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Detlev Kranz
Der Körper als Brennpunkt


Aus der Gestaltkritik 2/2005

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 2-2005):

Detlev Kranz
Der Körper als Brennpunkt

 

Foto: Detlev KranzDetlev Kranz

 

In unserer Zeitschrift sind bereits drei weitere Beiträge von Detlev Kranz erschienen, die wir hiermit Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen möchten:

Der Herausgeber

Der Körper wird mehr und mehr zum Brennpunkt gesellschaftlicher Strömungen, Entwicklungen und gesellschaftlicher-politischer Auseinandersetzungen, jedenfalls stellt es sich mir so dar.

Gemeint ist der Körper des Einzelnen.

Wir selbst, jeder von uns, bildet in seiner Körperlichkeit den Zielpunkt politischer, ideologischer und ökonomischer Interessen. Er findet sich wieder im Zentrum fremder Vereinnahmungswünsche, fremder Besetzungs- und Besatzungsgelüste, fremder Eroberungs- und Manipulationsbestrebungen.

Der einzelne Mensch gerät zunehmend in einen Abwehrkampf gegen Strategien der Körperenteignung - mit zunehmender Drohung einer weitergehenden Unterwerfung unter Macht und Ökonomieinteressen, unter die Gesetzmäßigkeiten von Markt und Warenstruktur, als sei es unabwendbares Schicksal oder gegeben als menschliche Natur.

Es gilt jedoch auch Anderes: In den angedeuteten Prozessen und Einwirkungen erscheint der Körper gleichzeitig und zunehmend auch als letzter Rückzugspunkt, als letzter Freiraum, letzter Spiel-Raum, als letzte Bastion von Selbstverwirklichungschancen; zum Guten hin wie hin zum Schlechten, hin zum Illusionären. Als Ort von Kreativität, von eigenständigem, nicht-fremdbestimmten Handeln, wie auch als letztes Objekt, an dem die Illusion von Kontrolle aufrechterhalten werden kann, angesichts einer persönlichen und gesellschaftlichen Situation, die der persönlichen Kontrolle und Einwirkungsmöglichkeit mehr und mehr zu entgleiten droht.

Im ideologischen Zentrum des Geschehens stehen für uns Gestalttherapeuten so bedeutende Begriffe wie (Selbst-)Verantwortung und Ganzheit - und deren fortschreitende Umdeutung. Und berührt werden unsere Vorstellungen von Gesundheit/Krankheit, persönlichem Wachstum, organismischer Selbstregulierung, Selbstverwirklichung und Manipulation.

 

Die Grundlegungen

Man könnte vielleicht sagen, daß die ideologische Vorbereitung, ungewollt, schon in den Konzepten der New Age-Bewegung in den 1970er und Anfang der 1980er

Jahre lagen.

Zu diesem Zeitpunkt drangen neue Überlegungen in den gesellschaftlichen Rahmen, die von Krise, Übergang und Paradigmenwechsel sprachen. Fritjof Capra sieht in seinem Vorwort zu Marilyn Ferguson's Buch »Die sanfte Verschwörung. Persönliche und gesellschaftliche Transformation im Zeitalter des Wassermanns« (Ferguson 1980, S. 11) dem zugrundeliegend ein »zu enges Weltbild«. Er erkennt im gesellschaftlichen Kontext »eine dramatische Veränderung in Bezug auf die Gedanken, Wahrnehmungen und Wertbegriffe, die ein besonderes Realitätsempfinden entstehen lassen. Das umfasst eine große Anzahl von Vorstellungen, die unsere Gesellschaft während Hunderten von Jahren beherrscht haben; ...« (a.a.O. S. 12)

Dazu gehört im Besonderen das mechanistische Weltbild Newton'scher Prägung, dem ein anderer Autor, Morris Berman, die »Wiederverzauberung der Welt« entgegensetzt (Berman 1981).

Das mechanistische Weltbild versteht die Welt als Maschine, und diese mechanistische Anschauung wird bereits von Descartes auch auf lebende Organismen bezogen (Capra 1982, S. 60).

Die Ausformungen des »neuen Paradigmas« nehmen in den 1960er und 70er Jahren deutlichere Gestalt an. U.a. wird das neue Paradigma geprägt vom Felddenken der Neuen Physik (Relativitätstheorie; Quantenphysik etc.) und der Prozessorientierung (Systemtheorie, s. z.B. Jantsch 1979).

»Es existiert eine holistische Sichtweise, das dominierende Muster ist das der Ganzheit; an die Stelle deutlich trennbarer Objekte tritt ein Feldzusammenhang; eine streng determinierte Kausalität wird durch Vernetzung, durch Zusammenspiel der 'Teilheiten' der Ganzheit ersetzt; das neue Weltbild ist primär dynamisch, prozessorientiert; temporäre Strukturen erscheinen als Aspekte von Prozess; Zeit und Raum sind relativ und abhängig von der Betrachtungsebene und der Betrachtungsweise, die wir wählen.« (Kranz 1986, S. 19/20)

In den Gegensatz »altes, mechanistisches Weltbild« und neues Paradigma können wir auch das Verhältnis von Psychoanalyse und Gestalttherapie einordnen: mit ihrer Fundierung in Gestaltpsychologie, Gestalt-Theorie im Sinne Kurt Goldsteins und der Feld-Theorie Kurt Lewins unterscheidet sich die Gestalttherapie von Anfang an grundlegend, »paradigmatisch«, von der Psychoanalyse.

