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Erving Polster
Interview 2006


Aus der Gestaltkritik 2/2007:

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus Gestaltkritik 2/2007:

Erving Polster
Interview 2006

Foto: Erving PolsterErving Polster

In dieser Ausgabe unserer Zeitschrift haben wir - neben diesem brandaktuellen Interview - auch noch einen älteren Text dieses Altmeisters der Gestalttherapie veröffentlicht, der den kritisch-gesellschaftlichen Anspruch der Gestalttherapie und die Verbindungsmöglichkeiten mit der konkreten therapeutischen Arbeit sehr schön praktisch illustriert: Erving Polster, Kommunale Encounterarbeit. Der Herausgeber

Yalom: Beginnen wir mit der Frage, wie du damals zur Psychotherapie gekommen bist.

Polster: Oh, Wo soll ich da anfangen?

Wyatt: Was hat dich an Psychologie interessiert?

Polster: Ursprünglich studierte ich Publizistik. Mit Psychologie hatte ich damals noch nichts im Sinn, aber durch verschiedene Umstände kam ich dann doch zur Psychologie. Zu Beginn meines Studiums arbeitete ich als Kartenverkäufer in einem Kino in einem ziemlich harten Viertel in Cleveland. Ich war in einem Arbeiterviertel aufgewachsen, in dem es aber praktisch keine Kriminalität gegeben hatte. Es war dort verpönt gewesen, sich ungesetzlich zu verhalten. In diesem Kino, in dem ich arbeitete, gab es einige jugendliche Straftäter, aber es waren tolle Typen. Wir mochten uns, hatten einen guten Draht und viel Spaß miteinander. Ich lernte damals, dass Menschen in Wirklichkeit häufig ganz anders sind als wir vielleicht denken. Später belegte ich dann ein Soziologie-Seminar zum Thema Jugendkriminalität und war sehr beeindruckt. Mir wird heute klar, dass dieses Seminar meine Erkenntnis bestätigte, dass Menschen ganz anders sein können als sie auf den ersten Blick erscheinen. Daraufhin wechselte ich von Publizistik zu Soziologie und belegte bei Calvin Hall ein Seminar zum Thema Persönlichkeitstheorie. Vor allem Halls Verständnis der Psychoanalyse und seine Überzeugung von der unglaublichen Kraft der inneren Erfahrung beeindruckten mich so tief, dass ich schließlich zu ihm an die Psychologische Fakultät wechselte. Auf diese Weise kam ich zur Psychologie.

Wyatt: Und wie kamst du von dort zur Gestalttherapie?

Polster: An der Universität hatte ich mich entsprechend der Ausrichtung von Halls Institut psychoanalytisch orientiert. In meiner Dissertation beschäftigte ich mich mit der Ich-Funktion in Träumen, was ungewöhnlich war, weil man bis dahin in diesem Zusammenhang nur von Über-Ich- und Es-Funktionen sprach. In New York lernte ich dann die Arbeit mit Bewährungsstraftätern kennen, und diese Erfahrung machte mir deutlich, was man in der Therapie ohne den schulmeisterlich-distanzierten, intellektuellen Stil erreichen kann. Dort lernte ich, einen Zugang zu der echten, unverfälschten Erfahrung anderer Menschen zu finden. Außerdem war das der Anfang einer neuen, sehr offenen Gruppenerfahrung. Zu dieser Zeit, 1953, waren Gruppen dieser Art noch sehr selten; das war lange bevor die Encounter-Bewegung der Sechziger Jahre so richtig in Schwung kam. Die Erfahrung, in einer Gruppe das innere Erleben anderer Menschen mitzubekommen, war damals etwas völlig Neues; das gab es sonst nur in sehr intimen und persönlichen Begegnungen. Das hat mir wirklich die Augen geöffnet.

Wyatt: Was war deine erste Reaktion auf diese Erfahrung?

Polster: Oh, ich war verzaubert von den Möglichkeiten der menschlichen Erfahrung. Und das ging ziemlich schnell, denn der Leiter der Gruppe kannte sich sehr gut aus und wusste, was er tat. Als ich zur Gestalttherapie kam, arbeitete ich mit einem Patienten, der den Wechsel im Stil unserer Arbeit miterlebte. Ich fragte ihn: "Was hat sich für Sie hier verändert?", und er antwortete: "Es ist nicht mehr so einsam." Auch das war für mich ein sehr wichtiges Gefühl, das mir die Bedeutung der Verbundenheit zwischen Therapeut und Patient deutlich machte. So etwas gab es ja damals kaum. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass ich zu Beginn meiner therapeutischen Arbeit wie hinter einem Schreibtisch saß, und aus dieser Position hervorzukommen war eine gewaltige Veränderung - im übertragenen, aber auch im wörtlichen Sinn.

Yalom: Aber hast du dich nicht auch einsam gefühlt, als du die Bastion der Psychoanalyse verließt und gewissermaßen zum Einzelgänger wurdest?

Polster: Es war nicht einsam, weil ich eine ganze Gruppe von Leuten um mich hatte. Ich war einfach gerne mit diesen Menschen zusammen, und so war es eigentlich das Gegenteil: ich zog mich nicht zurück, sondern konnte meinen Kreis sogar noch erweitern.

 

Von Fritz Perls lernen

Wyatt: Wenn du zurückblickst, was hast du von Perls gelernt? Welche Schätze hast du von ihm mitbekommen und bewahrt?

Polster: Eines, was ich von Perls gelernt habe, ist die Kraft einfacher Kontinuität: wenn wir jemanden Schritt für Schritt begleiten und sein Gewahrsein schärfen, so dass es zu einer Stärkung und Erweiterung der Lebenskraft kommt, dann führt das zu sehr starken und aufschlussreichen Erfahrungen. Für eine Tiefung ist dieser Prozess nicht erforderlich, aber Tiefe entsteht eher durch diese Aufeinanderfolge als durch Beweis und Interpretation. Nicht, dass ich der Meinung wäre, man solle niemals interpretieren, aber es hat mich sehr beeindruckt, welche Wirkung diese Kontinuität und Belebung der Erfahrung auf die Arbeit entfaltet.

Wyatt: Welche Erinnerungen und Eindrücke hast du von Perls als Menschen?

