psychologische Arbeiten. Persönlich befand er sich dabei in einer Sackgasse: Seine politischen Ansichten und sein bisexueller Lebensstil machten ihn zu einem Aussätzigen.

 

Mitbegründung der Gestalttherapie

Die Wende in seinem Leben begann, als er 1947 Lore und Fritz Perls traf. Die beiden hatten Goodmans psychologisch-politischen Essays im südafrikanischen Exil gelesen und beschlossen, ihn an ihrem Projekt der Gründung einer neuen psychotherapeutischen Richtung zu beteiligen. Goodman arbeitete an dem Buch "Gestalt Therapy" mit, war Mitbegründer des "Institute for Gestalt Therapy" in New York und arbeitete einige Jahre als Psychotherapeut. Zum ersten Mal verdiente er ein wenig mehr, als unbedingt zum Leben notwendig ist.

Gleichwohl nannte Goodman seine Tagebuchnotizen aus den Jahren 1955 bis 1960 "Five Years: thoughts during a useless time" [Fünf Jahre: Gedanken während einer nutzlosen Zeit]. Anerkennung blieb ihm versagt, seine literarische Kraft verebbte, politische Veränderungen erschienen als Utopie.

Der Titel jedoch ist falsch. Goodmans Veröffentlichungen, seine Vorträge in kleinstem Kreise, seine Diskussionen, seine Unbeugsamkeit und sein schöpferisches Engagement - alles das war Teil der Vorbereitung auf das Aufbegehren der Jugend und vieler Bürger in den 1960er Jahren.

 

Der berühmte Rebell

Seit 1957 hatte Goodman ein Manuskript mit dem Titel "Growing Up Absurd: The Problems of Youth in the Organized Society" [Absurdes Aufwachsen: Probleme der Jugend in der organisierten Gesellschaft] in der Schublade. Eine rasante soziologische Analyse der Schwierigkeiten, in einer perfekt sozialtechnisch organisierten Gesellschaft aufzuwachsen. Als das Buch 1960 endlich einen Verleger gefunden hatte, wurde es - unerwartet - zu einem Bestseller. Die rebellischen Jugendlichen merkten, dass hier nicht einer "über" sie schrieb, sondern in ihrem Namen. Und die anderen merkten, dass sie, wollten sie die Rebellion verstehen, hier und nur hier Aufschluss erhalten konnten.

Das "May Pamphlet" wurde 1962 unter dem Titel "Drawing the Line" [Grenzziehung] zusammen mit aktuellen Aufsätzen zum Niedergang der Demokratie in der Zeit von Kennedys "demokratischem Faschismus" wieder aufgelegt. Es zeigte sich, dass es den Nagel auf den Kopf traf: Das war das Manifest der Jugendrebellion, nämlich die Aufforderung zur Verweigerung der sozialen Selbstvereinnahmungen, die die gesellschaftlichen Unterdrückungen hatte unsichtbar werden lassen; besonders zur Verweigerung der Zusammenarbeit mit allem, was mit Krieg zusammenhängt, sowie die Forderung nach Aufbau einer anderen, besseren Gesellschaft hier und jetzt.

Zehn Jahre lang war Goodman nun eine "Berühmtheit", gefragt sowohl bei den Rebellen als auch beim Establishment. Er veröffentlichte zahlreiche Texte zu soziologischen, politischen und psychologischen Themen, hielt Vorträge, trat in Rundfunk und Fernsehen auf, demonstrierte quer durch die USA; er regte Bewegungen gegen das etablierte Schulsystem sowie zur Gründung staats-unabhängiger Alternativschulen an.

Seiner literarischen Neigung versagte Paul Goodman sich fast vollständig. Eine Ausnahme bildet der Gedicht-Zyklus "North Percy" (1968), den er in der Trauer um seinen Sohn gedichtet hat. Der Zyklus gilt als eine der bewegendsten Elegien der nordamerikanischen Literatur.

Ende der 1960er Jahre enttäuschte Goodman die Wendung der rebellischen Jugendlichen zum Leninismus. Eine zusammenfassende Analyse der amerikanischen Gesellschaft und der Jugendrebellion lieferte er in "New Reformation: Notes of a Neolithic Conservative" [Neue Reformation: Notizen eines Steinzeitkonservativen] (1970). Sein letztes Werk ist "Speaking and Language: Defence of Poetry" [Sprechen und Sprache: Verteidigung der Dichtkunst] (1971), in welchem er sich mit sprachwissenschaftlichen Theorien und deren politischen Dimensionen auseinandersetzte. Goodman bereitete selbst noch die Ausgabe "Collected Poems" [Gesammelte Gedichte] vor und verfasste den philosophischen Essay "Finite Experience" [Gestalt-Erfahrung] als Begleittext zur Sammlung seiner "Little Prayers" [Kleine Gedichte], starb aber vor dem Erscheinen am 2. August 1972 in New York.

Diese Einführung von Stefan Blankertz stammt aus dessen Buch "Gestalt begreifen. Ein Arbeitsbuch zur Theorie der Gestalttherapie", das aus seiner Lehrtätigkeit an unserem Institut hervorgegangen und in der Edition des Gestalt-Instituts Köln im Peter Hammer Verlag erschienen ist.

 

Paul Goodman

Gedanken eines Steinzeitkonservativen

Das Interview

 

Robert W. Glasgow: In den späten fünfziger Jahren hast du die etablierte Gesellschaft und das universitäre System aufgrund von Entwicklungen kritisiert, an die man sich inzwischen gewöhnt hat. Du meintest damals auch, daß einige bedeutsame Veränderungen anstünden. Wie denkst du heute darüber?

Paul Goodman: In Growing Up Absurd vertrete ich dieselbe Position wie schon 15 Jahre zuvor in der Aufsatzsammlung Drawing The Line.1 Die Kernaussage lautet, daß man in einer überzentralisierten Gesellschaft, in der die großen Konzerne mit Hilfe staatlicher Steuerung mehr oder weniger nutzlose Konsumgüter produzieren, nur überleben kann, indem man aussteigt.

Glasgow: In welchem Sinne?

Goodman: Anstatt den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen zu wollen, die letztlich in den Ruin führen, muß man sich auf unabhängige und überschaubare Handlungsfelder konzentrieren. Das erfordert Zivilcourage. Eine Möglichkeit besteht z.B. darin, zusammen mit Freunden oder anderen Menschen kleine Gemeinschaften zu bilden, die alle Beteiligten als sinnvoll erleben. Wenn die Wissenschaft und der allgemeine Zeitgeist einem allerdings andere Ziele vorgeben, ist das ziemlich schwierig. Um dieses Thema ging es in Growing Up Absurd. Das Überleben ist vor allem ein Problem für junge Menschen, weil die Kinder in unserer Gesellschaft machtlos sind und benachteiligt werden. Je stärker die Welt verknöchert, desto weniger Platz bleibt für die Kinder. Was sie dann erleben, ist eine Entfremdung, die ihr Gespür für die Welt, in der sie leben, mehr und mehr verkümmern läßt. Um zu lernen, das Leben sinnvoll zu gestalten, muß man in der Welt stehen.

