Cover: Lexikon der Gestalttherapie

Stefan Blankertz & Erhard Doubrawa
Stichworte: Gestaltwelle, GTI Gestalttypen-Indikator
Aus unserem Gestalt-Lexikon

Lexikon der Gestalttherapie
Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa

Das »Lexikon der Gestalttherapie« beschreibt in übersichtlicher und leicht zugänglicher Form die gestalttherapeutischen Fachbegriffe (u.a. Aggression, Deflektion, Introjektion, Konfluenz, Kontakt, Projektion, Retroflektion, Selbst). Es stellt die Ideen und das Leben der Begründer (Fritz Perls, Laura Perls und Paul Goodman) sowie die Weiterentwicklung der Gestalttherapie bis heute dar. Außerdem beleuchtet es die vielfältigen Wurzeln der Gestalttherapie wie Gestaltpsychologie, Psychoanalyse, Phänomenologie, Existentialismus, Holismus, Sigmund Freud, Wilhelm Reich, Martin Buber usw. Dieses Lexikon ist die erste lexikalisch-systematische Aufarbeitung der Gestalttherapie und ein unverzichtbares Hilfsmittel für jeden, der sich mit den Erkenntnissen dieses Therapieansatzes beschäftigen möchte.

Weitere Informationen zu diesem Buch und zahlreiche Artikel in voller Länge finden Sie online unter: http://www.gestalttherapie-lexikon.de

Gestalt-Institut Köln / GIK Bildungswerkstatt, 2005; 347 Seiten, Paperback, Format: A5, 19.90 Euro
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  Stefan Blankertz & Erhard Doubrawa
Stichworte: Gestaltwelle, GTI Gestalttypen-Indikator
Aus unserem Gestalt-Lexikon

 

Gestaltwelle

Alternativ verwendete Begriffe sind u.a.: Kontakt- und Erfahrungszyklus, Kontakt/Rück­zugs-Zyklus, Stoffwechsel-Zyklus, der Zyklus des Erlebens oder des Gewahrseins, die Kontaktphasen.

Die Idee der Gestaltwelle erwächst aus der Beschreibung des Kontaktes von Perls, Hefferline und Goodman in »Gestalttherapie«, die einerseits ein zeitliches Nacheinander von Phasen annimmt und andererseits ein Ansteigen und Abflachen des Energieniveaus.

Von Joseph Zinker stammt die ers­te Formulierung der »Gestalt­welle«?(Gestalttherapie als kreativer Prozess, 1977). Es gibt auch Visualisierungen, die sich des Kreises bedienen (darum »Zyklus«), wodurch jedoch weder die Weiter­bewegung noch die Energieniveaus adäquat zur Darstellung kommen.

Auf den ersten Blick finden sich bei Perls, Hefferline, Goodman (PHG, 1951, Band »Grundlagen«, Inhaltsverzeichnis) vier Phasen oder Stadien des Kontaktes, nämlich

1. Vorkontakt,
2. Kontaktanbahnung,
3. Kontaktvollzug und
4. Nachkontakt.

Die Phasen 1 sowie 2 werden von Perls, Hefferline, Goodman im Kapitel 12 und die Phasen 3 sowie 4 im Kapitel 13 behandelt. Die Phase des höchsten Energie­niveaus ist der Kontaktvollzug. Diese Einteilung ist auch zur gängigen Grundlage geworden.

Ein genaueres Hinsehen jedoch zeigt, dass das Vier-Phasen-Schema noch nicht das letzte Wort sein kann. Perls, Hefferline, Goodman selbst unterteilen die Phase »Kontakt­anbahnung« in zwei Schritte (ebd., S. 199), nämlich »Erregung des Verlangens« und »Auswählen und ­Verwerfen von Möglichkeiten«. Die Kontaktanbahnung besteht demnach zum ersten in der Kontaktaufnahme mit dem eigenen Bedürfnis und zum zweiten der Kontaktaufnahme mit der Umwelt. Da sich die Bewegungsrichtung vom Selbst auf die Umwelt ändert und ein deut­liches zeitliches Nacheinander besteht, liegt es nahe, von zwei getrennten Phasen zu sprechen.

