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Daniel Rosenblatt
Eine Gestaltgruppe mit schwulen Männern (Teil 1)


Aus der Gestaltkritik 1/2005:

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus Gestaltkritik 1/2005:

Daniel Rosenblatt
Eine Gestaltgruppe mit schwulen Männern (Teil 1)

 

Daniel Rosenblatt (Foto: Kurt Schröter)Daniel Rosenblatt

 

Der zweite Teil dieses Beitrags wird in Gestaltkritik 2/2005 erscheinen. Sie finden ihn bereits jetzt unter diesem Link.

Liebevolle Achtung und leidenschaftliche Beharrlichkeit zeichnen Dan Rosenblatts gestalttherapeutische Arbeit aus. Er arbeitet geduldig, ohne hartnäckig zu werden. Ohne beweisen oder gewinnen zu müssen. Seine Bereitschaft, Menschen zu begleiten, hat jenen langen Atem, jene Zugewandtheit und Achtsamkeit, die die Seele braucht, um lernen zu können. Zugleich ist seine Gestalt-Arbeit auf eine sehr wirksame Weise einfach. So ursprünglich, so pur wie ihn sah ich nur einen weiteren Menschen arbeiten: Laura Perls, seine Lehrerin, deren engster Vertrauter er später war.

Der Herausgeber

 

Wie lange schon ist Gruppentherapie eine Methode der Gestalttherapie? Fast, jedoch nicht ganz, von Anfang an. Als nämlich Ende der vierziger Jahre Paul Goodman in Zusammenarbeit mit Fritz Perls die erste Fassung von Gestalt Therapy (1) schrieb, da gab es noch keine gestalttherapeutischen Gruppen. Allerdings bildete sich gleich nach dem Erscheinen des Buchs 1950 eine Gruppe um Fritz und Laura Perls, zu der Isadore From, Elliot Shapiro, Paul Weisz, Buck Eastman und auch Paul Goodman gehörten. Sie trafen sich zur Diskussion von Theorie und Therapie, und allmählich wurde daraus eine Theorie-Therapie-Ausbildungs-und Supervisions-Gruppe. Sie entwickelte sich in bester organismischer Gestalttradition informell, ohne große Planungen und Kerncurriculum, sondern als eine Möglichkeit für alle Interessierten, sich zu treffen und herauszufinden, was ihnen gerade wichtig war. In der Zwischenzeit hatte Moreno seine Arbeit über Psychodrama begonnen, und Fritz, der nützlichen Anleihen nie abgeneigt war, übernahm daraus einige Elemente, insbesondere die Technik des Rollenspiels.

Eine ähnlich luftige und anarchische Angelegenheit war übrigens auch die Gründung des New Yorker Instituts für Gestalttherapie (2). Ich meine dies gar nicht abwertend, sondern will damit nur betonen, wie sehr diese frühen Entwicklungen dem Augenblick und den Umständen folgten. Eine offizielle Anmeldung beim Staat New York erfolgte erst über zehn Jahre später, als ich für kurze Zeit die Geschäftsführung innehatte, während Laura die Position der ständigen stellvertretenden Leiterin einnahm. Fritz hatte zu jener Zeit New York verlassen und kam nur noch gelegentlich vorbei, um alte Bekannte wiederzusehen, Gruppen zu veranstalten und Erklärungen abzugeben.

Von Beginn an wurde in Gestalttherapie die Ausbildung ohne akademische Formen betrieben. Damit unterschied sie sich sehr von den üblichen Therapieausbildungen. Theorie, Ausbildung und Technik wurden in der Gruppe diskutiert. Aussagen der Teilnehmer zufolge hämmerten bei diesen frühen Gruppentreffen die Mitglieder aufeinander ein, wie Stoehr in seinem Buch über Ursprünge der Gestalttherapie ausführt (3). Dies wurde allmählich zu einer der Grundlagen des berühmten harten, zeitweilig brutalen Therapiestils von Fritz. Manche Klienten haben deswegen Gestaltgruppen gemieden, andere wiederum haben sie deshalb gesucht. Unterdessen entwickelte Laura einen sanfteren und unterstützenderen Therapiestil, wobei auch sie nötigenfalls scharfe Töne an den Tag legen konnte. In dieser Frühzeit der Gestalttherapie war die Trennung zwischen Ausbilder, Ausbildungsteilnehmer, Klient und Therapeut unscharf. Die ersten Gruppenmitglieder waren noch ganz damit beschäftigt, eine neue Basis für therapeutischen Wandel zu schaffen. Erst allmählich ging aus alldem das Gefüge der Gruppentherapie hervor, das heute bei Gestalttherapeuten in aller Welt gängig ist.

Ich leitete mehr als fünfundzwanzig Jahre lang eine gestalttherapeutische Gruppe mit schwulen Männern. Meines Wissens war dies die erste Therapiegruppe, die sich den Belangen schwuler Männer widmete. Wir fingen mehrere Jahre vor dem Aufstand in der Stonewall-Bar im New Yorker Greenwich Village (4) an. Zu dieser Zeit fanden das die Männer und ich ein wenig gewagt und neuartig. Allerdings hielten wir uns nicht für kämpferische Vorreiter an der vordersten Front schwuler Politik. Unschuldig wähnte ich mich jedoch auch nicht. Als ich mit der Gruppe anfing, konnte ich auf eine Reihe persönlicher Erfahrungen zurückgreifen, die mir Unterstützung

gaben und die ich im Folgenden beschreiben möchte. Diese Elemente in meinem Hintergrund erlaubten es mir, bei meinem Unternehmen guten Mutes zu sein.

Meine wichtigste Erfahrung war die Teilnahme an einer gestalttherapeutischen Gruppe von Laura Perls Anfang der sechziger Jahre. Bereits zuvor, 1947-1950, war ich bei Laura in Einzeltherapie gewesen, bis ich nach Harvard ging, um zu promovieren. Als ich 1956 nach New York zurückkehrte, begab ich mich für zweieinhalb Jahre in Psychoanalyse. Ich hatte fünfmal in der Woche eine Sitzung morgens um acht. Diese Analyse wurde kein Erfolg. Mein Analytiker schloss gerade seine eigene Lehranalyse ab und arbeitete mit einer sehr traditionellen Technik, er sagte nämlich praktisch nichts. Ich konterte damit, dass ich ihm jeden Morgen vier bis fünf Träume vorstellte, und wenn ich damit fertig war, sie zu erzählen, war die Stunde herum. Der nächste Morgen war wieder genauso gefüllt, und so kamen wir nie dazu, meine Träume zu analysieren. Nach über sechshundert Analysestunden verloren er und ich die Geduld. An einem Morgen schlief er ein, an einem anderen hatte er einen Notfall zu versorgen, ließ mich aber nicht wissen, dass die Stunde ausfiele. Ich fand seine Praxis leer vor und saß fünfzig Minuten herum, bis die Sitzung beendet war. Diesen Vorfall nahm ich denn zum Anlass, ihm Vorwürfe zu machen und die Therapie abzubrechen. Er fühlte sich schuldig, verletzt und verärgert. Wir gingen in Unfrieden auseinander. Danach beschloss ich, wieder zu Laura zu gehen und an ihrer Gruppe teilzunehmen.

Als ich mich dazu entschloss, eine Gruppe zu leiten, war Gruppentherapie noch ziemlich neu. Fritz und Laura Perls und Paul Goodman hatten Anfang der fünfziger Jahre mit dem Experiment begonnen, Therapie mit Klienten im Rahmen einer Gruppe durchzuführen. Sie wurden dazu wohl durch Morenos Arbeiten mit dem Psychodrama angeregt. Die Perls' und Moreno waren als emigrierte Therapeuten in New York miteinander bekannt, und Fritz erkannte oft sehr schnell den Wert neuer Techniken, um sie sogleich in seinen eigenen Ansatz miteinzubeziehen. Dabei benutzte er die Gruppe vor allem als Hintergrund, vor dem er eine Einzelarbeit durchführte. Dadurch bekamen die anderen Gruppenmitglieder die Rolle von Zuschauern in einer Art von "Chor". Seine Beziehung zur Gruppe blieb außen vor, seine Aufmerksamkeit galt dem einzelnen Klienten, der Person auf dem "heißen Stuhl". Laura Perls und Paul Goodman dagegen achteten mehr auf die Gruppe als Ganzes, auf die Kontakte zwischen den Gruppenmitgliedern und zwischen diesen und dem Leiter. Um diese Stilunterschiede noch deutlicher zu machen: Fritz hatte mehr Einfluss in einer begrenzten Zweier-Beziehung, Laura und Paul ließen sich mehr in einen Prozess mit dem System aller Gruppenmitglieder ein. Natürlich arbeiteten auch Laura und Paul gelegentlich mit einem einzelnen Gruppenmitglied, währenddessen die anderen nur Zuschauer waren, aber dies war nur eine ihrer Möglichkeiten, wogegen es für Fritz praktisch die einzige Methode war.

Ich habe aus einer Reihe von Gründen den Stil von Laura und Paul übernommen. Vor allem war ich überzeugt, dass der Rahmen, den ich als "offenes System" bezeichnen möchte, mehr Interaktionsmöglichkeiten bereithält, als die Methode von Fritz, die ein geschlossenes System mit größeren Einschränkungen ist. In Fritz' geschlossenem System liegt die Quelle von Weisheit und Geschick im großen Therapeuten, beim offenen System dagegen liegen die Ressourcen in der ganzen Gruppe. Das ist so ähnlich, wie eine Gruppe von Geschworenen vielleicht nicht so bewandert ist wie ein einzelner Rechtsanwalt, jedoch der Gerechtigkeit mit mehr Zuverlässigkeit dient. Dabei geht es in Therapiegruppen natürlich nicht um Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern darum, dass Menschen lernen, für ihre Lebenswünsche mehr Engagement aufzubringen und Verantwortung zu übernehmen.

Ich habe mich bei diesen Grundfragen der Gruppenarbeit so lange aufgehalten, weil mir die Entscheidung, selber eine Gruppe zu leiten, nicht leicht fiel. Als junger Therapeut hatte ich Angst vor jeder Begegnung mit einem Klienten in einer Einzelsitzung. Ich zweifelte, ob ich den vielen Bedürfnissen eines Klienten gewachsen wäre. Bei Gruppen mit ihren komplexen Vorgängen fand ich dies sogar noch bedrohlicher. Ausführliche Literatur über Gruppentherapie gab es nicht, und allgemein war die Angst groß, die Klienten könnten sich gegen den Therapeuten verbünden. Viele meiner Kollegen haben die Leitung von Gruppen wegen dieser Angst vor dem Versagen und wegen ihrer unzureichenden Ausbildung einfach abgelehnt. Ich fühlte mich jedoch durch eine Reihe von Umständen ermutigt, eine Gruppe anzubieten.

