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Stefan Blankertz
Goodman und Perls in eine Front
Eine Antwort an Hilarion Petzold


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik 2-2001:

Stefan Blankertz
Goodman und Perls in eine Front
Eine Antwort an Hilarion Petzold

 

Stefan Blankertz (Foto von Hagen Willsch)Stefan Blankertz (Foto: Hagen Willsch)

 

1. Vorbemerkung

Ich fühle mich sehr geehrt. Hilarion Petzold, der Nestor der deutschen Gestalttherapie, Gründer und Leiter des Fritz-Perls-Insitutes und international renommierter Wissenschaftler, hat in einem Essay zum 50jährigen Jubiläum von "Gestalt Therapy" mein Buch "Gestalt begreifen. Ein Arbeitsbuch zur Theorie der Gestalttherapie" zum Anlaß seiner kritischen Bemerkungen gemacht (",Goodmansche' Gestalttherapie als ,klinische Soziologie' konstruktiver Aggression?" in: "Gestalt. Zeitschrift des Schweizer Vereins für Gestalttherapie und Integrative Therapie" Nr. 40, Februar 2001). Petzold ruft zu einer weitergehenden Diskussion auf. Ohne in eine für den Leser vielleicht langweilige Antwort auf Detailkritik zu verfallen, möchte ich die Gelegenheit nutzen, die für mich wichtigen Fragestellungen aufnehmen, die Petzold formuliert.

 

2. Perls und Goodman unversöhnlich?

Die - für mich - zentrale Botschaft in Petzolds Essay lautet, man müsse sich in der Theorie der Gestalttherapie "entscheiden" zwischen dem Ansatz von Fritz Perls und dem von Paul Goodman (S. 52), denn sie seien "gänzlich unversöhnt"

(S. 61). Petzold läßt offen, ob eine Versöhnung stattfinden könnte, was ihm jedoch als "keineswegs einfach" und vielleicht nichteinmal "möglich und sinnvoll" (S. 52) erscheint. Als Unterschiedlichkeit von Perls und Goodman benennt Petzold insbesondere zwei Punkte:

1. Fritz Perls hat nach der Veröffentlichung von "Gestalt Therapy" 1952, in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren eine "biologische Systemtheorie" entwickelt, in der der Feldbegriff den Begriff des "Ich" und sogar den des "Selbst" überwindet. Petzold stellt dies in die Linie der postmodernen französischen Philosophie (besonders Foucault), die dem abendländischen Begriff des Subjektes meint entsagen zu müssen. Dagegen blieb Goodman laut Petzold auf halben Weg stecken und hielt an einem Selbst fest, das sich gegenüber den aktuellen Prozessen im Feld immer noch als etwas Besonderes behaupten würde.

2. Paul Goodman hat die Möglichkeiten der Psychotherapie nicht - wie Perls - überschätzt, sondern darauf verwiesen, daß Psychotherapie "überschritten" werden müsse, weil sich der Psychotherapeut gesellschaftlich verursachten Problemen gegenüber sieht. Der Psychotherapeut, der das Symptom am individuellen Organismus behandelt, stabilisiert damit das System (oder Feld), das das Symptom hervorruft. Perls dagegen hielt die Gestalttherapie für die Lösung der Probleme auch gesellschaftlicher Art (dies kann man sehr gut in dem Beitrag von Miller in dieser Ausgabe der "Gestaltkritik" nachvollziehen).

Die Sympathien von Petzold sind eindeutig verteilt: In Punkt 1 bevorzugt er die Perls'sche Position, in Punkt 2 die Goodmansche. Also hat auch er sich nicht eindeutig für den einen oder anderen Ansatz entschieden.

Obwohl ich selbst oft auf die Unterschiedlichkeit von Perls und Goodman hingewiesen habe, möchte ich nun ein wenig zurückrudern und zeigen, daß ich gerade angesichts der neueren Entwicklungen in der Gesellschaft, in der sozialwissenschaftlichen Diskussion und in der Gestalttherapie eine gewisse Ähnlichkeit feststelle - eine Ähnlichkeit, die sich kritisch gegen bestimmte Fehlentwicklungen der Psychotherapie richten läßt.