Polster: Perls war ein sehr besonderer und einzigartiger Mensch. So viel Einzigartigkeit war ich nicht gewohnt: wie jemand sich so klar von anderen abgrenzen, und gleichzeitig doch so viel Verbundenheit, Einladung und Unterstützung anbieten kann. Perls war brillant, wenn es darum ging, zu zeigen, was Therapie kann. Er vermittelte diese eigenartige Mischung aus Wagnis und Sicherheit. Perls war ein Radar, er wusste einfach, wo es lang ging. Und er hatte eine sehr unterstützende Art von Präsenz. Bei ihm hatte man das Gefühl, dass wenn man dahin geht, wo er hin will, man niemals verloren sein würde. Er konnte unterstützend, freundlich und einfühlend sein, aber auch sehr eigensinnig und ungeduldig. Perls war ein Typ nach dem Motto: My way or the highway [etwa: Mache es auf meine Weise oder mache dich auf die Heimreise].

Wyatt: Im Vergleich zur traditionellen analytischen Ausbildung muss das schon eine ziemliche Veränderung gewesen sein. Habt ihr in einer Gruppe oder einzeln gearbeitet?

Polster: Als ich dazu kam, hatte ich so etwas noch nie erlebt. Viele Gruppenteilnehmer waren vorher schon in Morenos Psychodrama-Workshops gewesen. Aber das, was hier geschah, schien stimmig zu sein und zu den Leuten und zu ihren Zielen zu passen. Ich fand das sehr aufregend, hatte aber auch eine gewisse Angst. Diese eigene innere Erfahrung zu machen und gleichzeitig die der anderen mitzuerleben, war für mich sehr erhellend. Am Anfang dachte ich: "Hey, was ist denn so neu an dieser Sache? So anders als in der Psychoanalyse ist das hier doch nicht!", aber je mehr ich davon verstand, desto mehr konnte ich differenzieren. Es hat mich in meiner Professionalität wachsen lassen und mein Verständnis dessen, was im Geist und in der Seele eines Menschen geschehen kann, deutlich erweitert.

Yalom: Hast du bestimmte, herausragende Erinnerungen an die Arbeit mit Perls?

Polster: Ja, ich erinnere mich an eine Arbeit, in der ich sehr tief mit mir selbst in Berührung kam und die in ein Weinen mündete, das nicht nur Tränen, sondern auch ein tiefes Schluchzen auslöste. Es war, als läge die ganze Welt darin, und plötzlich spürte ich, wie er meine Hand hielt; es war Fritz. Es war eine sehr anrührende Erfahrung, seine Wertschätzung für das zu spüren, was ich durchgemacht hatte und mitzuerleben, wie er seine Distanz aufgab. Mir wurde bewusst, wie stark das menschliche Bedürfnis nach Verbundenheit ist, und dieses Gefühl gegenseitiger Verbundenheit hat mein Denken verändert.

Wyatt: Das heißt also, dass die Erfahrungen mit Perls und anderen in der Gruppe deine Arbeit und dich ganz persönlich wirklich verändert haben?

Polster: Ja, sie haben mich verändert. Und ich liebe die Psychoanalyse, versteh mich nicht falsch. Ich war wirklich angetan von der Theorie. Sie hat mich einfach unglaublich geöffnet.

 

Die Kontaktgrenze in der Therapie

Yalom: Du sprichst viel über Kontakt. Auch in deinen Büchern und Artikeln gehst du stark auf dieses Thema ein. Kannst du etwas mehr über die zentrale Bedeutung des Kontakts für die Gestalttherapie sagen?

Polster: Nun, es gibt eine ganze Reihe bedeutender Konzepte, aber aus meiner Sicht ist dieses doch das bedeutendste von allen. Für mich ist es das Prinzip, das allen anderen zugrunde liegt.

Yalom: Warum ist es für deine Arbeit so bedeutsam, und warum für dich selbst?

Polster: Ich kann gar nicht so genau sagen, warum es für mich so wichtig wurde. Ich fühle mich von diesem Konzept einfach stärker angezogen als von anderen; obwohl mir andere Konzepte auch sehr wichtig sind, wie zum Beispiel Gewahrsein, das Experiment und das Bemühen, dem Klienten zu helfen, seine eigene Richtung zu finden und seinen eigenen Weg zu gehen, sich also wirklich entsprechend zu verhalten anstatt nur einen Erkenntnisgewinn zu haben. Aber du hast Recht, der Kontakt ist ein zentraler Punkt meiner Arbeit.

Yalom: Kannst du uns sagen - oder ein Bild dafür finden -, was Kontaktgrenze bedeutet?

Polster: Nun ja, die Kontaktgrenze gilt - insbesondere in der heutigen Gestalttherapie - als so etwas wie ein eigenes Organ der Persönlichkeit. Die Psychologie beschäftigt sich mit der Interaktion zwischen dem Selbst und dem Anderen. Die Psychologie tritt dort auf den Plan, wo diese beiden sich begegnen: die Person und das Universum, die Person und das Andere. Die Kontaktgrenze ist der Ort, an dem die Person der Welt begegnet. Das Konzept der "Grenze" besagt, dass an dem Punkt der Begegnung keine Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen mehr stattfindet.

Wenn man sich die Grenzlinie zwischen zwei Grundstücken anschaut, kann man sagen, dass sie weder zum einen noch zum anderen Grundstück gehört, und doch gehört sie zu beiden. Gleichzeitig ist diese Grenzlinie so dünn, dass niemand daran interessiert ist, sie zu besitzen. Sie markiert einfach nur das, was auf ihrer einen bzw. anderen Seite liegt. In zwischenmenschlichen Beziehungen sind diese Grenzen etwas weniger klar definiert, aber auch hier geht es um den Rhythmus zwischen Individualität und Beziehung.

Wyatt: Wie funktioniert diese Kontaktgrenze im zwischenmenschlichen Bereich?

