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Erving Polster
Kommunale Encounterarbeit


Aus der Gestaltkritik 2/2007:

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus Gestaltkritik 2/2007:

Erving Polster
Kommunale Encounterarbeit

Foto: Erving PolsterErving Polster

In dieser Ausgabe unserer Zeitschrift haben wir - neben diesem älteren Text des Altmeisters der Gestalttherapie - auch ein brandaktuelles Interview mit ihm veröffentlicht: Erving Polster, Interview 2006. Der Herausgeber

Vor kurzem machte der Sohn einer Bekannten von mir sein Examen. Er ist sozial und politisch sehr engagiert und interessierte sich früher u.a. auch für Psychotherapie. Ich fragte meine Bekannte, ob ihr Sohn vielleicht mit dem Gedanken spiele, Psychotherapeut zu werden, und sie antwortete: Nein, ihr Sohn sei der Auffassung, daß Psychotherapie gesellschaftlich bedeutungslos sei.

Die Mehrdeutigkeit dieser Einschätzung warf in mir die Frage auf, was er wohl gemeint haben könnte. Ich dachte, als politisch engagierter Mensch würde er wohl gute Gründe haben. Wahrscheinlich, dachte ich mir, ist er ein Utopist und betrachtet Psychotherapeuten als eher nüchterne Zeitgenossen. Sicherlich, es gibt durchaus eine Reihe psychotherapeutisch gebildeter Autoren, die utopische Entwürfe entwickelt haben, aber das sind doch vergleichsweise wenige. Ich denke da beispielsweise an B.F. Skinner, Paul Goodman und Martin Buber. Obwohl keiner von diesen für sich beanspruchen würde, ein professioneller Psychotherapeut zu sein (wenngleich Paul Goodman viele Jahre als Psychotherapeut arbeitete), haben ihre Arbeiten doch immerhin beträchtlichen Einfluß auf die Überlegungen der zeitgenössischen Psychotherapie gehabt.

In Skinners Walden II, dem utopischen Entwurf einer idealen Gemeinschaft, geht es zentral um die Frage optimalen Lernens (Skinner 1948). Hier wird die Überzeugung vertreten, daß die Erkenntnisse, die unter experimentellen Rahmenbedingungen gewonnen werden, auch zur Gestaltung eines idealen Gemeinschaftslebens beitragen könnten. Vielleicht erscheint Ihnen das ebenso blauäugig wie mir selbst; Skinner jedoch läßt seinen Protagonisten beherzt zur Tat schreiten und eine utopische Gemeinschaft ins Leben rufen, die sich schon bald einer Reihe von Vorwürfen ausgesetzt sieht, wie etwa die menschliche Natur nicht ernst zu nehmen oder sie auf autokratische Weise zu deformieren.

Paul Goodman, der aus seiner Wertschätzung utopischen Denkens keinen Hehl machte, schrieb ein Buch mit dem Titel Utopian Essays and Practical Proposals, in dem er Lösungsvorschläge für ein breites Spektrum von praktischen Problemen unterbreitet, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert ist (Goodman 1962). Aus seiner Sicht werden Ideen dann als utopisch bezeichnet, wenn sie zwar einiges für sich haben, ihre Realisierung jedoch andere Vorgehensweisen und Motivationen als die zur Zeit üblichen voraussetzt. Ein weiteres Kriterium für den utopischen Charakter von Ideen sieht er dann gegeben, wenn die gesellschaftlichen Strukturen und Gepflogenheiten unsinnig, aber auch unveränderbar sind. Jeder Hinweis auf eine mögliche Veränderung lasse uns dann aus unserer Resignation aufschrecken und wecke in uns eine Art Angst, schreibt Goodman.