Glasgow: Das klingt, als seist du über die Entwicklung der letzten zehn Jahre sehr enttäuscht.

Goodman: Ja und nein. Wenn man die letzten zehn Jahre in ihrem historischen Kontext betrachtet - was die junge Generation nicht unmittelbar kann, weil ihr 20 oder 25 Jahre fehlen, um eine solche Perspektive einnehmen zu können -, dann zeigt sich, daß den Menschen wichtige Veränderungen aufgedrängt worden sind. Wir haben in einer Gesellschaft gelebt, die sinnlos und nicht lebensfähig war, und die Konsequenz daraus ist, daß wir uns verändert haben. Nehmen wir als Beispiel das Verhältnis zwischen der schwarzen und der weißen Bevölkerung. Wenn man 1935 oder 1940 in den Süden ging, konnte man eigentlich nur verzweifeln. Im Norden war das Problem nicht so offensichtlich, weil in den Städten weniger Schwarze lebten und viele sich an die bestehenden Verhältnisse angepaßt hatten. Seit dieser Zeit strömten immer mehr Menschen aus einer ländlichen Kultur in die Städte, was zur Folge hatte, daß sie sich dort völlig deplaziert fühlten. Diese Generation hat inzwischen eine neue hervorgebracht, und das führt nun zu einer explosiven Situation. Es ist ziemlich schwierig, jungen Weißen oder jungen Schwarzen heute klarzumachen, daß vor dem zweiten Weltkrieg das Leben in den Städten des Nordens besser war als in denen des Südens.

Glasgow: Vielleicht war es besser, aber wirklich gut war es auch nicht.

Goodman: Für die schwarze Bevölkerung hieß Anpassung unter anderem auch Tarnung. Ralph Ellison sprach damals vom unsichtbaren Menschen, und tatsächlich hatten viele Menschen nur die Wahl, unsichtbar zu sein oder die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben aufzugeben.

Glasgow: Heute gibt es Menschen, die stolz sind, Schwarze zu sein.

Goodman: Es ist keine Frage, daß die Jungen, die Freiheitskämpfer und die Anhänger Martin Luther Kings2 sehr dazu beigetragen haben, die Mauer der Unsichtbarkeit zu durchbrechen. Die Situation ist insgesamt sehr viel rauher geworden, aber das betrachte ich als eine normale Entwicklung.

Glasgow: Heißt das, daß du deinen früheren Optimismus noch nicht völlig aufgegeben hast?

Goodman: Ich glaube, daß die Amerikaner sehr viel besser sind, als sie im allgemeinen dargestellt werden. Vielleicht sind sie nicht die Ehrgeizigsten, aber als Menschen sind sie nicht schlecht. Gegenüber den Dingen des täglichen Lebens zum Beispiel haben sie eine gewisse Skepsis entwickelt. Sie nehmen die Werbung nicht wirklich ernst, es sei denn als eine Art übertriebener Kunst. Das Streben nach einem hohen Lebensstandard mit viel Geld bedeutet ihnen heute weitaus weniger als in früheren Zeiten.

Glasgow: Ich finde nicht, daß diese Skepsis gegenüber materiellen Werten in unserer Marktwirtschaft so deutlich erkennbar ist. Mir scheint, daß allenfalls die jungen Leute wirklich nach Alternativen zum Dollar suchen.

Goodman: Nein, das gilt ganz allgemein. Die Erwachsenen kaufen nutzloses Zeug, weil sie sonst nichts mit sich anzufangen wissen. Die Bemühungen der jungen Generation, eine Gegenkultur und einen alternativen Lebensstil zu entwickeln, basieren leider viel zu sehr auf Verzweiflung und Entfremdung. Anstatt einen einfacheren Lebensstil zu entwickeln, haben sie einen aufsässigen Lebensstil angenommen. Sie sehen nicht mehr, daß es auch sehr nützliche Güter gibt. Man kann ja nicht alles ablehnen.

Glasgow: Der Erfolg der Headshops3 und Boutiquen zeigt aber doch, daß es unter den jungen Leuten ein ziemlich ausgeprägtes Konsumdenken gibt.

Goodman: Allerdings. Viele junge Leute geben Geld für Kleidung, Hi-Fi-Anlagen, Motorräder oder Drogen aus, nur um "in" zu sein. Das ist natürlich Konsumdenken, und in dieser Hinsicht sind sie genauso verfressen wie jeder andere auch. Ich glaube sogar, daß die meisten von ihnen noch schlimmer sind als ihre Eltern, aber damit möchte ich mich nicht aufhalten. Tatsache ist, daß die Subkultur in der Gesellschaft bisher noch keine realistische Alternative zu unseren sozialen Institutionen hervorgebracht hat.

Glasgow: Als die Friedenscorps und die VISTA4 auftauchten, sahen viele Menschen darin eine Möglichkeit für die Jugendlichen, sich mit wichtigen und sinnvollen Fragen auseinanderzusetzen.

Goodman: Das stimmt, aber es funktionierte nicht, weil die Arbeit der Friedenskorps letztlich falsch war. Sie war im klassischen Sinne missionarisch, aber wir brauchen nicht mehr Missionare, sondern weniger. Wenn du dein Leben darauf ausrichtest "Gutes" zu tun, dann scheint es zwar irgendwie sinnvoller zu werden. Aber am Ende beutest du diejenigen aus, die nach deiner Philosophie deine Hilfe benötigen. Ich persönlich glaube, daß es unmöglich ist, einem anderen zu helfen. Es geht darum, bessere Institutionen zu schaffen und die Menschen in Ruhe zu lassen, damit sie sich selbst helfen.

Glasgow: Aber Institutionen zu verändern...

Goodman: Das Schlimmste, was man Menschen antun kann, ist ihnen zu helfen. Aus dieser Überzeugung heraus halte ich das ganze Schul- und Bildungskonzept für Quatsch, denn hier werden permanent neue Lernsituationen geschaffen. Aber die Welt ist die eigentliche Lernsituation. Wir brauchen nicht mehr zu tun, als den Menschen ihre Autonomie zu geben, und die Freiheit, sich auf ihre Weise zu entwickeln. Nein, die Bemühungen der Friedenscorps und VISTA waren eindeutig ein Fehlschlag. Ganz abgesehen davon, daß die Motive der jungen Leute, die sich dort engagierten, mir

immer sehr suspekt waren.

Glasgow: Inwiefern?

Goodman: Nehmen wir als Beispiel eine nicht untypische Gruppe innerhalb dieser Bewegung: die Venceremos-Brigade. Diese jungen Leute glauben, sie könnten die Revolution voranbringen, indem sie nach Kuba gehen und bei der

Zuckerrohrernte helfen. Für die kubanische Wirtschaft jedoch bedeutet das eine Katastrophe, weil dort jemand, der von Wirtschaft und Planung keine Ahnung hat, dem Land ein überkommenes Landwirtschaftssystem aufzwingt. Ich habe keinen Zweifel daran, daß Fidel Castro es gut meint; er liebt sein Land, und er liebt die Menschen in diesem Land, aber diejenigen, die sich dort engagieren, tun das auf eine äußerst naive Weise. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie wirklich so dumm sind, und deshalb glaube ich nicht an ihre Motive. Ich glaube, daß hier eine tiefe Scheinheiligkeit am Werk ist, eine Art emotionale Ausbeutung.

