Weiter unten finden Sie:
Geleitwort der Herausgeber 0009 (Leseprobe 1)
Vorwort und Danksagung 0013
Erinnerungsarbeit und Aktualität 0017
I. Biographische Bausteine
II. Zur Aktualität der Erfahrungen der deutsch-jüdischen Großstadtavantgarde
Anmerkungen 0331
Literatur 0357
Angefragte und benutzte Archive und Einrichtungen 0372
Index 0373
Geleitwort der Herausgeber
oder Zeit für die Rehabilitation von Fritz Perls
Jetzt scheint es mir, angesichts von Abwertungen, hingegen wieder notwendig, die Bedeutung von Fritz Perls ins Bewusstsein zu heben."
Ludwig Frambach, Gestalttherapeut
Fritz Perls, den kreativen Psychoanalytiker und Begründer der Gestalttherapie, lässt Bernd Bocians vorliegendes, akribisch recherchiertes und brillant leichtfüßig geschriebenes Buch in seiner Kindheit, Jugend- und Studentenzeit und seinen ersten Berufsjahren als Arzt und Psychoanalytiker für uns lebendig werden. Damit betritt Bernd Bocian Neuland und liefert einen fehlenden Mosaikstein zur Geschichte der Gestalttherapie und der psychoanalytischen Bewegung sowie zur Geschichte der so genannten expressionistischen Generation.
Das Buch zeigt Fritz Perls in seinen bislang kaum erforschten Berliner Jahren als Repräsentanten einer avantgardistischen europäischen Großstadtkultur, die durch den Nationalsozialismus vertrieben wurde und deren Lebens- wie Überlebenserfahrungen als Erbe mit in den Gestaltansatz eingegangen sind. Prägende Lebenskontexte dieser Nonkonformisten und Pioniere der Moderne waren
Der deutsch-jüdische Kontext wird von Bernd Bocian als grundlegend für das Verständnis von Person und Werk beschrieben.
Unter Benutzung von völlig neuem Archivmaterial zu Fritz Perls werden die Einflüsse des freimaurerischen Vaters, von Expressionismus, Dadaismus, kulturkritischer Psychoanalyse, Max Reinhardts Theater, der Gestaltpsychologie und des hegelianischen Marxismus detailliert dargestellt. Der hier analysierte Lebenskontext von Perls macht deutlich, dass die an Kreativität und Leid reichen Lebens- wie Überlebenserfahrungen dieser Emigrantengeneration uns noch einiges für die Zukunft zu sagen haben. Und nicht zuletzt liefert Bernd Bocian eine ausführliche Würdigung von Fritz (und Laura) Perls' Engagement im antifaschistischen Widerstand gegen das heraufkommende deutsche Naziregime. Letzteres war auch der Grund für ihre Flucht aus Nazideutschland bereits im Frühjahr 1933.
Die Bedeutung von Fritz Perls für die Gestalttherapie wird ganz unterschiedlich gewertet und gewürdigt, je nach Phase der Geschichte dieses therapeutischen Ansatzes.
Phase 1: Bis in die 1970er Jahre wurde der deutsche Arzt und Psychoanalytiker meist als alleiniger Begründer der Gestalttherapie angesehen. Das ist übrigens in der Außenansicht der Gestalttherapie bis heute noch so geblieben, wenn man z.B. in gängigen Lexika (auch in psychologischen!) nachsieht. Aber auch Teile der Gestalt-Bewegung nehmen den eigenständigen Beitrag seiner Frau Laura (geb. Posner, Psychologin und ebenfalls Psychoanalytikerin) kaum wahr, obwohl Laura Perls von Anfang an maßgeblich an der Entwicklung der Gestalttherapie beteiligt war. Sie leistete viel "Schattenarbeit", wie es Ivan Illich nannte. (Illich ist übrigens stark von einem anderen Mitbegründer der Gestalttherapie, Paul Goodman, beeinflusst worden.) Illich versteht unter "Schattenarbeit" diejenige Arbeit, die erforderlich ist, damit man überhaupt arbeiten kann.
Im amerikanischen Sozialphilosophen und Schriftsteller Paul Goodman - einem wichtigen Mentor der amerikanischen Schüler- und Studentenbewegung - wurde in dieser ersten Phase nur so etwas wie der "Sekretär" von Fritz Perls gesehen. In dieser Phase der Rezeption der Gestalttherapie stützte man sich vor allem auf die "Demonstrationen" der gestalttherapeutischen Arbeit in Fritz Perls' späten Jahren (z.B. im Esalen-Institut in Big Sur/Kalifornien) und seine vermeintliche Ablehnung von Theorie. Es wurde nicht beachtet, auf welchem Hintergrund Fritz Perls seine zum Teil missverständlichen Äußerungen über Theorie machte. Es ist ähnlich wie im Jazz. Ein Jazz-Musiker improvisiert. Er setzt sich von der klassischen Musik ab. Aber zu allermeist haben gerade Jazz-Musiker die Klassik gelernt. Meist von der Pike auf. Das vorliegende Buch von Bernd Bocian zeigt, als wie prägend der intellektuelle Hintergrund von Fritz Perls für die spätere Entwicklung der Gestalttherapie angesehen werden muss. Fritz Perls war von der Pike auf Psychoanalytiker. Und er hat sich ausführlich mit den psychologischen und soziologischen Theorien sowie mit der Philosophie seiner Zeit auseinandergesetzt.
