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Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa
Und ... was ist nun eigentlich Gestalttherapie?
Ein Essay


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 2-2004):

Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa
Und ... was ist nun eigentlich Gestalttherapie?
Ein Essay

 

Foto: Blankertz und DoubrawaErhard Doubrawa und Stefan Blankertz (rechts)

 

Gleichzeitig mit dieser Ausgabe der »Gestaltkritik« erscheint in unserer Edition des Gestalt-Instituts Köln/GIK Bildungswerkstatt die zweite Auflage des Klassikers von Fritz Perls »Was ist Gestalttherapie?«. Dieses Buch ist ein wichtiges historisches Dokument: Zum großen Teil erscheinen die hier veröffentlichten Texte des Mitbegründers der Gestalttherapie zum ersten Mal in Schriftform: Vorträge, Demonstrationen, ein wirklich außergewöhnliches Interview und schließlich seine autobiographischen Stichworte. Für die zweite Auflage dieses Buches haben Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa den folgenden Essay verfasst.

 

Hintergrund: Phänomenologie

Sind Sie, liebe Leserin, lieber Leser, enttäuscht darüber, dass Fritz Perls, der berühmte Therapeut, sich - scheinbar - weigert, Ihnen zu erklären, was Gestalttherapie denn nun eigentlich ist? So wie er es auch der Journalistin Adelaide Bry auf ihre - scheinbar - unschuldige Frage hin nicht darlegte, sondern sie anstatt dessen in eine therapeutische Situation bezüglich ihrer Flugangst verwickelte …

Die Frage der Journalistin war allerdings nur scheinbar unschuldig. Denn sie beinhaltet die Gefahr, nur zu glauben, was man erklärt bekommt, anstatt sich vielmehr darauf zu konzentrieren, was man wirklich wahrnimmt, erlebt oder erfährt. Auf diesem Hintergrund sagt Fritz Perls: Fragt mich bloß nicht, was Gestalttherapie ist, sondern schaut mir auf die Finger oder auf den Mund, und ihr werdet es sehen, hören, erleben. Damit setzt er übrigens stillschweigend auch voraus, dass es möglich ist, seine Arbeit mit- und nachzuvollziehen, also zu beschreiben, und in der Beschreibung die Struktur zu erkennen sowie den Zusammenhang zu begreifen. Allerdings empfand Fritz Perls es nicht als seine Aufgabe, diese Arbeit des Erkennens und Begreifens zu leisten. Er war der Praktiker, und schon der erste unter den Philosophen, der Grieche Sokrates, hatte erkannt, dass es zu nichts führt, den Handwerker danach zu befragen, was er da eigentlich treibe. Der Handwerker liefert nicht die Theorie, sondern das Beispiel.

Theorie wird dadurch nicht überflüssig, obgleich Fritz dies oberflächlich besehen behauptet. Erklärungen wie »Das ist so, weil …«, die typische Form von Theorie, bezeichnet er als »Geschwafel« der Kategorie »Bullshit« (im Tonband-Transkript VII in seinem Buch: »Was ist Gestalttherapie?«). Weiter sagt er:

»Geschwafel hat natürlich gar keine Bedeutung. Worte lügen und überzeugen, die Stimme ist allerdings echt.«

Diese Worte haben mehr Bedeutung, als ein flüchtiges Lesen deutlich macht. Spätestens bei den »autobiografischen Stichworten« bekommt man einen kleinen Eindruck von dem, was dieser Mann alles gelesen und gedacht hat. Er ist kein Anti-Intellektueller, der sagt, man brauche sich nicht mit Theorien zu beschäftigen, beileibe nicht! Um die zitierten Worte zu verstehen, müssen wir uns vor Augen halten, dass Fritz im Deutschland der 1920er Jahre stark von der damals hochaktuellen philosophischen Strömung der »Phänomenologie« beeinflusst wurde.

»Phänomenologie« bedeutet dabei nicht, einfach die Dinge als Erscheinungen (»Phänomene«) zu beschreiben, ohne sich Gedanken über die theoretischen Zusammenhänge zu machen. Vielmehr ist »Phänomenologie« ein erkenntnistheoretisches Programm. Kurz gesagt beinhaltet es u.a. Folgendes: Wir können alles das bezweifeln, was wir als »objektive« Dinge bezeichnen. Schließlich können uns unsere Sinne täuschen. Von den meisten Dingen allerdings wissen wir sogar nur vermittelt durch das, was andere sagen; und auch sie können sich irren oder sogar lügen. Von absoluter und unbezweifelbarer Sicherheit ist dagegen, dass wir wahrnehmen. Ein Beispiel ist der von zwei Zeugen beobachtete Autounfall. Beide berichten einen anderen Hergang. Man kann also durchaus bezweifeln, wenn einer der Zeugen am Ende seines Berichtes sagt: »Dies ist passiert.« Nicht bezweifeln können wir, dass er etwas wahrgenommen hat. Sofern er nicht lügt, also uns etwas anderes sagt, als was er wahrgenommen hat, ist es als Wahrnehmung auch dann wahr, wenn es nicht mit dem objektiven Hergang übereinstimmt. Wobei es sein kann, dass wir über den objektiven Hergang gar nichts wissen oder wissen können.

Die Phänomenologie nimmt den Begriff »Wahrnehmung« ernst: Wahr ist, was wir für wahr »nehmen«. Etwas flapsig, wie es seiner Art entsprach, drückt Fritz dies aus, indem er sagt, Worte seien Geschwafel ohne (objektive) Bedeutung. (Einen sehr guten Überblick über das erkenntnistheoretische phänomenologische Programm gibt: Teresia Benedicta a Cruce OCD [Edith Stein], Einführung in die Philosophie, 1932, Freiburg 1991.)

Fritz Perls hat aus jenem erkenntnistheoretischen ein psychotherapeutisches Programm gemacht, das auch dann noch gültig bleibt, wenn man die Phänomenologie als Erkenntnistheorie nicht als das letzte Wort ansieht: Berichtet ein Klient beispielsweise über seine Kindheit, ist es weniger hilfreich, diesen Bericht wie eine Repräsentation des objektiven Hergangs zu behandeln. Der Therapeut kann nicht wissen, was »wirklich« stattgefunden hat, und dies ist im Zweifel auch nicht erheblich. Erheblich ist dagegen, wie der Klient seine Kindheit in dem Moment, in welchem er sie dem Therapeuten berichtet, wahrnimmt. Der Therapeut kommt in Teufels Küche, sollte er versuchen herauszufinden, ob etwa ein bestimmtes traumatisierendes Erlebnis wirklich stattgefunden hat, weil er dann Detektiv spielen und außerdem die Worte des Klienten anzweifeln müsste. Es ist allerdings auch kein sinnvoller Ausweg, dem Klienten einfach »alles zu glauben«, was er erzählt. Der Weg, den Fritz Perls vorgeschlagen hat, besteht darin, sich mit dem Wie des Berichtes zu beschäftigen, nicht so sehr mit dem Was, z.B.: Der Klient sagt, er sei traurig über seine Kindheit, aber seine Stimme ist anklagend. - Das meinte Fritz mit »die Stimme ist echt«.

Doch auch hier müssen wir genau lesen. Es heißt nicht, dass die Stimme wahr sei oder die Wahrheit repräsentiere. Denn auch der Therapeut unterliegt dem phänomenologischen Programm. Er darf nicht behaupten, die Stimme seines Klienten sei objektiv gesehen »anklagend« und daraus Schlüsse ziehen: »Klient spricht mit anklagender Stimme, daraus folgt dies oder das«. Vielmehr kann der Therapeut nur für sich beanspruchen, dass er die Stimme des Klienten als anklagend wahrnimmt. Diese Wahrnehmung kann er dem Klienten zum Beispiel zur Verfügung stellen. Daraus kann nach gestaltischer Auffassung ein therapeutisches Gespräch erwachsen.