Glasgow: Die Teilnehmer der Venceremos-Brigade erklären, daß sie jede Autorität verabscheuen, und begeben sich doch in diese autoritäre Situation und nehmen sie bereitwillig hin.

Goodman: Ich glaube, ein Großteil ihres Verhaltens basiert einfach auf Trotz. Alles, was Mama und Papa niemals tun würden, muß allein deshalb schon gut sein. Ginge es ihnen wirklich um die kubanische Bevölkerung, dann würden sie sich respektvoll heraushalten oder sogar den Mut finden, Castro zu kritisieren. Historisch gesehen waren die Jungen immer schon besonders gut darin, Veränderungen einzuleiten; aber als politische Kraft sind sie scheinbar ein glatter Reinfall. Die meisten ihrer Aktivitäten erscheinen mir konterrevolutionär. Aber laß uns nicht nur über die Jungen reden. Das tun wir ohnehin zu viel.

Glasgow: Glaubst du das wirklich?

Goodman: Wir widmen ihnen zu viel Aufmerksamkeit. Dieses ganze Gerede über Bildung zum Beispiel. Ich meine, wenn die Schule sich als eine schlechte Idee erweist, sollte man sie einfach vergessen. Hört auf zu reformieren. Hört auf zu kritisieren. Wir haben das Schulsystem zu Tode kritisiert, und ich meine wirklich "zu Tode". Statt dessen sollten wir uns darauf konzentrieren, eine lebbare Gesellschaftsstruktur aufzubauen. Wenn uns das gelingt, kommt die Bildung von alleine.

Glasgow: Aber wie zum Teufel macht man das?

Goodman: Um Gottes Willen, frag mich das nicht. Ich kann mir manches vorstellen, aber frag mich nicht, wie diese Ideen umgesetzt werden können. Ich bin kein Politiker.

Glasgow: Von deinen Büchern gefällt mir People or Personell 5 am besten. Dein dezentralistisches Konzept ist für viele Gruppierungen zur Devise geworden: angefangen von Elterngruppen, die mehr Einfluß auf die Schulen vor Ort verlangen, bis hin zu Sicherheitsexperten, die die Automobilkonzene in Detroit bekämpfen.

Goodman: Meine Haltung in dieser Frage ist keineswegs dogmatisch, aber ich bin davon überzeugt, daß wir in vielen Fällen denzentralisieren und dabei immer noch effizient arbeiten könnten, und zwar aus dem einfachen Grund, weil wir uns viel zu weit in die entgegengesetzte Richtung bewegt haben. In den letzten 70 oder 80 Jahren haben wir in den Vereinigten Staaten immer wieder über den Fluch der Größe geredet, aber gebracht hat diese Kritik letztendlich nichts. Jeder denkt, das Akzeptieren von Kritik stelle allein schon einen Wert dar; aber wenn man sich der Kritik unterwürfig stellt, braucht man sich nicht zu verändern. Ich denke immer wieder, daß soziales Handeln wahrscheinlich eine Frage der religiösen Tiefe ist und daß es entweder einer prophetischen Stimme oder einer Katastrophe bedarf, um den Menschen wachzurütteln. Um den Smog in New York endlich loswerden zu können, müssen wahrscheinlich zuerst 50.000 Menschen daran gestorben sein. Das ist eine ziemlich traurige Art von Prophezeiung.

Glasgow: Siehst du innerhalb der Vereinigten Staaten irgendwelche politischen Bewegungen, von denen du dir in sozialer Hinsicht etwas versprichst?

Goodman: Nein, überhaupt keine. Leute, die wie John Gardner6 eine neue Politik fordern, oder selbst das "Institute for Policy Studies"7 folgen alle derselben Denkrichtung und derselben Art der politischen Organisation, was u.a. dazu führt, daß die Hippies in Landkommunen Zuflucht suchen. Und selbst wenn die Hippies scheitern, haben sie zumindest eine andere Einstellung zum Leben entwickelt. Aber das ist ja keine politische Bewegung, sondern eine isolierte Gruppe von Jugendlichen. Die amerikanische Wählerschaft ist ja nicht dumm oder Opfer einer Gehirnwäsche, sondern sie reagiert einfach nicht. Schließlich kann man sich nicht zu irgend etwas aufraffen, das überhaupt keinen Erfolg verspricht.

Glasgow: Du erwähntest John Gardner. Er hat eine beachtliche Anzahl von Leuten in seiner "Common Cause"-Organisation8 eingebunden und versucht dadurch, öffentlichen Druck zu erzeugen.

Goodman: Ja, aber dabei geht es um die alten Themen. Schau dir Leon Keyserlings Haushaltsplan an,9 der vom "A. Philip Randolph Insitute"10 aufgegriffen wurde. Die Idee ist, daß wir das Geld, das für den Vietnamkrieg eingeplant ist, statt dessen für innenpolitische Aufgaben wie Wohnungsbau oder Schulen ausgeben könnten. Das sind katastrophale Alternativen - mehr als nutzlos. Wie kann man einen solchen Haushalt ernst nehmen? Das ist nichts anderes als ein altmodischer Liberalismus,11 der noch nie funktioniert hat. Ich meine, wenn die Schwarzen nicht in die Städte ziehen sollen, wozu sollte man dann neue oder bessere Wohnungen bauen? Vor allem, wenn diese Wohnungen noch nicht einmal wirklich besser sind? Und wenn es besser überhaupt keine Schulen geben sollte, warum sollte man dann wohl bessere Schulen haben wollen?

Glasgow: Als in den dreißiger Jahren die Baumwollpflückmaschine erfunden wurde, stimmten alle Sozialpropheten darin überein, daß diese Erfindung eine ungeheuer erniedrigende Last von den Schultern der Schwarzen und der ärmeren Weißen nehmen würde. Das stimmte; diese Last wurde ihnen genommen - und gegen eine andere ausgetauscht.

Goodman: Das ist wahr. Aber Schuld daran war nicht die Maschine. Ich bin kein Maschinenstürmer; ich glaube, daß es für jeden Arbeiter eine Beleidigung ist, eine Arbeit zu verrichten, die eine Maschine besser leisten kann. Die Technik stellt eine Reihe von gleichermaßen effizienten Möglichkeiten zur Verfügung, aber sie liefert keinen Grund, diese in den Dienst einer sozial ungerechten Organisation zu stellen. Wir wissen, wie wir etwas tun, aber noch wichtiger ist es, zu wissen, was wir zu tun versuchen - sei es mittels Handarbeit oder mit Hilfe von Maschinen. Nehmen wir den Streit um das

öffentliche und private Transportgewerbe. Darum geht es überhaupt nicht. Das eigentliche Problem ist, daß insgesamt viel zu viel transportiert wird. Solange dieser Aspekt nicht

beachtet wird, erzeugt die öffentliche Transporttechnologie ein weiteres Maschinenghetto. Leuchtet das ein?

Glasgow: Es leuchtet ein, ist aber auch ziemlich bedrückend.