Polster: Kontaktgrenze bedeutet, dass auf jeder Seite der Grenze ein Mensch steht. Beide sind Individuen, gleichzeitig aber auch eine Einheit. Und dieser Punkt der Einheit bildet das Fundament des Daseins, das durch Beziehungen genährt und am Leben erhalten wird. Dieser Ort der Begegnung liegt also in der Natur des Menschen; und in ihm zeigt sich, was das Leben ausmacht. Die Qualität des Kontakts ist deshalb so bedeutsam, weil der Kontakt an sich unausweichlich ist, wobei die Kontaktqualität natürlich variieren kann. Das allerdings ist ein überlebenswichtiges Element im Leben eines jeden Menschen: durch andere mit dem Universum in Beziehung zu treten.

Wyatt: Wie gestaltet sich dieser Kontakt in der Therapie? Und welche Bedeutung hat er dort?

Polster: Oh, das ist ein weites Feld. Mir fällt dazu etwas ein, was allerdings nicht unbedingt grundsätzlich gelten muss. Ich hatte einen Klienten, der mich wirklich sehr gerne mochte und meine Art zu denken bewunderte. Eines Tages aber sagte ich zu ihm: "Wie kommt es eigentlich, dass du mich so sehr bewunderst, und doch nichts von dem, was ich dir sage, für dich stimmt?" Er war ziemlich erstaunt über diese Bemerkung, allerdings war es tatsächlich so, dass sein Kontakt mit mir etwas sehr Begrenztes hatte. Er konnte nichts von dem annehmen, was ich sagte, selbst dann nicht, wenn seine Einschätzung der "Richtigkeit" dessen, was ich sagte, "positiv" ausfiel. Aber er konnte sich auf diese "Richtigkeit" nicht einlassen. Und das ist ein Mangel in der Qualität des Kontakts.

Yalom: Demnach achtest du bei deinen Klienten immer sehr genau darauf, wie der Kontakt beschaffen ist.

Polster: Ja, ich achte sehr darauf. Man muss natürlich nicht auf alles achten. Ich meine, das wäre ziemlich unangenehm. Aber in manchen, wichtigen Situationen sagt man vielleicht: "Schau, jetzt sagst du gerade, dass du das, was ich sage, akzeptierst; aber nichts in dir lässt mich spüren, dass du es auch fühlst und dass es wirklich bei dir angekommen ist. Es wirkt eher so, als ob das, was ich sage, durch dich hindurch geht." Wir könnten dann versuchen herauszufinden, was den Kontakt ausmacht, was da ist und was fehlt. Das ist sicherlich nicht das beste Beispiel, aber im Augenblick fällt mir kein besseres ein. Vielleicht später.

Yalom: Was reizt dich so sehr daran, den unmittelbaren Kontakt zu suchen?

Polster: Ich weiß es nicht. Ich kann dir sagen, dass ich in meiner Jugend sehr schüchtern und still war. Ich hatte immer Freunde, aber ich war nicht gerade der Motor meiner Freundschaften und auch nicht ihr Initiator. Ich war eher der Reagierende. In meinem Inneren bin ich immer noch ein stiller Mensch, aber ich bin auch darüber hinausgewachsen. Wenn ich Vorträge halte, kann ich stundenlang reden, was mich selbst immer noch erstaunt. Meine Mutter war eine sehr warmherzige und liebevolle Frau, und in unserer Familie standen sich alle sehr nahe. Ich habe erlebt, dass die Menschen um mich herum einen guten Kontakt zueinander hatten, auch wenn ich selbst sehr still war. Und ich muss sagen, dass Stille oder Zurückhaltung nicht unbedingt einen schlechten Kontakt bedeutet, denn die Leute haben mich immer als guten Zuhörer empfunden. Ich erinnere mich, wie meine Mutter und meine Schwester mir lange Geschichten erzählt haben, und ich hörte ihnen zu. Irgendwie wollten sie einfach mit mir reden, und ich hörte einfach nur zu. Ich hatte nicht allzu viel anzubieten, aber sie wollten mit mir reden. Ich kann dir deine Frage also nicht beantworten.

Yalom: Offensichtlich ist es so, dass du den Kontakt einfach gerne magst.

Polster: Oh, ja. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn!

Wyatt: Du sprichst manchmal von einem Konzept - ich glaube du nennst es "Heilung durch Begegnung."

Polster: Dieses Konzept stammt von Buber. Ich habe nie den Begriff "Heilung" verwendet. Aber das soll nicht heißen, dass ich etwas dagegen hätte!

Wyatt: Du hast nichts gegen Heilung. Das ist schon mal klar.

Polster: Nein, nein! [Lachen]. Buber sprach von "Heilung durch Begegnung." Der Grundgedanke ist, die Funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Was Menschen grundsätzlich tun müssen ist, sich in die Welt, in der sie leben, zu integrieren. Man kann kein gesundes Leben führen, wenn man isoliert ist.

 

Wie war das in den Sechzigern?

Yalom: Lass uns noch mal über den Zeitgeist der 1960er und 1970er Jahre sprechen. Diese Zeit war ja für deine berufliche Entwicklung sehr prägend. Ich meine, damals ist doch ziemlich viel passiert.

Polster: Ja, das stimmt. Und ich nehme an, du möchtest wissen, was so alles passiert ist?

Wyatt: Was, zum Teufel, war da los? Ich meine es war doch …

Polster: Du willst wissen, was wir so gemacht haben?

Wyatt: Ja, das war doch alles ziemlich revolutionär.

Polster: Ja, das war es. Es war die natürliche Erweiterung dessen, was mit der Psychoanalyse begonnen hatte, allerdings in einem nicht-pathologischen Setting und mit Leuten, die sich bewusst zusammenfanden und nicht nur privat miteinander befreundet waren. Die Encounter-Bewegung trug den Geist der Psychotherapie in eine breite Öffentlichkeit, und ein Teil dieser Öffentlichkeit fing an, sich dafür zu interessieren und zu begeistern. Gelegentlich hatte das auch schädliche Auswirkungen, weil es bei manchen Menschen zu übereilten Veränderungen und Umwälzungen kam, die schwer zu integrieren waren; etwa wenn sie ihre berufliche Karriere, ihre Ehe oder ihre persönlichen Beziehungen zu plötzlich oder zu unbedacht umkrempelten. Es gab sicherlich Menschen, für die das alles nicht sehr fruchtbar war, aber für die meisten, die ich kennengelernt habe, war es eine Bereicherung und eine Befreiung des Geistes, die sie über den Tellerrand ihres gewohnten Lebens hinausblicken ließ. Indem ihre inneren Erfahrungen von anderen mehr und mehr akzeptiert wurden, konnten sie sie auch selber besser annehmen.