Der wichtigste Faktor war sicher meine Teilnahme an einer Gruppe, die Paul und Laura Mitte der sechziger Jahre leiteten. Laura war als Gruppenleiterin sehr entspannt, warmherzig und ermutigend. Scharf, direkt, gar schneidend war sie nur dann, wenn sie dies für unerlässlich hielt. Sie fand Retroflexionen sehr wichtig und achtete viel auf die Körperpanzerungen eines Klienten. Gestaltexperimente verwendete sie in freier und schöpferischer Weise. Ihre Gruppenmethoden waren vor allem die folgenden: zum einen verwendete sie die Runde so, dass der Klient ein Gruppenmitglied nach dem anderen ansprechen musste; zum anderen ließ sie in einem Rollenspiel andere als wichtige Personen seines Lebens auftreten, um dann das Eingehen von Risiken bei ihnen auszuprobieren. Auch Laura verlangte, dass die Gruppenmitglieder für ihre Handlungen die Verantwortung übernahmen. Ich war zwei Jahre bei Laura in einer Gruppe, und dabei bekam ich nicht nur selber Therapie, sondern lernte auch als teilnehmender Beobachter, wie man Gruppentherapie machen kann.

Danach war ich für zwei oder drei Jahre in einer Gruppe von Isadore From, die sich auf theoretische Fragen konzentrierte. Bei unseren Bemühungen, Perls, Hefferline und Goodman zu verstehen, kamen viele Verwirrungen und Widerstände an die Oberfläche, mit denen Isadore in therapeutischer Weise umging. Seine Gaben lagen im Lehren wie im Fördern gleichermaßen.

Außer meinem gestalttherapeutischen Hintergrund hatte ich noch andere persönliche Quellen, aus denen ich für meine Gruppenarbeit schöpfen konnte.

Die persönlichste Quelle für meine Gruppenarbeit war das Leben in meiner Herkunftsfamilie. Meine Eltern stammten beide aus dem Teil Polens, den die Russen besetzt hatten. Meine Großeltern lebten nicht im Ghetto, sondern waren Bauern und durften eigenes Land besitzen. Begegnet sind sich meine Eltern in Kanada, dort war auch ihre Hochzeit, und dort kam auch meine älteste Schwester zur Welt. Später zogen sie in die Vereinigten Staaten und wohnten lange Zeit in Michigan. Ich habe zwei ältere Schwestern und noch einen Zwillingsbruder. Mein Vater hing keinem Glauben an und war Sozialist, so dass unser Haus weder orthodox noch konservativ war. Meine Mutter briet uns liebevoll Schweineschinken, aß jedoch als Kompromiss selber nichts mit. Den Haushalt führte sie nicht koscher, und wir wuchsen frei von religiösen Ritualen und Synagogenbesuchen auf. Unter uns vier Kindern herrschte ein unkompliziertes Geben und Nehmen, nur manchmal Rivalität und Kampf, aber alles im Rahmen einer größeren Zusammengehörigkeit und eines starken Familienbewusstseins. Unsere Eltern erwarteten, daß wir ihnen gehorchten, aber sie hatten auch für andere Ansichten Gehör. Wir wurden als Individuen angenommen und fühlten uns geliebt, wenn dies auch bisweilen im Stil der besitzergreifenden jüdischen Mutter geschah und uns dann wie eine Last erschien. Gelegentlich klagten wir über erlebtes Unrecht und hegten darüber Groll, aber erst sehr viel später sah ich, wie viel Glück wir hatten mit unserem Anteil an Lasten und Druck ohne all die Kämpfe, die sonst so viele Kinder durchmachen müssen. Auch als Erwachsene hielten wir vier Geschwister engen Kontakt und trauerten zusammen, als wir unsere Eltern verloren hatten. Ich fand in dieser Familie einen guten Boden, um zu lernen, wie man den Kontakt zu einem anderen Menschen hegen kann und Wege finden kann, einander zu verzeihen und sich um einander zu kümmern. Ich möchte hier kein Idealbild malen; wir hatten Kämpfe miteinander, fühlten uns verletzt, betrogen und missverstanden. Aber in einem größeren Bild waren wir ein enges Familienganzes mit starken und innigen Bindungen untereinander.

Eine wichtige andere Quelle waren meine Erfahrungen als Lehrer. Ich habe in verschiedenen Zusammenhängen als Schullehrer gearbeitet. Ein Jahr lang war ich an der Hessian Hills Schule, einem fortschrittlichen Modell einer Internatsschule, tätig. Der Leiter stand dem Ansatz von John Dewey (5) nahe, und die Gründerin, Elisabeth Moos, hatte bei Dewey studiert und war seine persönliche Schülerin. Übrigens war auch Paul Goodman von Dewey beeinflusst, und so fügte es sich besonders glücklich, dass ich bei Laura Perls in Einzeltherapie und gleichzeitig als Lehrer an einer fortschrittlichen Schule tätig war. Da die Schüler zusammenwohnten, hatten wir Lehrer mit allen Themen von Kindern zu tun: Lernen, Aggression, Sexualität, Beziehungen mit vernachlässigenden oder missbrauchenden Eltern, Kämpfe mit Autoritäten. Außerdem tauchten diese Themen auch im Umgang zwischen den Lehrern und im Kontakt mit den Eltern wieder auf. Das war schon eine heftige Mischung, und dann kamen auch noch politische Fragen dazu, denn ein Teil der Eltern standen der Sowjetunion und der Kommunistischen Partei nahe und hatten bei der Wahl 1948 Henry Wallace und seine Progressive Party unterstützt, ein anderer Teil waren die unbeliebten Liberalen mit guten Beziehungen zur Arbeitswelt und zur Demokratischen Partei. Da wir am Beginn des Kalten Krieges standen, führten die politischen Auseinandersetzungen zu einer Spaltung der Elternschaft und zur Auflösung der Schule. Dennoch: Für mich war dies eine Gelegenheit, die Beziehungen in einem komplexen System zu studieren: Lehrer, Angestellte, Schüler, Eltern, Beiräte; dabei alle mit ihren jeweiligen Themen: Politik, Gesellschaft, Sexualität, Moral und Geld. Das alles hatte Ähnlichkeit mit dem englischen Schulversuch Summerhill, wenn es auch vielleicht ein bißchen traditioneller und nicht ganz so exzentrisch war.

Bei einer anderen Schule in der Nachfolge von John Dewey, dem Bank Street College, habe ich ebenfalls einmal gearbeitet. Ihr Bemühen galt besonders der Verbindung der Theorie des kindlichen Erfahrungsprozesses mit der Praxis des Unterrichts und der Forschung.

Außerdem habe ich Psychologie am Brooklyn College unterrichtet. Dabei wollte ich nicht nur Vorträge halten, sondern Diskussionen fördern und die Schüler für eine größere Aufgabe als bloß das Nachplappern des Lehrers und das Bestehen der Prüfungen gewinnen. Allerdings hat das Kollegium dieses tradionell akademischen Ortes meine Bemühungen nicht immer sehr geschätzt.

Eine weitere Quelle waren meine Erfahrungen bei Dwight Macdonald und seiner ersten Frau Nancy Rodman. Dwight hatte anfänglich für Henry Luce und sein Fortune Magazine (6) gearbeitet, sich dann aber Anfang der dreißiger Jahre bei den Vorbereitungen für einen Bericht über US Steel (7) radikalisiert. Durch seine Recherchen und Interviews waren ihm die wirtschaftlichen und politischen Exzesse kapitalistischer Großunternehmen bewusst geworden, und er wurde Trotzkist. Als ich ihn später kennen lernte, war er auch damit unzufrieden und inzwischen Anarchist und Herausgeber des politics magazine (8) geworden, für das ihm die Stiftung seiner Frau Nancy das Geld gab. In der Zeit dazwischen waren er Herausgeber und Nancy Geschäftsführerin von Partisan Review (9) gewesen, hatten jedoch ihre Ämter niedergelegt, als die Redaktionskonferenz Roosevelts Forderung nach bedingungsloser Kapitulation und den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki befürwortete. Da Dwight und Nancy dies kurzsichtig, unmenschlich und brutal fanden, gründeten sie mit politics magazine ihre eigene Zeitschrift. Trotzki soll einmal gesagt haben: "Jeder Mensch hat das Recht, sich zum Narren zu machen, aber Dwight Macdonald übertreibt es damit".

Das Politics Magazine hatte ich zu lesen begonnen, als ich noch Student an der Wayne State University war und nebenher als dritter Sekretär von Walter Reuther jobte, dem Vorsitzenden der United Automobile Workers und späteren Vorstand der gesamten Industriearbeiter-Vereinigung CIO (10). Als einmal Dwight Macdonald über Walter Reuther schrieb, er hätte einen Mordanschlag überstanden und sich daraufhin einen Leibwächter zugelegt, schrieb ich ihm einen Brief und widersprach ihm. Aber als ich die Sache genauer untersuchte, entdeckte ich, dass er doch recht hatte und im fernen New York besser informiert war als ich in Detroit als Mitarbeiter von Reuther. Bei einem späteren Urlaub in New York rief ich Dwight an, und er begegnete mir freundlich und offen. Er und seine Frau Nancy waren der Mittelpunkt eines lebhaften Kreises New Yorker Literaten, Linksintellektueller und Anarchisten, und durch sie lernte ich Paul Goodman, Harald Rosenberg, Lionel Abel, Mary McCarthy, Hannah Arendt und Fritz und Laura Perls kennen. Bei Dwight übernahm ich einen Teilzeitjob, hauptsächlich das Ausschneiden und Archivieren von Artikeln der New York Times. Dabei lernte ich ihn und Nancy näher kennen. Obwohl Dwight in Yale studiert hatte und Nancy aus einer Familie kam, die ihren Stammbaum bis vor die Unabhängigkeitserklärung zurückverfolgen konnte, beeindruckten sie mich sehr durch ihre Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Offenheit und den Versuch, ihr Leben nach anarchistischen und sozialistischen Ideen zu gestalten. Ihre ernsthaften Bemühungen, den marxistischen Leitsatz "jedem nach seinen Bedürfnissen" zu verwirklichen, beeinflussten sehr stark die Art, in der ich später mit den Bedürfnissen einzelner Gruppenmitglieder umging. Dass Herkunft und soziale Klasse für sie keine Kriterien waren, fand ich sehr bedeutsam. Ich fühlte mich nicht dafür geschätzt, wo ich herkam, sondern für das, was ich war. Dieser anarchistische Hintergrund bei den Gründern der Gestalttherapie (Fritz und Laura Perls, Paul Goodman und Isadore From) und das Vorbild von Dwights und Nancys Lebensstil prägten sehr meine sozialen Einstellungen, und eine gestalttherapeutische Gruppe ist nur einer der Orte, an denen ich mich nach diesen Grundsätzen zu handeln bemühe. Darin liegt auch einer der Gründe, warum ich Lauras offenen Stil der Gruppenleitung anziehender fand: weil er dem anarchistischen Ideal näherkommt.

Ich möchte noch zwei andere Quellen meiner Arbeit mit gestalttherapeutischen Gruppen nennen. Beide sind mit Cambridge, Massachusetts verbunden.