Wenden wir uns der Beschreibung des Nachkontaktes zu (ebd., S. 218f), so ist er als Phase der Verdauung, Assimilation und Integration gekennzeichnet, eine Phase, die im Hintergrund abläuft und meist kein scharfes Gewahrsein herausfordert. Allerdings erstaunt die Kennzeichnung dieser Phase als »Nachkontakt«, da in der Verdauung doch ein sehr aktives (wenn auch unbewusstes) Kontaktverhältnis zwischen Organ und Aufgenommenem besteht. Außerdem fehlt die abschließende Bewertung, die eigentliche Befriedigung.

Darum haben wir ein sechsphasiges Schema der Gestaltwelle entwickelt, das sich nicht an den Wortlaut, aber an die inhaltliche Argumentation von Perls, Hefferline, Goodman anlehnt (interessanterweise hatte Fritz Perls 1944, S. 55 u. 84, bereits einen sechsphasigen so genannten »Stoffwechsel-Zyklus« beschrieben; siehe auch die dortige Darstellung der Entwicklungsgeschichte):

1. Vorkontakt. Ein Bedürfnis entsteht langsam, indem es sich bemerkbar macht. Das genaue Bedürfnis ist noch unklar, zunächst ist da nur Unruhe, Unwohlsein, unbestimmte Erregung usw., die dazu dient, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dieses Stadium wird »Vorkontakt« genannt, weil ein konkreter Kontakt mit irgendetwas noch nicht besteht.

2. Kontakt mit dem eigenen Bedürfnis (= Kontaktanbahnung Teil A nach PHG). Dann bemerkt man das sich intensivierende Bedürfnis; bemerkt z.B.: »Ich habe Hunger.« In diesem Stadium beginnt der Kontakt. Zunächst ist dies der Kontakt »mit sich selbst« bzw. mit seinem Bedürfnis. Die Erregung nimmt zu, es beginnt sich die Energie aufzubauen, die notwendig ist, um das Bedürfnis befriedigen zu können.

3. Kontakt mit der Umwelt: Sehen und Tasten = Auswählen und Beurteilen (= Kontaktanbahnung Teil B nach PHG). Das folgende Stadium ist die Kontaktaufnahme mit der Umwelt. Man erforscht die Möglichkeiten, das Bedürfnis zu befriedigen, z.B. das Vorhandensein von etwas, das den Hunger stillt. Dies kann etwa durch Blickkontakt geschehen oder durch den Blick in die Erinnerung (»Ist wohl noch was Leckeres im Kühlschrank?«). Die Erwartung, das Bedürfnis befriedigen zu können, steigert die Energie, die zur Verfügung gestellt wird, fast auf den Höhepunkt.

4. Kontakt mit der Umwelt: Handeln, Eingreifen, Umgestalten, Zerlegen = Aggression (= Kontaktvollzug nach PHG). Darauf folgt der ­direkte Kontakt: Man tut, was das Bedürfnis sagt und wozu die Umwelt eine Ressource bereit hält. Dieses Stadium kann lange anhalten, wenn die Befriedigung des Bedürfnisses schwierig ist (beispielsweise muss erst etwas Essbares eingekauft werden). Die aggressive Umgestaltung der Umwelt in der Weise, die das Bedürfnis zu befriedigen erlaubt, bedarf der Energie. Es kann aufgrund der sich auftuenden Schwierigkeiten noch weitere Energie mobilisiert werden, jedoch verbraucht sie sich schnell. Der Höhepunkt der Erregung wird erreicht und dann überschritten.

5. Kontakt mit der Umwelt: Assimilation bzw. Integration (= Nachkontakt bei PHG). Schließlich muss, um das Bedürfnis zu befriedigen, die Umwelt-Ressource (= Nahrung) aufgenommen, umgestaltet und mit dem eigenen Körper »vermischt« (= verdaut) werden. Mit der Assimilation flaut die Erregung schnell ab.

6. Nachkontakt. Wenn das Bedürfnis schließlich erfüllt ist, stellt sich Befriedigung ein. Damit ist die »Welle« abgeschlossen – eine »Gestalt hat sich geschlossen«. Die Erregung sinkt zurück auf den Nullpunkt, der Organismus ist bereit für die nächste »Welle«. (Fehlt als separat ausgewiesene Phase bei PHG.)