Wyatt: Hattet ihr das Gefühl, die Welt zu verändern?

Polster: Ja, es gab so ein Gefühl, aber man müsste schon größenwahnsinnig sein, um zu glauben, dass es wirklich so war.

Yalom: Hattest du dieses Gefühl?

Polster: Nein, ich hatte kein Interesse daran, die Welt zu verändern. Ich war mir der ohnehin schon gewaltigen Veränderungen bewusst. Meine Gedanken gingen eher dahin, wie wir in dieser Welt besser leben könnten. Für mich hatte das nicht diese politische Dimension, die normalerweise eine Rolle spielt, wenn es darum geht, die Welt zu verändern. Für mich ging es mehr um eine andere Entwicklung, um eine evolutionäre Dimension im Sinne der Frage, welche Veränderungen Menschen in sich selbst zulassen könnten. Ich dachte, die Menschen würden vielleicht freundlicher und einander zugewandter werden, kreativer auch, und eine erfülltere Sexualität erleben. Mein Gefühl war, dass es bessere Möglichkeiten gab, in dieser Welt zu leben.

Yalom: 1978 hast du in Integrative Gestalttherapie geschrieben: "Die Zeit ist reif für eine Veränderung. Die Anziehungskraft der unmittelbaren Erfahrung ist kaum zu übertreffen."

Polster: Das war 1973.

Yalom: Okay. Wenn also die Zeit reif für eine Veränderung war und du heute zurückschaust, hat sich etwas verändert?

Polster: Oh, ja. Ich finde, vieles hat sich verändert. Leider hat sich in einigen grundsätzlichen Fragen allerdings nichts verändert, also z.B. was Kriminalität, die Grausamkeit der Kriege oder die Gewalt zwischen Menschen betrifft. Trotzdem gibt es auch viele Veränderungen. Ich denke, viele Väter sind offener geworden und mehr für ihre Kinder da. Die Frauen sind energischer geworden, sie sind sich selbst näher als früher - und sexuell zufriedener. Wenn ich heute Frauen am Strand joggen sehe, dann tun sie das mit viel Anmut, Kraft und Offenheit. Das war keineswegs immer so. Die körperlichen Fähigkeiten von Frauen wurden früher völlig unterschätzt. Es gibt eine Menge Veränderungen: es gibt ein viel größeres Bewusstsein dafür, was in der Welt vor sich geht; vieles wird nicht mehr so selbstverständlich hingenommen wie früher. Trotzdem gibt es in den allermeisten Teilen der Bevölkerung nach wie vor ein hohes Maß an Konformität; viele Menschen lassen sich an der Nase herumführen und geben sich mit der symbolhaften Bedeutung von Situationen zufrieden, anstatt den Dingen auf den Grund zu gehen. Wenn du mich also fragst, ob sich etwas verändert hat, kann ich nur sagen: Ja, es hat sich etwas verändert, aber vieles ist nicht besser geworden, und manches sogar schlechter.

Ich denke, jede Generation hat ihre eigene Art, die eigenen Probleme zu betrachten. Hat man eins gelöst, ist schon das nächste da, und unsere Herausforderung besteht darin, uns selbst auf dem neusten Stand zu halten.

Wyatt: In den sechziger Jahren gab es so viele Umwälzungen - überall auf der Welt. Manches davon war auch für unseren Kulturkreis wichtig: Offenheit, Freiheit oder Authentizität zum Beispiel. Für diese Authentizität und Freiheit aber auch die Verantwortung zu übernehmen, ist allerdings ein anderes Thema.

Polster: Das war in den Sechzigern ein großes Problem. Die Menschen verstanden nicht viel von Verantwortung. Es gab so etwas wie eine anarchistische Haltung, nach dem Motto: "Wenn ich es tun kann, muss es auch in Ordnung sein." Aber genau das ist nicht der Fall! Die Leute tun viele Dinge, die sie als natürlich empfinden und hinter denen sie voll und ganz stehen, für jemand anderen aber mag dieses Handeln genau das Falsche sein; und auf lange Sicht vielleicht sogar für den Handelnden selbst, weil er die Konsequenzen seines Handelns nicht bedacht hat.

Wyatt: Glaubst du, dass die Gestalttherapie diese Art der Impulsivität gefördert hat? Ich meine in dem Sinne: "Was auch immer du fühlst ist richtig, also tu's einfach."

Polster: Ich denke, wir hatten da unsere Hand im Spiel. Und es macht mich traurig, dass das so ist. Aber ich finde auch, dass wir eine wunderbare Theorie haben, in der viel Platz für Mitgefühl und Gemeinschaftssinn ist, alles Dinge, die die meisten von uns sich in einer Gesellschaft wünschen würden. Das ist häufig außer Kontrolle geraten, weil es wirklich schwierig ist, die eigene Freiheit zu leben und gleichzeitig den anderen gerecht zu werden. Es gibt hier einen grundsätzlichen Widerspruch, ähnlich wie bei der Kontaktgrenze, über die wir vorhin sprachen: das Gefühl der Einheit und das Gefühl des Getrenntseins. Wie koordiniert man diese beiden Gefühle? Es ist schwer, beides gleichzeitig zuzulassen. Wenn du frei sein willst, wo ist dann in deinem Denken der Raum dafür, den anderen gerecht zu werden? Es gibt diesen Raum, aber es ist nicht leicht, sich entsprechend zu verhalten. Wenn man mit einem Widerspruch konfrontiert wird, ist es relativ einfach, einer der beiden Seiten den Vorzug zu geben. Auf diese Weise kann man sich völlig frei fühlen und braucht auf niemand anderen Rücksicht zu nehmen, oder aber man wird zum Mitläufer und verliert den Sinn für die eigene Richtung.

 

Einsicht und Gewahrsein

Yalom: Lass uns noch einmal darauf zurückkommen, was die Gestalttherapie ausmacht oder was sie für dich heute bedeutet. Du hast vorhin den Unterschied zwischen Gestalttherapie und Psychoanalyse in den fünfziger Jahren erwähnt. Kannst du zusammenfassen, was das besondere an der Gestalttherapie ist, was sie besonders auszeichnet?

