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Bärbel Wardetzki:

Bulimie - der Hunger nach Anerkennung

 

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Workshop für Therapeutinnen und Therapeuten

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

 

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritk verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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 Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 1-1995):

Foto: Bärbel Wardetzki
(
Bärbel Wardetzki)

 

Bärbel Wardetzki:

Bulimie - der Hunger nach Anerkennung

BULIMIE

Die Bulimie ist per definitionem eine Eßerkrankung, bei der die Betroffenen große Mengen an Essen verschlingen und sie anschließend wieder erbrechen. Sie haben massive Angst vor Gewichtszunahme und können das körperliche Völlegfühl nicht ertragen. Das selbstinduzierte Erbrechen scheint die Lösung für diese Probleme zu sein. Daß das jedoch eine Illusion ist verdeutlicht der Bericht einer betroffenen Frau.

"Ich heiße Petra und bin eß-brechsüchtig: Nachdem ich begriffen hatte, was dieser Satz wirklich bedeutet, stehe ich heute vor dem Spiegel und freue mich über mich selbst.

Ich habe begonnen, mich lieb zu haben. Ich habe aufgehört, mich wertlos zu fühlen und an mir herumzumäkeln. Ich habe aufgehört, perfekt zu sein und hinter einem Idealbild von mir herzurennen, ohne es je zu erreichen.

Jetzt lebe ich einfach und das ist ein ganz tolles Gefühl: plötzlich zu spüren, ich lebe und es ist gut so. Denn während meiner Eß-Brechsucht habe ich nicht gelebt. Mir ist bewußt geworden, daß ein Leben mit der Sucht der gerade Weg in den Tod ist.

Plötzlich wurde mir klar, daß mein Tag nur noch aus Essen, Erbrechen und Fasten bestand. Meine Gedanken kreisten ständig um Essen, Nicht-Essen, Abnehmen, Schlanksein. Meistens aß ich so viel, wenn ich allein war, oder vor einem Problem stand, das ich nicht gleich lösen konnte. Bei meinen Freßanfällen aß ich bis zu 4000 kal. Hinterher fühlte ich mich so elend, daß ich alles wieder erbrach. Körperlich fühlte ich mich dann besser, aber ich bekam starke Schuldgefühle, Selbstzweifel und schämte mich sehr. Für den nächsten Tag nahm ich mir immer wieder vor, normal zu essen. Aber je mehr ich es mir vornahm, desto intensiver wurden meine Gedanken ans Essen und desto mehr schlang ich in mich hinein. Die ständigen Gedanken ans Essen machten mich manchmal wahnsinnig und sehr deprimiert. Ich war dann z.T. unfähig, wichtige Dinge zu erledigen, aber tat auch nicht mehr Dinge, die mir früher Spaß machten.

Im Grunde war ich auf der Flucht vor dem Leben: ich flüchtete in Freßorgien, in den Schlaf, in den Scheintod."

Die Eß-Brechsucht wurde als eigenständiges Krankheitsbild erst 1980 definiert und bezeichnet treffend den Suchtcharakter dieser Erkrankung. Das Eßverhalten ist aus der Kontrolle geraten und von den Betroffenen nicht mehr willentlich steuerbar. Der Teufelskreis aus essen wollen, es sich verbieten, dann zügellos essen und wieder darben, um nicht zuzunehmen, ist leidvoll. Die Betroffenen fühlen sich ihrer Krankheit ausgeliefert, sie halten sich für abartig und nutzlos. Was sie nicht wahrnehmen wollen und was die Angehörigen ebenso wie auch Ärzte und Psychotherapeuten oft unterschätzen, sind die körperlichen Schädigungen, die durch das extreme Essen und vor allem das Erbrechen entstehen. Neben schwerer Karies, Haarausfall und Schwellung der Lymphdrüsen kann es zu Herz- und Nierenfunktionsstörungen kommen, im schlimmsten Fall zu Herz- und Nierenversagen.

Durch die Sucht werden immer häufiger soziale Kontakte vermieden, u.a. um zu verhindern, als Bulimikerin erkannt zu werden. Essen gehen oder auf einer Party mit anderen am Buffet stehen ist das Schlimmste. Die Betroffene zieht sich statt dessen lieber in die Isolation zurück und tröstet sich mit Eßexzessen. Mit der Zeit wird die Situation für sie immer schlimmer, weil sie sich mehr und mehr isoliert, Freundschaften verliert, nicht mehr arbeiten oder lernen kann, keine Freude mehr an Aktivitäten und am Leben findet und nur noch für die Sucht lebt.

An diesem Punkt suchen viele Bulimikerinnen Hilfe, weil sie merken, daß sie so nicht weiterleben können und wollen. Doch ist Unterstützung von außen nötig, um auf Dauer abstinent zu bleiben. Denn der Ausstieg ist von vielen Rückfällen begleitet. Zu Beginn halten die Abstinenzphasen vielleicht nur kurze Zeit an, Stunden, Tage oder Wochen, bis in einer Krise erneut zur Droge Essen gegriffen wird.

Obwohl das Essen/Erbrechen und Hungern an sich kein Suchtstoff ist, kann es als Droge eingesetzt werden. Und in diesem Sinne spreche ich von Bulimie als Suchterkrankung, gleichwohl diese Sichtweise umstritten ist. Langjährige Erfahrungen mit Patientinnen haben mir allerdings gezeigt, daß es viele Parallelen zu anderen Suchterkrankungen gibt wie Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenabhängigkeit, die bei vielen neben der Bulimie zusätzlich auftreten.