»Die Kritik der Reflexbogentheorie nimmt Fritz Perls im ersten Buch zur Gestalttherapie (Perls, F.: »Das Ich, der Hunger und die Aggression«, 1946) genauso auf, wie die Vorstellung von Ganzheiten, ganzheitlicher Betrachtungsweise des Organismus und den Feldbegriff. (...) Bei der Erklärung, warum er mit der Anwendung des Gesetzes von Ursachen und Wirkung vorsichtig sein will, bezieht sich Perls explizit auf die Entdeckungen Heisenbergs und Nordingers und die Quantentheorie Plancks, also auf Bereiche der neuen Physik, des Neuen Paradigmas (a.a.O. S. 26 - Fußnote).« (Kranz 1986, S. 25)

Für Marilyn Ferguson erscheint der »Geist unseres Zeitalters« 1980 noch »voll von Paradoxien. Er respektiert sowohl Aufklärung als auch Mysterium ... Macht und Menschlichkeit ... gegenseitige Abhängigkeit und Individualität.« (Ferguson 1980, S. 20). Doch schon rund zehn Jahre später ist ein Umkippen feststellbar, eine neue Einseitigkeit - gegen jedes Ganzheits-Gerede -, bei der die Verdienste der Aufklärung: die rationale Analyse und die Forderung nach intersubjektiver Überprüfbarkeit von Erkenntnissen, zurückgedrängt werden gegenüber neuen Formen von Irrationalismus; bei der der kühne und ermutigende Aufruf der Aufklärung, sich des eigenen (kritischen) Verstandes zu bedienen, mehr und mehr in Vergessenheit gerät.

Die Chancen, die Ferguson sieht, dem Menschen Gelegenheit zu Bewusstseinsveränderung zu eröffnen, zu BEFREIENDER Bewusstseinsveränderung, scheinen immer häufiger in neue Bewusstseinsmanipulationen, Fremd- und Selbstmanipulation, umgeschlagen zu sein.

Frank-M. Staemmler schreibt bereits 1993: »Es ist in bestimmten Teilen der 'Psycho-Szene' und mehr noch in Kreisen, die sich mit esoterischem Wissen beschäftigen, in den letzten Jahren Mode geworden, Krankheiten als etwas zu betrachten, das man ausschließlich durch die Macht des Geistes, durch 'positives Denken', durch die Überwindung psychischer Störungen, durch den Glauben an irgendeine 'Wahrheit' oder irgendeinen Gott beziehungsweise Gottersatz heilen könne. Ich halte das für eine Form des Größenwahns, dessen Mentalität mich eher an den Machbarkeitskult moderner Technokraten als an die Demut spiritueller Meister erinnert. Menschen sind ganzheitliche Wesen, das heißt sowohl die geistige als auch die psychische als auch die körperliche Ebene sind integraler Bestandteil ihres Seins. Natürlich gibt es Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen - deren genaue Mechanismen und Einflussgrößen noch überwiegend ein Geheimnis sind -, aber es gibt nach meiner Einsicht und Erfahrung keinen vernünftigen Grund anzunehmen, eine Ebene, zum Beispiel der Geist, habe absolute Macht über die anderen.« (Staemmler 1993, S. 37/38)

Und spricht Morris Berman 1981 noch von der Notwendigkeit der Wiederverzauberung der Welt als weitere Entfaltung unseres Menschseins, so sehe ich heute mehr üblen Spuk, der die Gehirne verkleistert und in neue Täuschungen führt.

 

Ganzheit

Aber ich schreibe vom KÖRPER als Brennpunkt, - wie gerät der Körper hier ins Spiel, als gefährlicher Ort oder als gefährdeter? Mit der New Age-Bewegung und den Diskursen über das Neue Paradigma ist von vornherein verbunden die Betonung des Menschen als Ganzheit von Körper und Geist (und Seele). Und die Kritik gegenüber dem »Alten« manifestiert sich auch als Kritik an der nicht-ganzheitlichen Betrachtung des Menschen, seiner Gesundheit und seinen Erkrankungen.

Sowohl Ferguson als auch Capra weisen deutlich darauf hin.

Gleichzeitig zeigen sich bei ihnen schon erste, kleine Aufweichungen im Denken - ein Nicht-Durchhalten des Ganzheits-Ansatzes in letzter Konsequenz; und somit bereiten sie vielleicht schon vor, was im weiteren Verlauf mit den ursprünglich ganzheitlich gedachten Modellen von Psychosomatik geschieht: Popularisierung und Trivialisierung, - im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen, heben den Ganzheits-Ansatz allmählich wieder auf, und wir erleben eine neue Einseitigkeit - die Überhöhung des Geistes und der Seele (wahlweise oder unterschiedslos).

Ich habe das in seinen Auswirkungen und Konsequenzen für erkrankte Menschen in meinem Artikel »Schwarze Psychosomatik« (Kranz 2004) am Beispiel der Multiplen Sklerose beschrieben, unter Betonung des Aspekts der Definitions-Macht und des Gegensatzes »Glauben« - »gesichertes Wissen«; und etwas allgemeiner dazu festgestellt:

»Jubelnd stürzen sich seit geraumer Zeit so genannte Psychosomatiker (egal ob psychologische oder medizinische) auf all die Erkrankungen, die nicht oder nicht vollständig schulmedizinisch in ihrer Ursächlichkeit geklärt, und nicht oder nur unzureichend heilbar sind. Und sie füllen die Lücken mit ihren pathologisierenden Phantasien (egal, ob sie sich dabei traditioneller, etablierter Phantasien wie die Psychoanalyse oder neuer, 'esoterischer' Phantasien bzw. Phantastereien bedienen, oder ihre eigene, willkürliche benutzen); - und bürden den geplagten kranken Menschen nun zusätzlich noch das Stigma der psychischen Störung, der psychischen Defizite oder der Fehlentwicklungen auf, und leiten die Auseinandersetzung mit der Erkrankung in neue, zusätzliches Leid schaffende Bahnen. (...)