Goodman: Die Menschen müssen lernen, in anderen Begriffen zu denken, und das ist sehr schwierig. Deshalb sage ich, daß es ein Problem von nahezu religiöser Tiefe ist.

Glasgow: Manchmal habe ich das Gefühl, daß du im 19. Jahrhundert verhaftet bist.

Goodman: Im 19. Jahrhundert? Wow! Im Untertitel meines letzten Buches steht steinzeitlich.12 Ich bin ganz klar in steinzeitlichen Verhältnissen verhaftet. Das Ziel allen politischen Handelns und sozialen Denkens ist zum einen, einen akzeptablen Hintergrund zu schaffen und zum anderen, die Menschen in Ruhe zu lassen. Der einzig akzeptable Hintergrund aber ist einfach und karg. Die wichtigen Dinge im Leben sind immer solche, die wir in kleinen Gruppen oder alleine tun. Du weißt, wovon ich rede: Kunst, Wissenschaft, Sexualität, Gott, Mitgefühl und romantische Liebe. Diese Aspekte des Lebens sollten üppig und weit entwickelt sein. Und es gibt wirklich nichts, was die Gesellschaft tun könnte, um dir in diesen Fragen weiterzuhelfen. Sie kann allenfalls dafür sorgen, daß sie der Entwicklung dieser Lebensbereiche nicht im Wege steht.

Glasgow: Ich bin sicher, daß eine Menge Leute, die deine neueren Arbeiten gelesen oder dich gehört haben, überrascht wären, wenn sie wüßten, daß du zusammen mit Fritz Perls ein umfangreiches Buch über Gestaltpsychologie geschrieben hast.

Goodman: Zusammen?

Glasgow: Oder allein.

Goodman: Nun, ich habe den größten Teil geschrieben. Fritz ist ein toller Kerl, aber keiner, der Bücher schreiben kann.

Glasgow: Wie tief bist du in die Gestalttherapie eingedrungen?

Goodman: Ich habe zwölf Jahre als Therapeut gearbeitet, und zwar zwölf Stunden am Tag mit nur vier Patienten. Vor und nach den verabredeten Sitzungen lag jeweils eine freie Stunde, so daß die Patienten keine Gelegenheit hatten, zwei Minuten vor Ende der Sitzung die eigentlich wichtigen Themen zu benennen und dann nach Hause zu gehen.

Glasgow: Warum hast du aufgehört?

Goodman: Wenn man Therapie wirklich ernst nimmt, bedeutet das eine enorme geistige Belastung. Man verausgabt sich permanent, konzentriert sich und ist aufmerksam. Und ich war einfach nicht glücklich genug, um soviel Energie aufbringen zu können. Gleichzeitig liegt darin eine enorme

Befriedigung in dem Sinne, daß man seine Einsamkeit überwindet, weil man weiß, daß man mit wirklichen Menschen in Kontakt ist. Das ist eine wunderbare Erfahrung - wie das Versorgen eines Kindes. Du gibst dich selbst und erwartest keine Gegenleistung; aber irgendwie mußt du natürlich auch deine Batterien wieder aufladen. Es war einfach zu hart für mich.

Glasgow: Wie stehst du zu dem derzeit großen Interesse an Encountergruppen, Sensitivity-Training und der Human-Potential-Bewegung?

Goodman: Es ist eine phantastische Art der Selbstbefriedigung. Letztlich angefangen hat es ja mit den Gruppen, die Fritz und ich, Laura und Elliott Shapiro13 durchführten. Wir haben Esalen erfunden. Fritz machte eine großartige Show, aber er war anders als wir anderen. In den meisten unserer Gruppen ging es darum, handfeste Probleme zu lösen. "Du kommst mit deiner Arbeitssituation nicht zurecht? Das ist ein echtes Problem." "Du magst nicht den Ort, an dem du lebst? Dann laß uns gemeinsam sehen, ob wir einen besseren finden. Hast du die Wohnungsanzeigen durchgesehen?" Das hatte nichts damit zu tun, "sich zu finden" oder "sich zu befreien" oder was sonst so geredet wird.

Der Theorieteil von "Gestalt Therapy",14 den ich komplett geschrieben habe, beinhaltet die Auffassung, daß ein Mensch an der Neurose festhalten muß, weil er in der Gegenwart bestimmte Schwierigkeiten hat. Das heißt, daß die Neurose die wahrscheinlich beste Art und Weise darstellt, mit den gegebenen Umständen zurechtzukommen. Solange man nicht die gegebenen Umstände verändert, kann der Neurotiker sein absurdes Verhalten nicht aufgeben. Also befaßt man sich

systematisch mit den Verhältnissen und sucht nach einfachen Lösungen, die der Patient übersehen hat. Das ist viel interessanter, als den Patienten verändern zu wollen - weil die Neurotiker alle gleich sind. Es gibt ein halbes Dutzend verschiedener neurotischer Verhaltensweisen. Gesundheit hingegen ist einzigartig und vielfältig. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß der wichtigste Moment in der Therapie dann gekommen ist, wenn der Patient von seinem eigenen eingespielten Verhalten so gelangweilt ist, daß er einfach damit aufhört. Dieses Gelangweiltsein kann man sich allerdings nur leisten, wenn man Alternativen kennt.

Glasgow: Wie steht es mit den verschiedenen Encounter-Bewegungen?

Goodman: Sie reden von menschlichem Kontakt, als ob es so etwas wie den Menschen wirklich gäbe. Aber ein solches Tier gibt es nicht. Der Mensch macht sich selbst, und er tut das im Bezug auf die Welt, in der er lebt. Das meine ich, wenn ich sage, daß diese Bewegung eine Art von Selbstbefriedigung darstellt. Die Leute wenden sich nach innen und beschäftigen sich wieder und wieder mit derselben Sache - ohne in der Welt irgendetwas zu verändern. Du kannst dich nicht in dir finden. Du mußt nach außen gehen, und wenn du dort vernünftige Verhältnisse vorfindest - das heißt auch solche, die genügend Schutz bieten -, dann findest du dich. Es ist natürlich nicht einfach, vernünftige Verhältnisse herbeizuführen. Die wesentlichen Dinge, auf denen jede Therapie basiert, sind eine gute Arbeitsvermittlung und ein gutes Bordell. Wenn du diese nicht zur Verfügung stellen kannst, kannst du es vergessen.

Glasgow: Die Psychiatrie scheint z.Zt. eine ernsthafte Selbstanalyse durchzumachen. Seymor Halleck hat kürzlich ein Buch geschrieben, in dem er sagt, daß jedes therapeutische Handeln auch ein politisches Handeln sei.15 Stimmst du dem zu?

Goodman: Die Psychiater werden keinen konstruktiven Beitrag leisten, solange sie nicht einsehen, daß neunzig Prozent der Menschen in den psychiatrischen Anstalten für sich selbst und andere völlig harmlos sind. Anstatt jemanden in die Klapsmühle zu stecken, sollte man die 5000 Dollar, die das kostet, einem Farmer geben und ihm sagen: "Laß ihn bei dir leben. Er ist vollkommen harmlos. Wenn er auf der Straße umherirrt, hol ihn zurück." Und ich bin, genau wie Thomas Szasz, entschieden gegen jede Art von Zwangseinweisung.16

Glasgow: Auch wenn du das Thema Bildung nicht mehr hören kannst, möchte ich noch einmal darauf zurückkommen. Du möchtest die weiterführenden Schulen abschaffen, die Grundschulen in Spielgruppen umwandeln und den ganzen Unsinn der Lernsituationen vergessen. Was würde dann mit den Hochschulen passieren?