Das erste Merkmal der Sucht ist der Kontrollverlust, der bei der Bulimie in der Unfähigkeit besteht, mit dem zwanghaften Überessen und Entleeren (Erbrechen, Abführmittel, Fasten) aufzuhören. Eine willentliche Kontrolle ist nicht mehr möglich, alle Versuche (Versprechen, Essenspläne, Vorsätze etc.) scheitern und subjektiv wird Essen und Erbrechen als Zwang, als Besessenheit erlebt. Es liegt hier der verzweifelte Kampf gegen das Essen vor, der täglich immer wieder verloren wird und der an den Kampf des Alkoholikers gegen die Flasche erinnert.

Die zweite Parallele ist die Herstellung eines Rauschzustandes durch Essen, Erbrechen oder Fasten. Er äußert sich in einem Gefühl des "Highseins", der Betäubung und der anschließenden "Katerstimmung". Desweiteren bekommt die Droge Essen neue Funktionen, sie wird zur Ersatzbefriedigung, zum Gefühlsdämpfer und Lebensbewältiger. Dabei verliert es seine ursprüngliche Funktion als Lebensmittel. Essen, Sichvollstopfen und Erbrechen werden als "Problemlöser" in Situationen eingesetzt, die für die Betroffenen scheinbar unlösbar sind. Sie helfen vorübergehend, weil sie Spannungen abbauen, eine kurze Zufriedenheit hervorrufen und die Wirklichkeit für einige Zeit ausblenden. Aber wie der Alkoholiker nach dem Rausch einen Kater hat, so leidet auch die Bulimikerin hinterher meist mehr als vorher. Magenschmerzen, Brennen im Hals, Müdigkeit, Kreislaufprobleme, Schlappheit, dumpfer Kopf, innere Leere und massive Schuldgefühle sind die Folge. Sie fühlt sich deprimiert, hält sich für schlecht, wertlos, haltlos und schmutzig. "Was hat das Leben für einen Sinn, wozu soll das alles gut sein, ach wäre ich doch gar nicht da." Viele Bulimikerinnen haben in solchen Momenten Selbstmordgedanken oder unternehmen Selbstmordversuche. In der Tat sterben viele Bulimikerinnen durch Suizid.

Die Bulimie unterscheidet sich jedoch in wesentlichen Kriterien als Suchterkrankung von anderen Süchten vor allem dadurch, daß bei ihr in der Regel keine körperliche Abhängigkeit vorliegt, der Abstinenzbegriff ein anderer ist und Rückfälle eine andere Bedeutung haben als bei stoffgebundenen Süchten. Die körperliche Abhängigkeit von einem Stoff hat zur Folge, daß ein einziger Rückfall die ganze Suchtkrankheit erneut in Gang setzen kann. Bei der Bulimie hingegen sind Rückfälle in der Regel Begleiter auf dem Weg zur Genesung und dienen dem allmählichen Aufbau eines symptomfreien Eßverhaltens. Rückfälle sind häufig auch deshalb nicht auszuschließen, weil die Bulimikerin täglich mit ihrem Suchtmittel in Kontakt kommt und lernen muß, damit kontrolliert umzugehen. Denn Abstinenz i.S. von Weglassen des Suchtmittels ist nicht möglich, da sie ja essen muß um zu leben.

Bulimikerinnen reagieren gewöhnlich auf Rückfälle mit Selbstanklagen und -beschimpfungen. Ein Rückfall bedeutet für sie häufig "das Ende" und ist mit Selbstzweifeln, Angst und Niedergeschlagenheit verbunden. Sieht man Rückfälle jedoch als Ausdruck eines Mangelzustandes, eines unbefriedigten Bedürfnisses oder ungelösten Problems, als einen Hunger auf einer anderen Ebene, ist es möglich, konstruktive Lösungswege zu suchen und den eigentlichen Hunger zu stillen. Mit der Identifizierung des zugrundeliegenden Konflikts wird ein Ausstieg aus dem Rückfallkreislauf möglich. Ein Rückfall ist nicht etwas Passives, das über die Betreffende "hereinbricht", sondern eine bewußte Entscheidung in einer Problemsituation. Der Rückfall zeigt an, daß Konflikte und Probleme mit Essen beantwortet wurden, statt gelöst zu werden.

 

WEIBLICHER NARZISSMUS

In der therapeutischen Arbeit mit Bulimikerinnen erkennt man daher, daß das eigentliche Problem nicht das Essen/Erbrechen oder Hungern ist, sondern daß die Frauen andere Probleme haben, die hinter dem Eßsymptom verborgen sind. Sie drücken in ihrer Eßstörung etwas aus, das sie nicht in Worte fassen können. Es ist eine symbolische Sprache, die wir entschlüsseln müssen.

In dem Konzept des "weiblichen Narzißmus" habe ich versucht, die innere psychische Situation und Erlebniswelt dieser Frauen zu erfassen und besser zu verstehen.

Ich verstehe darunter eine spezielle Form der narzißtischen Persönlichkeit, die sich in ihrer Ausprägung von einer männlichen Form unterscheidet, jedoch ihren Ursprung in derselben Grundstörung hat, nämlich einem instabilen, kaum entwickelten wahren Selbsterleben, das durch ein ,falsches Selbst' ersetzt wird. Das Selbstwertgefühl narzißtischer Menschen ist nicht stabil, sondern unterliegt starken Schwankungen zwischen dem Pol der Grandiosität ("Ich bin die Tollste") und dem der Depressivität ("Ich bin nichts wert, dick, häßlich").