Polster: Aus einer umfassenden Theorie kann man unterschiedliche Aspekte herausgreifen, denn sie enthält eine große Vielfalt an Verständnismöglichkeiten. Das gilt auch für die Psychoanalyse. Ich verstehe die Gestalttherapie als ein System, in dem es um Kontakt geht, also etwas um die Frage, wie man das Zusammensein mit anderen gestaltet und koordiniert oder wie man eine Gemeinschaft bildet. Und es geht darum, durch Gewahrsein menschliche Bedürfnisse und Möglichkeiten deutlich zu machen. Gewahrsein nährt die menschliche Aktivität. Gewahrsein ist nicht bloß eine bestätigende Erfahrung, sondern auch eine erhellende, insofern sie Menschen dazu bringt, sich so zu verhalten, wie sie es tun. Ich betrachte die Gestalttherapie nicht als dogmatisch in dem früheren Verständnis, wonach in Gestaltgruppen die Frage nach dem "warum?" geradezu verpönt war.

Wyatt: Genau. "Was?" "Wie?" Aber nicht "Warum?" - Warum ist das so?

Polster: Ja, genau. Kein Warum. Das kommt daher, dass Fritz Perls um die Tücken des intellektuellen Verstehens und der damit verbundenen entpersonalisierten Beziehungen wusste. Und das Wort "Warum" ist eines der Instrumente dieses intellektuellen Zugangs. Man fragt "Warum?" - und bekommt intellektuelle Antworten. Das muss nicht so sein, ist aber häufig so. Die Frage nach dem "Warum" ist jedoch eine ganz natürliche Frage. Jedes Kind fragt "Warum?" und "Warum nicht?". Ich meine, es ist einfach unsinnig, diese Frage aus dem eigenen Wortschatz zu verbannen.

Perls war von Anfang an gegen Interpretationen. Aber etwas erklären zu wollen, ist ein völlig menschlicher Zug. Warum sollte man das sein lassen? Man wollte einfach nicht darauf angewiesen sein. Die Psychoanalyse ging genau in die andere Richtung; sie erklärte zu viel. Die Psychoanalyse beschäftigte sich nicht mit den Grundlagen der Erfahrung - wie die Gestalttherapie. Deshalb war sie sehr viel mehr an Einsicht und Erkenntnis interessiert, während die Gestalttherapie an Gewahrsein interessiert war. Aus meiner Sicht ist Erkenntnis eine Form von Gewahrsein, aber Gewahrsein geht noch weit darüber hinaus.

Yalom: Wie das?

Polster: Nun ja, wir sind uns in diesem Augenblick gewahr, dass wir miteinander reden. Das ist keine Erkenntnis, sondern es ist ein Gewahrsein. Ich bin mir gewahr, dass ich jetzt gerade meine Hände bewege. Ich bin mir meiner Worte gewahr. Ich bin mir deines Lächelns gewahr. Ich bin mir gewahr, wie dein Lächeln sich verändert. Aber ich würde all das nicht als Erkenntnisse bezeichnen. Gewahrsein ist permanent vorhanden, Erkenntnisse tauchen dagegen nur gelegentlich auf. Sie sind sehr wertvoll, eignen sich aber nicht so sehr als Grundlage für ein ganzes System.

 

Das Aufgreifen der Erfahrung des Klienten in der Therapie

Wyatt: In Videoaufzeichnungen ist mir aufgefallen, dass du die Erkenntnisse und das Gewahrsein deiner Klienten immer wieder aufgreifst und hervorhebst, manchmal sogar auf recht dramatische Weise. Wie denkst du selbst darüber? Ist das dein persönlicher Stil, oder doch eine Technik?

Polster: Wahrscheinlich ist es mein ganz persönlicher Stil, aber es gibt eine theoretische Erklärung dafür. Das Erfassen einer Erfahrung spielt eine Rolle bei der Wirkung dieser Erfahrung. Wenn man etwas wirklich erfasst, hat das Auswirkungen darauf, wie man in der Welt steht und wie man sich selber sieht. Es gibt Leute, bei denen man überhaupt nichts sagen muss, und man merkt, dass sie sehr genau mitbekommen, was gerade passiert. Deshalb würde ich das Erleben des Klienten nicht immer oder grundsätzlich aufgreifen und verdeutlichen, aber es gibt auch Momente, in denen dieses Aufgreifen und Verdeutlichen wie ein Verstärker wirkt, so dass der Klient wirklich fühlen kann, was gerade passiert, und auch, dass es zu ihm gehört, dass diese Erfahrung ein Teil seiner selbst ist, und nicht eine mehr oder weniger zufällige Begebenheit.

Wyatt: In deinem Buch Jedes Menschen Leben ist einen Roman wert, geht es darum, Menschen zu unterstützen, das Drama und die Erfahrung ihres eigenen Lebens wirklich anzunehmen und wertzuschätzen.

Polster: Ja, das stimmt. Es geht darum, selbst zu erkennen, was in meinem Leben interessant ist, und nicht die Wertvorstellungen anderer zu übernehmen. Dieser Gedanke bedeutet für mich, dass das Leben jedes einzelnen einen Roman wert ist. Romanschreiber greifen auf das zurück, was wir sind, und erfinden nicht alles von vorne bis hinten neu. Sie erkennen das Wesen eines Menschen, und wir sind es, die ihnen die Fähigkeit zuschreiben, ein Leben interessant zu machen. Die Grundlagen dafür liegen aber in uns selbst, und zu erkennen, dass wir selbst unser Leben leben, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Wertschätzung der eigenen Person sich entfalten und verwirklichen kann. Denn wenn wir diesen Wert nicht erspüren, löst sich alles andere auf - auch wenn es für die meisten Menschen dabei sicherlich nicht um "alles oder nichts" geht.

Yalom: Du hast eine Fähigkeit, den Menschen diese Begeisterung und das Interesse für ihre eigene Kreativität und ihre eigenen Ressourcen zu vermitteln, ohne dabei übertrieben optimistisch zu wirken.