Damit hat Fritz Perls die Beziehung zwischen Klient und Therapeut neu definiert. Der Klient teilt nicht dem Therapeuten etwas mit, das der Therapeut mit Hilfe seines Expertenwissens objektiv interpretiert, um die richtige Behandlung einzuleiten. In einem solchen Setting ist der Therapeut gar nicht als Person anwesend. Die gestalttherapeutische Haltung besteht dagegen darin, dass der Therapeut sich ebenso wie der Klient als Person einbringt. Der Prozess der Therapie kommt als Austausch von Wahrnehmungen zustande: Dem Klienten wird, wie gesagt, die Wahrnehmung des Therapeuten zur Verfügung gestellt.

Diese gestalttherapeutische Haltung entspringt nicht einer zufälligen oder auch nur intuitiven Eingebung, die Fritz Perls hatte, sondern folgt dem phänomenologischen Programm. Insofern bildet Theorie einen notwendigen Hintergrund nicht nur für das Verständnis des Konzeptes, sondern auch für das gestalttherapeutische Vorgehen insgesamt.

 

Eine Stimme aus dem Off

Dass wir zu Beginn an den Begriff »Stimme« angeknüpft haben, ist keine Willkür. Denn den Transkripten, aus denen das vorliegende Buch von Fritz Perls zum großen Teil besteht, fehlt naturgemäß die Dimension der Stimme. In Therapeutenkreisen, auch in denen von Gestalttherapeuten, wird bisweilen auf die »scharfe« oder »harte« Form therapeutischer Interventionen Bezug genommen, die Fritz Perls gepflegt haben soll. Manche gehen so weit, ihm eine »oft unmenschliche Art, mit seinen Klienten zu arbeiten«, vorzuwerfen. Ist es Ihnen beim Lesen auch so ergangen?

Um aus den Tonbändern bzw. Videos, die diesem Buch zugrunde liegen, Transkripte zu machen, mussten wir sie anhören, wieder und wieder. Zu Beginn der Arbeit hatten wir uns schon »sicherheitshalber« zusammengezogen, fast als müssten wir uns vor dem, was wir nun hören würden, selbst schützen. Es dauerte eine Weile, bis wir uns trauten, unserer Wahrnehmung zu trauen anstatt der negativen Vormeinung zu folgen. Denn erstaunt stellten wir fest, wie warm und freundlich Fritz' Stimme war. Langsam fassten wir Zutrauen zu Fritz Perls. Dann war es so, als würde sich der Brustraum öffnen. Weiten. Wir bekamen mehr Luft zum Atmen, mehr Raum zum Spüren, mehr Raum für Empfindungen. Wir hörten seine Stimme und dachten: Wir brauchen keine Angst mehr vor ihm zu haben.

Als Leserin oder Leser können Sie seine Stimme nicht hören. Vielleicht jedoch hilft Ihnen die Mitteilung unserer Wahrnehmung, die Therapie-Sequenzen auf eine andere Art zu lesen, sich andere Vorstellungen zu machen und bereit zu werden, sich mit Fritz Perls als Entdeckungs-Helfer auf den Weg zu sich selbst zu machen.

Denn Fritz Perls schafft Raum für den Klienten, damit dieser sich selbst entdecken kann. Er hält diesen Raum offen und sagt nicht, was »ist«, »wie« das zu verstehen sei und wo's lang geht, sondern der Klient findet dies - mit Fritz' Unterstützung - selbst heraus. Der Klient geht dabei seinen eigenen Weg. Fritz sagt nicht, was am Ende des Weges dabei herauskommen soll. Ein großer Teil seiner Arbeit besteht darin, den Raum offenzuhalten, damit der Klient sich selbst erforschen kann. Denn wichtig ist, dass er sich nicht vorschnell ein Ziel für seine Arbeit steckt und dann mit dem Erforschen seiner selbst aufhört. Gestalt arbeitet nicht durch das Anstreben eines Ziels. Gestalt arbeitet durchs Finden und Kennenlernen des Weges.

Änderung geschieht nach gestalttherapeutischer Erkenntnis auf paradoxe Weise. Sie wird nicht angestrebt, indem man sich vornimmt, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Sie geschieht vielmehr. Und sie geschieht nur dann, wenn man auch all diese abgelehnten Teile von sich annimmt, die man lieber verdrängen, oder anderen »andichten«, anderen anhängen möchte, aber auf jeden Fall wegbekommen möchte. Aber auch die Integration der verschiedenen Teile des Selbst wird nicht »gemacht«. Sie »widerfährt« uns als Gnade. Häufig sind Therapeuten dabei nicht mehr als nur Zeugen der Veränderung. Fritz Perls:

»Veränderungen finden von allein statt. Wenn wir tiefer in das eindringen, was wir sind, wenn wir akzeptieren, was da ist, kommen die Veränderungen von allein. Das ist das Paradoxon der Veränderung« (aus Tonband-Transkript VI).

Ein amerikanischer Gestalttherapeut der ersten Stunde, Arnold R. Beisser (ein früher Schüler von Fritz Perls und später ein guter Freund von ihm) hat die »paradoxe Theorie der Veränderung« ausgearbeitet - auf dem Hintergrund seines eigenen Lebens. Arnold Beisser war auf dem besten Wege, Tennisprofi zu werden, als er an Kinderlähmung erkrankte und sich ab dann fast nicht mehr bewegen konnte. Voller seelischer Qualen hat er das Paradox der Veränderung am eigenen Leib erlebt: Ein neues Leben begann für ihn erst, als er nicht mehr gegen seine Krankheit kämpfte, sondern sie annahm, sie nicht mehr abstreifen oder loswerden wollte. Eine neue Tür öffnete sich für ihn. Das Buch, das er über diesen Prozess geschrieben hat, ist ein anrührendes und ermutigendes Dokument (Arnold Beisser, Wozu brauche ich Flügel?, zuerst 1970 erschienen; deutsch: Wuppertal 22003: Peter Hammer Verlag).

 

Die gestalttherapeutische Haltung

Wir haben von »gestalttherapeutischer Haltung« gesprochen, nicht von »gestalttherapeutischer Methode«, als wir herausgearbeitet haben, der Klient bekomme die Wahrnehmung des Therapeuten zur Verfügung gestellt. Uns scheint ein wichtiger Unterschied dazwischen zu bestehen, ob man »Haltung« oder »Methode« sagt. Es ist üblich zu sagen, Fritz Perls zeige in den Video- und Tonband-Demonstrationen die »Methoden der Gestalttherapie«. Wir möchten dagegen eine Lanze für die Perspektive brechen, »Fritz Perls zeigt uns Haltung und Arbeitsweise der Gestalttherapie«.

Immer wieder begegnet man bei Therapeuten und bei Leuten, die über Therapieformen schreiben, dass sie von »Gestalt-Techniken« ausgehen, wie vom leeren Stuhl, vom Dialog verschiedener Polaritäten im Klienten (wieder auf verschiedenen Stühlen!), von Fantasiereisen, von Körperübungen. Jenen geht es leider weniger um die besondere Haltung bei der Arbeit mit Klienten, also um die Gestalt-Haltung. Zur Gestalt-Haltung zählen wir vor allem:

Diese Haltung folgt aus der Einsicht, dass die Wahrheit nur in der Wahrnehmung zu finden ist. Darum muss der Therapeut als wahrnehmende Person in der Therapie anwesend, also präsent sein.

Was wir von Fritz Perls über die Haltung und Arbeitsweise der Gestalttherapie lernen können, wenn wir die Transkripte seiner Demonstrationen lesen bzw. hören, wollen wir am Beispiel seiner Arbeiten mit Träumen erläutern (Tonband-Transkripte V und VII).

Ein Klient erzählt einen Traum. Der Psychoanalytiker würde ihn mit seinem Expertenwissen deuten, je nach psychoanalytischer Schulrichtung etwas anders; z.B.: Bei Freud ginge es mehr um Tod und Sexualität, bei Jung mehr um die tiefen inneren Bilder, die allen Menschen innewohnen. Dabei würden die geträumten Inhalte (Tiere, Gegenstände usw.) als Symbol für etwas anderes verstanden, das der Therapeut durch seine Interpretation herausfindet.

Fritz Perls geht anders vor. Nicht er als Therapeut deutet den Traum des Klienten, sondern der Klient arbeitet selbst mit seinem Traum - um auf diese Weise die Bedeutung des Traumes für sich selbst zu erforschen. Fritz geht davon aus, dass alle Trauminhalte mit dem Klienten zu tun haben und dass der Traum ein kreativer Schöpfungsakt des Klienten ist.