Während nun der "männliche Narzißt" vorrangig die Grandiosität lebt, um sein geschwächtes Selbst zu stärken, ist die weibliche Form in der Minderwertigkeit verwurzelt. Das Grundgefühl von Bulimikerinnen ist Wertlosigkeit, Hilflosigkeit und Depression. Ihre Selbstachtung erreichen sie dann hauptsächlich über äußere Merkmale wie ein niedriges Gewicht, gutes Aussehen, Leistung, Perfektionismus und Überanpassung an ihre Umgebung.

Die Grandiosität zeigt sich in dem Wunsch nach ständiger Bewunderung und dem Gefühl, ohne diese nicht leben zu können. Die Bewunderung glaubt die Betroffene aber nicht für ihre Person zu erhalten, weil sie so ist wie sie ist, sondern für ihre Schönheit, schlanke Figur, Leistungsfähigkeit, Intelligenz oder andere Fähigkeiten. Und nur diese Eigenschaften schätzt sie selbst an sich. Droht nun der Verlust der Bewunderung oder tritt dieser ein z.B. bei Trennung vom Freund oder bei Kritik, dann kann es zum Zusammenbruch des Selbstwertgefühls kommen, begleitet von einer depressiven Reaktion mit Minderwertigkeitsgefühlen. Doch sogar geringere Anlässe können das Selbstwertgefühl von Bulimikerinnen stören. So kann beispielsweise die Ablehnung einer gemeinsamen Unternehmung Anlaß zu tiefer Kränkung sein, oder ein gutes, aber nicht brillantes Ergebnis in der Arbeit zu einem beißenden Gefühl des Versagens führen. Viele meiner Patientinnen glauben, daß ein Nein auf ihre Wünsche ein Nein gegen ihre Person bedeutet, oder daß sie es nicht mehr wert seien, geliebt bzw. geachtet zu werden, wenn sie einmal nicht großartig waren. Ein halbes Kilo Gewichtszunahme kann ebenso zu einem tiefen Gefühl der Minderwertigkeit führen, da die Betroffene sich dadurch weniger attraktiv und das heißt weniger liebenswert fühlt. Da der narzißtische Mensch Bewunderung und Liebe fälschlicherweise gleichsetzt (A. Miller), fühlt er sich abgelehnt, wenn er nicht bewundert wird. Die Suche nach Bewunderung muß jedoch unbefriedigend bleiben, weil Bewunderung und Liebe eben nicht identisch sind. So bleibt sie eine Ersatzbefriedigung für den eigentlichen Wunsch nach Achtung, Annahme und Liebe.

Die Frauen leiden unter einer Entfremdung von sich selbst, die sich einerseits in einem mangelnden Selbstwertgefühl ausdrückt, andererseits dazu führt, daß die Frauen nach außen hin eine andere Seite von sich zeigen, als sie innerlich erleben. Bulimikerinnen treten meist selbstbewußt auf, fühlen sich jedoch innerlich klein und unsicher. Sie sind in der Regel attraktiv, legen viel Wert auf ihr Äußeres, haben oft eine gute Figur, aber sie lehnen sich von Grund auf ab, finden sich häßlich, dick, unattraktiv und vor allem nicht liebenswert. Sie sehnen sich nach Liebe und Nähe, rennen aber davon, wenn sie wirklich jemand mag. Sie machen sich immer wieder einsam, obwohl sie gerade unter dem Gefühl, allein zu sein, sehr leiden. Ihr ganzes Fühlen, Denken und Verhalten ist stark von Gegensätzen geprägt und von dem Gefühl, nicht zu wissen, wer sie wirklich sind.

Ihre Selbstzweifel und Selbstunsicherheit versuchen sie hinter einer selbstbewußten Fassade zu verbergen. Durch Attraktivität, Schlanksein, Leistung, Perfektionismus und etwas Besonderes-sein sollen die Minderwertigkeitsgefühle ausgeglichen werden. Sie vermeiden mit aller Kraft, sich anderen so zu zeigen wie sie sind und verstecken sich hinter einer perfekten Maske.

Dieser innere Konflikt zwischen dem Gefühl der Minderwertigkeit und der äußeren Fassade ist das Wesen der narzißtischen Selbstwertstörung: erlebt wird es von den Frauen als Polarität zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Gefühlen von Grandiosität also der selbstbewußten, perfekten Fassade.

Die Minderwertigkeit hat immer etwas mit Selbstabwertung zu tun. Eine Frau wird sich nicht minderwertig fühlen, wenn sie sich nicht schlecht macht: wenn sie zu sich sagt: "wie bin ich doch häßlich", "ich bin ja so dumm" oder "ich hab doch hier auf der Welt gar nichts verloren, wenn ich nichts besonders bin". Und diese Botschaften prägen sich in der Seele ein in Form eines Gefühls der Minderwertigkeit.

In der feministischen Literatur über Eßstörungen wird immer wieder daraufhingewiesen, daß die Abwertung von Frauen auch Ausdruck der Abwertung von Frauen in unserer Gesellschaf und Kultur ist. Frausein und Weiblichkeit werden abgewertet zu Gunsten sogenannter männlicher Qualitäten wie Leistung, Machtstreben und Rationalität.