 

3. Hat Perls den Ich-Begriff auf den Müll geschmissen?

Daß Perls sich gern an aktuelle Trends in der wissenschaftlichen Diskussion angeschlossen hat, ist bekannt. So hat er sich in den 1950er Jahren anders als Goodman nicht vom "Behaviourismus" (Reiz-Reaktions-Modell des Handelns) abgegrenzt und nahm in den 1960er Jahren den Begriff "Kybernetik" (Rückkopplungs-Modell aller Systeme einschließlich des Menschen) positiv auf, genauso wie er sich in den 1940er Jahren als "Phänomenologe" (Wahrnehmung als Wahrheit des Denkens) bezeichnete und den "Existentialismus" (Freiheit als Aufgabe des Menschen) bemühte. In dieser Abfolge der Bezugnahmen von Perls auf wissenschaftliche Trends sieht Petzold m.E. übertriebenerweise eine innere Entwicklungslogik im Denken von Perls.

Die von Petzold konstruierte innere Entwicklungslogik ist für Petzold darum so wichtig, weil am Ende eine harsche Kritik des Ich-Begriffs steht. So zitiert Petzold Perls, er könne das "Ich auf den Müll werfen" (S. 59). Petzold stellt diese Aussage in den Zusammenhang der neuen französischen Philosophie, die meint, den abendländischen Subjekt-Begriff auflösen zu sollen: Das, was wir als "Subjekt" (oder eben: Ich, Selbst, Individuum oder ähnliches) bezeichnen, ist ein Ergebnis von Repression. Demgegenüber gäbe es in Wirklichkeit nur ein Geflecht von Beziehungen unterschiedlicher Kräfte, die nicht zu einem Subjekt führen, das dieses Geflecht bewußtseinsmäßig oder willentlich steuert. Obwohl es dem Sprachduktus der französischen Philosophen nicht entspricht, kann man dies in den Begriffen des Behaviourismus, der Kybernetik und der Systemtheorie beschreiben.

Petzolds Interpretation von Perls kann Folgerichtigkeit für sich reklamieren, dennoch möchte ich zeigen, daß eine andere Interpretation durchaus möglich und sinnvoll ist. Petzold zitiert folgende Aussage von Perls: "Das Ich ist nur ein Symbol der Identifikation" (S. 59). Er stellt sie hinter die flapsige Bemerkung, daß er den Ich-Begriff auf den Müll geworfen habe. Darum klingt das so, als würde Perls dem Ich-Begriff seine Schärfe nehmen, indem er ihn auf eine untergeordnete Bedeutung als "Symbol der Identifikation" reduziert.

Wenn wir jedoch das "nur" aus dem Satz von Perls streichen - "das Ich ist ein Symbol der Identifikation" - haben wir die klassische Aussage über das Ich. Immanuel Kant sagte: "Das ,Ich denke' muß alle meine Handlungen begleiten." Ein schönes Beispiel von Kant war, daß das Ich, wenn ich mir mit dem Hammer auf den Daumen schlage, im schmerzenden Daumen sei. Das hört sich doch schon ziemlich nach Gestalt an, oder? Es ist die Instanz des Ich, die dazwischen unterscheidet, ob ich mir mit dem Hammer auf den Daumen geschlagen habe oder ob du dir auf den Daumen geschlagen hast, ob ich dir auf den Daumen geschlagen habe oder du mir auf den Daumen geschlagen hast. Das sind vier unterschiedliche Vorgänge, zwei davon enden damit, daß ich Schmerzen habe und die beiden anderen, daß du Schmerzen hast. Diese vier Vorgänge lassen sich "nur" dadurch unterscheiden, daß das Ich die Handlungen und deren Konsequenzen nach Ursprung und Wirkung identifizieren kann.

Ich interpretiere das "nur" in dem Satz von Perls auf andere Weise als Petzold: Mit dem "nur" kritisiert Perls eine unphilosophische Übersteigerung des Ich-Begriffs: Die Vorstellung, es gäbe ein "wahres Ich", das "ganz anders" sei als das, was sich in den konkreten Handlungen und Prozessen im Organismus/Umwelt-Feld abspiele. Gegen diese romantischen Übersteigerungen ist einzuwenden, daß das Ich "nur" das Symbol der Identifikation ist. Andererseits bleibt festzuhalten, daß das Ich eben dieses Symbol der Identifikation ist und nach Perls wohl auch bleiben soll.