Polster: Ich fühle mich auch nicht so. Ich kann mich einfach dafür begeistern, dass ich den Luxus habe, meinen Klienten aufmerksam zuhören zu können, und ich merke, dass sie meine Aufmerksamkeit annehmen. Deshalb kommen sie ja zur Therapie. Es gibt auch Klienten, die für diese Art der fokussierten Aufmerksamkeit nicht offen sind und die in Ruhe gelassen werden wollen. Vieles von dem, was ich in einer therapeutischen Situation sage, würde ich so nicht sagen, wenn ich zum Beispiel mit jemandem beim Essen säße. Das erinnert mich daran, wie ich vor vielen Jahren einmal in einem Café gearbeitet habe, das zu einer kirchlichen Einrichtung gehörte. Der Betreiber dieses Cafés sagte zu mir: "Mach einfach, was du möchtest." Er sagte den Leuten, dass ich Psychologe sei, und dann kamen einige Cafèbesucher zu mir, manche blieben eine Zeit lang, andere gingen wieder, und dann kamen wieder neue hinzu. Wir hatten sehr interessante Gespräche. Der Hauptunterschied zu einer gewöhnlichen Unterhaltung bestand darin, dass ich sie darauf aufmerksam machte, was sie gerade taten, was man ja normalerweise nicht macht, weil das eine zu starke Unterbrechung darstellt und eigentlich keine gute Art zu leben ist. Als Therapeut jedoch hat man diese Möglichkeit, darauf zu achten, was gerade passiert, anstatt es "nur" mitzuerleben.

Wyatt: Aber ich nehme an, dass du auch das manchmal …

Polster: Angenommen, ich würde zu dir sagen: "Randy, was spürst du gerade, während du mir diese Fragen stellst, wessen bist du dir gewahr?", und du sagst: "Was soll das? Lass mich in Ruhe, ich will dir nur ein paar Fragen stellen." - So erleben die Menschen, und das ist auch richtig so. Der Therapeut jedoch hat die besondere Erlaubnis, das aufzuarbeiten, was im täglichen Leben verlorengegangen ist. Auf diese Weise kannst du dir der Dinge gewahr werden, die normalerweise nicht ausgedrückt werden und sie dir so zu eigen machen. Entschuldige, dass ich dich unterbrochen habe.

Wyatt: Ich beantworte dir die Frage trotzdem. Ich dachte daran, dass ich gerne wissen wollte, was passiert, wenn du begeistert bist und einem Klienten zum Beispiel sagst: "Phantastisch!", oder wenn du seine Erfahrung aufgreifst, ihm hilfst, etwas wirklich zu erfassen, der Klient das aber nicht annimmt und einfach darüber hinweggeht. Wie gehst du damit um?

Polster: Nun, ich erwarte nicht, dass die Leute sich sofort fügen [lacht]. Ich habe da keine große Erwartungshaltung. Wenn sie darüber hinweggehen wollen, gehen sie darüber hinweg.

Wyatt: Aber du kommst darauf zurück.

Polster: Ja, ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass ich später einmal zu diesem Klienten sage: "Immer wenn ich dich lobe, verdunkelt sich dein Gesicht. Magst du es nicht, wenn ich dich lobe?" Vielleicht sagt er es mir, vielleicht auch nicht; in jedem Fall kommt es darauf an, diese Frage zum richtigen Zeitpunkt der richtigen Person zu stellen.

 

Mehr als nur Technik

Wyatt: Du bist Gestalttherapeut und Gestaltpsychologe, und doch entsprichst du und deine Arbeit überhaupt nicht dem, was die meisten Leute sich unter Gestalttherapie vorstellen. Deine Art der Therapie scheint nicht besonders stark an formale Gestalttechniken wie Rollenspiel, Traumarbeit, Arbeit mit dem leeren Stuhl etc. gebunden zu sein.

Polster: Für mich sind diese formalen Techniken ein Gerüst. Sie sind sehr wichtig, um das Gebäude aufzubauen. Aber wenn das Gebäude steht, baut man das Gerüst wieder ab. Ich denke, Theorien sind dafür da, Orientierung zu geben und sich über sein Handeln klar zu werden. Ich könnte eine psychoanalytische Therapiesitzung auch in Gestaltbegriffen erklären, und umgekehrt eine Gestaltsitzung in analytischen Begriffen. Trotzdem kann man eine psychoanalytische und eine Gestaltsitzung ohne weiteres voneinander unterscheiden. Ich selbst orientiere mich an den Konzepten und Prinzipien der Gestalttherapie, und diese leiten mein Denken. Wenn ich also etwas tue, das dem ähnlich ist, was jemand anders tun würde, ist das für mich kein Problem, denn die Theorie bestimmt ja nicht das Repertoire. Nein, das stimmt so nicht. Die Theorie stellt ein Repertoire zur Verfügung. Sie diktiert aber nicht, wie du dich dieses Repertoires bedienen sollst. Wenn ich also weiß, dass etwa der Dialog zwischen zwei Anteilen einer Person zu meinem Repertoire gehört, dann gehört das eben zu meinem Repertoire. Und ich ziehe diese Technik dann aus der Tasche, wenn es zu demjenigen, mit dem ich gerade arbeite, passt. Wenn ich mit einem Traum arbeite, kann es sein, dass ich meinen Klienten bitte, sich mit einem Teil dieses Traums zu identifizieren und ihn darzustellen; es könnte aber auch sein, dass ich einfach frage: "An was in deinem täglichen Leben erinnert dich dieser Traum?" Ich würde ihn also nicht in jedem Fall dieses Rollenspiel machen lassen.

Wyatt: Im Zusammensein mit deinem Klienten scheinst du sehr auf eure unmittelbare Begegnung eingestellt zu sein. Dies, und nicht eine Reihe von Techniken, ist es anscheinend, wovon du dich leiten lässt.

Polster: Ja, für mich stimmt das so. Aber es gibt andere Gestalttherapeuten, die in der Beziehung zu ihren Klienten sehr distanziert, gleichwohl aber sehr auf sein Gewahrsein eingestellt sind. "Was spürst du gerade? Was möchtest du jetzt?" - solche Fragen stellen auch sie, aber es ist trotzdem eine andere Herangehensweise.