Und genau das tun auch diese Frauen. Sie werten ihren weibichen Körper ab, streben maskuline Formen an und versuchen das gängige Schlankheitsideal unserer heutigen Gesellschaft zu erreichen. Sie leben Frausein entweder gar nicht oder ein verzerrtes Bild davon, das oft durch die Ablehnung einer Frauenrolle geprägt ist, die sie durch ihre Mutter vermittelt bekamen. Frausein wird dabei mit Qualitäten von abhängig sein müssen verbunden, mit dienen, sich für jemanden aufopfern, nicht sie selber sein dürfen. Einstellungen, die sie von ihren Müttern übernommen haben, die ihnen eine z.T. aufopfernde Frau vorgelebt haben, die selber unzufrieden mit sich war, die aber keine Möglichkeit hatte, dieser Situation zu entrinnen. Viele lehnen das Modell, das ihnen ihre Mutter vorgelebt hat, das aber zugleich gesellschaftlich geprägt ist, ab. Sie haben aber kein anderes Modell und lehnen daher Frausein ab.

Die andere Seite, die Seite der Grandiosität, setzt Idealisierung und Aufwertung voraus und hängt mit einem Ideal zusammen, das die Frauen anstreben. Die Frau stellt einen bestimmten Anspruch an sich und ist mit sich nur dann zufrieden, wenn sie ihn erfüllt. Nimmt sie beispielsweise zwei Kilo ab, dann kommt sie diesem Ideal nahe und dann findet sie sich ganz toll. Vorher fand sie sich entsetzlich dick, zwei Kilo leichter findet sie sich auf einmal ganz schlank und beide Einschätzungen stehen nicht im Verhältnis zueinander. Sie war vorher nicht so schrecklich dick, wie sie sich empfand und sie ist jetzt nicht so toll dünn, wie sie sich empfindet. Sie sah vorher ebenso gut aus wie jetzt, aber ihr inneres Gefühl ist vollkommen verschieden.

Ein anderes Beispiel ist der sportliche Leistungsdrang: Bulimikerinnen treiben sich zu Hochleistungen an, joggen immer länger als die anderen, machen Gymnastik, gehen danach noch ins Fitness-Studio und essen dabei nicht ausreichend. So euphorisiert finden sie sich toll, unerreichbar und besonders. Schaffen sie ihr Pensum jedoch zum Teil nicht, dann beschimpfen sie sich, fühlen sich unwohl, plump und faul.

Das Ideal, das sie haben, ist jedoch in der Regel so hoch, daß es unerreichbar ist z.B. das Ideal der Fehlerlosigkeit oder des Perfektseins. Kein Mensch kann perfekt sein, kein Mensch kann fehlerlos sein. In diesem unerreichbaren Ideal liegt daher schon immer das ständige Gefühl, versagt zu haben und nicht gut genug zu sein.

Das Minderwertigkeitsgefühl und das Gefühl von Grandiosität sind zwei Seiten einer Medaille: ob die Frau nun Größenphantasien hat oder sich minderwertig vorkommt, beides ist Ausdruck eines gestörten Selbstwertgefühls. Da das Eingeständnis, minderwertig zu sein, jedoch außerordentlich unangenehm ist, rettet die Größenphantasie über das schlechte Gefühl hinweg.

Das Eß-Brech-Symptom tritt jeweils beim Wechsel von einem Zustand in den anderen auf: In der Grandiosität dient es als Schutz vor Enttäuschung, Kränkung und Spannungen und zum Erhalt des Idealbildes: Schlanksein und Problemlosigkeit. Lieber ißt sie die Probleme und unangenehmen Gefühle "weg", als sie zu spüren, mit der Gefahr, sich wieder minderwertig zu fühlen. Sie erbricht, um die äußere Fassade zu erhalten. Beim Wechsel in die Minderwertigkeit ist das Symptom eine Form der Selbstabwertung und Bestätigung ihrer Minderwertigkeit. Darüberhinaus dient es als Selbstbestrafung für ihre Wertlosigkeit, aber auch für ihre Gier, Haltlosigkeit und alle lebendigen Gefühle, die sie sich verbietet wie Sexualität, Lust und Genuß.

 

SOZIALISATION

Die Sozialisation der später bulimischen Frauen ist geprägt durch die Unterbindung von Eigenständigkeit und Separierungstendenzen, i.S. einer Erziehung zur Anpassung statt zur Abgrenzung (auch Aggression). Die Botschaft, die den Mädchen meist unterschwellig vermittelt wird, lautet vereinfacht: "Wenn Du mich liebst, dann bleibst Du bei mir und bist so, wie ich Dich möchte. Bist Du so, wie Du bist und verläßt Du mich, dann liebe ich Dich nicht mehr". Die Kinder wissen oft genau, was sie tun und wie sie sein müssen, um Zuwendung zu bekommen und laufen Gefahr, bei Anderssein bestraft zu werden.

Die Einschränkungen von Autonomiebestrebungen finden sich in der Sozialisation von Mädchen wesentlich stärker als von Jungen.

Die Frauen, von denen ich hier spreche, wurden noch weitgehend nach dem alten Rollenmodell der abhängigen und aufopfernden Frau erzogen, die nicht unabhängig und eigenständig ist und keine eigene Meinung vertritt, sondern die sich anpaßt und über die Sorge für andere ihre Identität erwirbt. Später zeigt sich das bei den Frauen dann in einer extremen Hinwendung zu anderen: sie denken ständig daran, was die anderen von ihnen erwarten und versuchen diese vermeintlichen Erwartungen zu erfüllen. Oft tun sie für andere das, was sie sich selber nicht gestatten.