Goodman: Sie wären ein Platz für Menschen, die in die Welt gegangen sind. Wenn du etwas wissen willst - aufgrund deiner eigenen Entscheidung, weil du arbeitest und jetzt weißt, was du wissen mußt -, dann gehst du zu einer Schule, die es dir beibringt. Dazu brauchst du keine zwanzig Jahre dauernde Schullaufbahn. Als Architekt mußt du etwas von Geometrie verstehen, also gehst du sechs Monate auf eine Schule, um Geometrie zu lernen. Das ganze System der weiterführenden Schulen und der Hochschulen geht zurück auf das imperialistische Interesse einiger Firmen, die sich von den Eltern und der öffentlichen Hand ihre Ausbildungsgänge bezahlen lassen wollten. Und jetzt haben die Schulverwaltungen dieses System übernommen und messen den Erfolg an der Größe neuer Gebäude und durch Schülerzählungen. Die AMA17 und die Psychologen verhalten sich ebenfalls imperialistisch, indem sie versuchen, Einsteigern den Zugang mittels bestimmter Zugangsvoraussetzungen zu verwehren, obwohl sie wissen, daß die von ihnen geforderten Zeugnisse und Referenzen nichtssagend und bedeutungslos sind.

Glasgow: Was die sechziger Jahre betrifft, hast du sehr genaue Voraussagen getroffen. Wie blickst du auf die siebziger?

Goodman: Es wird eine Menge schrecklicher Zusammenbrüche geben - in den Schulen und auf der Straße. Da die jungen Leute kaum eine Welt und keine Struktur der Stille haben, in der sie etwas lernen könnten, werden sie immer dümmer und dümmer werden, bis es schließlich zur Krise kommen wird. Ich bin für Unordnung. Ich glaube, daß unsere Welt zu strukturiert ist, daß wir überzentralisiert leben und die Menschen viel zu konservativ auf Unordnung in den Straßen reagieren. Wenn die Dinge auseinanderbrechen, zerfallen sie häufig in ihre natürlichen Bestandteile, und die sind sehr viel kleiner. Wenn die Verhältnisse zu hart werden, gibt es ein natürliches Verlangen, die Situation zu entschärfen. Die hartnäckig oppositionelle Haltung der etablierten Gesellschaft hindert die Dinge daran, in ihre natürlichen Bestandteile zu zerfallen und führt statt dessen zu einer bizarren Verzerrung der Verhältnisse. An diesem Punkt sollten die vorhandenen Kräfte so viel wie möglich zur Vereinfachung beitragen, den

Dingen ihren freien Lauf lassen, möglichst wenig regulierend eingreifen und so weiter. Dann gäbe es wieder mehr Hoffnung. Die Menschen sind nicht von Natur aus gewalttätig, sondern deshalb, weil sie unterdrückt werden und frustriert oder gelangweilt sind.

Glasgow: Als du mit deinem Bruder zusammen Communitas18 schriebst, hattet ihr einen tiefen und weitreichenden Glauben an die Wirksamkeit der Städteplanung. Ist dieses Vertrauen in die Planung bei dir geblieben?

Goodman: Nein, überhaupt nicht. Je weniger wir planen, desto besser. Ich persönlich plädiere für die Zersiedelung in den Städten und die Wiederbelebung des ländlichen Lebens. Ich stelle mir vor, daß wir einen Anteil der Landbevölkerung von etwa zwanzig Prozent anstreben sollten - ähnlich wie in Kanada. Das funktioniert natürlich nicht auf der Grundlage einer profitorientierten Landwirtschaft, weil wir in diesem Land nicht mehr die technischen Möglichkeiten dazu haben. Wir sollten den Hippies aufs Land folgen. Die Regierung könnte diese Bewegung unterstützen, indem sie Geld aus den Städten auf die ländlichen Regionen verteilt, um damit die Ausbildung der Kinder oder die Versorgung der Alten und Kranken dort zu finanzieren. Bringt den Leuten ihre Sozialhilfe auf die Farm. Wenn die Schwarzen unter sich bleiben wollen, sollten sie Geld bekommen, damit sie sich im Norden oder im Süden Land kaufen und ihre eigenen ländlichen

Gemeinden bilden können.

Glasgow: Ich würde gerne auf ein persönlicheres Thema zu sprechen kommen.

Goodman: Es gibt keine unpersönlichen Themen.

Glasgow: Du warst einer der ersten, der in der amerikanischen Öffentlichkeit seine eigene Sexualität thematisiert hat. Das erfordert einigen Mut. Was war der Grund dafür?

Goodman: Nicht Mut, sondern Berufung. Ein Schriftsteller wehrt sich gegen die Zensur und zensiert auch seinerseits nicht, richtig? Er formt Sätze - aus bestimmten literarischen Erwägungen, aber nicht aus kommerziellen, rechtlichen oder Gründen der Scham. Tut er es dennoch, wird der Heilige Geist ihn verlassen. Ein Schriftsteller muß einem ganz einfachen Grundsatz der literarischen Kritik folgen: Wenn du es denken kannst, kannst du es sagen, und wenn du es sagen kannst, kannst du es veröffentlichen.

Glasgow: Du scheinst sowohl bei der Schwulenbewegung als auch bei der Frauenbewegung in Ungnade gefallen zu sein. Warum?

Goodman: Die Schwulenbewegung jagt mich wegen eines Satzes, der im Playboy abgedruckt wurde - ein ganz unschuldiger Satz. Ich habe darauf hingewiesen, daß der darwinistischen Theorie zufolge alle Säugetiere einen ausgeprägten heterosexuellen Trieb aufweisen.

Glasgow: Eine Art heterosexueller Imperativ.

Goodman: Um das Weibchen zu begatten, muß das Männchen eine Erektion haben. Sie muß ihn akzeptieren, und er muß seinen Penis in die richtige Öffnung führen. Das ist ein sehr komplexes Manöver, und wenn es nicht gelingt, wird die Art unweigerlich aussterben. Unsere Spezies gibt es seit ungefähr einer Milliarde Jahren, das heißt offensichtlich, daß die Mehrzahl der Menschen einen starken heterosexuellen Antrieb hatte. Daraus folgt, daß wenn der heterosexuelle Antrieb bei einem Menschen zu fehlen scheint, der Therapeut versuchen wird, herauszufinden, wo er geblieben ist. Das hat nichts mit Verteufelung homosexuellen Verhaltens zu tun, denn dieses hat seinen eigenen Nutzen, aber wenn der heterosexuelle Antrieb nicht da wäre, würde man sagen: "Das ist doch merkwürdig!"

Glasgow: Was sagt die Schwulenbewegung dazu?