Im Hauptstudium belegte ich einen Lektürekurs bei George Homans, einem Bostoner mit direkter Abstammung aus der Familie Adams; dessen Mutter die Lieblingsnichte von Henry Adams war. Anfangs hatte sich Homans für das Leben in englischen Dörfern im Mittelalter interessiert, wurde dann aber durch die Zusammenarbeit mit Henderson zum Spezialisten in Kleingruppenarbeit, zunächst in der Industrie, danach überhaupt. In einer Untersuchung über informelle Strukturen von Kleingruppen arbeitete er heraus, wie Macht durch den Prozess der Gruppe eingeschränkt wird. Gruppen finden ihre eigene Ordnung und Balance. Diese Untersuchungen und Theorien passten wunderbar zu meinen Ansichten über die Kraft der Interaktionen zwischen den Gruppenmitgliedern.

Ich belegte außerdem einen Kurs in Gruppendynamik bei Henry Riecken, der von Kurt Lewin, dem vor den Nazis emigrierten Gestaltpsychologen, sehr beeinflusst war. Riecken unternahm zahlreiche Studien zu Entstehung, Aktivitäten und Verlauf von Gruppen. Er war ein begabter Lehrer, freundlicher Mensch und Gegner von "Stuss", wie er mit amerikanischer Direktheit sagte. Aus seinem Werk übernahm ich weitere Vorstellungen über das Wesen von Gruppen.

Um mein Studium weiter zu finanzieren, arbeitete ich für die Studienberatung der Harvard Universität. Seinerzeit wurde Psychotherapie für Studenten in Not noch nicht offiziell angeboten, jedoch unter der Hand ermöglicht. Als ich mich vorstellte mit meiner eigenen Therapieerfahrung bei Laura Perls, wurde ich ausgesprochen offenherzig empfangen. Viele waren Schüler von Rogers und interessierten sich sehr für jemanden, der nicht psychoanalytisch arbeitete, aber doch ein breiteres Methodenarsenal für die Arbeit mit Studenten mitbrachte als es die begrenzte Roger'sche Sichtweise erlaubte. Deshalb räumten sie mir ein großes Feld zum Experimentieren mit Therapie für Studenten ein.

Danach war ich als Psychologe in der Psychiatrie der Universitätsklinik von Harvard, dem McLean Hospital, tätig. Alfred Stanton, der zusammen mit Morris Schwarz The Mental Hospital (11) verfasst hatte, war gerade auf dem Sprung zum neuen Klinikleiter. Er wollte bei Klienten und bei Mitarbeitern Kleingruppenarbeit einführen und beauftragte mich, seinem Assistenten Paul Howard informell dieses Konzept nahezubringen. Howard war als Mensch wunderbar. Er hatte allerdings eine Ausbildung als Psychoanalytiker und meinte zunächst, eine Gruppe gäbe es überhaupt nicht, sondern sie sei eine reine Abstraktion. Als Psychiater könne er keine Gruppe behandeln, sondern nur Individuen in ihrer individuellen Welt. Meinen Erklärungen über das Wesen von Gruppen stand er jedoch sehr aufgeschlossen gegenüber, und trotz seines Hintergrunds ging er auf den Gruppenprozess mit einer wunderbaren Feinfühligkeit ein.

Mit Howards Segen hatten zwei junge Klientinnen, Sylvia Plath und Sue Anderson, begonnen, so etwas wie eine Klienten-Mitverwaltung nach dem Vorbild der Bostoner Psychiatrie aufzubauen, und ich war begeistert, dass ich mit Unterstützung der Klinik diesen Prozess für meine Doktorarbeit untersuchen durfte.

So schien alles genau zusammenzupassen. Das einzige Problem dabei war meine Homosexualität. Diese war öffentlich ganz unannehmbar für das Department of Social Relations an der Harvard Universität, für das McLean Hospital, für das Bank Street College of Education, für das Brooklyn College. Einzig die Künstler und Anarchisten akzeptierten sie. In jeder Institution lebte ich wie hinter verschlossenen Türen, versteckt, verstellt und unter dem Druck der Entlassung, falls meine sexuellen Neigungen an die Öffentlichkeit kämen. Ich schämte mich, fühlte mich gedemütigt und schwor mir, wenn ich je als Psychotherapeut arbeiten würde, dann nur von vornherein offen über meine sexuelle Orientierung, und ohne je einen Klienten wegen der seinen zu verletzen. Diese Überzeugungen und Vorsätze gaben letztlich den Ausschlag bei meiner Entscheidung, unter meiner Leitung eine Gruppe für schwule Männer anzubieten.

Schwule Männer wurden in den sechziger Jahren von den meisten Therapeuten als krank, abstoßend und umerziehungsbedürftig betrachtet; ihre Suche nach männlichen Partnern sollte durch die Suche nach Frauen ersetzt werden. Erst in den siebziger Jahren nahm der amerikanische Psychiaterverband Homosexualität aus dem Diagnoseschlüssel für Krankheiten heraus. Ich selber habe bei Therapeuten, die ich darum auch nur kurz konsultierte, mildere Formen dieses Vorurteils erlebt. Horrorgeschichten hörte ich jedoch von meinen Klienten über manche ihrer früheren Therapeuten. Einige waren sogar so genannter Aversionstherapie unterzogen worden: sie mussten sich Bilder nackter Männer ansehen und bekamen dazu dann Elektroschocks verpasst. Und eine lesbische Frau erzählte mir noch im August 1997, dass ihr ein Therapeut auf den Kopf zu gesagt hätte, ohne Ehemann und Kinder könne sie niemals glücklich werden; sie war in Tränen ausgebrochen, aus der Sitzung gelaufen und nie wieder zurückgekehrt. Ich könnte die Variationen zu diesem Thema beliebig vermehren.

Meine Entscheidung war also klar: Ich wollte als Therapeut mit einer anderen Grundhaltung arbeiten. Ich wollte Verständnis und Unterstützung für jedwede sexuelle Orientierung anbieten, zu der sich ein Individuum entschlossen hatte. Zu meiner Überraschung entdeckte ich jedoch, dass auch ich meine Vorurteile hatte und dass ich in meiner eigenen Therapie daran arbeiten musste. Vor allem gegenüber Transvestiten, Transsexuellen und Praktikern des Sadomasochismus hatte ich keine besonders positive Einstellung. Ich weiß noch, wie mich Isadore dazu aufforderte, meine negativen Gefühle gegenüber Männern mit starken weiblichen Anteilen genauer zu untersuchen. Dieser Hinweis hat mich sehr weitergebracht.

In meiner Einzelpraxis waren vielleicht 20 bis 25 Prozent der Klienten schwul. Bei den Gruppen, die ich anbot, war es so ähnlich; ich bot nämlich vier Gruppen in der Woche an, von Montag bis Donnerstag, und eine davon war die schwule Gruppe, während in den anderen nur mal ein einzelner schwuler Mann oder eine lesbische Frau teilnahmen. Alle Gruppenteilnehmer wussten, dass ihr Therapeut schwul ist, und so war es ziemlich unwahrscheinlich, dass die schwulen Klienten in den gemischten Gruppen auf Vorurteile gestoßen wären. Ich selber erlebte in dieser Hinsicht auch nur sehr wenig, genau so wie mir nur selten antisemitische Vorurteile entgegengebracht wurden. Ich kann mich an eine Frau erinnern, die nur noch ein Auge hatte, krebskrank war und früher lesbische Beziehungen unterhielt, und die mir im Erstgespräch voll Abscheu mitteilte, mit einem schwulen Therapeuten würde sie niemals arbeiten. In einem anderen Fall betitelte mich eine junge Frau mit Schwierigkeiten im Liebesleben und voller Ärger auf Männer als einen "Schwanzlutscher". Als einmal ein europäischer Kollege mich mit derselben Bezeichnung provozieren wollte, fragte ich einfach zurück, ob er etwas dagegen hätte, wenn seine Frau diese Praktik bei ihm täte. Schließlich fällt mir noch eine Frau ein, die bei der ersten Sitzung beleidigend über Schwuchteln redete. Ich sagte, dass sie besser wissen sollte, soeben mit einem schwulen Therapeuten zu sprechen. Daraufhin wechselte sie sofort das Lager und erzählte, eine Tante, die zur feinen New Yorker Gesellschaft gehörte und lesbisch sei, wäre ihre Lieblingstante. Weitere Beispiele, in denen ich mit Vorurteilen konfrontiert wurde, fallen mir nicht ein. Natürlich weiß ich nicht, was hinter meinem Rücken geredet wurde; aber was man mir nicht ins Gesicht sagt, erlaube ich mir zu ignorieren.

Meine erste eigene Gruppe begann 1965. Ich wohnte in der Madison Avenue bei der 54th Street, einen Sprung weit vom St. Regis Hotel, gegenüber der New Yorker Frauenvereinigung, mit einem Coffeeshop an der Straßenkreuzung. Im Erdgeschoss meines Backsteinhauses, einem der letzten, die in diesem Abschnitt der Madison Avenue noch stehen geblieben waren, hatte mein Hauswirt ein Hamburgerrestaurant. Die oberste Etage mit einer großen, dabei preisgebundenen Wohnung, gehörte mir ganz allein. Ich arbeitete wie Laura lieber bei mir zu Hause. Mir gefiel es einfach besser, keine Fahrten zu einer Praxis machen zu müssen, keine zweite Miete zu zahlen zu haben, und meine Klienten sehen zu lassen, wie ich wohnte, anstatt so eine geheimnisvolle und ferne Figur zu sein, wie sie mein früherer Analytiker war. Zu Beginn meiner Gruppe hatte ich keine zwölf Stühle, und so setzten wir uns auf Kissen auf den Boden. Unsere Sitzungen sollten normalerweise zwei Stunden dauern, aber wenn sich etwas besonderes ereignete, blieben wir drei oder vier Stunden zusammen. Ich war ja noch jung, Mitte dreißig, und meine Klienten waren Mitte bis Ende zwanzig.

Ich erklärte meiner Gruppe, dass jeder die Freiheit habe, zu sagen und zu tun was ihm beliebt, er müsse jedoch für seine Worte und Taten die Verantwortung übernehmen. Ich sagte, dass auch ich frei sei, zu tun und zu sagen was ich wolle. Darüberhinaus nannte ich meine Grenzen, nämlich dass kein Blut fließen und keine Knochen gebrochen werden dürften. Wir lebten in der Zeit der Encountergruppen, und manche Gruppenleiter ließen Verletzungen zu. Ich erlaubte zwar Kämpfe, Armdrücken, Ringen und ähnliche Formen körperlicher Aggression, aber ich machte stets klar, dass ich keine Verletzungen wollte, und wenn ich die Gefahr dazu sah, rief ich laut "Ok, das reicht, stop!". Das genügte, um die Kämpfenden zu einem Ende zu bewegen. Ich sagte auch, dass ich Sex zwischen Teilnehmern während der Gruppensitzung nicht gut fände, und dass bei Sex zwischen ihnen außerhalb der Sitzung jeder das Recht hätte, darüber zu diskutieren.