Die Frauen machen sich ständig abhängig davon, was andere von ihnen denken, wie sie ankommen und ob sie auch gemocht werden. Sie haben einen Hunger nach Anerkennung, eine tiefe Sehnsucht nach Echo und Annahme. Dieser emotionale Hunger wird von ihnen oft als physiologischer Hunger wahrgenommen, nämlich als Hunger auf Essen. Sie versuchen ihn mit Nahrung zu füllen, aber er ist dadurch nicht stillbar. Er kann auch nicht einfach geleugnet oder weggehungert werden.

Für die Erfüllung ihrer tiefen Sehnsucht nach Angenommensein und Geliebtwerden zahlen sie einen hohen Preis: sie passen sich ganz ihrer Umgebung und den anderen Menschen an und verleugnen ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Die Hoffnung liegt darin, allen zu gefallen, um bloß nicht abgelehnt zu werden. Sie gehen einen gefährlichen Kompromiß ein: "Ich verleugne mich, meine Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle und bekomme dafür von Dir die Anerkennung und Liebe, die ich sehnsüchtig suche." Gefährlich ist dieser Kompromiß deshalb, weil die Verleugnung der eigenen Person immer auf Kosten der seelischen und körperlichen Gesundheit geht, sei es in Form psychosomatischer Krankheiten, Depressionen oder Süchte. Die Krankheit ist sozusagen der Versuch, mit einer problematischen Situation umzugehen, zeigt aber auch zugleich an, daß der Versuch scheiterte.

Der Wunsch, sich zu separieren und eigenständig zu sein, ist ein natürlicher. Wird er unterbunden (z.B. aufgrund

der Angst der Mutter vor Trennung oder gesellschaftlich normierter Erziehungsvorstellungen), drückt er sich später häufig in dem Eß-Brech-Symptom aus. Darin finden die betroffenen Frauen eine Art Identität, eine Nische, in der sie sie selbst sein können.

"Nur bei meinen Eß-Brech-Anfällen bin ich wirklich ganz bei mir. Da ist dann niemand, der mir reinredet oder was von mir will. Ich bin endlich ich selbst."

Es ist ein gefährlicher und absurder Weg, wenn die Frau die Sucht suchen muß, um ein Gefühl von Eigenständigkeit zu bekommen.In der Therapie ist es daher ein Hauptanliegen, den Frauen zu ermöglichen, zu sich selbst zu kommen, zu ihrer Potenz, Kraft und Stärke und Identität und zwar auf eine gute Art und Weise statt über eine Suchterkrankung.

Neben die traditionelle Rolle der Frau als Abhängiger tritt heute noch eine weitere, im Grunde gegenläufige Forderung an die Frauen, nämlich ein Leistungs- und Prestigeideal zu erfüllen.

Sie bekamen früher haupsächlich für gute Leistungen Zuwendung, für manche war es sogar der einzige Weg, um überhaupt Anerkennung zu bekommen. Noch im Erwachsenenleben stehen sie unter dem Diktat von Leistung und Perfektionismus.

Danach ist es wichtiger, schlank, attraktiv und perfekt zu sein als genußvoll zu leben. Ziele zu erreichen ist erstrebenswerter als "absichtloses Tun", das "nur" Spaß macht. Verstehen und Einsicht rangieren vor den Gefühlen. Freude wird meist, wenn überhaupt, durch eine Aktivität oder besondere Leistung erreicht.

Die Frauen stehen unter dem permanenten Druck, immer die Beste sein zu müssen, haben das Gefühl, eine gute Leistung reicht nicht aus und haben Angst, eine andere oder ein anderer wäre besser als sie.

Da Bulimikerinnen auf die Bestätigung anderer angewiesen sind, um sich in Ordnung zu fühlen, haben sie extreme Angst, einen Fehler zu machen oder nicht hundertprozentig zu sein. Denn bei Kritik oder Mißerfolg laufen sie Gefahr, daß ihr Selbstwertgefühl zusammenbricht und sie sich wie ein Nichts fühlen. Die unermüdliche Strebsamkeit ist daher oft eine Abwehr der existentiellen Ängste, nichts wert oder ein Niemand zu sein. Nur im Streben und Leisten spüren sie sich und ihre Existenzberechtigung.

"Oft denke ich, daß ich nur etwas wert bin, wenn ich etwas leiste und kann mich dann doch über diese Leistungen nicht freuen, weil es nicht ehrlich aus mir kommt, sondern meine Überlebenskrücke ist. Immer strenge ich mich an, die Beste zu sein, besonders attraktiv auszusehen, alles schnell zu begreifen, witzig und schlagfertig zu sein, intelligent und erfolgreich, anerkannt und beliebt, charmant und kontaktfähig. Alles Sachen, die in meiner Familie ganz hoch im Kurs standen. Wer das konnte, der war jemand. Bei mir waren es zusätzlich die Schulleistungen, die zählten. Irgendwie hab' ich in der Familie die Rolle der ,Begabten' bekommen, warum weiß ich nicht. Aber ich glaube, ich mußte für meine Eltern, besonders für meine Mutter, eine ,höhere Bildung' verwirklichen, die sie sich immer erträumte, aber nicht erreichte. Oft meine ich, etwas Besonderes leisten zu müssen und bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich für mich tue oder für jemand anderen."

Diese zwei Anforderungen an die Frauenrolle entsprechen dem internen Widerspruch der Frauen: auf der einen Seite erleben sie sich abhängig, wertlos und klein, auf der anderen Seite besser und stärker als alle anderen Frauen z.B. wenn sie erfolgreich sind. Die äußere Rollenspaltung bildet sich demnach intern ab.