Goodman: Nichts wesentlich anderes. Ich meine, wir könnten uns endlos mit den irrationalen Vorstellungen der Schwulenbewegung beschäftigen. Die Frauenbewegung, zumindest ein großer Teil ihres eher militanten Flügels, scheint nun Kinder als eine Art Fluch zu betrachten, den es um jeden Preis zu vermeiden gilt. Hat man aber Kinder, dann raten sie einem, sie in Tagesstätten unterzubringen und auf diese Weise loszuwerden. Was ich ihnen deutlich gemacht habe, ist die einfache Tatsache, daß viele Arten im Tierreich eine Menge Zeit damit verbringen, ihren Nachwuchs zu schützen, zu füttern und zu fördern. Warum sollten wir, als einzige Art unter den Säugetieren, uns dieser wichtigen und sinnvollen Aufgabe entziehen? Ich wäre absolut bereit, den hohen Lebensstandard, die Autos, die Möglichkeit zu reisen, also alles mögliche aufzugeben, nur um diese elementare, natürliche Befriedigung zu erfahren, die alle anderen Säugetiere auch erfahren. Selbstverständlich meine ich damit nicht, daß der Mann der Frau die ganze Drecksarbeit überlassen und sich aus dem Staub machen soll. Aber das ist etwas ganz anderes als eine Haltung, die Kinder schlicht ablehnt oder verleugnet.

Glasgow: Hast du frühe Erinnerungen an deine eigenen sexuellen Triebe?

Goodman: Wenn ich mich recht erinnere, fing es an, als ich ungefähr sechs Jahre alt war. Ich war von Anfang an bisexuell, und der größte Teil meines sexuellen Lebens war eher trostlos. Meine erste homosexuelle Erfahrung machte ich im Alter von ungefähr sechs Jahren mit einem Cousin; wir waren gleich alt. Aber die meisten sexuellen Erinnerungen aus dieser Zeit bis zum elften Lebensjahr - also vor der ersten

Masturbation - drehen sich um heterosexuelle Bedürfnisse, die permanent bestraft wurden...

Glasgow: Du wurdest dafür bestraft, daß du deine Wünsche gezeigt hast?

Goodman: Ja. Als ich in der Schule auf dem Flur mit einer Klassenkameradin geknutscht hatte, mußte ich zum Direktor. Als ich einem Mädchen einen schmutzigen Brief geschrieben hatte - schmutzig heißt soviel wie erotisch -, wurde ich vier Jahre zurückgestuft.

Glasgow: Vier Jahre? Ist das wahr?

Goodman: Allerdings. Ich erinnere mich noch, daß ich auf einem kleinen Stuhl saß und meine Knie über die Tischkante hinausragten, weil die Tische in dieser Stufe viel zu klein für mich waren.

Glasgow: Wie haben sie dir das erklärt? Und hast du es verstanden?

Goodman: Natürlich habe ich das verstanden. Ich wußte, daß Sex etwas Schlechtes ist; das wußte jeder.

Glasgow: Aber was sagten sie über deine homosexuellen Erfahrungen?

Goodman: Entweder bekamen sie davon nichts mit, oder sie schenkten dem keine Beachtung. Es ist wirklich ganz einfach. Wenn du heterosexuelle Kontakte aufnimmst, bevor du zwölf bist, wirst du bestraft. Wenn du mit zwölf oder danach homosexuelle Kontakte aufnimmst, wirst du ebenfalls bestraft. Sie kriegen dich so oder so. Übrigens sehe ich darin

eine sehr wichtige Ursache für die Fixierung von Homosexualität: in den ersten Jahren ist sie sicherer. Mein sexuelles Leben als Erwachsener ist ziemlich verrückt. Der abenteuerliche Teil ist meistens homosexuell, wenn auch nicht ausschließlich. Streng genommen bin ich ein verheirateter Mann - so oder so.

Mit Sally bin ich nicht verheiratet, aber wir leben seit 28 Jahren zusammen. Davor war ich fünf oder sechs Jahre mit einer Frau namens Virginia zusammen.

Glasgow: Kommen deine Kinder aus beiden Beziehungen?

Goodman: Ja. Meine älteste Tochter stammt aus meiner ersten Ehe. Mit Sally hatte ich zwei Kinder, aber unser Sohn Matthew kam bei einem Unfall in den Bergen ums Leben. In den letzten vier Jahren haben wir versucht, noch ein Kind zu bekommen, aber wir sind wohl beide zu alt. Jetzt überlegen wir, ob wir vielleicht ein vietnamesisches Mischlingskind adoptieren - in erster Linie deshalb, weil sie einfach bezaubernd sind. Ich persönlich bin nicht so sehr für die humanitären Motive, aber wir haben eine Farm, genug Geld, und wir wären sicherlich gute Eltern. Abgesehen vielleicht vom Schreiben, wüßte ich nicht, was der Befriedigung, die ein Familienleben mit sich bringt, gleichkäme. Das ist so ein Punkt, der mich an der Frauenbewegung ein bißchen stutzig macht. Ich wüßte gern, wodurch das Engagement und die Sorge für eine Familie aus ihrer Sicht ersetzt werden sollte.

Es gibt keinen Ersatz, denn das ist das echte, wirkliche Leben. Andererseits kann ich mir persönlich kein Leben ohne sexuelle Abenteuer vorstellen. Ich probiere gerne etwas Neues aus. Natürlich muß ich jeden heterosexuellen Kontakt möglichst geheim halten, weil meine Frau - wie ich selbst auch - unheimlich eifersüchtig ist. Meine Kontakte zu Männern hingegen scheinen ihr nichts auszumachen. Wir sind inzwischen wieder in der Grundschulzeit gelandet. Wenn ich meine Kindheitsgefühle ausleben kann, ohne bestraft zu werden, schließt sich der Kreis.

Glasgow: In einem früheren Gespräch sprachst du einmal über deine Bewunderung für einen alten, homosexuellen Mann, der dich im Park verfolgte.

Goodman: Ich habe mich darüber beklagt, daß es mit dem Älterwerden immer schwieriger wird, selbst meine bescheidenen Bedürfnisse zu erfüllen. Als ich zwölf oder dreizehn oder siebzehn war, wurde ich im Park manchmal von irgendwelchen alten Kerlen verfolgt. Sie waren hinter mir her wie der Teufel hinter der armen Seele. Ich erinnere mich, daß ich manchmal dachte: "Komm, laß ihn doch. Für ihn ist das so ein Riesending, und mir macht es ja eigentlich nichts aus." Es erstaunt mich, zu sehen, wie selten diese großzügige Haltung heute noch anzutreffen ist.

Glasgow: Begegnet dir das nie?

Goodman: Ich weiß nicht, ob es eine Generationsfrage ist, ob die Jugendlichen heute weniger rücksichtsvoll sind als wir früher, oder ob ich damals eher eine Ausnahme war. Ich habe keine Ahnung.

Glasgow: Es ist noch nicht sehr lange her, daß die medizinische und psychiatrische Fachwelt fast einmütig die Auffassung vertrat, daß Homosexualität eine Krankheit sei. Inzwischen wird über dieses Thema heiß diskutiert und gestritten. Glaubst du, daß an dem Krankheitsmodell etwas dran ist?