Es gibt sicher eine Vielzahl von Möglichkeiten, eine Vielzahl von Weisen und Wegen, Träume auf gestaltische Weise zu bearbeiten. Fritz Perls wählt in seinen Demonstrationen häufig diesen Weg: Er fordert den Klienten auf, den Traum noch einmal im Hier-und-Jetzt zu erzählen, so als würde er jetzt gerade stattfinden. Das hat gleich als erstes schon einmal die Wirkung, den forschenden Blick von der Vergangenheit (»den archäologischen Blick des Analytikers« hat Laura Perls ihn ironisch genannt) auf die Gegenwart, also auf das, was gerade stattfindet, zu richten.

Als nächstes geht es sowohl um die Inhalte des Traumes, als auch um den Prozess der Arbeit, den Prozess des Er-Forschens des Traumes. Der Klient wird aufgefordert, sich mit einem bestimmten Trauminhalt (dem Polizisten, der Straße, der Wüste, den Eisenbahnschienen etc.) zu identifizieren - und zwar mit allen möglichen Trauminhalten nacheinander - und den Traum aus der Perspektive dieses Trauminhaltes zu erzählen. Manchmal lädt er den Klienten dabei auch ein, verschiedene Trauminhalte miteinander ins Gespräch zu bringen. Nicht selten arbeitet er dann mit Hilfe eines zweiten Stuhls, auf dem einer der Trauminhalte dann Platz nimmt und mit dem anderen Trauminhalt »spricht«.

Dies alles geschieht, damit nicht der Therapeut den Traum deutet, sondern damit der Klient seinen Traum selbst erforscht. Diese therapeutische Vorgehensweise hält den Raum für die Selbst-Entdeckung offen. So gewinnt der Klient aus der Arbeit am Traum selbst seinen Sinn des Traumes, seine Bedeutung des Traumes. Der Therapeut kennt den Sinn oder die Bedeutung des Traumes nicht - nicht vorab und manchmal auch nicht nach der Arbeit. Wenn es beim Klienten »klick« macht, ist das genug.

Als Technik betrachtet würde eine Auswertung der Traumarbeit von Fritz möglicherweise ganz anders aussehen: Der Therapeut müsste wissen, mit welchem Trauminhalt der Klient sich »am besten« zuerst identifizieren sollte, gleichsam wie ein »didaktisches Konzept für die Traumerforschung«. Der Therapeut würde die Traumerforschung durch die Auswahl der Trauminhalte, mit denen der Klient sich identifizieren sollte, und durch die Reihenfolge der Trauminhalte lenken, so wie ein Lehrer geschickt »Fragen« stellt, um die Schüler auf diese Weise zu bestimmten, von vorn herein feststehenden und dem Lehrer bekannten, Antworten zu führen. Auf diese Weise gibt es nichts zu entdecken. Ein solcher Prozess wäre langweilig und quälend, eben wie auch die Schule oft.

Die Verwechslung von »Haltung« und »Methode« führt mitunter zu hartnäckigen Vorurteilen, die darum aber nicht richtiger werden. In einer der frühen Ausgaben des Buches »Irren ist menschlich« - des Klassikers der Psychotherapie-/Psychiatrie-Lehrbücher - wird vor der Anwendung der Gestalttherapie bei Menschen in psychotischen Krisen gewarnt. Die »berühmten« Gestalttechniken (z.B. die Arbeit mit inneren Polaritäten auf verschiedenen Stühlen bzw. die »pushende« Technik der Verstärkung z.B. einer Bewegung, eines sprachlichen Ausdrucks) könnten die Krise des Patienten verstärken. Nur ein (Gestalt-)Therapeut, der sich starr an Methoden oder Techniken hält, würde jedoch so verfahren. Auf dem Hintergrund der Gestalt-Haltung wird ein Therapeut natürlich keine Methoden, keine Techniken anzuwenden versuchen, die den Klienten noch mehr irritieren, noch mehr beunruhigen, noch mehr ängstigen, noch mehr verletzen.

Das heißt, den Gestalttherapeuten zeichnet zuerst und zutiefst aus, wie er dem Klienten mit seiner Präsenz, seiner Aufmerksamkeit, seiner Achtsamkeit begegnet. Aus den Anforderungen des besonderen Menschen in dieser besonderen Situation versucht er, die angemessenen Interventionen zu schöpfen - oder verzichtet sogar auf Interventionen! Statt »hart« zu intervenieren, kann er auch »einfach« nur zuhören, sich vom Klienten seelisch berühren lassen und dabei in sich selbst hineinhorchen - schauen, was sich dabei in ihm regt, welche Körperempfindungen, welche Gefühle, welche Gedanken, welche Fantasien. Dann kann er vielleicht sein eigenes Erleben dem Klienten mitteilen und ihn auf diese »sanfte« Art einladen, das eigene Erleben weiter zu erforschen.

 

Der Ausgangspunkt der Gestalttherapie

Die »Gestalttherapie« ist die erste Therapieform, die der klassischen Psychoanalyse Konkurrenz gemacht hat. Sie wurde in den 1940er Jahren durch eine Gruppe von Psychiatern, Psychoanalytikern und Künstlern in New York begründet. Die wichtigsten sind das Psychoanalytiker-Ehepaar Laura und Fritz Perls, deutsche Juden, die aus Nazi-Deutschland über Südafrika in die USA emigriert sind, und Paul Goodman, ein amerikanischer Schriftsteller und Soziologe, der durch seine ungewöhnliche, aber querköpfige Kreativität auf sich aufmerksam gemacht hat.

Der Begriff »Gestalttherapie« zeigt, dass sich diese Richtung in gewissem Maße gegen das Analytische in der Psychoanalyse gerichtet hat: In der Psychologie wird von »Gestalt« gesprochen, um anzudeuten, dass der Mensch nicht analytisch wahrnimmt, sondern ganzheitlich. Es sind nicht einzelne Reize, die beispielsweise unser Auge aufnimmt und die »nachträglich« im Gehirn zu einem Bild zusammengesetzt werden. Vielmehr ist das Auge bereits daran beteiligt, die Wirklichkeit in sinnvollen Gestalten zu strukturieren.

Entsprechend dieser auch naturwissenschaftlich experimentell nachzuweisenden Grundannahme wollten die Begründer der Gestalttherapie eine Arbeitsweise entwickeln, die Menschen befähigt, angemessen auf ihre Umgebung zu reagieren, wenn sie damit Schwierigkeiten haben. Anders als Freud fanden sie diese Arbeitsweise eben nicht in einer Analyse der Vergangenheit, die der Therapeut vornimmt und deren Ergebnisse er dem Klienten mitteilt. Vielmehr sahen sie den Ansatz zur Lösung von Problemen, die Klienten mit sich und ihrer Umwelt haben, zu allererst in der Stärkung der Wahrnehmung des aktuellen Geschehens. In den Worten der Gestalttherapie heißt das: »Gewahrsein im Hier und Jetzt.«

Bei der Beobachtung der Schwierigkeiten ihrer Klienten stieß die Gruppe um Fritz Perls auf ein immer wiederkehrendes Muster: Jemand handelt in einer aktuellen Situation nicht angemessen, sondern bezogen auf eine andere Situation oder einen anderen Ort. Jemand reagiert beispielsweise immer auf ein Gegenüber, der einen Bart trägt, mit Aggression und Ablehnung, auch wenn dieser Gegenüber freundlich und hilfsbereit ist. Dem Therapeuten drängt sich der Eindruck auf, dass sein Klient nicht den wirklichen Gegenüber wahrnimmt, sondern sich stets das Bild des ungeliebten Vaters dazwischen schiebt (Gestalttherapeuten nennen das »Projektion«). So weit stimmt die Sichtweise noch mit Freud überein. Während der Psychoanalytiker nun den Vater - die Erinnerungen an den Vater - zum Zentrum der Behandlung macht, verfährt der Gestalttherapeut ganz anders: Er legt den Schwerpunkt darauf, den Klienten anzuregen, das wahrnehmen zu können, was wirklich ist. Er wird so lernen, die Differenz zu dem Vater zu fühlen und sich dem Bartträger gegenüber so zu verhalten, wie es dessen Person verdient. Die Vergangenheit kann man nicht ändern, die Zukunft kann man nicht wissen, nur in der Gegenwart lässt sich handeln.