Aus der verheerenden Tradition der Schulmedizin, alles, was sie zu einem gegebenen Zeitpunkt organisch/körperlich nicht erklären konnte, der Psychiatrie als psychiatrische Erkrankung zuzuweisen, und damit die Psychiatrie zum Mülleimer der somatischen Medizin zu machen, - in grandioser Verachtung des Geistig-Seelischen, erheben sich nun so genannte Psychosomatiker und Psychotherapeuten und tragen umgekehrt Geist und Psyche in den Himmel der Allmächtigkeit.

Mit ähnlicher Hybris wird von dieser Seite die Allmacht des Geistig-Seelischen gepredigt, und wer krank wird und nicht mehr gesund, ist eben geistig-seelisch nicht potent genug, und wird mit neuen Unfähigkeits- und Unzulänglichkeitsvorwürfen (explizit oder implizit) diffamiert, gedemütigt und aufs neue und zusätzlich gekränkt.« (Kranz 2004, S. 24)

Aber nun noch einmal Capra, um zu zeigen, dass erste Entwicklungslinien in diese neue Einseitigkeit schon bei ihm kurz angedeutet sind.

Beschreibt er im Wesentlichen Gesundheit als ganzheitliches Phänomen im Feld:

»Gesundheit ist in Wahrheit ein multidimensionales Phänomen mit voneinander abhängigen physischen, psychischen und sozialen Aspekten.« (Capra 1982, S. 360); so formuliert er jedoch einige Seiten später in einer Weise, die seinen Ganzheitsansatz tatsächlich verzerrt und verwischt und in eine - von ihm sonst kritisierte - Richtung des Reduktionismus und der neuen Einseitigkeit zielt:

»Da Geistestätigkeit ein Gewebe von Vorgängen auf mehreren Ebenen ist, von denen die meisten im Unbewussten stattfinden, sind wir uns dessen nicht immer bewusst, wie wir in eine Erkrankung hinein und wieder heraus geraten, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass jede Erkrankung im Grunde ein geistiges Phänomen ist.« (a.a.O. S. 366)

Er wird aber bereits auf der folgenden Seite wieder eindeutig: »Wollte man irgendeine Störung als rein psychisch verursacht sehen, dann wäre das genauso reduktionistisch wie der Glaube, es gebe rein organische Krankheiten ohne jede psychische Komponente.« (a.a.O. S. 367)

Um es schon einmal vorwegzunehmen: die Zuschreibung alleiniger Verantwortung für den eigenen Gesundheitszustand (und die implizite Behauptung, der Einzelne sei Herr seines gesundheitlich-körperlichen Schicksals, unabhängig von äußeren, umwelt- und gesellschaftsbezogenen Bedingungen) passt hervorragend in die Ideologie neoliberaler Politik der Reduzierung der Schutzfunktionen des Staates für den einzelnen Bürger, und der damit verbundenen Umverteilung staatlicher, finanzieller Mittel; und dient damit in ausgezeichneter Weise herrschenden politisch-ökonomischen Interessen.

Der Körper wird zum Brennpunkt - aus unterschiedlichsten Richtungen, weil die Gesellschaft brennt, weil durch den globalisierten Kapitalismus gesellschaftliche Umwälzungen erheblichen Ausmaßes in Gang gesetzt wurden.

Allmachtsvorstellungen und Kontrollwahn, gerichtet auf den eigenen Körper erhalten einerseits die Illusion aufrecht, nicht völlig (fremden, gesellschaftlichen Prozessen) ausgeliefert zu sein, und lenken gleichermaßen davon ab, dass der tatsächliche Gestaltungsraum außerhalb des eigenen Körpers immer mehr abnimmt.

Für die Gestalttherapie ist im besten Sinne Verantwortung (in allgemeinster Sicht: als Fähigkeit, auf die Bewegungen des Feldes zu antworten) nicht zu trennen von Selbstregulierung und Selbstverwirklichung sowie Wachstum. Dies sind Konzepte der Befreiung des Menschen aus Unmündigkeit (um einen Ausdruck der Aufklärung aufzunehmen) und aus Herrschaftsstrukturen und -prozessen.

Sie bilden Konzepte der Emanzipation.

Die Fähigkeit, angemessen auf Anforderungen antworten zu können, ist abhängig von der Fähigkeit des einzelnen Menschen, sich angemessen selbst regulieren zu können. Verantwortung in diesem Sinne ist gekoppelt an eine funktionierende Selbstregulierung. Selbstregulierung wiederum bleibt störanfällig, besonders durch Eingriffe von außen, womit wir bei der Möglichkeit von Fremdbestimmung und Herrschaft angelangt sind.