In der Bulimie kommt also das grundlegende Dilemma von Frauen zum Ausdruck, sich zwischen Abhängigkeit und Selbstständigkeit zu bewegen.

In ihrem Fall liegt die Lösung des Konflikts im Leben der Extreme: entweder vollkommen abhängig und im anderen bis zum Verlust der eigenen Identität aufgehen oder in totaler Distanz vom anderen, autonom, aber allein sein. Sie drücken das Dilemma von Frauen aus: inwieweit darf die Frau sie selber sein in einer Beziehung oder in einer Gesellschaft, Initiative ergreifen, ihre Potenz leben, ihre Möglichkeiten verwirklichen und zugleich ihren emotionalen Bedürfnissen Raum geben, oder inwieweit ist sie gezwungen, sich zurückzunehmen.

Und die Bulimikerinnen zeigen uns, daß wir noch nicht an dem Punkt sind, wo die Frau mit Selbstverständlichkeit sie selber sein kann und sich verwirklicht hat.

Bei der Ausbildung narzißtischer Strukturen spielt der Mechanismus der emotionlen oder narzißtischen Ausbeutung eine wesentliche Rolle. Dabei wird das Kind nach einem besonderen Bild geformt ohne Respektierung seiner Individualität und Einzigartigkeit. Es soll bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten besitzen, durch die die Eltern ihrereits ihr geschwächtes Selbstbild aufwerten können. Da das Kind auf die Zuwendung der Bezugspersonen angewiesen ist und sein Überleben von ihnen abhängt, wird es versuchen, den Anforderungen der Umwelt gerecht zu werden, es allen "recht machen" wollen und dadurch eine Maske entwickeln, hinter der die wahre Person verborgen bleibt. Es identifiziert sich mit seiner Maske und wird so wie sie. Das wahre Selbst bleibt ungespiegelt und unentwickelt. Durch das mangelnde Gespiegeltwerden entwickelt das Kind nicht nur einen schlechten Zugang zu seinen Gefühlen, sondern es wagt auch sein eigenes Erleben nicht mehr. Die Angst, abgelehnt zu werden, ist zu groß. Statt Eigenständigkeit wählt es Anpassung. Die Sehnsucht, um seiner selbst willen geliebt zu werden, bleibt erhalten und drückt sich später in der Sehnsucht nach Anerkennung und Echo von anderen aus. Diese Frau wird in anderen Menschen immer den Spiegel suchen, der sie bestätigt, ihr Sicherheit und ein Identitätsgefühl gibt.

Ein Thema, das eng verbunden ist mit Eßstörungen, Autonomiestörungen und Ablehnung des Frauseins ist der sexuelle Mißbrauch. Ich machte 1991 eine klinikinterne Befragung und erhielt ein Ergebnis, das mich erschreckte. 76% aller befragten Frauen mit Bulimie hatten sexuelle Übergriffe und Mißbrauch erlebt. Die Bandbreite reichte von einem sexuell gefärbten Klima und verbalen Anspielungen bis zu körperlichen Berührungen, Küssen und Koitus.

Der sexuelle Mißbrauch bewirkt eine starke Traumatisierung der Psyche und hat einen negativen Einfluß auf das spätere Beziehungsverhalten. Die gesamte Persönlichkeit und die sexuelle Identität der Frau werden verletzt. Verbunden mit der Erfahrung der emotionalen Ausbeutung haben diese Frauen später immer das Gefühl, von Männern benutzt und ausgebeutet zu werden. Sexualität hat dann mehr mit Macht zu tun als mit Zuneigung und Verbundenheit. In der Therapie ist es daher notwendig, dieses Thema zu bearbeiten, da das Fressen/Erbrechen oder Hungern oft symbolischen Ausdruckswert bekommt für den Ekel, das Entsetzen und die Hilflosigkeit gegenüber dem frühen sexuellen Mißbrauch. Auch die Ablehnung des Körpers und lustvoller sexueller Gefühle hängen damit zusammen.

 

Das Beziehungsdilemma

Mit der narzißtischen Selbstwertstörung hängt eine Beziehungsstörung zusammen, die sich vor allem durch Angst vor wirklicher Nähe und der Unfähigkeit zu echter Bindung auszeichnet. Je intimer die Beziehung wird, um so stärker werden auch die Probleme. Bulimikerinnen haben daher durchaus Freunde und Bekannte, kommen jedoch unter Druck, wenn ihnen ein Mensch sehr nah kommt. Vor allem, wenn es sich um einen Mann handelt. Trotz der großen Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit ist die Bulimikerin nicht in der Lage, eine erfüllende Liebesbeziehung zu leben. Ihr Partner soll hauptsächlich ein potentieller Bewunderer sein und wird als solcher von ihr geliebt. Sie versucht ihrerseits, für ihn die tollste Frau zu sein, verliert sich jedoch allmählich ganz in der Beziehung zu ihm. Wo sie zu Beginn selbstbewußt erschien, ist sie nun kindlich-abhängig, scheinbar ganz auf ihn angewiesen, weiß nicht mehr, was sie will und paßt sich ihm vollständig an. Subjektiv gibt sie ihre Identität auf und "geht ganz im anderen auf". Alles Fühlen und Denken kreist nur noch um diesen Mann, wie zuvor ums Essen. Solange sie den Partner bewundern kann, geht es ihr gut. Sie fühlt sich durch ihn aufgewertet und erhält in ihm sozusagen ein "Ersatzselbst".