Phase 2: Bei der Suche nach theoretischer Fundierung der Gestalt-Methoden entdeckte man in den 1980er und 1990er Jahren allmählich Paul Goodman, der spiegelbildlich zu Fritz Perls die amerikanische Bohème repräsentierte. So wurde Goodmans eigenständiger Beitrag zunehmend gewürdigt - in Deutschland vor allem durch den Sozialphilosophen und Schriftsteller Stefan Blankertz, der schon in seiner Jugend schulkritische Schriften von Paul Goodman ins Deutsche übersetzt hat. (Vgl. u.a. S. Blankertz, Gestalt begreifen. Ein Arbeitsbuch zur Gestalttherapie-Theorie, Wuppertal 1996.)
Laura Perls' Bedeutung für die Entwicklung (und Weiterentwicklung) der Gestalttherapie hat vor allem das Gestalttherapeuten- und Verleger-Ehepaar Anna und Milan Sreckovic bekannt gemacht - und Laura Perls' erstes Buch gemeinsam mit ihr als deutsche Erstveröffentlichung herausgegeben (L. Perls, Leben an der Grenze: Essays und Anmerkungen zur Gestalt-Therapie, Köln 1989). Laura Perls steht für einen ganz bestimmten, von Fritz durchaus abweichenden Stil: für liebevolle Aufmerksamkeit, für Wohlwollen, Einfühlungsvermögen und "Support" (Unterstützung) der KlientInnen in einer sehr bodenständigen Arbeit. In Laura Perls verkörpert sich gleichsam die "mütterliche" Dimension der Gestalttherapie (L. Perls, Meine Wildnis ist die Seele des Anderen: Der Weg zur Gestalttherapie, Wuppertal 2005).
Phase 3: Man könnte fast sagen, dass Fritz Perls in der zweiten Phase der Rezeption der Gestalttherapie in Verruf geraten sei. Schon bald hatte es sich eingebürgert, negativ über den Vater der Gestalttherapie zu sprechen. Fritz, der "Rastlose", hieß es, "verlässt seine Familie, um herumzustreunen". Das hört sich heute so an, wie immer über Väter gesprochen wurde: Sie seien nie da gewesen. Natürlich nicht, denn sie waren ja schließlich weg zur Arbeit. Um Brot für die Familie heranzuschaffen. Ihr Erfolgt zahlte sich auch für letztere aus. Auch Fritz war nun gerade nicht untätig beim "Herumstreunen". Er gründete Gestalt-Institute. Er lehrte. Er machte Gestalttherapie in den 1960ern weltbekannt - von Esalen aus, dem Zentrum der amerikanischen Human-Potential-Bewegung (F. Perls, Was ist Gestalttherapie, Wuppertal 1998). Alle, auch Lore und Paul, haben davon profitiert. Dennoch überwiegt heute meist erst einmal die Kritik an Fritz Perls' Arbeit: Na ja, gibt man zu, Fritz sei sehr intuitiv und wirklich ein Genie gewesen. Doch sei seine therapeutische Haltung zweifelhaft. Und außerdem sei er auch noch theoriefeindlich.
Wir glauben, es ist Zeit für eine neue Phase: War es in den letzten zwei Jahrzehnten angebracht, Laura Perls' und Paul Goodmans Beiträge zur Gestalttherapie hervorzuheben, so scheint es nun wichtig, sich auch wieder Fritz Perls zuzuwenden. Darin stimmen wir mit dem Gestalttherapeuten Ludwig Frambach überein, dessen Satz wir als Motto für unser Geleitwort gewählt haben. Bernd Bocians Buch bietet viele Anregungen, Fritz Perls' Beitrag zur Gestalttherapie neu zu bewerten. Vor allem aber finden sich viele Ansätze darin, die über ein rein historisches Interesse auch für die Weiterentwicklung der Theorie und Praxis der Gestalttherapie heute von Bedeutung sind.
Wir wünschen dem Buch von Bernd Bocian die Beachtung, die seine bahnbrechende Arbeit verdient.
Köln, im Februar 2007
Anke und Erhard Doubrawa
Gestalt-Institut Köln/GIK Bildungswerkstatt
Bernd Bocian, Dr. phil., Jahrgang 1954, Gestalttherapeut und Psychotherapeut. Weiterbildung in Reichianischer Körperarbeit und Tiefenpsychologischer Psychotherapie. Langjährige Arbeit in psychosozialen Beratungsstellen der AWO-Düsseldorf und in freier Praxis im DIGS (Düsseldorfer Institut für Gestaltanalyse und Supervision). Von 1985 bis 2000 Redaktionsmitglied der Fachzeitschrift »Gestalttherapie« der DVG. Diverse Veröffentlichungen zum historischen und aktuellen Verhältnis von Psychoanalyse und Gestalttherapie (u.a. B.Bocian/F.M. Staemmler Hg.: Gestalttherapie und Psychoanalyse. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 2000). Lebt mit Frau und Tochter in Genua, Italien. Derzeitige Interessen: Psychologie der Emigrationserfahrung, Psychotraumatologie.