»Das Prinzip der organismischen Selbstregulierung schließt die Befriedigung der Bedürfnisse des Organismus weder ein noch stellt sie sie sicher. Es impliziert, dass Organismen ihr Bestes tun werden, sich selbst zu regulieren, unter den Voraussetzungen ihrer eigenen Fähigkeiten und der Ressourcen des Umfelds.« (Latner 1973, S. 13; meine Übersetzung, D.K.)

Gestalttherapie betrachtet die Ganzheit des Organismus immer als Ganzheit des Organismus im Feld. Der Mensch als Teil seiner sozialen (und biologischen, physikalischen etc.) Umgebung hat über die ihm innewohnende Fähigkeit zur Selbstregulierung Potentiale und Ressourcen zur Selbstverwirklichung, nach der er strebt.

Die Position der Gestalttherapie zu Selbstregulierung und schöpferischer Anpassung fasst Achim Votsmeier-Röhr in dieser Weise zusammen: »Wenn wir diese Feldbedingungen vom menschlichen Organismus aus betrachten, so ist dessen existentielle Aufgabe die schöpferische Anpassung an die jeweilige Situation [bzw. ebenfalls die Anpassung der Situation an den Organismus, also die umgekehrte Richtung, wie Votsmeier-Röhr an anderer Stelle auch schreibt; D.K.]. Die Motivationskraft zu dieser kreativen Anpassung liegt in der grundlegenden Tendenz zur Selbstaktualisierung bzw. Selbstverwirklichung, d.h. zur möglichst optimalen Verwirklichung der individuellen Wesenheit (vgl. Goldstein 1971, 471). Selbstaktualisierung geht über eine Selbstregulierung hinaus, der es nur um homöostatische Selbsterhaltung geht - ...« (Votsmeier-Röhr 2004, S. 71)

 

Bleiben wir jedoch beim Konzept der Ganzheit.

Anne Harrington veröffentlichte 1996 eine hervorragende Studie, die seit 2002 auch in deutscher Übersetzung erhältlich ist, unter dem Titel: »Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung«; der englische Titel lautet »Reenchanted Science«, also »Wiederverzauberte Wissenschaft«, und spielt damit bewusst auf Morris Bermans Buch von 1981 an (ich verdanke den Hinweis auf Anne Harringtons Studie Achim Votsmeier-Röhr; sie enthält u.a. ein ausgezeichnetes Kapitel über den Neurologen und Gestalttheoretiker Kurt Goldstein).

Anne Harrington erläutert zunächst, dass »die neue 'ganzheitliche' Wissenschaft von Geist und Leben, die die alte Maschinenwissenschaft ersetzen sollte (...) mehr einem Sammelsurium von Ansätzen als einem kohärenten Konzept« glich (Harrington 1996, S. 15).

Sie erkennt aus kritischer Analyse heraus eine grundsätzliche Ambivalenz des Ganzheitsbegriffs zwischen Wissenschaft und Mythos: »Auf diese Weise wurde die Ganzheit nicht nur eine wissenschaftliche Tatsache, sondern eine Rettungsmythodologie und ein psycho-biologischer Leitfaden zum kulturellen und politischen Überleben.« (a.a.O. S. 19)

»Die Infizierung der deutschen Ganzheitslehre mit den Rassegedanken und ihre teilweise Absorption in die Politik und Mythologie des Nationalsozialismus ist ein wichtiger Teil der umfassenderen Geschichte.« (a.a.O. S. 22)

»In Deutschland war die Ganzheitsvorstellung kein rein intellektuelles Phänomen, sondern sie diente gewissermaßen als Vehikel für politische Ängste und sozialreformerischen Eifer.« (a.a.O. S. 25)

In ihrer Zusammenfassung zum Abschluss weist sie auf folgendes hin: »Die kulturellen Bedingungen, die in den deutschsprachigen Ländern vor allem nach dem Ersten Weltkrieg herrschten, machten es der Ganzheit sicherlich leichter, mit einem konservativen, antidemokratischen Akzent zu sprechen. Doch ich habe in diesem Buch versucht darzustellen, dass die Geschichte des deutschen Ganzheitsdenkens aus vielen Geschichten besteht, und die Fälle von Goldstein, Wertheimer und Driesch zeigen, dass andere politische Beziehungen möglich und - unterschiedlich - überzeugend waren.« (a.a.O. S. 369/70)

Im Blick auf die Geschichte der USA erwähnt sie den Einfluss von Grundlagen und Grundlegern der Gestalttherapie (neben Marcuse), ohne Gestalttherapie ausdrücklich zu nennen: »Kurt Goldstein, Herbert Marcuse und Fritz Pearls [Schreibfehler im Buchtext, gemeint ist Fritz Perls; D.K.] halfen einer neuen Generation junger amerikanischer Unzufriedener dabei, eine individualistische Sprache der Ganzheit, des menschlichen Potenzials und der inneren Transformation zu finden, und ihre Bemühungen trugen in den sechziger Jahren und auch später noch Früchte.« (a.a.O. S. 376)