Goodman: Ich komme noch einmal auf das zurück, was ich vorhin gesagt habe. Als Faustregel gilt: Nicht was du tust, macht dich neurotisch, sondern das, was du nicht tust.19 Nicht was du fühlst, ist verdächtig, sondern das, was du nicht fühlst oder nicht fühlen kannst. Der Mangel an Gefühl ist pathologisch. Von mir persönlich weiß ich, daß da, wo man eine heterosexuelle Stimulation erwarten würde, häufig keine ist, also ein Mangel herrscht. Damit ich eine Frau begehre, muß sie ein bestimmtes Aussehen haben. Gleichzeitig darf sie bestimmte Eigenschaften nicht haben. Im homosexuellen Bereich ist das Spektrum dessen, was ich als befriedigend erlebe, viel größer. Insofern halte ich diese Sache mit den Frauen bei mir für neurotisch.

Glasgow: Bei anderer Gelegenheit hast du behauptet, daß auch die Lehrer-Schüler-Beziehung eine homosexuelle Komponente beinhalten sollte. Kannst du das etwas näher erläutern?

Goodman: Ich glaube, daß homosexuelle Vorbilder äußerst wertvoll sein können, sei es, daß ein älterer Mensch einen jüngeren des gleichen Geschlechts mag, oder daß ein jüngerer mit jemandem ausgeht, der eine Art Lehrer- oder Vaterfigur darstellt. Der Aspekt des Verliebtseins zwischen Schülern und Lehrern scheint mir ein wichtiger für die pädagogische Beziehung im allgemeinen zu sein. In Europa und in den Vereinigten Staaten haben wir jahrhundertelang versucht, diesen Teil zu unterdrücken und unmöglich zu machen. Das Verbot von homosexuellen Kontakten macht das, was als völlig normale Situation erscheint, unmöglich. Die Cliquen, in denen die Mädchen oder die Jungen unter sich sind und ihre Zeit miteinander verbringen, sind sehr nützlich und kulturell in jeder Hinsicht bedeutsam.

Glasgow: Wie würdest du deine homosexuellen Erfahrungen unter dem Aspekt von Glück oder Freude beschreiben?

Goodman: Die eigentliche Erfahrung war meistens eine glückliche, aber wirklich phantastisch waren die Frustrationen. Ich meine damit all das Suchen und Nicht-Finden, und manchmal auch die Niederlagen. Wenn es mir gelang, einen Kontakt herzustellen, habe ich fast immer auch einen Freund gewonnen, und nicht selten haben diese Freundschaften dreißig oder vierzig Jahre gehalten - auch wenn daraus ziemlich schnell nicht-sexuelle Beziehungen wurden. Dasselbe gilt für heterosexuelle Beziehungen. Thomas von Aquin vertrat die Auffassung, daß der Hauptzweck der menschlichen Sexualität - abgesehen von der Fortpflanzung - darin besteht, den anderen kennenzulernen. Mit anderen Worten: es kommt nicht zuerst die Liebe und dann der Sex, sondern zuerst kommt der Sex, und dann die Liebe.

Glasgow: Ich habe gehört, daß du z.Zt. dabei bist, ein weiteres Buch fertigzustellen. Worum geht es in diesem Buch?

Goodman: Es ist ein Buch über Sprache und heißt Speaking and Language. Der Untertitel lautet "A New Defense of Poetry." Es erscheint im Januar bei Random House.20 Das Buch ist im wesentlichen eine Kritik an der wissenschaftlichen Linguistik der letzten 50 Jahre, die m.E. den Bezug zur wirklichen Sprache mehr und mehr verloren hat. Ich versuche zu zeigen, an welchen Stellen dieser Bezug verloren ging. Dabei bewege ich mich zwischen den Positionen der Phänomenologie, in der die Sprache in hohem Maße überbewertet wird, und des Strukturalismus, der aus meiner Sicht den Sprachcode viel zu ernst nimmt.

Glasgow: Welchen gesellschaftlichen Beitrag haben im Laufe deines Lebens die Verhaltenswissenschaften geleistet?

Goodman: Marx, Veblen, Dewey und Durkheim21 haben im Bereich der progressiven Bildung, der Arbeiterbewegung und der allgemeinen Politik Hervorragendes geleistet; in den letzten 50 Jahren ist dagegen aus der Soziologie überhaupt nichts mehr gekommen. Da wurden phantastische neue Methoden wie Computersimulation, Inhaltsanalyse usw. entwickelt, aber all diese Erfindungen sind im Grunde nur neue Werkzeuge, die niemals eingesetzt werden und aus denen nichts entstehen wird.

Glasgow: Und die Psychologie?

Goodman: Seit Freud hat die Psychologie in großem Umfang zur Entwicklung des modernen Lebens beigetragen. Ich würde nicht unbedingt sagen, daß die Erkenntnisse der Psychologie gegenüber denen der Griechen oder der primitiven Völker viel Neues hervorgebracht hätten, aber sie hat sicherlich dazu beigetragen, moderne Klischees aufzubrechen und in Frage zu stellen. Die Freizügigkeit im Umgang mit der kindlichen Sexualität und in der Erziehung überhaupt ist eine hervorragende Errungenschaft. Aber die Psychologie hat noch etwas sehr wichtiges geleistet. Seit der rationalistischen Epoche des 18. Jahrhunderts hat sich unsere Gesellschaft enorm säkularisiert. Wir haben es übertrieben und haben versucht, das Leben und die Entwicklung von menschlichem Kontakt mit objektiven Normen zu regulieren. An diesem Punkt haben Sensitivity Training, Meditation und Awarenessübungen Bedeutung gewonnen. Die Psychologie hat sozusagen eine neue Form von "Quaker meeting" hervorgebracht.22

Glasgow: Wie schätzt du die Zukunft der Verhaltenswissenschaften ein? Was dürfen wir realistisch von ihnen erwarten?

Goodman: Nun, ich wünschte, sie würden eine wichtige methodische Unterscheidung treffen. Die Verhaltenswissenschaften sind ein Bestandteil der Humanwissenschaften, aber sie versuchen kontinuierlich - und fälschlicherweise - sich an den exakten, technologischen Wissenschaften zu orientieren. Die Rolle der Verhaltenswissenschaften entspricht eigentlich der eines Literaturkritikers. Der Literaturkritiker versucht nicht, ein Gedicht zu schreiben, sondern nimmt sich ein bestehendes Werk und sagt z.B.: "Wenn wir hier eine kleine

Änderung vornehmen, und da etwas ergänzen, klingt es insgesamt etwas weicher und flüssiger." Die Verhaltenswissenschaftler sollten sich wie Kritiker verhalten, und nicht wie empirische Theoretiker. Seit die alte Religion mitsamt ihren Priestern verschwunden und das Schulsystem immer mechanischer geworden ist, gibt es niemanden mehr, der die Rolle des Priesters übernehmen könnte. Aber diese Rolle ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Gesellschaft. Wenn die finanziellen Mittel für die Schule nicht mehr reichen, werden immer zuerst die Studienberater und Psychologen entlassen, und die Lehrer bleiben. Statt dessen sollte man lieber die Lehrer entlassen und nur noch Studienberater und Psychologen behalten. Ich sage das nicht aus Eigeninteresse, denn ich selbst habe ja keine Praxis mehr.