Eine Frage, die lange Zeit kaum behandelt worden ist, betrifft das Verhältnis der Kontaktstörungen (Deflektion, Konfluenz, Projektion, Retroflektion und Introjektion) zu den Phasen der Gestaltwelle. Welche Kontaktstörung findet wo, d.h. in welcher Phase der Welle statt? Eine Antwort auf diese Frage haben wir im »GTI-Modell« der Gestaltwelle versucht (siehe Stichwort GTI – Gestalttypen-Indikator).

Siehe auch: Deflektion; GTI; Konfluenz; Kontaktstörungen; Introjektion; Projektion; Retroflektion; StoffwechselZyklus

 

GTI Gestalttypen-Indikator

Abkürzung von »Gestalttypen-Indikator«. Durch Stefan Blankertz im Kontext des Gestalt-Instituts Köln entwickeltes Diagnose-Instrument, bestehend aus Fragebogen und Online-Auswertung.

Die theoretische Grundlage des GTI ist die Verzahnung der Gestaltwelle

1. Vorkontakt
2. Kontakt mit sich selbst
3. Kontakt mit der Umwelt
4. Aggression
5. Assimilation
6. Nachkontakt

mit den Kontaktstörungen (Deflektion, Konfluenz, Projektion, Retroflektion sowie Introjektion).

Die Frage, ob alle Kontaktstörungen in jeder Phase auftreten können, wird im GTI-Modell der Gestaltwelle verneint; denn z.B. die Introjektion als Schlucken von Unzerkautem setzt ja bereits eine Bewegung auf ein Objekt, mithin Aggression voraus; die Projektion als Übertragen eigener Anteile in die Umwelt setzt voraus, dass Kontakt mit der Umwelt aufgenommen worden ist.

Eine systematische Durchführung dieser Zuordnung sieht dann folgendermaßen aus:

 

Deflektion: Die Deflektion tritt als Kontakthemmung im Vorkontakt der Gestaltwelle auf, indem das Entstehen des Bedürfnisses unterdrückt wird. Es herrscht ein »Gefühl der Gefühllosigkeit«. Umgekehrt drückt sie sich darin aus, dass kein »Abschalten« möglich zu sein scheint; es kommt zu einer ununter­brochenen (Selbst- / Fremd-) Beobachtung.

Im Kontakt mit dem eigenen ­Bedürfnis bedeutet Deflektion, dass man auf die Befriedigung des wahrgenommenen Bedürfnisses verzichtet, ohne weiter zu prüfen, ob es befriedigt werden könnte. Körpersprachlich kann sich das im Zähne-Zusammenbeißen zeigen. Die umgekehrte Form der Deflektion ist Un­fähigkeit zum Verzichten, nämlich die Schwierigkeit, ein Bedürfnis im Interesse eines höheren Zieles aufzuschieben.

Im Stadium des Kontakts mit der Umwelt zieht man sich bei Deflektion zurück, weil man meint, keine Ressourcen zu haben bzw. zu finden. Es scheint, als existiere die Umwelt nicht. Man verschließt sich, »macht dicht«, vermeidet den Blickkontakt, oder aber versucht, sich grenzenlos offen zu halten, kann deshalb nie »dabeibleiben« und erliegt der ständigen Ablenkung durch Neues.

Während der Aggressions-Phase besteht Deflektion in einem resignierten Aufgeben, anstatt energisch an eine Sache heranzugehen (Gefühl urplötzlicher Kraftlosigkeit). Achtung: Diese Deflektion richtet sich sehr aggressiv auch gegen andere. Umgekehrt kann die Deflektion hier zu unbesonnener Risikobereitschaft werden, wenn man vor der Aufgabe ausweicht, umsichtig die eigenen Möglichkeiten zu prüfen.

Deflektion – Abwendung vom Kontakt – ist nur solange möglich, bis der Kontakt hergestellt ist, sodass man im Stadium der Assimilation und im Nachkontakt der Gestaltwelle nicht deflektieren kann: Der Kontakt ist dann schon vollzogen und es ist nicht mehr möglich, ihm (gänzlich) auszuweichen. (Die Assimilation zu vermeiden ist Introjektion, d.h. das Kontaktierte nicht zu zerkleinern und zu verarbeiten. Im Nachkontakt das Geschehene nicht anzuschauen ist Retroflektion, weil es auf einer un­realistischen negativen oder positiven Selbstbewertung basiert.)