Inzwischen lässt sich über die Entwicklung des Gebrauchs des Ganzheitsbegriffes kritisch anmerken, dass wir einem »gängigen inflationären, undifferenzierten und totalisierenden Gebrauch der Ganzheitsmetapher« (Lessin 2002, S. 19) begegnen. Ulrich Lessin führt weiter dazu aus: »Was mir (...) von allen Seiten als Ganzheitsideal mit seinem Wachstumsdruck zum 'immer perfekter, immer schöner, immer vollkommener, immer intensiver ...' entgegenschlägt, erscheint mir mehr wie ein penetranter Ausdruck der Unfähigkeit zu trauern; dass wir, wenn wir wachsen, zugleich immer auch Altes und Vertrautes - auch Wertvolles und Liebgewonnenes - hinter uns lassen; dass die Kehrseite des Wachstums ist, dass wir immer auch gleichsam 'Ruinen unserer Vergangenheit, Fragmente zerbrochener Hoffnungen, verronnener Lebenswünsche, verworfener Möglichkeiten, vertaner und verspielter Chancen' (Luther 1992, 168) sind.« (a.a.O. S. 20)

Er wendet sich gegen die »normative Idealisierung von Totalität« und stellt dem im positiven Sinne »die Erfahrung fragmentarischen Erlebens von Begrenztheit, Unvollkommenheit und Leiden« entgegen. (a.a.O. S. 20)

Die möglichen positiven Auswirkungen versteht er so: »Unser Leben derart als Fragment zu begreifen, heißt frei werden zu können von unbarmherzigen, selbstüberfordernden äußeren oder verinnerlichten Ansprüchen und uns zu versöhnen mit unserer Unvollkommenheit und Schwäche, unserer Verletzlichkeit und Endlichkeit.« (a.a.O. S. 43/44)

 

Esoterische Täuschung und verzerrte Spiritualität

Eine ganzheitliche Sichtweise des Menschen, wie sie die Psychosomatik als Psyche UND Somatik ursprünglich intendierte, hat sich mehr und mehr aufgelöst und verschoben auf eine Überbetonung des Geistig-Seelischen und Herabsetzung des Körperlichen hin.

Populäre (pseudo)psychosomatische und esoterisch-spirituelle Vorstellungen gewannen zunehmend an Einfluss und beherrschen ebenso zunehmend den populären öffentlichen Raum und Markt. Fast allen diesen Konzepten ist bei einer Überhöhung des Geistig-Seelischen die Degradierung des Körpers gemeinsam unter Anwendung von Beherrschungsbildern und Unterwerfungstechniken. Der Körper wird zum Objekt des Geistig-Seelischen, und es gilt, ihn neuer Kontrolle und Lenkung auszusetzen.

Gerät hier der Körper in den Brennpunkt, so als Objekt von (All)Machtsphantasien, Kontroll- und Perfektionswahn.

Mit einer echten, aufrichtigen Spiritualität hat das nach meinem Verständnis nichts zu tun. Heilung und Heilen, so oft in diesen populär-reduzierten Konzepten bemüht, werden wichtiger Dimensionen beraubt:

dem sich anvertrauenden Loslassen an »etwas Anderes«, »etwas Umfassenderes« (egal, welchen »Namen« man dafür heranziehen will);

und einem inneren, nicht-anhaftenden Erwachen hin zu dem, was IST.

Das bewusste sich hingeben an einen nicht-manipulierbaren Akt der Gnade als Teil von Heil und Heilung wird nicht mehr gesehen. Statt dessen degenerieren Gebet, Meditation, Ritual o.ä. zu Techniken der Machtausübung gegen sich selbst, zur Übung der Selbstmanipulierung oder der Manipulierung »anderer Mächte«.

Diese pseudo-spirituellen Lehren und Übungen offenbaren bei genauer Ansicht einen verschleierten Egoismus, eine andere Egozentrizität, in dem der Einzelne, der Ausübende, alles auf sich bezieht, sich selbst als ursächlich für alle Ereignisse und Entwicklungen ansieht, und dabei in Illusionen von Allmacht und Allmächtigkeit schwelgt, bis er auf oft schmerzhafte und verhängnisvolle Weise an die Grenzen stößt, um dann entweder aufzuwachen oder neue Wege der Verleugnung und Selbsttäuschung zu suchen.

Kontrolle, Perfektionismus und Selbstmanipulierung kommen allerdings auch ohne diesen ideologischen Überbau aus, und können sich rein materiell auf den Körper an sich und allein beziehen; und müssen ebenfalls verstanden werden als Teil gesellschaftlicher Prozesse in der Phase des sich globalisierenden Kapitalismus, und den Auswirkungen auf die Politik und Ökonomie in den Einzelgesellschaften.

 

Der Körper im Brennpunkt von Ökonomie und Politik

Die kritischen Gesellschaftswissenschaften untersuchen diese Prozesse u.a. im Rückgriff auf die von Foucault geprägten Begriffe der »Gouvernementalität« und Selbsttechniken.

Die Zurichtungen des eigenen Körpers, sei es durch Fitness-Programme, Work-out, oder durch Schönheitsoperationen etc. dienen, neben anderem, auch der Funktion des Körpers als Warenoberfläche, die im Markt positioniert wird. Es ist von Bedeutung, »gut« auszusehen, gesund zu sein - oder zumindest so zu scheinen, - schließlich geht es um die Chancen in der Gesellschaft, ums materielle Überleben. Die populären psychosomatischen und esoterischen Konzepte, die auf die eine oder andere Weise suggerieren »Es (DU) (b)ist machbar« passen sich hier nahtlos ein in die politischen Projekte der Entstaatlichung im Sinne von Abbau von Schutzrechten, sozialer Schutzsysteme, o.ä. im Dienste der Umverteilung knapper staatlicher Finanzen.