Die meisten Männer in meiner Gruppe hatten einen Hochschulabschluss und Berufe wie Arzt, Psychiater, Rechtsanwalt, Psychologe, Sozialarbeiter, Lehrer. Einige waren Künstler, Schauspieler, Reiseberater, Werbeleute, Journalisten; einer begann eine Laufbahn bei der Bank, ein anderer als Spendenwerber. Ein Frisör war lange zu ängstlich, sich frei auszusprechen, aber als er einmal damit angefangen hatte, ging es ihm wie dem Zauberlehrling, und er konnte sich kaum wieder bremsen. Auch ein Playboy und ein Callboy waren dabei. Zeitweilig waren ein oder zwei Gruppenmitglieder ohne Arbeit, nachdem sie gezeigt hatten, dass sie schwul sind und sich für Männer interessieren. Im Ganzen bestand die Gruppe aus schönen, gebildeten, liberalen Männern der Mittelschicht, die entschlossen waren, mit ihrer Homosexualität und anderen Themen besser zurechtzukommen. Ich lachte manchmal und sagte, ich hätte keine unattraktiven Mitglieder, oder falls doch, so würden sie als Ergebnis der Gruppenarbeit attraktiv werden. Zum Teil stimmte das sogar, denn wenn Menschen freier und mehr mit sich selber im Einklang leben, strahlen ihre Gesichter diesen Frieden aus. In den ganzen siebenundzwanzig Jahren der Gruppe war nur ein Mitglied alkoholkrank, keines drogenabhängig, prostituiert oder langzeitarbeitslos. Nur ein Mitglied war schwarz und nur zwei waren Latinos. Ganz selten nur sah ich Lesben, wahrscheinlich weil sie lieber zu Frauen in Therapie gingen. Zum größten Teil hatte die schwule Gruppe eine ungewöhnlich privilegierte Stellung im Leben und konnte, wenn man von den Verheerungen durch Aids absieht, blühen und gedeihen.

Die Moral der Gruppe war außerordentlich. Das war sicher dadurch mitbedingt, dass der Therapeut offen schwul und unterstützend war und damit einen anderen Weg als den üblichen beschritt. Die Mitglieder fühlten sich dabei als etwas besonderes, im Vergleich zu anderen begünstigt; eine Art von Elite. Hier wurden sie nicht wie in den etablierten Therapien angeprangert, für pervers erklärt, ausgestoßen oder als Schwuchteln abgetan. Sie hatten ein Gefühl des Angenommenseins, gaben sich dies auch bald gegenseitig und entwickelten eine eigene Form von kameradschaftlichem Umgang. Ich will nicht sagen, es hätte in der Gruppe keine Konflikte gegeben, aber vorherrschend war das Grundgefühl, gemeinsam etwas Besonderes in einem einmaligen Experiment zu sein.

Während der Gruppensitzungen saßen die Mitglieder oft nah beieinander, hielten sich bei den Händen und streichelten sich gelegentlich. Es herrschte ein Gefühl von Wärme und Freiheit. Mir lag daran, dass sich die Mitglieder ohne Scham und Schuld wegen ihrer sexuellen Gefühle einbringen konnten. Die Männer waren dankbar, dass sie einen Therapeuten hatten, dessen Haltung zu Homosexualität unmissverständlich war. Es gab eine große Erleichterung und Aufregung darüber, dass sie nicht wegen ihrer sexuellen Neigungen als Bürger zweiter Klasse oder Vorzeigeschwule behandelt wurden. Ein Mitglied zögerte sehr, in der Gruppe mitzumachen, und beschloss, mit einem nach dem andern in alphabetischer Reihenfolge, unbesehen seiner Attraktivität, ins Bett zu gehen. Er kam mit seinen Verführungskünsten bis zum dritten oder vierten, begann dann aber die Gruppe selbst zu schätzen und stellte sein Vorhaben ein. Von diesen Vorgängen im Verborgenen erfuhr ich allerdings erst Jahre später.

Die Gesten der Nähe, die Berührungen und Umarmungen waren nicht Ausdruck von Liebesbeziehungen, sondern einfach der Freude und des Stolzes, dass dies unter Männern nun kein Tabu mehr war. Die Gruppe ging bald sehr entspannt damit um. Allerdings hatten einzelne Mitglieder weiterhin große Scheu vor solchen Kontakten. Sie vermieden ängstlich, anderen körperlich oder gefühlsmäßig nahe zu kommen. Zum Beispiel setzten sie sich lieber auf einen Stuhl als auf das Sofa, wo andere vielleicht zu dicht herankommen könnten. Ich respektierte ihre Grenzen gegenüber Berührungen und Berührtwerden mit großer Gewissenhaftigkeit. Nur wenn es sich ergab und für den einzelnen in Ordnung war, stellte ich ihre Haltung in Frage, aber selbst dann ging ich langsam, vorsichtig und in kleinen Schritten vor, damit der Klient keine Angst bekäme, sondern im Kontakt bleiben konnte.

Das Gefühl, dass wir etwas Besonderes waren, hatte zwei Gesichter. Auf der einen Seite war es etwas Besonderes, daß wir als Schwule, als Ausgestoßene, nun eine eigene Gesellschaft miteinander bildeten und innerhalb ihrer die gleichen Themen behandelten wie Heteros, nämlich Probleme bei der Arbeit, mit Vorgesetzten, Eltern, Geschwistern und in Beziehungen; Veränderungen in den sexuellen Wünschen und Fragen der Sexualität selbst. Wir freuten uns, diese Fragen ohne eine Abqualifizierung als typisch schwul frei besprechen zu können. Auf der anderen Seite galt aber auch genau das Gegenteil: Die Gruppe sonnte sich im Ruhm ihrer Einmaligkeit. Sie war eben keine normale Gruppe der Heterowelt. Wir überschritten die Konventionen und waren auf unsere Ungewöhnlichkeit stolz. Beides stimmte also zugleich: Die Feier des Normalen, Alltäglichen, Prosaischen, und die Feier der einmaligen Konstellation und der unvergleichlichen Qualitäten dieser Gruppe. Wir hatten das Beste aus zwei Welten in einer: Marie-Antoinette als Königin von Frankreich, und Marie-Antoinette in der Rolle des Milchmädchens im Petit Trianon (12). Was könnte das Leben noch besseres geben? Dreißig Jahre sind seit Gründung der Gruppe vergangen, und noch heute bekomme ich von früheren Mitgliedern zu hören, was für eine wichtige und starke Erfahrung dies damals war und woran sie sich noch heute genau erinnern. Dabei haben natürlich im Laufe der Jahre die Mitglieder gewechselt. Es sind Mythen entstanden: "Oh wie wunderbar war es, als die Gruppe begann", "Oh wie wunderbar war es, als die Gruppe zusammenwuchs", "Oh wie wunderbar war die Gruppe, als Rosenblatt noch auf der Madison Avenue wohnte", "Oh wie wunderbar war es vor der Reagan-Ära", "Oh wie anders war es vor Aids". Jede Generation von Gruppenmitgliedern erfindet ihr eigenes Goldenes Zeitalter. Ich als Leiter höre mir diese Vertraulichkeit und diese Begrenztheit der Perspektive mit Vergnügen an. Manchmal wollen sie, dass ich einstimme und sage, welche Phase der Gruppe die Beste war. Aber ich antworte nur, wie es gute Eltern täten, dass ich keiner den Vorzug gäbe. Und wenn ich die Geschichte der Gruppe im Ganzen betrachte, freue ich mich tatsächlich über ihre verschiedenen Stadien. Nur bei einer fällt es mir wirklich schwer, mich zu freuen: ihrem Todeskampf in der Ära von Aids. Aber darauf komme ich noch zurück.

Manchmal erlebte ich statt hoher Gruppenmoral und Zuneigung auch das Gegenteil. Zum Beispiel war einmal ein Mitglied mit ganz ungewöhnlicher Aggression gegen die anderen Männer dabei. Mit sicherem Gespür fand er die schwächste Stelle eines andern und griff ihn dann bösartig an. Dabei waren seine Wahrnehmungen oft zutreffend und genau. Aber sein Ziel bestand nicht in hilfreicher Unterstützung, sondern in treffsicherer Verletzung. Ich erinnerte ihn daran, dass der Zweck der Gruppe Therapie sei und nicht Zielschießen. Das hörte und verstand er zwar, beachtete es aber kaum. Ich sagte ihm, solange er sein Gift nicht besser bei sich behalten könne, bliebe er der Gruppe besser fern. Er fuhr mit seinen ätzenden Kommentaren fort. Schließlich sagte ich ihm, er würde besser darüber nachdenken, was er in dieser Gruppe eigentlich täte, und schickte ihn für sechs Wochen nach Hause. Nach vier Wochen kam er wieder und war in der Lage, seine Kommentare so zu formulieren, dass sie für andere weniger einen Angriff als vielmehr ein Angebot darstellten. Ich war davon sehr beeindruckt. Allerdings spürte ich, dass er untergründig den alten Ärger weiterhegte, und wollte mit ihm deshalb in Einzelsitzungen an seinem Bedürfnis, andere zu verletzen, weiterarbeiten. Als Gruppenleiter hatte ich meine Entscheidung getroffen, um die Gruppe zu schützen. Wohl hatte ich seinen Hass als Mittel verstanden, um frühere eigene Verletzungen anderen zurückzuzahlen, aber ich war der Ansicht, dass ich seine Angriffe auf andere Menschen nicht zulassen könne. Wenn ich mich hier so ausgiebig mit ihm beschäftige, dann deswegen, weil er meinen Glauben an die guten und heilenden Kräfte einer Gruppe sehr auf die Probe stellte. Ich war wenig glücklich darüber, mich in der Rolle des Ordnungshüters wiederzufinden, statt die Gruppe ihre eigene Lösung finden zu lassen. Aber hätte ich ihn mit seinem zerstörerischen Werk fortfahren lassen, so hätte ich es damit gebilligt. Kindern in Summerhill oder in Bettelheims Orthogenic School hätte man diesen Raum vielleicht gewährt, aber dann hätte es sich um Kinder und noch dazu schwer gestörte gehandelt. Er jedoch war ein Erwachsener, der genau wusste, was er bewirkte, und dies auch noch gut fand. Ich hatte körperliche Gewalt gegen Klienten untersagt; verbale Gewalt hätte ich genau so wenig entschuldigen können.

In einer anderen Gruppe kam ich in eine ähnliche Situation. Dieses Mal war es eine kluge und wortgewandte Frau, die die anderen Frauen systematisch angriff. Jetzt traf ich die Entscheidung, sie gewähren zu lassen. Dabei war ich mit mir nicht ganz im reinen, doch ich wollte erleben, wie die Gruppe mit dieser Bedrohung umgehen würde. Ergebnis war, dass mehrere Mitglieder gingen und die Gruppe beinahe zerstört wurde. Die labileren Gruppenmitglieder wollten nicht dableiben und mit solch einem schrecklichen Gegner kämpfen. Die anderen blieben und wogen ab zwischen dem Kontakt mit einem Tiger und innerem Rückzug.