Ohne die Unterschiede zwischen Perls und Goodman auch in der Theorie des Selbst verwischen zu wollen, stelle ich die These auf, daß sie angesichts der "Dekonstruktion" des Subjektbegriffs in der neuen französischen Philosophie beide auf einer Seite stehen - der Seite des guten alten Subjektbegriffs abendländischer Philosophie, der nicht schon darum überholt ist, weil die Kritik der französischen Philosophen neueres Datums ist, wie es in der Darstellung von Petzold durchscheint. Was auch immer die Verdienste von Foucault und den anderen ist, ich glaube, daß es kaum gelingen wird, eine psychotherapeutische Theorie zu formulieren, die nicht wenigstens einen der Begriffe des Subjektes, des Ich oder des Selbst bemüht. Petzold selbst führt in seiner Beschreibung des integrativen Ansatzes (S. 59f) Begriffe wie "Leibselbst", "Ichfunktionen", "Persönlichkeit" und "selbstreflexives Subjekt" ein. Eigenartigerweise hat Petzold einige Zeilen vorher Goodmans Untergliederung des Selbst in "Ich, Es und Persönlichkeit" als "verkomplizierende" Betrachtungsweise gegeißelt, die die holistisch-prozessuale Betrachtungsweise nach Perls gar nicht nötig habe.

 

4. Ist Perls unpolitisch?

Petzold folgt mir ganz in der Darstellung, daß Fritz Perls ein therapeutischer Praktiker mit einigen genialen theoretischen Geistesblitzen sei und Paul Goodman ein gesellschaftskritischer Denker ohne ausgereifte therapeutische Praxis. Wenn ich dies in so erstarrter Form widergespiegelt bekomme, erschrecke ich mich ein wenig über das, was ich da angerichtet habe. Angesichts der heutigen berufsständischen Praxis von Gestalttherapie, die um Anerkennung bettelt und sich den Institutionen gegenüber in den Staub wirft, war Fritz Perls ausgeprägt gesellschaftskritisch engagiert. In dem Aufsatz von Vincent Miller wird dies - mit empörend negativer Bewertung - sehr deutlich. Miller ist genau der Typ "Gestalt"-Therapeut, der diesen Ansatz stromlinienförmig in den klinischen Anpassungsprozeß der Institutionen integrieren möchte: Wer die engen Grenzen des psychotherapeutischen Auftrages, die individuellen Symptome zu behandeln, überschreitet, ist ungeliebter Utopist und Weltveränderer. (Befremdlich nur, daß Miller selbst den gegenwärtigen Zustand der amerikanischen Kultur beklagt - und damit natürlich auch die Grenzen der Psychotherapie sprengt!)

Miller zeigt, wie stark Fritz Perls seine Arbeit mit der Intention der gesellschaftlichen Veränderung verbunden hat. Miller tut dies als Zeiterscheinung der 1960er Jahre ab. Dies geht leider darum so leicht, weil Perls seine gesellschaftskritischen Ansprüche nicht systematisch entfaltet und integriert in seinem therapeutischen Ansatz dargestellt hat. Diese Integration findet sich allerdings sehr gut in dem Buch "Gestalt Therapy" von 1952, das Goodman schrieb. Man kann in dem Buch "Gestalt Therapy" nicht zwischen psychotherapeutischer und gesellschaftskritischer Theorie unterscheiden, denn beides ist ineinander verwoben - besonders deutlich wird das in den zentralen Kapiteln zur Aggression (Kap 8 und 9): Aggressionshemmung als gesellschaftliche Bedingung, die auf der individuellen Ebene entweder zur Kraftlosigkeit oder zur Destruktivität (sich selbst oder anderen gegenüber) führt.

Der Unterschied zwischen Goodman und Perls war nicht das gesellschaftskritische Engagement, sondern der Grad der Integration dieses Engagements in die (therapeutische) Theorie. Darum sehe ich große Chancen für eine Versöhnung zwischen Perls und Goodman.