Michael May schreibt dazu: »Demgegenüber müssen im Übergang zum Postfordismus nun die erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen vom Individuum zunehmend eigenverantwortlich marktgerecht plaziert werden, damit es seine Existenz zu sichern im Stande ist. (...) Nicolas Rose (2000: 86) hat dies als Regieren durch Aktivierung des Engagements bezeichnet.« (May 2003, S. 84)

Aber er erläutert dann weiter unter Anwendung des Begriffes der »Gouvernementalität«:

»Regieren wird dabei freilich nicht als eine Technik begriffen, die vom Staat angewendet oder eingesetzt wird. Vielmehr wird - Foucault (1987) folgend - der Staat selbst als Element und Effekt von Regierungspraktiken 'im Führen der Führungen und in der Schaffung der Wahrscheinlichkeiten' (ebd.:255) zu fassen versucht. Foucault hat in diesem Zusammenhang den Begriff der 'Gouvernementalität' geprägt, welcher Regieren ('gouverner') und Denkweise ('mentalité') semantisch zusammenbindet.« (a.a.O. S. 84)

Er fährt dann fort, unter Einbeziehung des Begriffs der Selbsttechnologien; (- und ich halte hier eine Zwischenbemerkung für angebracht: dieser Begriff der Selbsttechnologien sollte uns als Gestalttherapeuten mehr interessieren, nach meiner ersten Einschätzung könnte er uns zu einer Erweiterung oder zumindest erneuten Reflektion des Introjektions-Begriffs führen -):

»Gerade angesichts des Produktivitätsverlusts der fordistischen Fließhandproduktion im Übergang zu einem postfordistischen Akkumulationsregime vermag sich eine solche Pragmatik nicht länger mehr allein auf äußeren Zwang und mehr oder weniger explizite Verbote von Handlungsoptionen stützen. Regierung als 'ein Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf mögliche Handlungen' (ebd.) oder - wie es die Herausgeber des Sammelbandes 'Gouvernementalität der Gegenwart' formulieren - als 'Macht, Subjekte zu einem bestimmten Handeln zu bewegen' (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000: 29), erfordert von daher auch nicht mehr die Unterdrückung von Subjektivität. Vielmehr muss sie sich 'vor allem auf ihre‚ (Selbst-)Produktion' (ebd.) beziehen: 'auf die Erfindung und Förderung von Selbsttechnologien' die an Regierungsziele gekoppelt werden können' (ebd.).« (a.a.O. S. 84/85)

Im Editorial zum Themenheft »Selbsttechnologien - Technologien des Selbst« der Zeitschrift »Widersprüche« (Nr. 87, 3/2003) schreibt die Redaktion:

»Die Forderung Foucaults, zu analysieren, wie Techniken der Herrschaft sich der Prozesse bedienen, in denen Individuen auf sich selbst einwirken, und umgekehrt Selbsttechnologien in Zwangs- und Herrschaftsstrukturen integriert werden, gewinnt damit eine neue Qualität.« (a.a.O. S. 6)

Ich halte an dieser Stelle den Hinweis für nötig, dass wahrscheinlich die meisten dieser Prozesse und Entwicklungen, in denen der Körper - wie ich es formuliere - in den Brennpunkt gerät, ambivalent zu verstehen sind, - oder

dialektisch, wenn wir eine gesellschaftskritische Perspektive einnehmen wollen. Viele von ihnen enthalten sowohl Befreiungspotential, durchaus auch die Chance und den Ausdruck kreativer Selbstverwirklichung oder einfach durchscheinend den Wunsch nach besserem Leben - als auch Material, das zu Wiedervereinnahmung des Menschen unter ein mehr an Herrschaft dienen kann.

In einer offensichtlichen Weise gerät der Körper, gerät Körperlichkeit, seit Jahren mehr ins öffentliche Bewusstsein und breitet sich aus im öffentlichen Raum - unterschiedliche Erscheinungen kamen bereits zur Sprache.

Besonders deutlich treten hervor: Fitness, Wellness und eine Art von Körperbewusstsein, die Stefanie Duttweiler in einem Artikel so versteht:

»Body-Consciousness imaginiert den Körper als vor-diskursiven Ort, dessen vermeintlich authentische Wahrheit mittels vorgegebener Techniken und Interpretationsvorgaben zu deuten ist.« (Duttweiler 2003, S. 31), und sie fährt fort mit einer knappen Charakterisierung von Fitness und Wellness: »Zum Medium der Selbstformung und -disziplinierung wird der Körper in der Fitness, die vertiefte Unterwerfung mit gesteigerter Tauglichkeit verkettet.

Wellness soll den Körper in den Zustand des Wohlbefindens im Dienste eines gesunden und leistungsfähigen Lebens versetzen. Alle Modi verankern Subjektivität in körperlicher Erfahrung, in allen gewährleistet der Körper in Unterwerfung die Produktivität des Körpers.« (a.a.O. S. 31)

In den Fitness- und Wellness-Aktivitäten erkennt sie ideale Ziele: »Dass diese idealen Ziele - den Körper vollkommen entspannt, unbegrenzt fit und leistungsfähig zu halten - nie vollständig zu verwirklichen sind, hält die Hoffnung wach und treibt an zu permanenter Selbstverbesserung, zu unablässiger Arbeit an sich selbst. Die Anleitungen zur körperlichen Selbstverbesserung verdeutlichen: auch für den Körper gilt nun das Fortschrittsmodell der Moderne: permanente Steigerung, unendliche Akkumulation, unabschließbares Wachstum.« (a.a.O. S. 33)