1945 schrieb Martin Buber Pfade in Utopia, in dem er die ideengeschichtlichen Hintergründe der israelischen Kibbuzz-Bewegung untersucht. Zum allgemeinen Wesen des Utopismus Stellung nehmend, schreibt er:

"Den Utopien, die in die Geistesgeschichte des Menschengeschlechts eingegangen sind, erscheint auf den ersten Überblick das gemeinsam, daß sie Bilder sind, und zwar Bilder von etwas, was nicht vorhanden ist, sondern nur vorgestellt wird. Solche Bilder pflegt man im allgemeinen als Phantasiebilder zu bezeichnen; aber damit ist noch wenig gesagt. Diese Phantasie schweift nicht, sie wird nicht von wechselnden Eingebungen hin und her getrieben, sie zentriert tektonisch fest um ein Erstes und Ursprüngliches, das auszubauen ihr auferlegt ist, und dieses Erste ist ein Wunsch. Das utopische Bild ist ein Bild dessen, was "sein soll", wovon der Bildende wünscht, daß es sei. […] Was hier waltet, ist die Sehnsucht nach dem Rechten, das in religiöser oder philosophischer Schau, als Offenbarung oder als Idee, erfahren wird, und das sich seinem Wesen nach nicht im Einzelnen, sondern nur in der menschlichen Gemeinschaft als solcher realisieren kann. Die Schau des Seinsollenden ist, so unabhängig vom persönlichen Willen sie auch zuweilen erscheint, doch von einem kritischen Grundverhältnis zu der gegenwärtigen Beschaffenheit der Menschenwelt nicht zu trennen. […] Und was als Begriff unmöglich erschiene, das erregt als Bild die Macht des Glaubens, bestimmt Vorsatz und Plan. Das tut es, weil es mit Kräften in den Tiefen der Wirklichkeit im Bunde ist" (Buber 1945, S. 29-31).

Buber wirft insbesondere Marx und seinen Anhängern vor, seit Mitte des 19. Jahrhunderts den Mut zur Utopie verloren und sich dadurch gegen all jene gestellt zu haben, denen es nicht nur um die für den Marxismus zentralen ökonomischen und politischen Entwicklungen ging, sondern ebenso um die sozialen Belange des Indivi­duums. Indem die Marxisten auf einen zentralen Machtapparat als Mittel gesellschaftlicher Umgestaltung setzten (den irgendwann wieder aufgeben zu wollen nicht mehr als ein Lippenbekenntnis für sie war), meint Buber, entmächtigten sie die unverzichtbare Improvisationsfähigkeit der örtlichen Gemeinschaften und ihrer Angehörigen. Aus marxistischer Sicht war für die Entwicklung sozialer und individueller Belange die Zeit noch nicht reif, weshalb sie als utopisch betrachtet wurden. Die marxistische Annahme, daß die aufgrund "revolutionärer Notwendigkeiten" geschaffenen ökonomischen und politischen Machtstrukturen sich früher oder später zugunsten einer mehr dezentralen Gesellschaftsordnung selbst liquidieren würden, diese Annahme betrachtet Buber als vollkommen illusorisch und - wahrscheinlich - sogar als Betrug. Aus Bubers Sicht ist soziale Veränderung nicht etwas, das man auf die Zukunft verschieben darf, sondern ein integraler Bestandteil jeder erfolgreichen Gemeinschaftsbildung.

Die von Buber aufgezeigte Verwerfung individueller und kommunaler Belange ist jedoch keineswegs nur ein Kennzeichen des Marxismus; auch in der kapitalistischen Gesellschaft werden diese Belange gering geschätzt. Daß es zahlreiche Spielarten massiver ­sozialer Benachteiligung gibt, ist offensichtlich, doch die materia­listische Grundorientierung ignoriert das nur zu gerne. Die Entwicklung neuer Methoden zur Förderung des Gemeinschaftslebens "vor Ort" erscheint dringend geboten. Die Psychotherapie hat zumindest eine solche Methode entwickelt, nämlich die Encounter-Gruppe.

Damit die Encounter-Gruppe den materialistischen Bedürfnissen, die unsere Gesellschaft antreiben, gerecht werden konnte, mußten die Psychotherapeuten Techniken entwickeln, die über die traditionellen Methoden hinausgehen. Diese technischen Entwicklungen gehen auf vier Hauptaspekte einer modernen Orientierung zurück, nämlich

1. die Universalität der Probleme,

2. die Zielgerichtetheit des Menschen,

3. die charakterologische Sichtweise und

4. die Betonung der interaktionellen Dynamik.

Was ihre Bedeutsamkeit betrifft, sind diese Gesichtspunkte den in der Vergangenheit relevanten Faktoren wie "assoziative Introspektion", "Aufdecken von Geheimnissen" oder "Betonung der Suche nach Unbewußtem" weit überlegen.