Die meisten Mitglieder der schwulen Gruppe empfanden sich als Seelenverwandte bei der Suche nach Heilung und Trost. Ihre gegenseitige Unterstützung war eine mächtige Energie, die ich mit Freude mitansehen konnte, ohne sie selber spenden zu müssen. Ich will es präziser sagen: Als Gruppenleiter und Rollenvorbild wollte ich die Mitglieder dann unterstützen oder konfrontieren, wenn sie es brauchten, und im günstigen Falle erleben, wie sie sich wechselseitig konfrontierten. Dabei sollten Unterstützung wie Konfrontation nie bloß aus sentimentaler Liebe oder aus Spaß an der Auseinandersetzung erfolgen, sondern für den Klienten immer einen spezifischen therapeutischen Wert haben.

Nach den Gruppentreffen gingen viele Klienten noch in eine irische Kneipe um die Ecke, um etwas zu essen, zu trinken und ihr eigenes Nachtreffen zu haben. In den sechziger Jahren war die Aura von Vertraulichkeit und Anonymität um Therapie herum noch so groß, dass es Konservative von mir mutig fanden, wie ich meine Klienten miteinander Kontakte haben ließ, ohne selber dabeizusein und für sie dasein zu können. Solche Vorbehalte gegen ein "Fraternisieren" von Klienten hatten meines Wissens Paul Goodman und Laura Perls nie gehabt, allerdings war die Frage der Vertraulichkeit auch für mich ein offenes Thema. Ich bat meine Klienten, keine Inhalte aus der Gruppenarbeit mit ihren Freunden zu besprechen, auch wenn ich wusste, dass es doch passieren würde. Ich sah ein Dilemma: Was in der Gruppe vor sich ging, sollte eine besondere Erfahrung sein, aber dass Klienten gerade solche wichtigen Erfahrungen ihres Lebens vor anderen zurückhielten, wäre doch sehr unnatürlich gewesen. Mein Kompromissversuch bestand darin, sie zur Achtung der Vertraulichkeit anzuhalten, während ich wusste, dass sie sich nicht daran halten würden und ich sie dafür auch nicht belangen konnte. Hin und wieder beschwerte sich ein Klient, die Gruppe diskutierte darüber und schlug sich schließlich auf die Seite der Vertraulichkeit, aber ich ahnte, dass dies nicht lange vorhalten würde.

Tratsch wurde vom Gestaltansatz missbilligt. Erzählen gegenüber Dritten galt als Vermeidung einer direkten Konfrontation mit dem Beteiligten. Allerdings pflegten alle Gestalttherapeuten, die ich kannte, mich selber eingeschlossen, gelegentlich über Dritte zu reden. Es wäre ein Lippenbekenntnis, wenn ich dagegen zu Felde zöge. Genau wie beim Thema Vertraulichkeit würde daraus Doppelbödigkeit erwachsen. Also bemühte ich mich einerseits, nichts Verletzendes zu sagen, andererseits aber auch ehrlich zu zeigen, wie wir sind.

Als sich die Gruppe weit genug entwickelt hatte, richtete ich einmal im Monat eine Sitzung ohne mich ein. Die Mitglieder trafen sich reihum in der Wohnung eines andern. Über diese privaten Treffen erfuhr ich wenig, nur manchmal indirekt durch Diskussionen in einer Sitzung mit mir. Ich bemühte mich auch nicht, genaueres herauszufinden. Manchmal hatten diese Gruppentreffen wohl Mühe, in Gang zu kommen, manchmal sollen sie großartig und hilfreich gewesen sein, manchmal sei es nur um Sex gegangen, weil sich einige in meiner Gegenwart zu gehemmt dazu fühlten. Mir gefiel ihre Begeisterung über diese leiterlosen Treffen. Natürlich wurde die Leiterrolle von verschiedenen Gruppenmitgliedern eingenommen. Ich wollte ja auch, dass Klienten entdeckten, dass sie selber leiten und helfen konnten, und dass die Rolle des Therapeuten und der Therapie etwas von ihrem Mythos verlor. Gemäß dem alten marxistischen Glauben hoffte ich mitzuerleben, wie sich der Staat auflöst und sich zuletzt die anarchistischen Haltungen durchsetzen. Außerdem, muss ich offen gestehen, freute ich mich auch auf einen freien Abend. Nicht alle waren über die leiterlosen Gruppenabende glücklich. Einige wollten den Therapeuten immer dabeihaben, um sich sicherer zu fühlen, andere, weil der Prozess ohne mich weniger Wert wäre, wieder andere vermissten Anleitung und Unterstützung durch mich. Es kam auch mal vor, dass eine leiterlose Sitzung entgleiste. Dann wurde dies in eine reguläre Sitzung eingebracht: Mitglieder seien weggeblieben, etwas Wertvolles sei nicht zustande gekommen, einige Mitglieder hätten das Treffen in eine Party umfunktioniert. Darüber wurde dann ausgiebig diskutiert, und jeder konnte seine Ansichten darlegen. Am Ende des Diskussion sah die Gruppe dem nächsten leiterlosen Treffen gewöhnlich mit neuer Energie entgegen. Leiterlose Treffen funktionierten erst dann nicht mehr, als die Aids-Ära anbrach und die Gruppe zuende ging.

Vor über 2.500 Jahren hatten die Athener eine energiegeladene Form von Theater aus den bis dahin üblichen Ritualen der Bockopferung hervorgebracht. Die Tragödie (von gr. tragos ode = Bocksgesang) wurde zum Grundmuster der Religionsausübung der Städter. Bei der Darbietung mehrerer tragischer Stücke schob man komische Einlagen dazwischen. Für beides, Tragödien wie Komödien, setzten die Schauspieler Masken auf, so dass der Wechsel ihrer Identitäten augenfällig wurde. Zu den Vorgängen im Spiel gab eine besondere Gruppe von Mitgliedern der Gemeinde, der Chor, seine Kommentare ab. Die Handlung nahm häufig Bezug auf die Ereignisse im Leben der Stadt. Durch die packende Darstellung wurden die Zuschauer zu Erschrecken oder tiefem Mitgefühl bewegt, und als Ergebnis dessen erlebten sie eine gründliche innere Klärung. Sie verließen den Theaterplatz gereinigt und erfrischt.

Ich erinnere hier deshalb an das griechische Drama, weil es so viel von dem enthält, was auch in meinen Therapiegruppen über die Jahre hinweg geschah: Ein paar Bewohner der Stadt New York, die sonst nichts miteinander zu tun haben, treffen sich einmal die Woche zwei Stunden lang in meinen Räumen zur Improvisation eines Dramas, dessen Stoff aus ihren akuten Bedürfnissen besteht. New York ist eine Stadt der Fremden, und man sagt, der gewöhnliche New Yorker stamme eben nicht aus New York. Auch in meinen Gruppen waren die gebürtigen New Yorker nur eine Minderheit. Die meisten Mitglieder hatten hier eigentlich keine Bindungen. Sie gehörten keiner religiösen Vereinigung an, ihre Eltern und Verwandten wohnten oft in einer anderen Stadt, Schulen und Universitäten hatten sie meistens woanders absolviert. So könnte man sie vielleicht "wurzellose Weltbürger" nennen. Die Therapiegruppe wurde ihr Ersatz für Heimat und Familie. Das traf in ganz besonderem Maße auf die schwule Gruppe zu, denn viele waren extra nach New York gekommen, um der Enge und Feindlichkeit ihrer Herkunft, ihrer Gemeinde, Familie und Religion, zu entfliehen. Sie lebten in New York, dem Zufluchtsort so vieler Schwuler der Ostküste, praktisch wie im Exil. Sie waren aber hierher in der Hoffnung entflohen, frei zu sein für ein schwules Leben mit wenigstens einem Ansatz zum aufrechten Gang. In diesem Sinne empfanden sie sich nicht als Exilanten, sondern eher als Auswanderer in ein schwules Paradies, wo es so wenig Unterdrückung gab wie nirgendwo sonst auf der Welt. So wie nun die Stadtbewohner von Athen im Drama ein neues gemeinsames Band finden konnten, so bot die schwule Therapiegruppe eine Form sozialer Gemeinschaft.

Zur Eröffnung einer Gruppensitzung habe ich oft eine Runde angeregt, in der jedes Mitglied sagen konnte, was ihm gerade in den Sinn kam, also eine Art "Check-In". Vielen gefiel diese Einladung sehr gut, weil sie zeigen konnten, wo sie sich gerade befanden, ohne für diese Offenbarung selber verantwortlich zu sein. Die scheueren Gruppenmitglieder wollten sich natürlich nicht zum Reden verpflichten lassen, aber auch sie schätzten die Runden, weil hier niemand übersehen oder vergessen wurde. Der Sinn von Runden war auch gar nicht, die stilleren Teilnehmer unter Druck zu setzen, und oft war schon das kleinste sprachliche Signal genug. So gesehen stand es allen einfach frei, sich aktiv zu beteiligen, womit ich nicht sagen möchte, Schweigen könne nicht auch eine Form der Beteiligung sein. Es kam schon mal vor, dass jemand einschlief. Oft war dies ein Anzeichen dafür, dass ihn das Thema sehr belastete und ihm der Schlaf eine Zuflucht bot. Da wir keinen puritanischen Gottesdienst veranstalteten, durften die Eingeschlafenen ihr Nickerchen ohne Störung weitergenießen.

Den nächsten Abschnitt einer Sitzung leitete ich mit der Frage ein: "Wer möchte arbeiten, wer möchte Zeit für sich?" Damit war das Drama eröffnet. Der Protagonist konnte einbringen, was er wollte. Das konnte ein Gefühl sein oder eine Antwort auf jemanden in der Gruppe, es war vielleicht eine unerledigte Geschichte aus seinem Leben oder ein frischer Traum, ein Erlebnis bei der Arbeit oder ein unglückliches Telefongespräch mit Verwandten. Er konnte sogar sagen: "Ich möchte arbeiten, aber ich weiß nicht woran" oder "Ich habe schon länger nicht mehr gearbeitet und möchte jetzt etwas Zeit für mich". Indem er sich geäußert hatte, was mit ihm war, fing die Arbeit an. Kathy Spaeth (13) meinte einmal, "Arbeit" in Gestalttherapie bedeute eine Art von Trance, und ich glaube, dass das stimmt. Wenn ein Mensch in sich hineinfühlt und der Gruppenleiter dazu Unterstützungen anbietet, entwickelt sich ein veränderter Bewusstseinszustand. Manche würden dies als "Hypnose" bezeichnen, wie ja auch die Zuschauer eines Theaterstücks oder Kinofilms in einem gewissen Grade "hypnotisiert" sein müssen, um das, was sie sehen, irgendwie für real zu halten. Darauf bezieht sich auch Coleridges (14) Ausdruck des "bereitwilligen Aufgebens von Vorbehalten". Wenn eine Person auf dem "heißen Stuhl" sitzt und "dran ist", geht sie tiefer in ihren eigenen Prozess hinein, so dass eine neue Art von Wirklichkeit entsteht. Durch Rollenspiele kann man in dieses unbekannte Land noch tiefer als durch jede andere Methode hineingeführt werden. Was dabei geschieht, ist oft so machtvoll oder noch mächtiger als das, was sich im "normalen" Alltag ereignet.