Alle gängigen »Ratgeber« schüren die gleichen Hoffnungen: »du kannst dich und deinen Körper kontrollieren, manipulieren und Genuss aus ihm ziehen - in jeder Hinsicht autonom werden.« (a.a.O. S. 33/34)

Fitness, Wellness, neuerdings auch Anti-Aging, werden »zum Markenzeichen einer neuen Moral, die subjektive Wünsche mit gesellschaftlichen Erfordernissen verknüpft: 'Die subjektive Plausibilität des Verlangens, bis zu einem möglichst späten Tod ohne große Krankheiten und Beschwerden zu leben, korrespondiert nämlich bezeichnend mit den Erwartungen der Außenwelt: des Arbeitsmarktes auf ungeschmälertes Leistungsvermögen, der Versicherungen auf einen kostenneutralen Lebensabend, der Gesellschaft insgesamt auf ein allzeit fittes, freundliches, optimistisches Erscheinungsbild'.« (a.a.O. S. 40/41)

Und sie verbinden sich mit den neoliberalen Projekten der »Deregulierung«, des Abbaus staatlicher Schutzsysteme, sozialer Schutzrechte, wobei dies propagiert wird unter den Begriffen von »Freiheit« und »Selbst- bzw. Eigenverantwortung«; was in der Praxis aber nichts anderes meint als Frei-setzung des Einzelnen ins Risiko, in ein Mehr an sozialer Unsicherheit, ein Aussetzen in die Schutzlosigkeit eines sich fortführenden kapitalistischen Gesellschaftssystems.

Diese Ausgesetztheit in ein Mehr an Unsicherheit lässt den Körper auch in anderer Weise in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit rücken: als letzter Rückzugsort, als letzte Zuflucht, letzter Bereich der Erfahrung, in und an dem persönliches Wirken und persönlicher Wirksamkeit im Gegensatz zu Ohnmacht erlebt werden kann; als letzten Ort der Rebellion oder auch als letzter, buchstäblicher Haltepunkt.

Wir dürfen die Ambivalenz/Dialektik der beschriebenen gesellschaftlichen Erscheinungen nicht aus den Augen verlieren. So können Fitness- und Wellness-Aktivitäten des Einzelnen durchaus als Selbstverwirklichung im Sinne

einer Selbstgestaltung des eigenen Körpers erlebt werden. Fitness/Wellness machen Genuss und Freude erlebbar, Gestaltungsmöglichkeit und -fähigkeit ebenfalls, und

ermöglichen Rückzugsräume von gesellschaftlichen Zwängen genauso gut wie sie neue Zwänge und Unterwerfungen schaffen können. Allerdings wird die bewusste Differenzierung durch das Individuum in der Regel kaum gefördert. Es erhält für ein solches Unterfangen so gut wie keine Anregung und Unterstützung.

Die vielfältigen Phänomene im einzelnen in ihrer gesellschaftlichen Erscheinung zu betrachten, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.

Das gilt u.a.

- für die zunehmenden Essstörungen, die auch in der Überschneidung von gesellschaftlichen Faktoren und persönlicher Verfasstheit verstanden werden können (s. z.B. Wardetzki, B. (1995): »Bulimie - der Hunger nach Anerkennung«).

- Für die Schaffung neuer Krankheitsbilder im Interesse der Gewinnsteigerung der Pharmaindustrie (s. z. B. Raschendorfer, N. (2004): »Prozesse der Medizinisierung auffälligen Verhaltens am Beispiel des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms«).

- Die Rolle des Körpers in der Rave- und Techno-Bewegung bleibt ebenfalls ausgeklammert (ich möchte dazu auf die Studie von Gabriele Klein »Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie« (1999) verweisen).

- Des Weiteren bleiben außen vor: Körperschmuck, Piercing und Tatoos.

- Oder die Formierung einer sado-masochistischen Szene, einschließlich Bondage, die wohl in den 1990er Jahren näher ins öffentliche Blickfeld geraten ist.

- Auch eine Betrachtung der Entwicklung und Differenzierung der Körpertherapien unter den Gesichtspunkten dieses Artikels hat hier keinen Raum mehr.

Fassen wir zusammen.

 

Der ökonomisch-politische Imperativ

Aus allen Ecken schallt uns direkt oder implizit der Ruf entgegen »Du musst gesund sein!«, mit der unterschwelligen Ergänzung: »und wenn nicht, bist Du allein dafür verantwortlich«.

Dabei sind sich die meisten Menschen auf einer ganz alltäglichen Ebene des Drucks, »gesund« sein zu müssen, im Sinne von Leistungsfähigkeit im Arbeitsprozess, bewusst genug, wie die sinkenden Zahlen der Krankmeldungen in den letzten Jahren eindringlich zeigen.

Es ist nur allzu verständlich, wenn hier der Körper als Grundlage der sozialen Existenz ohne jede Verbrämung in den Vordergrund gerät. Der Einzelne, der sich um Gesunderhaltung seines Körpers als Erhaltung seiner Arbeitskraft bemüht, trifft - genau so, wie die Menschen, die aus anderen Motiven auf der Suche nach Körperbeeinflussungsmitteln sind - auf einen immer größer werdenden Gesundheitsmarkt, den Gerhard Schulze folgendermaßen charakterisiert:

(Er macht dies allerdings in einem Absatz unter dem Titel »Die neue Freiheit als Zwang zur Autonomie«, wobei wir es hier aus meiner Sicht weder mit Freiheit, sondern mit Freisetzung, noch mit Autonomie, sondern mit Allein

-lassen zu tun haben.)