Die aktuelle Diskussion um die Eskalation rechter Gewalt ist ein gutes Beispiel für die Tragfähigkeit eines integrierten Goodman-Perls-Ansatzes. Die rechte Gewalt schreckt die Gesellschaft ebenso wie in den 1960er Jahren die linke, nur mit dem Unterschied, daß die rechten Gewalttäter anders als die linken nicht in der Lage sind, ihr Anliegen in einer theoretisch diskutablen Form vorzubringen. Das Entsetzen der formierten Gesellschaft richtet sich gegen die Aggressivität der rechten Gewalttäter, die sie mit aller Macht zu unterbinden versucht. Demgegenüber kann man mit Goodman analysieren, daß es der Mangel an Einfluß auf das eigene Leben ist, der die berechtigte Aggressivität in scheinbar sinnlose Destruktivität verwandelt. Natürlich hilft diese Analyse allein jedoch nicht im Umgang mit rechten Gewaltttätern. Eine Form des Umgang, die sich aus der Praxis von Fritz Perls ableiten ließe, könnte darin bestehen, nicht die aggressive Energie noch weiter unterdrücken zu wollen (und damit die verzweifelte Deskruktivität zu verschärfen), sondern auf das Ziel, das eigene Leben positiv zu gestalten, zu richten. Ein solcher Umgang wäre allerdings nicht im Auftrag der geschockten Gesellschaft zu leisten, denn er stört die formierte Ordnung nicht weniger als die rechte Gewalt, vielmehr würde ein solcher Umgang die formierte Ordnung nachhaltig aufbrechen und verändern. Es ist nicht zu erwarten, daß die reichlich fließende Staatsknete für die Anpassung der "Rechten" in Projekte im Perls'schen Geist fließen - dies wäre auch nicht zu begrüßen, denn es ist Institutionen unmöglich, im Perls'schen Geist zu handeln, ohne ihn zu zerstören.

 

5. Schlußbemerkung

Weil es den Namen dieser Zeitschrift ("Gestaltkritik")betrifft, möchte ich eine Detailfrage von Petzold aufnehmen und beantworten. Verschiedentlich hat Petzold auch schon früher angemerkt, der Begriff "Gestaltkritik" sei "sprachlogisch inkonsistent", weil man nicht wisse, wer da was kritisiere. Die Bedeutung von "Gestaltkritik" erschließt sich ganz schnell, wenn man an "Literaturkritik" denkt. In der Literaturkritik geht es ja wohl darum, daß mit einem - meist impliziten - Maßstab guter Literatur ein bestimmtes literarisches Produkt kritisch betrachtet wird. In analoger Weise geht es in der "Gestaltkritik" darum, mit dem Maßstab der "guten Gestalt(bildung)" konkrete Gestaltbildungsprozesse im einzelnen und in der Gesellschaft kritisch zu untersuchen. Alles logo?

 

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 

Stefan Blankertz

geb. 1956, Promotion 1983 in Soziologie, Habilitation 1987 in Erziehungswissenschaften.

Autor zahlreicher philosophischer, soziologischer und politischer Essays und Bücher, z.B.: »Die Therapie der Gesellschaft. Perspektiven zur Jahrtausendwende« (Peter Hammer Verlag 1998, vgl. Seite 27).

Zusammen mit seiner Frau Isabell leitet er die »Pro Change PersonalentwicklungsGmbH« in Pulheim bei Köln. Aus dieser Tätigkeit entstand folgendes Buch: »Wenn der Chef das Problem ist. Leitfaden zur Lösungsfindung« (Klartext Verlag 1999).

Am »Gestalt-Institut Köln« betreut er die theoretische Ausbildung von GestalttherapeutInnen.

Hieraus sind u.a. die folgenden Bücher hervorgegangen:

»Gestalt begreifen. Ein Arbeitsbuch zur Theorie der Gestalttherapie« - von dem Prof. Hilarion Petzold im nebenstehend erwähnten Beitrag schreibt: »Der Text von Blankertz könnte, wenn man sich mit ihm bzw. aus dem, was aus ihm folgen müßte, gründlich auseinandersetzen würde, einer der wichtigsten Texte aus neuerer Zeit für die Gestalttherapie und die Gestaltszene werden.«

Als leicht verständliche Einführung in die Praxis und Theorie der Gestalttherapie liegt außerdem vor: Erhard Doubrawa und Stefan Blankertz: »Einladung zur Gestalttherapie. Eine Einführung mit Beispielen« (Peter Hammer Verlag 2000).

Und schließlich: »Die Therapie der Gesellschaft. Perspektiven zur Jahrtausendwende « (Peter Hammer Verlag 1999).

 

 

 

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