Ein weiteres Element, das zur Entstehung einer neuen Wirklichkeit beiträgt, ist die Gegenwart der anderen Gruppenmitglieder, ähnlich wie früher der Chor. Das Drama wird durch die zuschauenden Teilnehmer auf die Spitze getrieben.

So kommt eine Stimmung wortloser Unterstützung auf; ein Gefühl gemeinsamen Ausprobierens durchwebt den Raum. Wenn in ein laufendes Rollenspiel andere Gruppenmitglieder miteinsteigen, wird der Spieler, der gerade "arbeitet", noch mächtiger von seinem eigenen Drama gepackt. Dann wird der Protagonist gefragt, was ihm klarwurde, und die anderen Mitglieder steuern ähnliche Erfahrungen bei. Danach wird die Gruppe nach Kommentaren gefragt. Manchmal ist es nützlich, das Rollenspiel mit vertauschten Rollen zu wiederholen, so dass der Protagonist nun nicht sich selber, sondern einen wichtigen anderen spielt. Danach geht es wieder mit Feedbacks weiter. Ob dabei eine Katharsis stattfindet, kann ich nicht mit Gewissheit sagen; ich kann auch nicht schwören, dass Schrecken und Mitleid um sich greifen. Aber ich bin überzeugt, dass etwas sehr Wirkungsvolles geschieht, eine Veränderung der Sichtweise und des Gewahrseins, woraus beim Einzelnen und in seinem Verhältnis zur Welt weitreichende Änderungen folgen können.

Wenn ich Rollenspiel als Technik benutze, will ich damit auch den dramatischen Konflikt so weit wie möglich verstärken. Dabei kann man ein Rollenspiel auf viele Weisen strukturieren und die Rollen zum Beispiel wie folgt vorgeben: "Sprich mit deiner Mutter" oder "Sprich mit deiner Mutter über ihre Einstellung zu Sexualität" oder "Sprich mit deiner Mutter über ihre Einstellung zu Homosexualität" oder "Sprich mit deiner Mutter über ihre Einstellung zu Homosexualität und was sie empfand, als sie entdeckte, dass du einen Freund hast, der sie kennenlernen möchte". Es liegt auf der Hand, daß die letzte Vorgabe dem Spieler am meisten bietet, um in die Rolle einzusteigen, mit Gefühlen in Kontakt zu kommen und Entdeckungen an seinem eigenen Prozeß zu machen.

Ich kann mir jedoch nie die Zeit lassen, eine Nacht lang über die beste Rollenvorgabe zu brüten, die den Spieler am tiefsten in seinen Prozess hineinführt. Ich stehe im Rampenlicht und muss in diesem Moment selber improvisieren. Also übte ich, solche hochdramatischen Rollenvorgaben schnell zu erfinden, dann aber nicht an meiner Schöpfung zu hängen und den Spieler nicht zur Annahme zu zwingen. Ein Therapeut, der Rollenspiele verwendet, sollte sich gründlich mit dem Wesen von Schauspiel und Dramatisierungen befassen, denn wenn ein Individuum die geeignete Rollenvorgabe bekommt, winkt therapeutisches Gold.

Ähnlich wirkungsvoll wie Rollenspiele kann es sein, wenn eine Person in die Runde schaut, ein Mitglied nach dem anderen anblickt und sich daraus vielleicht ein Dialog entwickelt. Der Kontakt zwischen zwei Mitgliedern kann dabei so intensiv werden, dass die anderen gebannt die Luft anhalten oder es kaum abwarten können, bis sie an die Reihe kommen. Auch nach solch einer Runde ist wieder Zeit für Feedback. Die freimütigen Mitteilungen der Zuschauer über das, was in ihren Herzen vorging und was ihnen durch den Sinn ging, zeugten oft von einer ganz erstaunlich genauen Wahrnehmung und inneren Anteilnahme. Ihre persönliche Beteiligung am Prozess konnte so lebhaft, kraftvoll und engagiert sein, dass es sie fast zu sehr in Erregung versetzte. Deswegen gingen viele nach dem Gruppentreffen auch noch zusammen aus und diskutierten weiter.

Wenn ich mit einem Klienten arbeite, erhebt sich allgemein die Frage, mit welcher Intervention ich beginne. Grundsätzlich kann natürlich jede Intervention zu etwas Nützlichem führen, aber wir haben zum Probieren nicht unbegrenzt Zeit. Wie also wählen wir eine passende, fruchtbare Intervention? Ich finde es dazu nützlich, die Gestalten, an denen ich arbeiten will, in Mikro- und Makrogestalten einzuteilen. Ein Beispiel für eine Mikrogestalt wäre etwa "Spürst du deinen Atem? Wie atmest du?" Sie hat also oft mit körperlichen Aspekten dessen zu tun, was mir beim Klienten im Vordergrund gewahr wird. Sie kann sich aber auch auf ein Gefühl oder einen Gedanken beziehen: "Was empfindest du gerade jetzt?" und "Was denkst du gerade eben?" Oder sie kann in der Suche nach weiteren Informationen bestehen: "Kannst du mir mehr darüber erzählen?" "Ist da noch etwas, was du sagen willst?" Auf der anderen Seite hat die Makro-Gestalt einen viel weiteren Bereich im Blick. Außer der Aufmerksamkeit für das, was gerade geschieht, kann ich auch die Frage im Sinn haben, was der Klient für sexuelle Wünsche an seine Mutter hat. Meine Entscheidung, dies genauer zu untersuchen, hängt immer ab von dem, was der Klient in der Sitzung von sich zeigt. Ich habe keinen Fahrplan vorweg. Irgendwann einmal muss ich allerdings entscheiden, ob ich immer nur dem Klienten folgen will, oder ob ich mir auch einmal erlaube, ihn dahin zu führen, wo er meinem Eindruck nach gerne hinginge oder wo ich ihm eine breitere Grundlage für ein Verständnis seiner selbst anbieten kann. Ich bin immer vorsichtig damit, einen Klienten zu führen, und wenn ich spüre, dass er widerstrebt, gehe ich von der größeren Gestalt, dem Neuen, schnell wieder weg. Ich finde es allerdings wertvoll, mir bei einer Arbeit mit einem Klienten stets darüber im Klaren zu sein, ob ich lieber an einer kleineren oder an einer größeren Gestalt arbeiten möchte. Meine Daumenregel lautet: Wenn der Klient genug Boden unter den Füßen hat, sich wohlfühlt und entspannt ist, kann ich es wagen, ein heißes Eisen und einen größeren Zusammenhang dessen, woran wir arbeiten, anzusprechen. Natürlich ist nichts narrensicher, aber ich meine, es gibt eine Zeit zum Führen, und es gibt eine Zeit zum Folgen, und ich muss mir nur darüber im Klaren sein, wann ich mir das eine und wann das andere erlaube.

Wenn ein Klient einen Traum erzählt hat, frage ich ihn zuerst, was er seiner Meinung nach bedeutet. Nach seiner Äußerung dazu sage ich zum Beispiel: "Wir können uns den Traum auch noch auf andere Weise anschauen". Dann benutze ich oft Fritz' Technik, dass sich der Träumer mit einem Element seines Traums identifizieren soll. Natürlich brauchen manche Mitglieder Ermutigung, etwas so scheinbar albernes zu tun, aber wenn sie sich erst einmal darauf eingelassen haben, den verschiedenen Traumelementen eine Stimme zu verleihen, können die wundersamsten Dinge geschehen. Ein Gruppenmitglied hatte einmal von einem Stück Stiltonkäse geträumt. In der Rolle des Käses sagte er: "Ich bin edel, teuer und stinkig". Darauf brach er in lautes Gelächter aus, denn er hatte damit ahnungslos auf den Punkt gebracht, wie er seinen englischen Freund empfindet. Während einer Traumarbeit wirke ich die meiste Zeit als Führer, während die anderen Zuschauer bleiben. Wenn die Traumarbeit beendet ist, kann die Gruppe wieder Kommentare und Feedbacks abgeben, durch die ein Schatz an weiterem Material zusammenkommt. Ich bin im Laufe der Jahre immer mehr vom hohen Wert der Feedbacks für denjenigen, der arbeitet, für die Gruppe und für den ganzen Prozess überzeugt.

Ich hatte schon von der Komödie gesprochen und möchte nun auf die bedeutende Rolle des Humors in der Gruppenarbeit eingehen. Wer sich einer Gruppe anschließt, kann nicht mehr auf die Sicherheit und Bequemlichkeit der Einzeltherapie bei einem unterstützenden oder auch gelegentlich konfrontierenden Therapeuten bauen. Sogar der Therapeut selber verliert diese Sicherheit, weil ihm die Gruppe zahlenmäßig weit überlegen ist. In einer Gruppe herrscht ein wildes Gefühl von Aufregung. Was alles kann auf dieser Bühne mit zehn oder zwölf Beteiligten passieren? Von dieser Spannung des Augenblicks kann oft Humor erlösen. Manchmal lachen Gruppenmitglieder bei Spielereien miteinander, manchmal werden Witze erzählt, manchmal geschieht in einem Rollenspiel etwas Urkomisches, manchmal mache ich selbst einen Scherz. Wenn sich Menschen mit ihrer dunklen Seite befassen, ihren Dämonen und Lebensgefahren, darf sie auch mal das Lachen entlasten; wir müssen dabei nicht immer nur weinen. Es kann beides wertvoll sein. Lachen macht klar, dass es auf die Qualen, die wieder bearbeitet werden, auch noch eine andere Antwort geben kann. Ich erinnere mich an die Bandaufnahme einer Sitzung mit Fritz in Esalen. Darauf war ganz viel Lachen zu hören. Besonders beeindruckend fand ich, dass vieles an sich nicht sonderlich amüsant oder sogar ganz und gar nicht komisch war, aber trotzdem wurde schallend gelacht. Ich gelangte zu der Auffassung, dass Lachen nicht durch den Inhalt bedingt ist, sondern durch das Bedürfnis der Gruppe, von Spannungen erleichtert zu werden und ihre Angst bei all der Aufregung und Anspannung zu überwinden. Traurig folgerte ich, dass vielleicht ein Großteil des Lachens in meinen eigenen Gruppen aus dieser Quelle stammte. Daneben hat Freud in seiner Abhandlung über den Witz herausgestellt, dass Lachen dazu dienen kann, verborgene Feindseligkeit auf sozial erlaubte Weise auszudrücken. So wurden in der griechischen Komödie Führungsgestalten oft zu Zielscheiben des Gelächters gemacht. Davon war in meinen Gruppen sicher auch etwas zu finden. Und wir hatten in der schwulen Gruppe auch immer wieder Spaß, gemeinsam herumzutucken (15). Übrigens machte ich das auch manchmal in meinen Heterogruppen; und die Teilnehmer schätzen dann meinen Humor durchaus. Sie konnten dabei aber nicht erkennen, dass seine Wurzeln in der schwulen Subkultur lagen.