 

Ist die Gestalttherapie »wissenschaftlich«?

Sowohl die Psychoanalytiker als auch die Vertreter naturwissenschaftlich orientierter psychologischer Theorien sprechen den Gestalttherapeuten oft deren »Wissenschaftlichkeit« ab. Die so Angegriffenen wehren sich gern mit dem schlappen Hinweis: »Es muss ja nicht alles bewiesen sein.« Oder: »Es gibt auch Dinge, die nicht beweisbar sind.«

Sicher kann und muss nicht alles bewiesen sein. Aber wenn sich jemand anmaßt, einem anderen einen Rat zu geben, ihm Hilfe zu leisten, sein Verhalten ändern oder ihn sogar therapieren zu wollen, muss er unserer Meinung nach schon gute Gründe und Argumente dafür haben, dass das, was er macht, auch seine Richtigkeit hat.

Das Missverständnis liegt darin, was als »Grund« (oder »Beweis«) gelten kann. Die Gestalttherapie behauptet nicht, dass sich im Gehirn des Menschen eine definierte Region der grauen Masse befindet, wo z.B. eine Projektion »sitzt«.

Vielmehr handelt es sich um sinnstiftende Begriffe: Mit ihrer Hilfe können wir uns über die Verhaltensweisen von Menschen klar werden. Der Beweis für die Richtigkeit der Begriffe ist nicht eine naturwissenschaftliche Untersuchung über den »Ort« der Projektion. Nein, der Beweis ist, dass wir mit Hilfe des Begriffs wirklich weiter kommen. Wir verstehen das Verhalten unserer Mitmenschen und von uns selbst besser und können angemessen handeln. Wenn die Gestalttherapie das bewirkt, ist sie »richtig«, weil sie auf nichts anderes zielt. Übrigens gilt das Gleiche auch für die Psychoanalyse von Freud. Noch niemand hat Freuds »Über-Ich« oder die ebenfalls von Freud behauptete »Symptom-Verschiebung« experimentell nachgewiesen. Die einzige größere »Wissenschaftlichkeit« der Psychoanalyse besteht darin, dass es sie schon etwas länger gibt als die Gestalttherapie. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied:

In dem Bereich der psychologischen Grundlagen der Gestalttherapie hat diese einen experimentell und zum Teil naturwissenschaftlich untermauerten Ausgangspunkt - die Gestaltpsychologie. Sie wurde zunächst vor dem zweiten Weltkrieg in Deutschland begründet und dann aufgrund der Emigration ihrer führenden Vertreter in den USA fortgeführt. Die Gestaltpsychologen beschäftigten sich ganz ohne jedes Anwendungsinteresse mit der Erklärung von Wahrnehmungsvorgängen und untersuchten dabei auch das Gehirn und die Sinnesorgane. In diesem Zusamenhang stießen sie auf das eben von uns beschriebene Phänomen: Wahrnehmung ist nicht ohne Sinn. Wir nehmen »Gestalten« wahr, nicht einfach nur einzelne unverbundene »Daten«.

 

Wie heilt die Gestalttherapie?

Mit dem von Fritz Perls häufig strapazierten Schlagwort »Hier-und-Jetzt« verbinden sich die wesentlichen Elemente der Gestalttherapie. Die Vergangenheit sei - so sagen die Gestalttherapeuten - nur Thema, insofern sie störend in der Gegenwart erlebt werde. Erkenntnis und Analyse der Störungen aus der Vergangenheit werden von den Gestalttherapeuten nur als heilend akzeptiert, wenn sie den Weg frei machen für ein störungsfreies Erleben und Handeln in der Gegenwart. Der Begriff, mit dem in der Gestalttherapie die Qualität von Erleben und Handeln in Gegenwart gemessen wird, ist »Kontakt«. Alles, was Hier-und-Jetzt geschieht, wird als Form von Kontakt beschrieben. Eine zentrale therapeutische Botschaft lautet, jeder trage für die Form des Kontaktes selbst die Verantwortung; damit ist gemeint, dass die Konsequenzen aus der Form des Kontakts, die jemand wählt, von ihm ertragen werden müssen.

Jemand erlebt sich z.B. von den Mitmenschen abgelehnt und leidet darunter. Die therapeutische Intervention zeigt etwa auf, dass die gewählte Form des Kontakts von den Mitmenschen als verletzend empfunden wird; und die Mitmenschen reagieren angemessen-unangemessen, indem sie sich verletzt zeigen. Die Ursache für die verletzende Form des Kontakts könnte eine in der Kindheit liegende Erfahrung sein, von den Eltern durch Ablehnung verletzt worden zu sein. Heilung begänne durch den Versuch, mit Mitmenschen so in Kontakt zu treten, wie sie aus eigenem Recht sind, ohne die hinderliche Projektion aus der Vergangenheit. In diesem Sinne gewinnt der Klient Verantwortung zurück, indem er besser bestimmen kann, wie der Kontakt mit dem aktuell Gegebenen gestaltet wird.

Zunächst erscheint es Ihnen vielleicht so, als sei der Begriff der Verantwortung, der durch die Konzentration auf das Hier-und-Jetzt entsteht, a-moralisch. Es könnte ja jemand (um beim Beispiel zu bleiben) seine Mitmenschen verletzen wollen und überhaupt nicht daran leiden. Dann wäre die Form des Kontakts, die gewählt wurde, angemessen, und es gäbe keine Möglichkeit zum therapeutischen Eingreifen (»intervenieren«). Im Hier-und-Jetzt wird also, so lautet ein kritischer Einwand, ein naives und abgehobenes Vertrauen in die gute Selbstorganisation des zwischenmenschlichen Verhaltens deutlich.

Naivität, oder besser: Theorielosigkeit heißt folgerichtig ein des öfteren geäußerter genereller Vorwurf an die Gestalttherapie. Es ist in der Tat nicht zu leugnen, dass sich einige Gestalttherapeuten an der wissenschaftlichen Fundierung ihrer Methoden uninteressiert zeigen. Sie geben sich »praxisnah«, machen es sich einfach und verweisen bloß darauf, dass die Methoden eben in der Therapie »funktionieren« würden. Diese leider verbreitete Haltung zur Philosophie ist selbst eine Art Kontaktverweigerung. Die Methoden ausschließlich durch Praxis zu überprüfen, bedeutet: Es gibt keinen Kontakt mit Überlegungen, die über das Bestehende und dessen Erhaltung hinaus Kritik ermöglichen. Es wäre allerdings wohl eine Illusion, Klienten aufklären zu wollen, ohne vorher sich selbst aufgeklärt zu haben.

 

Philosophischer Exkurs 1: Jedes Handeln strebt das Gute an

Wir meinen aber, der oben angesprochene Vorwurf an die Gestalttherapie, sie sei a-moralisch, trifft im Kern nicht zu. Um unsere Meinung zu belegen, kehren wir zu dem Fall zurück, in welchem ein Klient durch sein Verhalten die Mitmenschen unbewusst verletzt. Die gestalttherapeutische Intervention sieht nun vor, dem Klienten die Wirkung und Folgen seines Verhaltens bewusst zu machen. Die Verletzung der Mitmenschen im Kontakt kann nach, durch und mit ihrer Bewusstmachung auf Ziele zurückgeführt werden, die an sich nicht schlecht, sondern gut41 sind. Es kann sich etwa um eine Antwort auf eine frühkindliche Verletzung handeln, die die Eltern beigefügt haben. Das Ziel, diese Verletzung zu beantworten und zu heilen, ist natürlich gut. Schlecht wird diese Handlung, weil sie nicht in der Lage ist, das Ziel zu verwirklichen. Die Handlung findet nur chronologisch gesehen im Hier-und-Jetzt statt; Ausgangspunkt und Zielsetzung befinden sich an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit. Philosophisch gesagt: Die Potenzialität (= Möglichkeit) verfehlt die Aktualität (= Wirklichkeit).