 

Konfluenz: Ebenfalls schon im Vorkontakt kann Konfluenz den Kontakt hemmen, nämlich indem man sich sagt, man habe das gleiche Bedürfnis wie die Mitmenschen. Beispiel: Peer-Gruppen-Verhalten.

Umgekehrt kann sich Konfluenz auch als Unfähigkeit zur Anpassung, dem »Dagegensein aus Prinzip« ausdrücken. Denn in dem Dagegensein bleibt die Abhängigkeit von der Gruppenmeinung bestehen, wenn auch in negativer Ausprägung. Sowohl der »Klassenclown« als auch der »Querulant« sind von der Reaktion des Publikums abhängig, nur dass sie nicht auf Zustimmung, sondern auf Ablehnung setzen.

Konfluenz kann alternativ in der Aggressions-Phase auftreten, nämlich wenn es erforderlich wird, die Umwelt seinen Bedürfnissen entsprechend aggressiv umzugestalten. Achtung: Andererseits wird in der Konfluenz jedes Abweichen als »den Frieden störend« angesehen und moralisch verworfen: Auf diese indirekte Art wird Aggression ausgeübt. Beispiel: Eine Gruppe von Freunden hat sich auf ein Ausflugsziel geeinigt. Einer aus der Gruppe, Rolf, hat dafür seinen eigenen Wunsch zurückgestellt. Später wird von einem anderen Mitglied die Frage aufgeworfen, ob man das Ziel nicht doch ändern könne. Jetzt fordert Rolf, sich an die einmal getroffene Abmachung zu halten: »Sonst verdirbst du ja noch den ganzen Tag, auf den sich doch alle schon so gefreut haben.«

Im Stadium des Kontaktes mit sich selbst kann Konfluenz nicht stattfinden, weil in diesem Stadium die Außenwelt noch keine Rolle spielt; im folgenden Stadium, der Kontaktaufnahme mit der Umwelt, findet sie nicht statt, weil es um die Auswahl und Bewertung der Umweltmaterialien geht, nicht um das eigene Verhältnis zu ihnen. Im Stadium der Assimilation und im Nachkontakt geht es dann um die innere Verarbeitung des Kontaktes.

 

Projektion: Erst im Stadium der Kontaktaufnahme mit der Umwelt findet Projizieren statt. Denn Projektion setzt einerseits den Kontakt mit der Umwelt voraus, sonst könnte der Umwelt nichts unterstellt werden. Demnach kommen die ersten beiden Stadien (Vorkontakt und Kontakt mit sich selbst) nicht in Frage. Andererseits setzt die Aggression-Phase voraus, dass die Ressourcen der Umwelt eingeschätzt worden sind; demnach liegt die Projektion vor dem Stadium der Aggression. In der Assimilation-Phase geht es nicht mehr um die Umwelt, sondern um das, was zu Eigen gemacht worden ist, und der Nachkontakt nimmt eine Bewertung des Vorgangs, nicht der Ressourcen vor.

 

Retroflektion: Noch später, nämlich in der Aggression-Phase der Gestaltwelle, wird die Retroflektion vorgenommen, wenn man den Wunsch, das eigene Bedürfnis befriedigt zu sehen und den dafür eventuell notwendig einzugehenden Kon­flikt als verwerflich betrachtet. Achtung: Diese Retroflektion setzt indirekt auch andere unter Druck (ein extremes Beispiel ist die Drohung mit Selbstmord). Umgekehrt drückt sich Retroflektion als »sich reinwaschen« in der Unfähigkeit aus, Schuld auf sich zu nehmen. Beispiel: »Ich kann doch nichts dafür!« Diese Form der Retroflektion übrigens macht die Übernahme von Verantwortung unmöglich.

Eine Retroflektion kann auch im Nachkontakt vorgenommen werden: Man bewertet seine Handlung und die aus ihr folgende (mögliche) Befriedigung als moralisch schlecht. Beispiel: Jemand hat Erfolg, aber erlaubt sich nicht, sich darüber zu freuen. Oder man überschätzen sich und zeigt sich damit ebenso unfähig, sich realistisch zu bewerten. Beispiel: Jemand hat Misserfolg, aber er erlaubt sich nicht, einen Fehler einzugestehen, denn Schuld haben nur die anderen.