Zweimal im Jahr pflegte ich die Gruppe zu einem Wochenende auf meinem Hof im Umland von New York einzuladen, einmal im Sommer, einmal im Winter. Mein Lebensgefährte übernahm die Gastgeberpflichten und sorgte für gutes, gesundes, schmackhaftes Essen mit großen Portionen. Zum Abendessen gab es auch Wein. Unsere Treffen dauerten zwei Tage und hatten sechs Arbeitsstunden täglich. Den Bauernhof hatte ich umgebaut, darunter auch eine alte Scheune, ein früheres Geflügelhaus und mehrere Wirtschaftsgebäude. Mein Angebot so vieler Schlafräume und Übernachtungsmöglichkeiten wurde, wie ich wiederum erst Jahre später erfuhr, von einigen auch für Sex miteinander genutzt. Ich fand das nicht richtig, weil ich durch sexuelle Beziehungen zu viele Komplikationen erwartete, aber natürlich stand dahinter auch mein eigener Konservatismus. Als ich in Europa Gruppen leitete und diesen Standpunkt vertrat, lachten viele darüber; denn für sie war es eine der Hauptattraktionen einer Wochenendgruppe, Sex mit jemand anderem als dem Ehepartner zu haben. Am Abend nach der Gruppenarbeit ging ein Joint herum, wogegen ich keine Einwände hatte. Wiederum Jahre später erfuhr ich jedoch, daß auch andere Substanzen genommen wurden. Das hätte ich nicht gern gesehen, denn auch wenn ich grundsätzlich die Freiheit des einzelnen zum Drogengebrauch akzeptierte, wünschte ich mir an diesen Wochenenden doch eine Konzentration auf die Therapie und nicht auf Drogen. Auch wenn Fritz und Laura ganz offen Erfahrungen mit Meskalin und LSD gemacht hatten, war ich in dieser Hinsicht eben konservativer.

In den 27 Jahren meiner Gruppenarbeit hatte ich zwei feste Beziehungen, die eine mit Charles acht Jahre lang, die andere bis heute, und das sind nun schon 18 Jahre, mit James. Ich nenne meinen Lebensabschnitt mit Charles und James auch manchmal die Epoche meiner Stuart-Könige (16). Welche Beziehungen nun hatten sie zu den Gruppenmitgliedern?

Einer der Gründe, warum ich nicht länger für große Organisationen arbeiten wollte, war mein Wunsch, mein privates und sexuelles Leben nicht mehr vertuschen zu müssen wie etwa: "Ich habe mit jemand eine Verabredung" (unklares Geschlecht), "Ich werde bei Freunden anrufen" (neutrale Mehrzahl), "Wir hatten einen wunderbaren Abend" (ziemlich nebulös). Von meinem Freund als "sie" zu reden, also "Sie ist ein wunderbarer Mensch", "Sie hat gestern gekocht", verbot mir meine Aufrichtigkeit. Also formulierte ich "Was für ein wunderbarer Mensch" und "Ich hatte gestern ein köstliches Essen". Von derartigen Täuschungsmanövern hatte ich genug. Jedoch, hätte ich offen gesagt, wen ich traf und was ich erlebte, wäre ich mit großer Wahrscheinlichkeit des Jugendverderbs bezichtigt und aus meinen akademischen Stellen gefeuert worden. Paul Goodman war Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre von seiner Stelle an der Universität von Chicago wegen sexueller Beziehungen mit seinen Studenten entfernt worden. Ich selber hatte niemals sexuelle Beziehungen mit einem meiner Studenten, denn durch meine Stellung als Professor wäre die Beziehung ungleich gewesen, und ich hätte darin einen Missbrauch meines Ansehens und meines Einflusses gesehen. Auch als Therapeut empfand ich dieselbe Verpflichtung und hielt sie stets ein, abgesehen von einem kleinen Ausrutscher, auf den ich gleich zu sprechen komme. Gewiss hatten Paul Goodman und Fritz Perls in dieser Hinsicht weniger Skrupel, aber das war ihre Angelegenheit, und dafür mussten sie die Verantwortung übernehmen, so wie ihre Klienten die Verantwortung dafür übernehmen mussten, was sie taten und wie sie sich ihren Therapieprozess erschwerten. Ich hatte mich entschieden, nicht dem Weg von Paul und Fritz zu folgen, auch wenn dies nicht das naheliegendste war.

Charles ist ein Südstaatler aus Alabama, gesellig, charmant und lebensfroh. Er ist ein begabter und erfolgreicher Innenausstatter. Er kann hervorragend kochen, und wenn die Gruppe zu einem Wochenende kam, hatte er ein Festmahl vorbereitet. Die Teilnehmer schätzten seine Kochkunst und seinen Umgangston sehr. Außerhalb der Gruppensitzungen hatte er leicht Kontakt mit ihnen, und es kam vor, dass sie ihm Hilfe beim Kochen oder Putzen anboten. Von festen Verpflichtungen zur Hilfe im Haushalt hielt ich allerdings nichts, denn ich wollte, dass die Atmosphäre möglichst frei war, kein Ärger wegen unerledigter Pflichten entstünde und die Teilnehmer ohne Druck selber entscheiden konnten, was und wieviel sie helfen wollten. Falls jemand gar nichts täte und dies andere störte, konnte man in einer Sitzung darüber reden.

Charles mochte die Gesellschaft der Gruppe und ihr Lob für sein gutes Essen. Er hatte bei Jacques Pepin gelernt, der bei Charles de Gaulle Chefkoch war und später als Autor und durch Fernsehauftritte international bekannt wurde.

Ich kann mich nicht entsinnen, dass ihn jemals ein Teilnehmer der schwulen Gruppe sexuell angemacht hätte. Allerdings machte ein Teilnehmer aus einer der anderen Gruppen ein ungewöhnliches Problem. Mein Hof im New Yorker Umland ist 60 Hektar groß, vier Stunden weit weg von Manhattan und mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum zu erreichen. Eine junge Frau bat mich darum, dass ihr Freund sie hinbringen und die Nacht über auf dem Hofe bleiben dürfe. Ich fand das etwas ungewöhnlich, war aber einverstanden. Ihr Freund war ein großer, kräftiger, blonder, schöner junger Mann, der sich auf der Stelle in Charles verschoss. Er zeigte sein Interesse an Charles in aller Offenheit, so dass es alle miterlebten. Ich glaube, dies war seine Methode eines Coming-out gegenüber seiner Freundin. Charles fühlte sich geschmeichelt, sie fühlte sich verlegen und herabgesetzt, ich fühlte mich gestresst. Als der junge Mann nach Hause fuhr, waren Charles' Tugend und Ansehen unbeschädigt, aber die unglückliche junge Frau zerfloss in Tränen und brauchte in der Gruppenarbeit viel Zeit für das, was sie mitgemacht hatte. Kurze Zeit später wurde der junge Mann Aktivist in der Schwulenbewegung.

Als Charles und ich uns nach acht Jahren trennten, waren darüber einige Gruppenmitglieder sehr erschrocken. Ich ließ mich aber über die Hintergründe nicht weiter aus und wurde auch nicht nach ihnen gefragt, eine Zurückhaltung auf beiden Seiten, die ich heute fragwürdig finde. Ich wollte mit Charles ein gutes Verhältnis bewahren und nach einiger Zeit gelang mir dies auch. In der Zeit nach der Trennung, die ich gerne als Interregnum bezeichne, hatte ich eine Reihe von Abenteuern. Eines davon war mit einem jungen, sehr hübschen und klugen Psychologen aus Kalifornien. Einmal, als wir zusammen bei der Eröffnung der Kunstausstellung eines Gruppenmitglieds waren, kam ein anderes Gruppenmitglied, Donald, sofort auf ihn zu, verwickelte ihn in Gespräche und überreichte ihm seine Visitenkarte. Ich fühlte mich in der Zwickmühle. Donalds Baggern konnte ich nicht gut ertragen, aber auf den Psychologen hatte ich auch keine Besitzanrechte. Wir sprachen in der Gruppe darüber. Ich äußerte die Vermutung, dass Donald Ärger auf mich habe und ihn auf diese Weise indirekt ausdrücke, er jedoch meinte, er hätte überhaupt nicht erkennen können, dass der Psychologe mein persönlicher Gast war. Weil jedoch der Psychologe kein besonderes Interesse an Donald hatte, ließen wir die ganze Geschichte auf sich beruhen. Kurze Zeit später machte ich die Bekanntschaft mit James. Nun legte Donald ihm gegenüber dasselbe Verhalten an den Tag, doch auch James ging nicht darauf ein. Ich war jetzt sicher, daß Donald ein anderes Motiv haben musste als bloß sexuelles Interesse. Er wies dies aber weiterhin von sich. Die Gruppe war über die Verwicklung, dass der Gruppenleiter und ein Mitglied am gleichen Mann sexuelles Interesse haben, großenteils amüsiert. Bald danach erklärte Donald auf diplomatische Weise, dass er mit Therapie erst einmal aussetzen wolle, und verließ die Gruppe. Ich fand es schade, dass er sich sein Verhalten nicht genauer anschauen wollte.

James stammt aus Südkarolina, ist also wie Charles ein Südstaatler. Er ist Künstler und hat eine Teilzeitbeschäftigung am Metropolitan Museum in der Abteilung für Reproduktion von Skulpturen. Er ist groß, schön und auf eine leise Art genial. Auch er ist ein guter Koch, aber ganz anders als Charles. Während Charles französische Küche gelernt hatte, kocht James experimentell nach eigenen Rezepten und in freier Improvisation. Die Gruppe war wieder sehr angetan von seiner Kochkunst, sie schätzte sehr seine Malerei, und sie entwickelten bald ein gutes Verhältnis miteinander. James eröffnete in unserer Wohnung eine kleine Kunstgalerie. Unter anderem zeigte er auch die Fotografien von einem früheren Gruppenmitglied, die inzwischen internationale Beachtung gefunden haben. Er stellte auch die Arbeiten einer ausgezeichneten englischen Aquarellmalerin aus, die mit dem Fotografen befreundet ist und noch keine so große Anerkennung gefunden hatte. Und er stellte auch seine eigenen Malereien und Skulpturen sowie meine einfachen Pastelle aus. Wir nahmen bescheidene Preise, und ich glaube nicht, dass wir die Mitglieder der Gruppe ausgenutzt haben. Wer unsere Werke kaufte, sieht sie sich noch heute an und hat seine Freude daran.

James und Charles haben beide die gediegenen Umgangsformen der Südstaaten, und ich bin glücklich, mit welchem Geschick und welcher Brillianz sie die komplizierten Verhältnisse regelten, wenn ich mich an Wochenenden oder bei gesellschaftlichen Anlässen mit den Gruppenmitgliedern beschäftigte. Manche der Männer konnten schwierig sein, fordernd und verletzend, aber James und Charles schafften es, dem intensiven Gruppenprozess keine Komplikationen hinzuzufügen und ihre eigenen Belange zurückzustellen. Ich war sehr froh, dass ich mein Privatleben weder verbergen noch verschließen musste. Aber wie die Geschichte mit Donald zeigt, konnte dies auch eine Quelle für Unstimmigkeiten sein.