Die Idealisierung des Partners dauert so lange an, bis er sich entweder als nicht so ideal herausstellt oder er ihr eine wirkliche Beziehung anbietet, die über die Ebene von Bewunderung hinausgeht. In beiden Fällen wird der Partner nun abgewertet, so daß sie nichts Gutes mehr an ihm findet. Durch die innere Verunsicherung kommt es zu einem immensen Druck, der sich im Eß-Brechsymptom oder in Streits entlädt. Abwertung, Fressen, Erbrechen oder Streits sind Manöver, um Distanz zum Partner herzustellen. An diesem Punkt bricht die Beziehung häufig ab, oder es kommt zu einer vorübergehenden Trennung bzw. zum Einfrieren der Gefühle. Denn sobald reale Ansprüche und/oder Begrenzungen in die Beziehung hineinkommen und damit der Druck auf die Bulimikerin, sich erwachsen und situationsangemessen zu verhalten, ist sie überfordert. Frustration erlebt sie ebenso wie Liebe als innere Bedrohung. Erstere als Angst vor dem Verlassenwerden bzw. Zurückgewiesenwerden, zweitere als Angst, verschlungen, "aufgefressen" zu werden, nicht mehr sie selbst sein zu dürfen, etwas geben zu müssen. Ist sie jedoch allein, kann sie zwar sie selbst sein, fühlt sich aber schnell einsam, verlassen und deprimiert. Sie wird daher wieder die Nähe suchen, die aber bald in anklammernder Abhängigkeit vom Partner endet. Was ihr zu einer wirklichen Beziehung fehlt, ist die Eigenständigkeit, durch die sie befähigt wird, einerseits Liebe anzunehmen und zu geben, andererseits Grenzen zum Partner zu ziehen und drittens, den Partner als Menschen mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu sehen. Unter diesen Voraussetzungen würde sie in der Beziehung "satt" werden und auf ihr Symptom verzichten können.

Eine ehemalige Patientin formuliert es folgendermaßen:

"Jetzt erst merke ich meine Beziehungsschwierigkeiten, die immer deutlicher zu Tage treten, seit ich keine Eßprobleme mehr habe."

Eine Behandlung, die nur darauf abzielt, das Eß-Brech-Symptom zu kurieren, muß am Ende scheitern. Denn eine wirkliche Genesung ist mehr als Symptomfreiheit. Sie umfaßt auch eine veränderte Sicht von sich selbst, dem anderen und den eigenen Beziehungen.

 

Gesellschaft

Narzißtische Störungen treten nicht nur als individuelle Erscheinungen auf, sondern haben ihr Abbild in unserer Gesellschaft. Wir leben in einer narzißtisch geprägten Welt, in der Werte des Alles-Machbaren und des Besser-Seins vorherrschen. Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet durch die Widersprüchlichkeit von Sein und Schein. Viel Geld und Energie wird verwendet, um die äußere Fassade der Dinge zu optimieren. Reichtum, Luxus, gutes Aussehen und Statussymbole werden auf Kosten unserer Lebensgrundlagen hergestellt, die Welt wird ausgebeutet und somit der Ast, auf dem wir sitzen, langsam abgesägt. Hinter einer prächtigen Fassade materiellen Wachstums und Wohlstands verlieren wir vermehrt den Bezug zur Innerlichkeit und Spiritualität. Es entsteht eine Entleerung, die mit immer mehr Gütern ausgefüllt wird, aber nicht zu einer anhaltenden Befriedigung führt. Denselben Konflikt finden wir bei der narzißtischen Persönlichkeit und der Bulimikerin wieder. Sie verleihen ihm Ausdruck in der Demonstration von Grandiosität bzw. im Eß-Brech-Symptom. Beides soll dazu dienen, eine Fassade aufrechtzuerhalten, und die dahinter verborgene Selbstwertschädigung und Leere zu kompensieren. Die narzißtische Störung und Bulimie sind daher nicht nur Ausdruck einer individuellen Problematik, sondern auch unserer gesellschaftlichen Situation der Entfremdung vom eigenen Sein zugunsten einer Scheinwelt. Wir leben zwischen Extremen des Überflusses und des Verhungerns, zwischen höchstem Entwicklungsstandard und größter Bedrohung des Planeten, zwischen einem großen technischen Wissen und innerer Verarmung. Es scheint, als würden weibliche Narzißtinnen in ihrem Symptom diese unvereinbaren Widersprüche wortlos ausdrücken.

 

THERAPIE

Der Prozeß der Überwindung der Bulimie ist ein langer und teilweise schwieriger Weg, der viele Jahre dauert. Er beginnt mit dem Eingestehen der Krankheit und dem Wunsch, aus der Anonymität der Sucht heraus zu wollen. Die Offenbarung der Krankheit ist der erste Schritt, verbunden mit der Erfahrung, daß auch andere betroffen sind und in ähnlicher Weise leiden. In den meisten Fällen ist eine psychotherapeutische Behandlung unumgänglich, unterstützt von dem Erleben der Solidarität in Selbsthilfegruppen wie der OA (Overeater anonymous).

Die Therapie bezieht sich zumindest zu Beginn sowohl auf die Symptomebene des Essens als auch auf die Bearbeitung der seelischen Hintergründe. Eine ambulante Therapie kann dabei helfen. Oft dient sie auch als Vorbereitung auf eine stationäre Behandlung, die in vielen Fällen unerläßlich ist.