Die angemessene Verhaltensweise liegt in der Mitte (»Nullpunkt«, »Indifferenzpunkt« nach Friedlaender) zwischen den Extremen (Polaritäten), nämlich in der Fähigkeit, sowohl eventuelle eigene Schuld einzugestehen, als auch sich gegen ungerechte Schuldzuweisung zur Wehr zu setzen.

Erst im Stadium der Aggression kann retroflektiert werden, weil sie eine Bewegung voraussetzt, die auf diese Weise auf sich selbst umgelenkt werden kann. – Sie hat im Stadium der Assimilation keine Bedeutung, weil es bei der Integration oder Verarbeitung von etwas stets um etwas geht, das »man sich selbst antut«. Der Nachkontakt ist hingegen dasjenige, das der Retroflektion »allein gehört«, weil es dort um die Bewertung des Getanen geht, die immer einen Selbstbezug darstellt.

 

Introjektion: Das Introjizieren findet im fünften Stadium der Gestaltwelle statt, nämlich der Assimilation. Diese Zuordnung folgt aus den Definitionen der Assimilation und der Introjektion: Die Assimilation ist das »Verdauen« von Aufgenommenem, also von Nahrungsmitteln, Erlebnissen und Gedanken, Normen, Werten; als Introjektion wird ein Problem bei dieser Verarbeitung bezeichnet.

Im »Handbuch der Gestalttherapie« (R. Fuhr u.a. [Hg.], Göttingen 2001, S. 657) nimmt Bertram Müller allerdings eine andere als diese im GTI zugrundegelegte Zuordnung der Kontaktstörungen vor, die sich zugegebenermaßen näher an den Ausführungen von Perls, Hefferline und Goodman orientiert. Müller siedelt die Introjektion in der Phase der ansteigenden Erregung an, die er »Kontaktaufnahme« nennt und die unserem »Kontakt mit der Umwelt« entspricht.

Dies kann abgeleitet werden aus einem Satz von Perls, Hefferline, Goodman: »Die Unterbrechung [des Kontaktes] kann während der Erregung eintreten; das Selbst introjiziert dann, es ersetzt einen eigenen möglichen Trieb oder Wunsch durch den eines anderen« (PHG, Gestalttherapie, 1951, Band »Grund­lagen«, S. 252).

Dieser Satz passt jedoch nicht gut zu der Definition der Introjektion als der Nichtzerkleinerung des Aufgenommenen. Was gemeint sein könnte, ist einige Seiten später kurz angedeutet (ebd., S. 263): »Introjektion. Etwas von der Umwelt ist im Organismus.« Dieses »etwas« ist ein Introjekt, nämlich das, was im Organismus zurückbleibt, wenn das Aufgenommene nicht zerkleinert wurde. Die Nichtzerkleinerung kann definitorisch nur stattfinden, wenn etwas aufgenommen worden ist, nicht vorher. Allerdings treiben die Introjekte dann ihr Unwesen, vor allem durch Störung des Kontaktes.

Insofern liegt jedem Kontaktproblem im Ursprung zunächst eine Introjektion zugrunde: Eine Situation, eine Erfahrung, eine Zwangslage etc. kann nicht »verdaut-verarbeitet« werden.

Unter dem Druck negativer Erfahrungen wird das Introjizieren jedoch oftmals gewohnheitsmäßig und führt dann dazu, dass man auch dann introjiziert, wenn es nicht nötig und gerade nicht hilfreich ist.

Diese gewohnheitsmäßige Introjektion kann entweder bedeuten, dass man immer weiter introjiziert oder dass man introjizierte Werte oder Normen in andere Formen von Kontaktproblemen umsetzt.

Beispiel: Wer als Kind die Erfahrung gemacht hat, dass derjenige stigmatisiert wird, der sich von anderen unterscheidet, kann dieses Introjekt in ein »aggressives« Streben nach Konfluenz (= von der Umwelt nicht unterscheidbar sein wollen) investieren.