An einem anderen Ereignis wird das noch klarer. Als ich mit der Gruppenarbeit begann, hatte ich noch keine feste Beziehung. Gelegentlich passierte es, wenn ich in eine schwule Kneipe ging, daß ich dort ein Gruppenmitglied antraf. Wir tranken dann zusammen ein Glas, und jeder ging wieder seiner Wege. Zu der Zeit kam ein attraktiver junger Puerto Ricaner in die Gruppe, seiner Kleidung und seinem Auftreten nach der Inbegriff des jungen Schönen. Anders als die meisten anderen war er nicht in Einzeltherapie. In der Gruppe bewegte er sich mit Vorsicht und Höflichkeit. Ich kann heute, dreißig Jahre danach, kaum noch rekonstruieren, warum ich ihn so attraktiv fand. Sicher sah er gut aus und hatte Charme. Er hat mir wohl auch geschmeichelt und mich gelockt, und ich habe mich wohl sehr einsam gefühlt. Ich weiß, dass er mich geradezu verfolgte, und eines Tages besuchte er mich in meiner Wohnung, um über Nacht zu bleiben. Ich fühlte mich allerdings schon bei dem Gedanken daran, mich mit einem Klienten sexuell einzulassen, so schuldig, dass es zu nichts dergleichen kam, nicht einmal zu einem Kuss. Trotzdem, da war er nun, in meiner Wohnung. Und diesen Erfolg ließ er auch nicht still vorüberziehen, sondern brachte ihn irgendwie unter die Gruppenmitglieder. Diese reagierten darauf sehr verschieden: mit Ärger, Eifersucht, Neid, dem Gefühl verraten worden zu sein, aber auch mit Zustimmung. Wir sprachen über ihre Gefühle und weil meine Grenzüberschreitung mehr im Kopf als in der Tat stattgefunden hatte, ging dieser Zwischenfall glimpflich vorüber. Dennoch, mein Schamgefühl ist noch heute, wo ich darüber schreibe, zu spüren. Dieses Ereignis war wirklich wichtig für mich, und ich bin stolz, dass es sich nicht wiederholte. Meine Haltung ist die, daß es auf der Welt doch genug attraktive Männer gibt, warum soll man dann nicht das Dutzend derer, die zufällig Gruppenmitglieder sind, übersehen können? Sex mit und zwischen Klienten kann den Therapieprozess sehr beeinträchtigen. Wenn alle Beteiligten bereit sind, vorbehaltlos ihr Herz und ihren Sinn zu prüfen, was hier vor sich geht, und wenn sie den andern das gleiche erlauben, kann das sehr erhellend wirken. Aber persönlich wünsche ich mir nicht, in solch einem anstrengenden Prozess beteiligt zu sein. Deswegen suche ich meine sexuelle Befriedigung anderswo und verlange dasselbe von meinen Klienten. Freilich liegt es bei ihnen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Der zweite Teil dieses Beitrags wird in Gestaltkritik 2/2005 erscheinen. Sie finden ihn bereits jetzt unter diesem Link.

Anmerkungen:

(1) Titel der deutschen Ausgabe: Perls, Friederich S. / Hefferline, Ralph / Goodman, Paul: Gestalttherapie, [Bd. 1:] Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung (Taschenbuchausgabe: Gestalttherapie. Grundlagen); [Bd. 2:] Wiederbelebung des Selbst (Taschenbuchausgabe: Gestalttherapie. Praxis). Stuttgart 1979 (Taschenbuchausgabe: München 1991).

(2) vgl. auch: Der Weg zur Gestalttherapie. Lore Perls im Gespräch mit Daniel

Rosenblatt. Wuppertal 1997, S. 101ff.

(3) Stoehr, Taylor: Here Now Next. Paul Goodman and the Origins of Gestalt Therapy. San Francisco 1994.

(4) Stonewall: Name einer von Schwulen und besonders Transvestiten besuchten Bar in der Christopher Street im Greenwich Village in New York. 1969 bei einer der wiederholten schikanösen Polizeikontrollen platzte den Besuchern der Kragen, sie gingen hinaus auf die Straße und sperrten die Polizeibesatzung ins Haus. In den Tagen danach kam es zu weiteren spontanen Demonstrationen von Schwulen in den Straßen von New York und anderen Städten. Die Parole hieß "Out of the closets!", also "Heraus aus dem Versteck im Schrank!" Die Gay Liberation kam in Gang und setzte sich wenig später auch in Deutschland in der Schwulenemanzipation fort. Heutzutage findet in Erinnerung an diese Ereignisse in allen großen europäischen Städten Ende Juni der CSD oder Christopher Street Day, eine Art schwuler Sommerkarneval mit hunderttausenden von Teilnehmern, statt.

(5) John Dewey entwickelte die Philosophie des Pragmatismus und in Verbindung damit radikale Ideen der Erziehung zu selbständigem Handeln nach dem Grundsatz des "learning by doing". Er hatte großen Einfluss auf die fortschrittliche Schulbewegung.

(6) "Fortune Magazine" wurde von Henry Luce gegründet. Es wendet sich vor allem an Wirtschaftskreise, seine Leitartikel folgen einer konservativ-republikanischen Linie, die Leserschaft ist in der Regel vermögend.

(7) US Steel: ein konservatives Unternehmen, zu Beginn des Jahrhunderts der größte oder zweitgrößte Konzern der Welt.

(8) "politics magazine" wurde in den vierziger Jahren von Dwight Macdonald als anarchistische Publikation gegründet. Als Fritz und Lore Perls nach Amerika kam, hatte er auf der Liste der kennen zu lernenden Personen zwei: Dwight Macdonald und Paul Goodman (der ebenfalls Anarchist war), deren Zeitschrift bzw. Artikel in dieser Zeitschrift sie in Südafrika gelesen hatten.

(9) "Partisan Review" wurde Ende der dreißiger Jahre von nichtstalinistischen, besonders trotzkistischen Linksintellektuellen gegründet. Zu den Herausgebern gehörten Dwight Macdonald und William Phillips, zu den Autoren gehörten Paul Goodman, Susan Sontag, Lionel Trilling und Mary McCarthy. Dwight Macdonald brach mit ihnen und gründete "politics magazine", weil er dagegen war, von Deutschland eine bedingungslose Kapitulation fordern und auf Japan Atombomben abzuwerfen.

(10) Die Gewerkschaft der Automobilarbeiter, United Automobile Workers, wurde Mitte der dreißiger Jahre unter maßgeblicher Mitwirkung der Sozialisten Walter und Victor Reuther gegründet, deren Eltern aus Deutschland stammten und in der Sozialdemokratie verwurzelt waren. Walter Reuther leitete später den größten amerikanischen Dachverband der Industriearbeiter, Congress of Industrial Organizations, der von John L. Lewis ebenfalls in den dreißiger Jahren gegründet worden war und gleichfalls der Demokratischen Partei nahestand. Victor Reuther leitete das Bildungsreferat des Verbandes, seine Generalsekretärin war meine Schwester Diana. Ich selber arbeitete im Krieg neben dem Studium für Frank Winn, den Herausgeber der Mitgliederzeitschrift "Auto Worker" mit einer Auflage von einer Million Exemplaren. Außerdem war ich einmal Walter Reuthers dritter Sekretär, d.h. ich hatte nicht besonders viel zu tun. Das ist gerade mal fünfzig Jahre her, und ich war damals zwanzig. Meine Magisterarbeit an der Columbia Universität schrieb ich über "Arbeitsbeziehungen zwischen dem Konzern General Motors und der Automobilarbeiter-Gewerkschaft".CIO, Congress of Industrial Organizations, wurde in den dreißiger Jahren von John L. Lewis als Dachverband für die Gewerkschaften der Automobil- und der Stahlarbeiter sowie der Seeleute gegründet. AFL, American Federation of Labor, war der zweitgrößte gewerkschaftliche Dachverband, hatte seine Mitglieder mehr in Kleinbetrieben und Handwerk und vertrat eine konservativere Linie.

(11) Morris Schwartz und Alfred Stanton verfassten "The Mental Hospital", einen Forschungsbericht über die legendäre therapeutische Gemeinschaft Chestnut Lodge, einer Privatklinik in Washington DC.

(12) Petit Trianon ist ein Schlösschen in der Anlage von Versailles. Um den Zwängen des Hofs zu entfliehen, trat Marie-Antoinette, Gattin von Ludwig XIV., dort als Milchmädchen auf.

(13) Kathy Spaeth ist eine Gestalttherapeutin in San Francisco. Sie war mit Laura Perls befreundet, wuchs mit Gurdieff auf und verfasste einen wichtigen Artikel über

"Trance als Form der Gestalttherapie".

(14) Samuel Taylor Coleridge, 1772-1834, englischer Dichter, Theaterkritiker und Philosoph und bedeutender Repräsentant der literarischen Romantik.

(15) "tucken" oder "herumtucken" nennt man den beliebten verbalen Mannschaftssport von schwulen Mäd... Verzeihung, Männern, die sich in pausenloser geistreicher Ironie überbieten und das vermeintliche Zerrbild vom Schwulen in selbstironischer Übersteigerung uraufführen. Im harmlosesten Falle albern, bei geübten Ätztucken aber auch zu gediegenem Sarkasmus kultiviert. "Tucke" heißen alle Schwulen, die gut herumtucken können, aber da dies, außer bei Schrankschwestern, letztlich nur eine Frage der Gelegenheit ist, nennen manche Schwule alle Schwulen "Tucke".

(16) Auf dem englischen Thron folgten den Tudors (Elisabeth und Heinrich V bis VIII) die Stuarts, darunter Karl (Charles) I und Jakob (James) I. Mit Bezug darauf nannte ich meine beiden Partner Charles und James "meine Stuart Könige".

(Aus dem Amerikanischen von Thomas Bliesener)

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Daniel Rosenblatt (Foto: Kurt Schröter)

Daniel Rosenblatt

wurde 1925 in Detroit/Michigan geboren. Er studierte in Harvard und Cambridge und erlernte Gestalttherapie bei Laura Perls.

Nach einer langjährigen akademisch-wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitet er seit über 30 Jahren in seiner privaten psychotherapeutischen Praxis in New York.

Er ist "Fellow" und ehemaliger Vizepräsident des New Yorker Instituts für Gestalttherapie und leitete viele Jahre lang Ausbildungsgruppen in Gestalttherapie in den USA, Europa, Australien und Japan.

Der nebenstehende Beitrag ist zuerst erschienen in seinem Buch "Zwischen Männern. Gestalttherapie und Homosexualität" in dem sich u.a. noch viele weitere Einblicke in Dan Rosenblatts praktische Arbeit finden. Wir möchten allen unseren Leserinnen und Lesern - homosexuellen und heterosexuellen (!!!) - dieses Buch ganz besonders ans Herz legen.

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