In der Therapie wird die Bedeutung des Essens/Erbrechens und Hungerns sowie des Gewichts mit den Frauen erarbeitet. Welche Ängste stehen hinter der Weigerung, Gewicht zuzunehmen? Welche Gefühle werden vermieden? Die Frauen erarbeiten, wie sie durch ihre Eßstörung Verantwortung abgeben und Leben und Beziehungen vermeiden.

Das Thema Beziehungen ist ein zentraler Bereich in der Therapie. Damit meine ich nicht nur Zweierbeziehungen, sondern Kontakte zwischen Menschen. Bulimikerinnen haben große Angst vor Nähe, da sie befürchten, verschluckt zu werden. Sie vermeiden daher intensive Kontakte, bitten selten um Unterstützung, sondern holen sich Zuwendung über Helfen. Sie befürchten, verlassen zu werden, wenn andere sehen, wie sie wirklich sind und vermeiden daher, sich mit ihren tiefen Wünschen und Gefühlen einzulassen. In der Therapie soll den Frauen im Schutz der therapeutischen Beziehung eine Möglichkeit eröffnet werden, sich einzulassen, ohne zu befürchten, verlassen zu werden, wenn sie unangepaßt sind und das heißt für diese Frauen, wenn sie so sind, wie sie sind und sich und anderen nichts vormachen, wie sie es bisher immer taten. Auf diese Weise finden sie allmählich einen Zugang zu sich selbst, zu ihren Bedürfnissen, Wünschen und Gefühlen. Die TherapeutIn hat die Aufgabe, mit der Frau zusammen alle Gefühle, auch die abgelehnten (z.B. Wut) willkommen zu heißen. Statt immer ja zu sagen, lernen die Frauen, Nein zu sagen, wenn sie nein meinen, sich abzugrenzen und zu sich zu stehen. In der direkten Auseinandersetzung mit den vermuteten Erwartungen der anderen erfahren sie, daß viele Forderungen gar nicht an sie gerichtet werden, sondern diese aus ihnen selbst erwachsen. Sie lernen, liebevoller mit sich umzugehen, sich anzunehmen und sich auch mit ihren Schwächen zu akzeptieren.

Desweiteren geht es um die Entwicklung eines neuen Gefühls für den Körper, einer körperlichen Identität und der Wahrnehmung körperlicher Vorgänge wie Sattheit und Hunger. Das Ziel ist eine Inbesitznahme des Körpers und die Fähigkeit, sich selbst zu spüren.

In der Therapie kann durch die therapeutische Beziehung ein Zugang zu dem wahren Selbst ermöglicht werden. Es erfolgt dabei die Durcharbeitung der alten Gefühle des tiefen Schmerzes und Hasses über das Ungeliebtsein und nicht so angenommen worden sein, wie die Frau es als Kind brauchte, hin zu der Bestätigung, heute als Person akzeptiert zu werden. Grundlage dafür ist das Gefühl von Eigenliebe, das durch die Zuwendung in der Therapie allmählich entwickelt werden kann. Alle Kompensationsmechanismen wie Fressen, Erbrechen, Sich-Überanpassen und Perfektsein, um Zuwendung zu erhalten, weichen einem Gefühl von Selbstsein und Eigenständigkeit. Das Eß-Brechsymptom ist dabei ein Signal, das immer dann auftritt, wenn die Betroffene in alte Denkmuster und Gefühlszustände zurückfällt oder in einer Krise ist. Es kann sich noch nach Jahren der Abstinenz immer wieder zeigen. Ziel der Therapie ist neben der Symptomfreiheit der Zugang zur eigenen Lebendigkeit und Autonomie. Wenn Gefühle und Wünsche ungestraft erlebt werden dürfen und die Eigenständigkeit im Handeln nicht mehr mit der Angst vor Liebesverlust gekoppelt ist, wird das Symptom allmählich überflüssig. Diese seelische Veränderung ist jedoch nicht in kurzer Zeit zu erreichen und begleitet von Rückschlägen. Man muß daher mit einem Zeitraum von 2-5 Jahren rechnen, bis das Essen seine Bedeutung als Suchtmittel und Problemlöser endgültig verliert. Für manche bleibt das gestörte Eßverhalten jedoch ein Leben lang eine Schwierigkeit, der sie mit Wachsamkeit begegnen müssen. Dennoch glaube ich und habe es auch erfahren, daß viele Bulimikerinnen ihre Krankheit überwinden können, und das gibt mir und den Betroffenen Hoffnung.

 

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 Zur Autorin:

Bärbel Wardetzki, Dr. phil., Dipl. Psych., Pädagogin M.A., Gestalttherapeutin und Ausbilderin im Arbeitskreis Kritische Gestalttherapie München (AKG), Familientherapeutin. Langjährige therapeutische Erfahrungen in der Psychosomatischen Klinik Grönenbach mit den Arbeitsschwerpunkten Sucht und Eßstörungen. Seit 1992 arbeitet sie als Psychotherapeutin und Ausbilderin in freier Praxis in München. Aus ihrer Arbeit entstand 1991 ihr Buch "Weiblicher Narzißmus. Der Hunger nach Anerkennung" (Kösel-Verlag, München). Ihr neues Buch zum Thema des hier abgedruckten Artikels "Iß doch endlich mal normal!" erschien 1996 ebensfalls im Kösel-Verlag.

Und hier finden Sie noch einen weiteren Beitrag von Bärbel Wardetzki:

Bärbel Wardetzki

Iß doch endlich mal normal!
Welche Rolle spielen die Angehörigen im Rahmen einer Magersucht oder Bulimie?

 

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