Da die Introjekte einem wie Fremdkörper »schwer im Magen liegen«, geschieht es häufig auch, dass man sich von ihnen »distanziert«, indem man es so erlebt, als seien sie gar nicht im eigenen Körper/Geist verankert, sondern würden von der Außenwelt an einen herangetragen (= Projektion).

Beispiel: Der Erwachsene, der die obige Erfahrung gemacht hat, erlebt es so, als habe nicht er die Norm in sich, dass er sich nie von der Umgebung unterscheiden dürfe, sondern dass die Umgebung fortwährend den Druck auf ihn ausüben würde, sich konform zu verhalten, auch wenn dies gar nicht (mehr) stimmt. Er empfindet Konfluenz also nicht als (introjizierte) Norm, sondern projiziert sie nach außen, d.h. unterstellt der Umwelt, nach Konfluenz zu verlangen.

 

Die Gestaltwelle nach dem GTI-Modell: Nach der Zuordnung der Kontaktstörungen zur Gestaltwelle sieht sie dann so aus:

 

1. Störung im Vorkontakt.

Deflektion: Wer sich in diesem Stadium zurückzieht, also deflektiert, meint, von seiner Kraft verlassen worden zu sein.

Konfluenz: Wer die Wahrnehmung seines Bedürfnisses durch Konfluenz stört (also indem er in übertriebener Weise sein Bedürfnis zugunsten anderer zurückstellt), noch bevor er es kennt, wird das Gefühl entwickeln, von den Mitmenschen (oder von der »Situation«) »aufgefressen« zu werden.

Neben übertriebener Anpassung kann übrigens auch das polare Gegenteil, die übertriebene Abgrenzung, als Form der Konfluenz angesehen werden. Wer sich zwanghaft abgrenzt, handelt nicht autonom, sondern bleibt stets auf das bezogen, wovon er sich abgrenzt.

Die Reihenfolge Deflektion-Konfluenz ist nicht beliebig: Noch vor dem ersten undeutlichen Gewahrwerden eines Bedürfnisses kann man sich durch Deflektion taub machen. Konfluenz setzt zumindest voraus, dass man das Aufkommen eines Bedürfnisses zulässt, wenn man es auch durch gleichsam fremde Bedürfnisse ersetzt.

 

2. Störung im Kontakt mit seinem Bedürfnis

Deflektion: Wer an dieser Stelle deflektiert, wird sich selbst fremd, denn er weigert sich, sein Bedürfnis richtig wahrzunehmen. Darunter fällt neben dem augenfälligen Verzicht auch das Nachgeben gegenüber jedem Bedürfnis, sodass keine sinnvolle Priorisierung vorgenommen wird. Mit der Befriedigung untergeordneter Bedürfnisse kann von der Nichtbefriedigung des übergeordneten Bedürfnisses abgelenkt werden.

 

3. Störung im Kontakt mit der Umwelt

Deflektion: Die Weigerung, seine Umwelt richtig wahrzunehmen, kann durch ein Wegschauen geschehen. Da man das, was man nicht anschaut, auch nicht kennen lernen kann, wird einem dann die Umwelt als sehr »fremd« erscheinen.

Projektion: Oder diese Weigerung geschieht durch ein »falsches« Hin­schauen (Projektion). Wer das tut, wird schnell behaupten, das seine Umwelt ihn »anlügt«, da sich immer herausstellt, dass die Dinge nicht ganz so sind, wie angenommen wurde. Die Projektion kann die Umwelt ungeprüft negativ oder positiv erscheinen lassen.

Auch hier steht die Deflektion wieder an erster Stelle, denn die Umwelt gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen, ist das zeitlich frühere, als die Umwelt verzerrt wahrzunehmen.

 

4. Störung im aggressiven Kontakt

Deflektion: Wer dem aggressiven Kontakt aus dem Weg geht, indem er sich zurückzieht, kehrt der Umwelt den Rücken zu und sagt: »Ich will damit nichts zu tun haben.« Die Mitmenschen werden dies übrigens als aggressiven Akt werten und sich aktiv zurück­gestoßen fühlen. Die Worte, mit denen ein solches Ver­halten gekennzeichnet wird, sind »Arroganz« und »Überheblichkeit«. Diese Deflektion kann mitunter auch als hemmungslose Risiko­bereitschaft erscheinen, weil keine realistische Einschätzung vorgenommen wird.