 

Weise Worte für Therapeuten

Wyatt: Lass uns noch ein anderes Thema anschneiden. Du sprichst mit vielen Therapeuten. Was fehlt deiner Ansicht nach in der Arbeit vor allem angehender Therapeuten? Wozu hältst du sie an? Und worauf greifst du immer wieder zurück, um ihnen zu helfen, bessere Therapeuten zu werden?

Polster: Ich sehe viele Therapeuten auf das stereotype psychotherapeutische Verhalten zurückfallen. Sie sind nicht bereit zu sagen, was sie wissen, und sie sind nicht bereit, ihren eigenen, idiomatischen Arbeitsstil zu entwickeln.

Yalom: Was meinst du mit idiomatisch?

Polster: Idiomatisch bedeutet, dass nur diese bestimmte Person etwas so tun kann, wie sie es tut. Natürlich ist das übertrieben, denn letztlich haben wir als Therapeuten auch vieles gemeinsam. Dennoch gibt es ein Gespür für die jeweilige Besonderheit, wie zum Beispiel: "Alvin macht es so; das ist seine Art" - und das hebt ihn von einem "allgemeinen" oder "grundsätzlichen" Therapeuten ab.

Yalom: Das heißt, dass es für viele Therapeuten ein echtes Wagnis darstellt, sich zu zeigen.

Polster: Nun ja, es ist nicht unbedingt ein Wagnis. Manches geschieht auf ganz natürliche Weise, passt aber nicht zu ihrem Bild davon, wie ein Therapeut sich verhalten sollte. Miriam, meine Frau, zum Beispiel, bat die Teilnehmer eines Trainingskurses, eine Liste mit all den Eigenschaften zu machen, die für sie als Therapeuten kennzeichnend seien. Die meisten machten eine ziemlich technische Liste mit Eigenschaften wie Empathie usw. Dann bat sie um eine Liste mit mehr persönlichen Eigenschaften. Und die Teilnehmer schrieben Dinge auf wie "lebhaft und unverfälscht" oder "Neuem gegenüber aufgeschlossen." Und als sie diese Liste sahen, wurde schnell deutlich, dass sie ihre besten Eigenschaften aus der Therapie heraushielten. Wie kannst du in einer Sache weiterkommen, wenn du deine besten Eigenschaften nicht mit einbringst? Sind wir so gut, dass wir unsere besten Anteile heraushalten und trotzdem noch eine gute Arbeit machen können? Die Frage ist also, wie wir die besten Seiten unseres persönlichen Stils mit unserem technischen Wissen verbinden können; und technisches Wissen ist ja vorhanden. Natürlich muss man manchmal auch persönliche Anteile zurückhalten, weil sie zum Beispiel zu aufdringlich oder zu dominant sein können. In der Therapie sind wir mit allen möglichen Problemen konfrontiert, auf die man entweder Rücksicht nehmen muss oder mit denen man arbeitet - je nachdem, wie die Situation ist und mit wem man es zu tun hat.

Wyatt: Es geht also nicht nur darum, die therapeutischen Techniken zu erlernen, sondern auch um die eigene Persönlichkeit.

Polster: Ja, das ist die eigentliche Arbeit. Ich meine, genau das müssen wir lernen: wie wir das hinbekommen. Die Frage ist, wie man Techniken lernt und seine eigene Persönlichkeit mit einbringt. Die Cousine einer Freundin von mir ist eine bekannte Konzertgeigerin. Als sie einmal abends ein Konzert gab, übte sie den ganzen Tag. Meine Freundin fragte sie: "Warum übst du den ganzen Tag?", und die Künstlerin antwortete: "Ich mache das, weil ich möchte, dass es mir so sehr in Fleisch und Blut übergeht, als wäre es ein Reflex, und wenn ich dann auf der Bühne stehe, habe ich genügend Raum für meine Gefühle."

Im Laufe der Jahre habe ich herausgefunden, dass meine Therapie besser wird, wenn ich meinen Reflexen vertraue; nicht aus Anmaßung, sondern durch Gewohnheit und Erfahrung. Irgendwann fing ich an, auf das zu vertrauen, was ich zu sagen haben würde, und musste nicht mehr permanent darüber nachdenken, ob das, was ich sagte, richtig war. Aber es muss sich in dein eigenes System einfügen, damit genügend Raum für deine idiomatischen Eigenschaften und Fähigkeiten bleibt.

 

Religion, Psychotherapie und Gemeinschaft

Wyatt: Lass uns noch über dein neues Buch zum Thema Lebensgemeinschaften, Spiritualität und Alltagsleben* sprechen. Darin behauptest du, dass die Psychoanalyse und andere traditionelle Therapieformen das Alltagsleben aus ihrer Arbeit heraushalten. Kannst du uns etwas dazu sagen?

Polster: Freud war Mediziner und hat als solcher die Psychoanalyse entwickelt. Er beschäftigte sich mit Pathologie, und zwar zu Recht, denn das war seine Arbeit. Aber er entwickelte auch Konzepte, in denen es darum ging, wie Menschen denken und fühlen. Er führte seine Patienten durch einen therapeutischen Prozess, der sich prinzipiell an einem pathologischen Verständnis orientierte. Im Grunde genommen begründete er eine neue Religion. Was diesem System im Vergleich zu einer wirklichen Religion allerdings fehlt, ist der Sinn für die Gemeinschaft und die lebenslange Einbindung. Aber wie hebt man das aus der Sphäre des Pathologischen heraus? Nun, dazu gibt es viele Möglichkeiten; der Punkt, den ich aber vor allem sehe und als berechtigte Extrapolation betrachte, ist, dass es eine große Gruppe von Menschen bräuchte, die sich ein Leben lang immer wieder trifft. Nicht das jeder immer dabei sein müsste, aber ähnlich wie in Kirchen und Tempeln müsste es einen für diese Gruppe gemeinsamen grundsätzlichen Prozess der Lebensorientierung und Lebensführung geben.

Wyatt: Aber wie macht man das? Und wie unterscheidet sich das von traditionellen Gemeinschaften?