 

Anmerkungen

1 "Growing Up Absurd" ist 1960 erschienen (deutsch unter dem Titel "Aufwachsen im Widerspruch", Darmstadt o.J.), die Aufsatzsammlung "Drawing the Line" erst 1962. Gemeint ist hier wohl der zentrale Text von "Drawing the Line", nämlich "The May Pamphlet" von 1945 (deutsch als "Anarchistisches Manifest" in: Goodman/Blankertz, Staatlichkeitswahn, Wetzlar 1980). Anm. v. Stefan Blankertz.

2 Martin Luther King (1929-1968), gewaltloser amerikanischer Bürgerrechtler in der Tradition von Henry David Thoreau und Mahatma Gandhi. Das geflügelte Wort "I have a dream …" (Ich habe einen Traum …) geht auf ihn zurück. 1968 wurde er ermordet. Anm. v. Stefan Blankertz.

3 Läden mit Bedarfsartikeln der Subkultur inkl. Drogenassessoirs und (unter dem Ladentisch) sog. weicher Drogen. Anm. v. Stefan Blankertz.

4 VISTA [V(olunteers) i(n) S(ervice) t(o) A(merica)] ein nationales, von ACTION finanziertes Programm, in dem Freiwillige eine Zeit lang in ärmere Regionen reisen, um die Bevölkerung vor Ort bei der Verbesserung von Arbeitsstrukturen zu unterstützen. - ACTION eine unabhängige, 1971 gegründete Agentur zur Verwaltung nationaler Programme für freiwillige Helfer. Aus: Random House Websters Dictionary. Anm. d. Übers.

5 Erschienen 1965. Untertitel: Decentralizing and the Mixed System (Dezentralisierung und das gemischte System). Keine deutsche Ausgabe. Anm. v. Stefan Blankertz.

6 John W. Gardner ist ein linksetatistischer Politikberater aus dem Umfeld der Kennedy-Anhänger. Vgl. auch Fußnote 8. Anm. v. Stefan Blankertz.

7 Das "Institute for Policy Studies" ist ein unabhängiger linksetatistischer Think-Tank, gegründet 1963, mit den Themen Bürgerrechte und Kriegsgegnerschaft. Internet: www.ips-dc.org

8 Die linksetatistische Organisation "Common Cause" von John W. Gardner wurde 1970 gegründet und existiert noch heute (www.commoncause.org). Sie war konzeptioniert als "Lobby der einfachen Leute". Anm. v. Stefan Blankertz.

9 Leon Keyserling ist seit den 1950er Jahren ökonomischer Politikberater. Seine Position ist die eines linken Keynsianers (ähnlich wie heute Oskar Lafontaine). Anm. v. Stefan Blankertz.

10 Das "A. Philip Randolph Institute" gehört in das Umfeld des größten amerikanischen Gewerkschaftsbundes AFL-CIO.

11 In der amerikanischen politischen Diskussion steht "liberalism" für das, was bei uns Sozialdemokratie ist. Klassisch liberale Positionen vertreten die "old conservatives" (im Gegensatz zu den autoritären "new coservatives"). Goodman übersteigerte das "old" zu "steinzeitlich", siehe Anmerkung 12. Anm. v. Stefan Blankertz.

12 New Reformation: Notes of a Neolithic Conservative, 1970. Deutsch ist das Abschlußkapitel enthalten in: Goodman/Blankertz, Staatlichkeitswahn, Wetzlar 1980. Anm. v. Stefan Blankertz.

13 Zur Stellung von Elliott Shapiro in der Geschichte der Gestalttherapie vgl. das Interview in Gestaltkritik 2/2002. Anm. v. Stefan Blankertz.

14 Erschienen 1951. Deutsch: Gestalttherapie, München 1991 (zwei Bände; der Theorieteil hat den Untertitel "Grundlagen"). Anm. v. Stefan Blankertz.

15 "Therapy is the Handmaiden of the Status Quo", Psychologie Today, April, 1971. Anm. d. Übers.

16 "The Crime of Commitment", Psychologie Today, März 1969. Anm. d. Übers.

17 American Medical Association, eine mächtige berufsständische Organisation, gleichsam die amerikanische Ärztekammer. Anm. v. Stefan Blankertz.

18 1947 und, überarbeitet, 1960 erschienen. Deutsch: Paul und Percival Goodman, Communitas: Lebensformen und Lebensmöglichkeiten menschlicher Gemeinschaften, Geleitwort von Ivan Illich, Vorwort von Hartmut von Hentig, Köln 1994. Anm. v. Stefan Blankertz.

19 Diese Vorstellung basiert auf der Theorie Thomas von Aquins: Das Böse oder die Sünde ist kein aktives Prinzip, sondern ein passives, das im Unterlassen besteht. Das aktive Tun kann niemals böse oder sündig an sich sein. Vgl. Stefan Blankertz, Thomas von Aquin: Lust auf Leben, Köln 2001, S. 87ff. Anm. v. Stefan Blankertz.

20 Erschienen 1971. Deutsch gibt es das Kapitel "Subsprachen" in: H.P. Duerr (Hg.), Unter dem Pflaster liegt der Strand, Band 5, Berlin 1978.

21 John Dewey (1859-1952), amerikanischer Philosoph und Pädagoge; in der Pädagogik war er führender Vertreter der "progressiven Erziehung", die besonderen Wert auf die Entwicklung der Sozialkompetenz und der Fähigkeit zur Selbstregierung der Schüler legte. Thorsten Bunde Veblen (1857-1929), amerikanischer Autor, der sich kritisch mit den Verhaltensweisen der Oberschicht beschäftigte. Emile Durkheim (1858-1917), französischer Philosoph. Er war maßgeblich an der Entwicklung der Soziologie zur empirischen Wissenschaft beteiligt.

22 Ein Treffen von Menschen (ursprünglich von Angehörigen einer religiösen Gemeinschaft), bei dem die Stille und das Hören eine außergewöhnlich große Bedeutung haben. Anm. d. Übers.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Foto: Paul Goodman bei einer Straßenaktion in New York (60er Jahre)
Paul Goodman bei einer Straßenaktion in New York (in den 60er Jahren)
Foto: (c) The Gestalt Journal

Paul Goodman (1911 - 1972)

Über Paul Goodman, den Mitbegründer der Gestalttherapie, haben wir bereits mehrere Beiträge in unserer Zeitschrift "Gestaltkritik" veröffentlicht, u.a.:

Das nebenstehende Interview führte Robert W. Glasgow im Jahre 1971 mit Paul Goodman.

Es ist zuerst erschienen in der amerikanischen Zeitschrift "Psychology Today", November 1971, Vol. 5, No. 6. © 1971 by Psychology Today.

Wir danken Psychology Today für die freundliche Genehmigung der deutschen Erstübersetzung.

Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg.

Die Einführung von Stefan Blankertz stammt aus dessen Buch "Gestalt begreifen. Ein Arbeitsbuch zur Theorie der Gestalttherapie", das aus seiner Lehrtätigkeit an unserem Institut hervorgegangen und in derEdition des Gestalt-Instituts Köln im Peter Hammer Verlag erschienen ist.

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