Das verletzende Verhalten könnte allerdings auch eine Antwort auf Ansprüche der Mitmenschen sein, die als belastend, einmischend, behindernd oder dergleichen empfunden werden. In diesem Fall zeigt die gestalttherapeutische Intervention, dass es sich nicht um eine schlechte und krankhafte, sondern um die richtige und angemessene Verhaltensweise handelt. Die Abwehr von Überwältigung ist das Gut der Verletzung, und dieses Gut wird erreicht. Allerdings könnte die Bewusstmachung zu einer anderen, besseren Problemlösung führen.

Das Beispiel der verletzenden Verhaltensweise mag relativ harmlos und einfach überzeugend sein. Sehr viel schwieriger wird es, diese Vorstellung, dass das Verhalten prinzipiell das Gute anstrebt, auf monströse Verhaltensweisen wie Massenmorde anzuwenden, besonders etwa im politischen Kontext des Faschismus. Es ist üblich geworden, bezogen auf den Faschismus vom »radikal Bösen« zu sprechen. Die Handlungen der Faschisten werden damit so charakterisiert, dass sie keinen »guten Kern« haben, sondern dass sie direkt auf das Böse selbst abzielen. Aber gäbe es jemanden, der das Böse wirklich als Wesen hätte, könnte er nichts anderes als dieses Böse tun. Er wäre also für die bösen Folgen seiner Handlung nicht verantwortlich. Die Verwirklichung der »bösen« Absicht wäre paradoxerweise das »Gut« des Bösen. Wenn wir den Faschisten als »radikal böse« bezeichnen, sagen wir, dass er nicht anders kann als in unseren Augen böse zu sein. Er kann sich nicht zum Guten verändern, denn das würde voraussetzen, dass er das Böse in seinen Handlungen einsieht und das Gute erstrebt. Jemand, der den Unterschied zwischen Gut und Böse einsehen und das Gute erstreben kann, ist nicht radikal böse, sondern »nur« fehlgeleitet.

Wenn wir den, der unserer Meinung nach Böses tut, als jemanden ansehen, dessen Handlungen fehlgeleitet sind, der aber Verantwortung übernehmen kann, können wir versuchen, ihn zu verändern. Wenn wir ihn als »radikal böse« bezeichnen, können wir ihn nur radikal bekämpfen. Aber dann sollten wir uns nicht wundern, wenn er im Gegenzug auch uns radikal bekämpft. Wir verhalten uns dann so uneinsichtig wie wir es ihm unterstellen. Das Böse kann in Wirklichkeit nicht Ziel unserer Handlung sein. Es gibt kein radikal böses menschliches Wesen. Denn alles, was wir erstreben, erstreben wir als ein Gut - als in unseren Augen gut. In den Augen anderer kann das, was wir erstreben, durchaus schlecht sein. Dann gibt es einen Konflikt, der ausgetragen werden muss. Die Grundlage des Konfliktes ist jedoch, dass jeder sich sicher sein kann, der andere würde das Gute anstreben. Mit dieser Einsicht erst eröffnet sich die Möglichkeit, eine Handlungsweise sinnvoll moralisch zu beurteilen und sie eventuell therapeutisch zu behandeln.

Um ein neueres Beispiel zu nehmen: Hätten etwa die Selbstmordattentäter, die das World Trade Center zerstört haben, ihr Leben gegeben und das anderer Menschen genommen, wenn sie dies nicht als »gut« betrachtet hätten? Es gibt nun nach unserer Übersicht logisch nur zwei Möglichkeiten:

Eine berechtigte moralische Kritik kann die Handlungsweise aus gestalttherapeutischer Sicht dann erfahren, wenn sie das erstrebte Gut nicht zu erreichen in der Lage ist, oder wenn sie andere, gleichwertige Güter zerstört. So kann - um das Eingangsbeispiel wieder aufzunehmen - der verletzende Kontakt nicht die zurückliegende selbst erfahrene Verletzung heilen. Der verletzende Kontakt, der als Abwehr gedacht ist, zerstört mit der Zurückweisung zugleich ein Gut: die Chance zu besserem, gleichberechtigtem Kontakt.

Überdies ist zu bedenken, dass die Erreichung jedes Guts die Zerstörung oder Behinderung eines anderen Guts einschließt. Würde der verletzende Kontakt gegen die wahre Ursache, die Eltern, gewendet, zerstörte dies das Gut der Liebe zu den Eltern. Der Begriff »Verantwortung« in der Gestalttherapie bedeutet nichts anderes als »Vernünftigkeit« - die Abwägung zwischen Gütern. In dieser Abwägung entsteht das Bild des Zusammenlebens, das gewollt wird. Das Wollen aber richtet sich immer auf das Gute.

Die aktuelle Diskussion um die Auswüchse rechter Gewalt ist ein gutes Beispiel für die Tragfähigkeit des Gestalt-Ansatzes, aber auch für seine politische Provokation. Die rechte Gewalt schreckt die Gesellschaft ebenso wie in den 1960er Jahren die linke, nur mit dem Unterschied, dass die rechten Gewalttäter anders als die linken nicht in der Lage sind, ihr Anliegen in einer theoretisch diskutablen Form vorzubringen. Das Entsetzen der verwalteten Gesellschaft richtet sich gegen die Aggressivität der rechten Gewalttäter, die sie mit aller Macht zu unterbinden versucht. Demgegenüber kann man auf dem gestalttherapeutischen Hintergrund davon ausgehen, dass es der Mangel an Einfluss auf das eigene Leben ist, der die berechtigte Aggressivität in scheinbar sinnlose Destruktivität verwandelt. Natürlich hilft diese Vorstellung allein jedoch nicht im Umgang mit rechten Gewalttätern.

Eine Form des Umgangs, die sich aus der Praxis von Fritz Perls ableiten ließe, könnte darin bestehen, nicht die aggressive Energie noch weiter unterdrücken zu wollen (und damit die verzweifelte Destruktivität noch weiter zu verschärfen), sondern auf das Ziel, das eigene Leben positiv zu gestalten, zu richten. Ein solcher Umgang wäre allerdings nicht im Auftrag der »geschockten« etablierten Institutionen zu leisten, denn er würde die formierte Ordnung nicht weniger stören als die rechte Gewalt, vielmehr würde ein solcher Umgang die herrschende Ordnung nachhaltig aufbrechen und verändern. Es ist nicht zu erwarten, dass die reichlich fließenden staatlichen Mittel für die Anpassung der »Rechten« in Projekte im Perls'schen Geist fließen - dies wäre auch nicht zu begrüßen, denn es ist Institutionen unmöglich, im Perls'schen Geist zu handeln, ohne ihn zu zerstören.

 

Philosophischer Exkurs 2: Die aufklärerische Haltung

Die Gestalttherapie hat ein aufklärerisches Anliegen. Sie entwickelt keinen inhaltlich-materialen Maßstab vom richtigen Handeln, an den sie den Klienten heranzuführen versucht. Vielmehr klärt sie auf - zum einen über unbeabsichtigte, aber unvermeidliche Neben- und Mitwirkungen von bestimmten Handlungen und zum anderen über unbewusste außersachliche Hemmungen, das zu tun, was jemand will. Die Konzentration der Gestalttherapie auf das Handeln bringt zweierlei mit sich:

1. Da Handeln immer in der Gegenwart stattfindet, ist Ausgangs- und Endpunkt der Betrachtung, der Intervention und der Aufklärung das Hier-und-Jetzt. Vergangenheit und Zukunft spielen immer nur insoweit eine Rolle, als sie Bedeutung für das aktuelle Handeln und Erleben haben.

2. Obgleich Handeln, Erleben und Gegenwart im fortlaufenden, unendlichen Strom des Lebens stehen, zergliedert die Betonung des Hier-und-Jetzt diesen Strom des Lebens in Sinnabschnitte. Der Sinn ist die Gegenwart, auf die hin das Ganze der Erinnerungen, Erfahrungen und Hoffnungen bezogen wird. Die Handlungsstränge müssen, auf diese Weise betrachtet, zu einem ruhenden Abschluss kommen - eben eine Gestalt bilden -, wo sie ihre jeweiligen Ziele erreichen, um Platz zu machen für neue Gestalten.