Retroflektion: Wer an die Stelle des aggressiven Kontaktes die Retroflektion setzt, also sich bestraft (oder belohnt), wird das Selbstbild entwickeln, »böse« (oder »gut«) zu sein. Dies gilt übrigens auch für Menschen, die sich destruktiv nach außen wenden: Diese Destruktivität ist eine indirekte Selbstbestrafung vermit­tels der Umweltreaktion (oder eine Selbstbelohnung, indem man das Gefühl entwickelt, gleichsam über der moralischen Verantwortlichkeit zu stehen).

Konfluenz: Wer an die Stelle des aggressiven Kontaktes die Konfluenz setzt, also mit der Umwelt »verschmelzen« will, wird das Selbstbild entwickeln, in übersteigertem Maße »lieb« zu sein. Auch das kann zu Destruktivität führen: Denn derjenige, der sich als besonders »lieb« (hilfsbereit, zuvorkommend, bescheiden usw.) ansieht, reagiert auf Kritik, Angriff oder Ablehnung mitunter übertrieben heftig (siehe »Konfluenzvertrag«).

Die Deflektion steht an erster Stelle, weil sie die aggressive Bewegung vermeidet; die Retroflektion lässt die Erregung der Aggression zu, leitet sie aber auf das Selbst zurück anstatt in die Umwelt; die Konfluenz schließlich meint, die eigene Aggression ganz in der Umwelt aufgehen lassen zu können.

 

5. Störung der Assimilation oder Integration

Introjektion: Das nicht Integrierte oder Assimilierte, das man aufnimmt, nährt schlecht, befriedigt gleichsam nur »halb«. Die Folge davon ist entweder, dass man gierig mehr haben will, weil man annimmt, dann das Gefühl des Genährtseins zu bekommen, oder dass man sich voll Ekel abwendet, weil einem von der Aufnahme schlecht geworden ist (man hat etwas aufgenommen, ohne es auf seine »Bekömmlichkeit« geprüft zu haben).

 

6. Störung im Nachkontakt

Retroflektion: Weil man meint, Befriedigung sei schlecht, verbietet man sich, dass das, was man aufgenommen hat, auch Befriedigung auslöst: Das ist dann die »verdiente« Strafe. Oder umgekehrt: Wenn man meint, von der Umwelt nicht die Anerkennung zu erhalten, die man verdient, spricht man sie sich selbst zu.

 

[Das Stichwort „GTI“ ist gekürzt.]

 Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 
Die Autoren: Doubrawa und Blankertz (rechts)

Foto: Doubrawa und Blankertz (rechts)Foto: Hagen Willsch

Stefan Blankertz ist Sozialwissenschaftler und leitet zusammen mit seiner Frau Isabell das Institut »Pro Change« für Personalentwicklung. Im Gestalt-Institut Köln (GIK) wirkt er in der Gestalttherapie-Ausbildung und in der Coaching-Weiterbildung mit. Seine Erfahrungen daraus sind in den Band »Gestalt begreifen: Ein Arbeitsbuch zur Theorie der Gestalttherapie« eingeflossen, der im Peter Hammer Verlag veröffentlicht wurde. Auch sein Ratgeber »Wenn der Chef das Problem ist« ist dort erschienen.

Erhard Doubrawa arbeitet seit vielen Jahren als Gestalttherapeut. Er ist Gründer und Leiter des »Gestalt-Instituts Köln/GIK Bildungswerkstatt«, wo er auch als Ausbilder tätig ist. Außerdem gibt er die Gestalttherapie-Zeitschrift »Gestaltkritik« heraus. Im Peter Hammer Verlag ediert er zusammen mit seiner Frau Anke, die als niedergelassene Psychotherapeutin tätig ist, eine Reihe zur Theorie und Praxis der Gestalttherapie. Von ihm erschien dort u.a. »Die Seele berühren: Erzählte Gestalttherapie«.

Zusammen haben sie den Bestseller »Einladung zur Gestalttherapie: Eine Einführung mit Beispielen« (Peter Hammer Verlag) verfasst.


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