»Die immer zahlreicher werdenden körperbezogenen Handlungsoptionen, die einander teils überbietenden, teils konterkarierenden und sich wechselseitig in Frage stellendenden Anbieter, die widersprüchlichen, überreich verfügbaren Informationen, die suggestiven Einflüsterungen von allen Seiten - all diese Impulse, denen sich der Einzelne in zunehmenden Maße ausgesetzt sieht, lassen ihm keine andere Wahl, als zu wählen.« (Schulze 2004, S. 23)

All die Angebote suggerieren jedes für sich immer das gleiche: »Du mußt gesund sein (wahlweise: jung sein, schön sein, perfekt sein etc.)«, und »es ist machbar, wenn Du nur die richtigen Produkte oder Lehren etc. kaufst.«

 

Ausblick

Ich glaube, um dieser Fülle von Beeinflussungsversuchen und Manipulationsprojekten UNS SELBST entgegensetzen zu können, ist - neben dem Gebrauch unseres kritischen Verstandes und dem Einsatz von Bewusstheit - ein Blick auf das Wesen unseres Menschseins hilfreich. Auf die simple aber tiefgreifende Tatsache, dass wir vergängliche Wesen sind, zwangsläufig dem Zerfall unterworfen. Genau der ist Teil unseres Lebens. Krankwerden, Altwerden und Sterben - TEIL unseres Lebens. Krankheit ist dem Menschen nichts Fremdes, nichts Äußerliches, das den eigentlich - sozusagen als Wesensmerkmal - gesunden KörperGeistSeele befällt. GesundheitKrankheit gehört vielmehr beständig zu uns. Niemand ist nur und ständig »gesund« - auch wenn es bei verschiedenen Menschen augenfällige äußerliche Unterschiede gibt. Aber eigentlich bildet GesundheitKrankheit einen ständigen Tanz, ein ständiges Pulsieren um ein beinahe sekündliches Entstehen und Vergehen herum, das unseren Organismus konstituiert.

Wir nennen das in der Gestalttherapie »organismische Selbstregulierung im Feld«. Da gibt es kein »Ding«, das man Gesundheit nennt, und das jeden Raum füllt, so dass andere »Dinge« wie Krankheit nicht hineingelangen können.

Und all das geschieht auf dem Hintergrund zunehmenden Verfalls körperlicher Substanz im Verlauf des Älterwerdens.

Zu meinem Verständnis von erfülltem Leben gehört, sich genau dies bewusst zu machen; und sich selbst sowohl in »Krankheit« wie in »Gesundheit« zu leben. Außerdem: auch wenn wir »krank« sind, sind wir nie »nur« krank; zu jedem Zeitpunkt sind WIR viel mehr, auch, gleichzeitig. Erkennen wir das.

Es ist wunderbar, wie viele hilfreiche, und heilende, leidlindernde Mittel und Techniken die Menschen geschaffen haben. Und dennoch bleibt Erkranken Teil unseres Lebens - Auswirkungen eines vergänglichen Körpers.

Eines vergänglichen Körpers, den wir gleichzeitig lustvoll und strahlend erleben können; der sich feiern und genießen - oder pflegen lässt.

Mit dem - wie auch immer beschaffen - wir unser Menschsein verwirklichen. Und von diesem Standpunkt aus können wir dann auch auf uns selbst und auf unseren Mitmenschen einen sanften, freundlichen und mitfühlenden Blick ruhen lassen.

Dies halte ich für wahr: Dass nämlich das »Gelingen« eines Lebens sich nicht in dem vollzieht, was landläufig als »Erfolg« oder »Scheitern« gesehen wird, sondern in dem, wie VOLLSTÄNDIG und RÜCKHALTLOS ich mich in dem, was mich und mein Leben ausmacht, es sozusagen konstituiert, - wie VOLLSTÄNDIG also ich mich in dem, was ich bin und was mein Leben ausmacht - egal, was und wie es ist -, ZUM AUSDRUCK bringe!

Wie VOLLSTÄNDIG ich mich als der, der ich bin, verwirkliche - im Sinne von WIRKLICHKEIT SEIN LASSE. Und auch dafür gibt es KEINEN äußeren Maßstab, der

quasi von außen als Messlatte an mich gelegt wird! Weder für »vollständig« noch für »Wirklichkeit sein«. Keinen! Nur ich selbst für mich selbst in größtmöglicher Aufrichtigkeit vor mir selbst, - und das wiederum nur auf mich, so wie ich gerade bin, innerhalb der jeweiligen Situation, bezogen.

Wir sind zerbrechliche, verletzliche, vergängliche, lebendige Wesen - nicht mehr, nicht weniger.

 

Literatur

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Foto: Detlev KranzDetlev Kranz

Detlev Kranz

Lehrer für Gymnasien; Studium in Münster; lebt in Hamburg; Gestalttherapieausbildung bei Gerhard Selter (Münster) und Jerry Kogan, Marianne Fry, Michael Smith u.a. (Frankfurt, GENI); Arbeit u.a. als Wissenschaftlicher Angestellter in der Hamburger Schulbehörde und als Lehrer und Betreuer in Projekten für arbeitslose Jugendliche.

Homepage des Autors: http://www.detlev-kranz.privat.t-online.de

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