Der Grundsatz der Gestalttherapie lautet: Wer die Gegenwart im Auge hat, ohne durch die Vergangenheit oder Zukunft abgelenkt zu sein, und sein Handeln in sinnvollen Einheiten - Gestalten - auf die Aktualität bezieht, handelt gut und richtig.

Jedes Handeln hat ein Ziel. Dieses Ziel ist endlich, also fähig zur Gestaltbildung, da sonst keine Motivation vorläge, überhaupt mit dem Handeln anzufangen. Die so genannten ziellosen Handlungen sind auf Hemmungen zurückzuführen, die entweder die Zieldefinition ins Unbewusste verlagern oder den Verstand bei der Festlegung adäquater Schritte auf das Ziel behindern. Das Handeln macht eine Möglichkeit, die im Handelnden und dem Behandelten liegt, zur Wirklichkeit; philosophisch gesagt, es verwandelt Potenzialität in Aktualität. Wenn es eine Möglichkeit ist, muss das Handlungsziel beidem angemessen sein, dem Handelnden und seinem Gegenstand. Formal gesehen ist das Ziel eine Bewegung oder Veränderung, die von dem Handelnden als Verbesserung eingestuft wird. In diesem Sinne ist das Ziel jeder Handlung gut.

Das Schlechte oder Schädliche dagegen bewegt oder verwirklicht nichts. Es ist Ergebnis einer Handlung, die ein Gut nicht erreicht oder durch die Erreichung eines Gutes ein anderes Gut zerstört. An diese Einsicht knüpft sich die aufklärerische Hoffnung der Gestalttherapie: Solange sich etwas bewegt, ist das Gute nicht gänzlich aufgezehrt, kann es gegen das Schlechte, den Mangel an Kraft zum Hier-und-Jetzt, mobilisiert werden.

Dieses so im Sinne der Gestalttherapie definierte Gute ist keineswegs als Garantie für Harmonie misszuverstehen. Bereits die Güter der Handlungen ein und desselben Individuums fügen sich kaum zu einem konfliktfreien Zusammenhang; schon gar nicht geht dies zwischen verschiedenen Handelnden. In Theorie und Methode der Gestalttherapie drückt sich diese Einsicht darin aus, dass auch und gerade in der guten Situation die Aggression ihren berechtigten Platz habe - Aggression verstanden als heftiger (sich auch körperlich ausdrückender) Abwehr- und Durchsetzungswille.

Die Einsicht, dass Therapie nicht isoliert für sich steht, sondern sowohl gesellschaftliche und politische als auch ethische und philosophische Dimensionen hat, führt zu zwei besonderen Kennzeichen der Gestalttherapie:

- Selbstreflexion. Die Gestalttherapie ist die Psychotherapie, deren unausweichlicher Bestandteil das Nachdenken über die sozialhistorische Verursachung sowohl der Leiden, die nach Therapie verlangen, als auch des dazugehörigen Berufsstandes ist. Die Gründer anderer psychotherapeutischer Richtungen behandelten ihre jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisse als seien es Entdeckungen ewiger Konstanten wie das Gravitationsgesetz. Moderne Psychotherapien ignorieren hartnäckig soziologische Einsichten und reagieren auf die gegebenen Klienten als seien sie Exemplare der unwandelbaren Spezies Mensch. Die Gestalttherapie fragt demgegenüber danach, welche sozialen Zusammenhänge den Leidensdruck erzeugen, der einen Menschen zum Klienten werden lässt, sowie die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Therapeuten als Berufsstand hervorgebracht werden. Durch diese Analyse konfrontiert sich die Gestalttherapie mit dem »therapeutischen Paradox«: Die Klienten kommen zum Therapeuten, um unter den herrschenden sozialen Bedingungen weniger leiden zu müssen und besser »funktionieren« zu können; der Therapeut darf Heilung letztendlich jedoch nur durch eine Veränderung der Bedingungen versprechen, die nicht ohne weiteres herbeigeführt werden kann. Leichter therapiert es sich natürlich ohne Einsicht in das Paradox. Naivität allerdings lässt den Therapeuten zum passiven Spielball der Verhältnisse werden. Nur Selbstreflexion verleiht uns die Kraft, angemessen zu handeln.

- Selbstbegrenzung. Aus der Selbstreflexion folgt das spezielle gestalttherapeutische Konzept der Selbstbegrenzung. In der Therapie kann es nicht darum gehen, einen »natürlicherweise« unmündigen Klienten zur Mündigkeit zu führen. Vielmehr muss die Therapie die sozialen Bedingungen bekämpfen, die das natürliche Mündig-Sein oder Mündig-Werden des Klienten verhindern (oder verhindert haben). Der Therapeut ist nach gestalttherapeutischer Ansicht nicht dazu da, das Leben des Klienten »in Ordnung zu bringen«, ihm etwas aufzuzwingen, ihm zu sagen, was gut und richtig ist. Er selbst soll in das Leben des Klienten so wenig wie möglich eingreifen.

 

Woran erkennen Sie einen Gestalttherapeuten?

Gestalttherapie sei keine »technische Modalität«, sondern ein »philosophischer Bezugsrahmen«, hat Laura Perls gesagt (Leben an der Grenze, Köln 1989, S. 177). Ist das Spezifische der Gestalttherapie nicht in einer methodischen Ausrichtung, sondern in einer philosophischen Haltung zu finden, dann kann die Herausbildung der gestalttherapeutischen Identität sich nicht darin erschöpfen, »alle möglichen Techniken für die Trickkiste« (ebd., S. 187) zu beherrschen.

Nötig ist vielmehr neben der Handhabung von Methoden und darüber hinaus die Entwicklung einer Haltung des Nach-, Durch- und Vordenkens, in welchem die therapeutische Arbeit in ihrem anthropologischen, gesellschaftlichen und ethischen Zusammenhang gebracht wird. Nur durch diese nachdenkliche Haltung kann die Identität als spezifisch gestalttherapeutische Arbeit über alle methodischen und individuellen Unterschiede hinweg gestiftet werden.

Die folgenden fünf Kriterien bestimmen, ob ein Therapeut ein Gestalttherapeut ist. Es handelt sich bei den Kriterien nicht um beliebig oder willkürlich aufgestellte Regeln, sondern um Kennzeichen, die sich aus dem Gestaltansatz selbst herleiten.

 

- Durchschaubarkeit. Der Gestalttherapeut wird dem Klienten erläutern, was er tut und welche Wirkung er sich verspricht. Er wird ihn nicht bevormunden oder Methoden anwenden, die ihn überwältigen und manipulieren. Er wird ihm die Möglichkeit geben, den Prozess zu stoppen oder zu beeinflussen. Er wird nicht als Zauberer, Geheimwissenschaftler oder »Halbgott in weißem Kittel« auftreten. Vielmehr wird der Gestalttherapeut mit dem Klienten unter der Voraussetzung arbeiten, dass der Klient mündig sein kann. Dies folgt zwingend aus dem Prinzip der Selbstbegrenzung.

- Beziehung. Der Gestalttherapeut wird dem Klienten eine Beziehung anbieten, aus der ein Ich-Du-Dialog zwischen mündigen Menschen erwachsen kann. Dies heißt auch, dass der Therapeut dem Klienten Grenzen ziehen wird. Er wird nicht grenzenlos emphatisch (einfühlsam) sein und alles akzeptieren, was der Klient ihm anträgt. Vielmehr wird er ihn soweit wie möglich mit seinen authentischen menschlichen Reaktionen nicht nur der Anteilnahme, sondern auch der Ablehnung konfrontieren.