Polster: Ja, wie macht man das? Wir haben ganz andere Methoden als die uns vertrauten Religionen. Zunächst einmal brauchst du nicht an Gott zu glauben. Du kannst, wenn du willst, aber es gründet sich nicht auf eine Gottesorientierung, sondern auf das, was Gott wahrscheinlich für die meisten Menschen bedeutet, nämlich eine unteilbare Einheit mit dem Anderen, das allgegenwärtige Andere. Das gibt der Gemeinschaft Orientierung - auf eine Art, die selbst etwas von dieser Kraft beinhaltet. Ich meine, die Poesie, die Gott zum Thema hat, ist wirklich prachtvoll, und ich weiß nicht, ob wir etwas so Anspruchsvolles und Ausgereiftes jemals wiederholen könnten. Aber die Gemeinschaft - wenn sie denn geheiligt werden kann, wenn wir also die heiligen Aspekte der Psychotherapie sehen könnten - wäre ein Schritt in Richtung auf ein System mit sehr starker Orientierungskraft. Manches von dem, was Psychotherapeuten tun, bezeichne ich als "im Bereich des Heiligen", denn der Psychotherapeut muss sich darauf beschränken, was in der Psychotherapie geschieht, und er tut anderen Menschen Gutes. Religion macht genau das gleiche. Auch die Religion beinhaltet etwas Heiliges, aber anders als in der Psychotherapie. Deshalb habe ich eine Reihe von Eigenschaften aufgeführt, die einen Teil der Erfahrung des Heiligen beschreiben, und habe gezeigt, wie Religion bzw. Psychotherapie damit umgehen. Ich habe dieses neue Buch gerade erst fertiggestellt; am Montag schicke ich es an meinen Verleger.

Wyatt: Als du gerade über dein neues Buch sprachst, wurdest du richtig lebendig, …

[Polsters Lachen füllt den Raum]

… sehr viel mehr als beim Thema Zeitgeist. Ist dir das aufgefallen?

Polster: Okay, nein. Das ist mir nicht aufgefallen.

Wyatt: Alle großen Theoretiker, wie Freud, Ellis, Skinner usw., haben dieses große Thema Spiritualität entweder vermieden oder ausgelassen. Du traust dich da ran.

Polster: Nein, nicht Spiritualität. Das ist der Begriff, den ich nicht benutze.

Wyatt: Wie würdest du es nennen?

Polster: Religion. Das Wort "Spiritualität" hat eine zu luftige und unklare Bedeutung, so dass ich nie genau weiß, wovon genau die Rede ist. Ich weiß gerne, worüber ich rede. "Religion" ist eine Gemeinschaft von Menschen, die eine gemeinsame, sehr konkrete Lebensorientierung und einen konkreten Glauben haben, der definiert werden kann. Spiritualität - ich weiß nicht, was das bedeutet. Manches, worüber ich schreibe, umfasst wahrscheinlich auch Spiritualität, aber ich benutze dieses Wort nicht. Ich schreibe oder spreche über das natürliche Gefühl der Unteilbarkeit oder Untrennbarkeit von dem Anderen, das wir im Leben suchen, und ich bin sicher, dass es neurologische Erkenntnisse gibt, die diese Erfahrung bestätigen könnten. Ebenso bestätigen Meditation, tiefe Beziehungen oder Sexualität dieses Gefühl der Unteilbarkeit, aber ich halte das nicht für spirituell, sondern eben für das Gefühl der Unteilbarkeit. Der Begriff "spirituell" wird zu weit gefasst, als dass ich mir darüber im Klaren wäre, wie ich ihn benutzen könnte.

Wyatt: Welches ist der befriedigendste und bedeutendste Teil deiner Entwicklung und deiner therapeutischen Arbeit? Was treibt dich an?

Polster: Oh, das sind viele Dinge. Engagement, Hingabe und die Möglichkeit, immer wieder etwas Neues entstehen zu lassen. Auch das Gefühl, für andere Menschen wichtig zu sein, ihnen etwas zu bedeuten, gehört dazu. Ich kann mich sehr dem Schreiben hingeben, und ich liebe es, Workshops zu machen. Ich gehe so sehr darin auf, dass ich einfach immer weiter mache.

Wyatt: Ich bin sicher, dass wir auch dieses Gespräch immer weiter fortsetzen könnten, aber du musst dein Flugzeug bekommen.

Polster: Das stimmt.

Yalom: Also dann: Danke, dass du dir die Zeit genommen hast.

 

Anmerkung

* Erving Polster, Uncommon Ground: Harmonizing Psychotherapy & Community To Enhance Everyday Living (2006). Deutsch im März 2008 in unserer Edition des Gestalt-Instituts Köln.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Foto: Erving Polster

Erving Polster

Erving Polster, Ph.D., gehört zu den bekanntesten Gestalttherapeuten der Welt. Vor fast 30 Jahren veröffentlichte er - gemeinsam mit seiner 2001 verstorbenen Ehefrau Miriam - das Grundlagenwerk "Gestalttherapie. Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie" (als erweiterte Neuauflage 2001 in unserer Edition des Gestalt-Instituts Köln im Peter Hammer Verlag erschienen).

Doch schon weit länger ist er - u.a. im Rahmen des Gestalt Training Center, San Diego/Kalifornien - als Gestalttherapeut und Ausbilder tätig.

Aus seiner intensiven Therapie- und Lehrtätigkeit sind zahlreiche weitere Veröffentlichungen hervorgegangen - so auch die folgende Sammlung seiner Artikel zur Praxis der Gestalttherapie - wieder gemeinsam mit seiner Ehefrau: "Das Herz der Gestalttherapie. Beiträge aus vier Jahrzehnten" (erschienen 2002 ebenfalls in unserer Edition).

Das englische Original-Interview findet sich online hier: http://www.psychotherapy.net/interview/Erving_Polster

Herzlichen Dank für die Genehmigung der deutschen Übersetzung an Psychotherapy.net, besonders an Victor Yalom.

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Ludger Firneburg.

 

Die Interviewpartner:

Randall C. Wyatt, PhD, ist Chefredakteur von Psychotherapy.net. Er ist Ausbildungsleiter und Professor für Klinische Psychologie an der Argosy-Universität in San Francisco. Überdies praktiziert er als Psychologe in Oakland und Dublin (Kalifornien).

Victor Yalom, PhD, ist Psychologe, Gruppen- und Paartherapeut, sowie Cartoonist in San Francisco. Er ist Gründer und Präsident von Psychotherapy.net.

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