- Selbstkritik. Der Gestalttherapeut muss allerdings stets durch Anleitung zur kritischen Selbstreflexion dem Klienten bewusst halten, dass die therapeutische Situation eine geschützte Erprobung einer wahren Beziehung bleibt. Der Therapeut ist ein Dienstleister, der dem Klienten dort mit »sicherer Beziehungserprobung« aushilft, wo der Klient selbst (noch) nicht fähig ist, eine authentische und tragfähige Beziehung aufzubauen. Darum muss die therapeutische Situation strikt begrenzt werden auf die Wiederherstellung der Kontaktfähigkeit des Klienten. Die therapeutische Arbeit darf sich nie auf die Findung von Lösungen erstrecken. Lösungen zu entwickeln und zu finden, ist Angelegenheit des gesunden Lebens. Die Therapie darf nur blockierte Kräfte freisetzen, damit der Klient dann seinen eigenen Weg gehen kann.

- Würdigung. Der Gestalttherapeut wird bestrebt sein, dem Klienten einen realistischen Blick auf seine Möglichkeiten zu vermitteln. Er wird ihm zeigen, dass er mehr Einfluss auf sein Leben haben kann, als es scheint; aber er wird ihn nicht für alles, was ist, verantwortlich machen. Der Therapeut wird akzeptieren, dass die Neurosen des Klienten kreative Wege sind, mit objektiven Problemen fertig zu werden. Er darf sie nicht als »Widerstände« zerstören, bevor er sich nicht sicher ist, dass der Klient bereit und in der Lage ist, andere und vor allem bessere Wege zu finden und zu gehen.

- Aggression. Der Gestalttherapeut wird dem Klienten klar machen, dass er, wenn er die Welt etwas mehr »für sich« haben möchte, Aggressivität wird aufbringen müssen. Der Klient kann nicht erwarten, dass die Welt ihm gibt, was er braucht. Wenn er berechtigte Bedürfnisse hat, so muss er selbst dafür sorgen, dass sie befriedigt werden. Der Therapeut darf dem Klienten weder die Arbeit abnehmen, sich durchzusetzen, noch durch falsches Mitleid eine Anspruchshaltung fördern, die davon ausgeht, andere müssten »von selbst« die Bedürfnisse des Klienten erkennen und erfüllen.

 

Unterstützung des Klienten bei dessen Arbeit

Das Wichtigste, das wir durch das Lesen der Transkripte erfahren können, ist, wie der Gestalttherapeut Fritz Perls den Klienten unterstützt, die therapeutische Arbeit selbst zu machen. Er erreicht das in den Demonstrationen häufig dadurch, dass der Klient sich mit Körperteilen, Traumteilen, abwesenden Personen etc. identifiziert und diese Teile auf diese Weise erforscht oder mit anderen Teilen in Kontakt tritt (und mit diesen ein Rollenspiel entwickelt - das nennt der Theater-Liebhaber Fritz »sein Skript schreibt« bzw. »sein Skript entwickelt«). Zu dieser Arbeit der Gestalttherapeuten sagt er: »Wir können dazu beitragen, dass sie [unsere Klienten] sich selbst entdecken.« Genauso, wie er vom »Skript« einer (Traum-) Szene spricht, spricht er auch vom »Lebensskript« - und von der Notwendigkeit, das eigene Lebensskript manchmal umzuschreiben. Ihm geht es dabei immer darum, dass sein Klient selbst »sein Leben in die Hand nehmen und eine gute Existenz daraus machen« kann. Das ist nötig, weil viele Menschen »sich vom Urteil anderer« abhängig machen (alle Zitate aus Tonband-Transkript I). Die Gestalttherapeuten fungieren gleichsam als »Entdeckungshelfer« ihrer Klienten, d.h. die gestalttherapeutische Intervention zielt nicht darauf ab, eine Lösung für den Klienten zu finden, eine Veränderung für den Klienten herbeizuführen oder das Ziel der Therapie zu erreichen - es geht vielmehr darum, dass der Klient sich selbst erforscht.

Der Gestalttherapeut hat selbstredend auch Ziele für die therapeutische Arbeit: Er möchte seinen Klienten lehren, sein Gewahrsein für seine inneren wie für die von ihm wahrgenommenen äußeren Prozesse zu vertiefen, zu verbessern. Diese können im Unterschied zu Zielen im Sinne von »Lebenszielen« oder »Therapiezielen« als »Prozessziele« bezeichnet werden.

Im Hinblick auf die »Therapieziele« muss der Therapeut dagegen sehr darauf achten, »wer« eigentlich den Arbeitsauftrag definiert - d.h. welcher Teil vom Klienten. Ist es der »Top-Dog«, der »Kontrolleur«? Und wie definiert dieser Teil das Ziel? Welcher Ton klingt dabei mit? Ist es ein interessiertes Fragen? Oder schon eine (leichte) Kritik, die in der Zielformulierung mitschwingt? So in dem Sinne: »Das hättest Du doch schon längst wissen, können, ändern müssen.«

Man sollte sehr auf der Hut sein, dass man sich nicht mit eben diesem Teil im Klienten verbündet - quasi gegen den Klienten. Dann hätte der nämlich gleich zwei »Feinde«: diesen verurteilenden, abwertenden Teil in sich - und seinen Therapeuten noch dazu. Es ist sicher einsichtig, dass der Therapieerfolg dadurch nicht gesteigert oder wahrscheinlicher wird. Der Klient wird sich meist gegen diesen Teil wehren und damit auch gegen die therapeutische Interventionen. Das wäre wahrscheinlich das Ende einer guten Zusammenarbeit - keinesfalls ein guter Anfang.

 

Die Herausbildung der Gestalt-Haltung

Es ist wirklich erstaunlich, wie viel klare Aussagen - z.B. über die gestalttherapeutische Ausbildung - schon bei Fritz Perls zu finden sind und wie sehr diese missverstanden oder zumindest überhört worden sind: »Wachstum ist ein Prozess, der Zeit braucht. Gestalttherapie braucht eine Haltung, die nicht in zwei Monaten erworben wird, sondern durch ein langes, ernsthaftes Training, in dessen Zentrum die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit steht« (zit. n. Fritz Perls, Gestalt - Wachstum - Integration, Paderborn 1985,

S. 9). Fritz Perls betont in seinen Demonstrationen oft, dass diese keine gestalttherapeutischen Ausbildungsseminare ersetzen würden. Eine Ausbildung müssen seine Teilnehmer sich anderswo suchen. Er wolle dagegen die Wirksamkeit des neuen therapeutischen Ansatzes zeigen.

Es geht ihm dabei nicht um »instant healing« - also Spontanheilungen, gleichsam »Heilungen aus der Dose«. Manchmal beginnt er seine Demonstrationen mit der ironischen Bemerkung, dass es »reiner Zufall« sei, wenn jemand von dieser Arbeit »profitiert«. Seine Teilnehmer quittieren dies mit Lachen. Sie wissen natürlich, dass das so (auch) nicht stimmt.

»Ich akzeptiere niemanden als kompetenten Gestalttherapeuten«, sagt Fritz Perls, »solange er noch ›Techniken‹ benützt. Wenn er seinen eigenen Stil nicht gefunden hat, wenn er sich selbst nicht ins Spiel bringen kann und den Modus (oder die Technik), die die Situation verlangt, nicht der Eingebung des Augenblicks folgend erfindet, ist er kein Gestalttherapeut« (ebd., S. 170).

Der Teilnehmer der Gestalttherapie-Ausbildung muss demnach zuerst einmal seine eigene Person durch Selbst-Erforschung kennen lernen. Dabei lernt er, angeleitet durch seine Ausbilder, eine bestimmte Haltung sich selbst gegenüber einzunehmen: eine Haltung des Erforschens ohne zu bewerten, eine phänomenologische Forscher-Haltung - die Gestalt-Haltung.

Wesentlich dabei ist die Konzentration auf das Offensichtliche im Hier-und-Jetzt, nicht auf nur scheinbar offensichtliche Interpretationen von vergangenen Ereignissen in der Biografie des Klienten. Das Offensichtliche im Hier-und Jetzt wird z.B. durch Identifikation mit bestimmten Symptomen erforscht, mit bestimmten Gefühlen, mit bestimmten Körperteilen (ja, manchmal hat der Bauch eine andere »Meinung« zu etwas, als der Kopf). Manchmal identifizieren wir uns mit einer anderen, z.B. einer abwesenden Person, um eine neue Perspektive der Wahrnehmung einzuleiten. »Das therapeutische Mittel, das die Entwicklung fördern soll, besteht also in der Integration von Aufmerksamkeit und Gewahrsein«, sagt Fritz Perls (in Tonband-Transkript III).

Genauso soll der Trainee erst einmal die Gestalttherapie an der eigenen Person erlebt und erfahren haben. Erst dann wird er im Rahmen der gestalttherapeutischen Ausbildung beginnen, erste Erfahrungen mit Übungsklienten zu sammeln. Dann wird er die selbst erfahrene Gestalt-Forscherhaltung seinen Klienten weitergeben, sie ihnen näherbringen und lehren.

Dahin kommt der Gestalt-Trainee nicht einfach dadurch, dass er die Techniken, die er bei Fritz Perls gelesen hat, nun selbst anwendet. Das macht keinen Gestalttherapeuten aus. Es geht vielmehr darum, den Anforderungen der jeweiligen therapeutischen Situation entsprechend neue Gestalttechniken selbst zu entwickeln, neue Interventionen selbst zu schöpfen, selbst zu kreieren. Die Tätigkeit des Gestalttherapeuten ist so nicht einfach die eines Handwerkers, sondern eher eine schöpferische Tätigkeit. Eher die eines Künstlers. Doch auch dieser muss zuerst sein Handwerk gelernt haben.

Dies ist unserer Meinung nach die Art Ausbildung, die im Geiste von Fritz Perls und der anderen Begründer der Gestalttherapie die Haltung fördert, die Klienten die beste Unterstützung zuteil werden lässt. Darum haben wir am Gestalt-Institut Köln (GIK) ein eigenes Modell der Ausbildung umgesetzt, um eine Alternative zu bieten zu der immer noch vorzufindenden Ausbildung von Gestalt-Sozialtechnikern durch die Vermittlung eines Methodenrepertoirs (im Sinne von »Methoden lernt man, um sie parat zu haben, wenn man meint, dass sie an eine bestimmte Stelle des therapeutischen Prozesses passen«).

Fritz Perls hat leider sogar selbst zu dieser Fehlhaltung beigetragen. In seinen Demonstrationen hat er nämlich eher erklärt, weshalb er so und so arbeitet, aber nicht verdeutlicht, wie er die Interventionen aus seiner Wahrnehmung geschöpft hat, wie er sie in dieser bestimmten Situation »erfunden« hat. So ist es heute noch üblich, eher zu lehren, »warum« jemand eine bestimmte Methode anwendet, als zu verdeutlichen »wie« er in dieser Situation zu dieser Methode gekommen ist. Und das, obwohl Fritz gegenüber seinen Klienten immer wieder betont, dass es der Gestalttherapie um die Frage nach dem »wie« geht, und nicht um die Frage nach dem »warum«, dass in der Gestalttherapie nun »das ›wie‹ das ›warum‹« des »mechanistisch-kausalen Denkens« der Psychoanalyse »ersetzt« (in Tonband-Transkript VIII).

Der Nachdruck auf dem Wie (anstelle des Warum) bedeutet jedoch nicht, dass wir meinen, in der Ausbildung solle oder dürfe auf Theorie verzichtet werden. Bei uns spielt Theorie-Lernen während der gesamten Ausbildung eine wichtige Rolle. Wir haben sogar die Erfahrung gemacht, dass Teilnehmer, die sich besonders intensiv mit Theorie beschäftigt haben, es später leichter haben, mit (Übungs)Klienten zu arbeiten. Theorie ist also Unterstützung für die Praxis.

So wie wir die Theorie als Theorie betonen, betonen wir auch die Praxis als Praxis: Praxis ist nicht, in einer Art »Trockenkurs« Methoden an abstrakten Fällen zu pauken, sondern nach zweieinhalb Jahren Grundausbildung sammeln unsere Teilnehmer schon praktische Erfahrungen durch Hospitationen in Gestaltgruppen und durch Sitzungen, in denen sie mit Übungsklienten arbeiten. Und wir verstehen es als unsere Aufgabe als Ausbildungsinstitut, sie beim Akquirieren von (Übungs-)Klienten zu unterstützen bzw. ihnen solche zu vermitteln, damit sie praktische Erfahrungen sammeln können. Später arbeiten sie dann sogar mit »richtigen« Klienten, z.B. im Rahmen der von uns initiierten »Gestalt-Ambulanz«.

 

Schwierigkeiten mit Fritz' Sprache

In den Transkripten wimmelt es von Begriffen wie »chicken shit«, »bullshit« oder sogar »elephant shit«, wie »mind fucking« und hin und wieder »dirty work«. Die sind zwar plakativ, aber irgendwie doch auch störend - jedenfalls heute. Aber denken wir zurück an die Zeit Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre. Da haben viele so gesprochen, die einen Aufbruch wollten. Diese Sprache hatte damals eine erleichternde, befreiende Wirkung. Das Wort »Scheiße« auszusprechen - das war auch ein Stück Auflehnung gegen die vorherrschende Sprache dieser Zeit (der Eltern, der Lehrer, der Pfarrer oder der Politiker) - eine Sprache, die nicht kraftvoll, klar und deutlich benannte, was tatsächlich ist, sondern eher vorsichtig, zu vorsichtig umschrieb. So vorsichtig, dass es eine Verdrängung und Verheimlichung war. Das Ausbrechen aus dieser konventionellen Sprache nahm das Ausbrechen aus den anderen Konventionen, Normen und Zwängen vorweg.

Lange Haare. Jeans. Jannis Joplin. Rolling Stones. Und die Sprache: Mist. Scheiße. Bumsen. Vögeln. Ficken. Es ging in dieser Zeit um neue Erfahrungen - nicht um Hirnwichsen. In den USA war »Woodstock« das Symbol dafür, in der BRD z.B. die Folk-Festivals in der Ingelheimer Kaiserpfalz - jedes Jahr am langen Pfingstwochenende. Ein Raum frei von Kontrolle. Ohne Repression. Freundliche Menschen. Erwachsene und Kinder - letztere in winzigen Schlafsäcken unter freiem Himmel, auf dem Zeltplatz oder gemeinsam in der Turnhalle. Wunderbare Musik - auch aus dem verlorenen Atlantis. Bunte Farben. Ingelheimer Rotwein. Hin und wieder ein Joint, der seine Runde machte.

Wer von Ihnen das nicht miterlebt hat und wem diese Erinnerungen nichts sagen, sei schlicht eingeladen, über die heute eher »prollig« denn rebellisch klingende Sprache von Fritz hinweg zu sehen und dahinter auf die reife therapeutische Leistung zu schauen.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Foto: Blankertz und DoubrawaErhard Doubrawa und Stefan Blankertz (rechts)

Dr. Stefan Blankertz,

Jahrgang 1956, Sozialwissenschaftler, Schriftsteller und Coach, beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit der Theorie der Gestalttherapie. Am »Gestalt-Institut Köln/GIK Bildungswerkstatt« betreut er die theoretische Ausbildung von Gestalttherapeuten. Bei Hammer erschien u.a. sein Lehrbuch »Gestalt begreifen« (3. Auflage 2003, vgl. Info S. 70).

Erhard Doubrawa,

Jahrgang 1955, Gestalttherapeut, leitet das »Gestalt-Institut Köln/GIK Bildungswerkstatt«, wo er auch als Ausbilder tätig ist. Er gibt die »Gestaltkritik« heraus, die weltweit auflagenstärkste Zeitschrift für Gestalttherapie. Bei Hammer erschien u.a. sein Buch »Die Seele berühren« (2. Auflage 2003).

Gemeinsam veröffentlichten die beiden das viel beachtete Buch: »Einladung zur Gestalttherapie. Eine Einführung mit Beispielen« (3. Auflage 2003).

Den nebenstehenden Beitrag verfassten sie für die 2. Auflage des Buches des Mitbegründers der Gestalttherapie: Frederick S. Perls, »Was ist Gestalttherapie?« (3. Auflage 2003).

Wenn Sie gleich zu dieser Seite gekommen sind, ohne bisher unsere Homepage besucht zu haben, so sind sie herzlich dazu eingeladen:
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GIK Gestalttherapie Institut Köln
GIK Gestalttherapie Institut Kassel
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