Der erste dieser Punkte, die Universalität der Probleme, wird beispielhaft durch Tillichs Annahme einer existentiellen Grund­angst veranschaulicht, die später durch Bugental weiterentwickelt worden ist. Tillich bzw. Bugental gehen davon aus, daß die Grund­angst des Menschen vierfach begründet sein kann; dementsprechend unterscheiden sie auch vier pathologische Charaktere (Bugental 1965; Tillich 1952).

Laut Tillich basiert die existentielle Grundangst des Menschen auf seinem Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes und nie auszuschließende Schicksalsschläge, auf der Erfahrung von Schuld und Verdammung und der Begegnung mit einem Gefühl innerer Leere und Sinnlosigkeit. Bugental nennt als weitere Ursache die Möglichkeit der Vereinsamung und der Isolation. Die neurotischen Folgen dieser Angst können, so Bugental, in Gefühlen wie Machtlosigkeit, Scham, Sinnlosigkeit und Entfremdung zum Ausdruck kommen, Gefühlen, die nicht nur weitverbreitet, sondern in gewisser Weise universell sind, da es uns allen unmöglich ist, der Konfrontation mit den ihnen zugrundeliegenden Gegebenheiten zu entgehen.

Daß es sich bei den hier genannten Ängsten tatsächlich um "Universalien" handelt, wird auch durch die Einfachheit der verwandten Begriffe deutlich. Im Gegensatz zu einem Fachausdruck wie "Kastrationsangst" ist beispielsweise "Machtlosigkeit" etwas, worunter sich auch die ungebildetste Person noch etwas vorstellen kann, und zwar ohne daß es dazu der Unterstützung durch einen Experten bedürfte. Man muß sich auch nicht selbst für krank halten, nur weil man solche Ängste kennt.

Die Machtlosigkeit, von der Bugental spricht, ergibt sich einfach aus der Tatsache, daß es uns Menschen nie möglich ist, sämtliche Variablen, die in unserem Leben eine Rolle spielen, unter Kontrolle zu haben. Der Mensch sieht sich also nicht nur mit dem Tod konfrontiert, sondern auch mit der Herausforderung, sich auf Risiken einzulassen. Die Bereitschaft, sich auf Risiken einzulassen, statt sich ihrer ängstlich zu entziehen, ist ein zentrales Anliegen der Psychotherapie, gerade auch bei der Durchführung von Encounter-Gruppen. Die psychotherapeutische Vorgehensweise folgt hier ­gewissermaßen einer neu gewonnenen Einsicht in die allgemeine Befindlichkeit des Menschen. Indem wir erkennen, daß die Entwicklung der Fähigkeit, sich Risiken auszusetzen, für uns Menschen vielleicht weitaus wichtiger ist als die Erforschung unseres Unbewußten, sehen wir uns als Psychotherapeuten genötigt, unser methodisches Vorgehen neu auszurichten.

Ein weiterer allgemein verständlicher Begriff, den Tillich und Bugental verwenden, ist Schuld. "Ist das meine Schuld?" - Es dürfte niemanden geben, der sich diese Frage nicht gelegentlich stellt. Dem liegt das Gefühl zugrunde, an irgendwelchen Persönlichkeitsmängeln zu leiden und nicht mit sich selbst identisch zu sein. In uns allen gibt es ja ein ursprüngliches Verlangen nach "Gerechtfertigtsein", wobei wir uns im allgemeinen dann gerechtfertigt fühlen, wenn wir den normativen Vorgaben der Gesellschaft entsprechen; gelingt uns das nicht, fühlen wir uns schuldig. Alternativ hierzu kann sich die Selbstaktualisierung allerdings auch an der Übereinstimmung mit sich selbst festmachen, mit dem, was man selbst wirklich will. In der Encounter-Gruppe soll genau hierzu ermutigt werden, indem auf kollektiv verbindliche Vorgaben weitgehend verzichtet und der einzelne dazu aufgefordert wird, das, was ihm wichtig ist und was er für seine Erfüllung braucht, selbst zu bestimmen. In gewisser Weise war das natürlich schon immer ein Anliegen der Psychotherapie; ihm wird jedoch, zumindest aus meiner Sicht, heute auf kühnere und wagemutigere Weise nachgegangen als früher. Was früher nur ein programmatisches Konzept war, wird heute konkret erlebt und verwirklicht.

Auch das Gefühl der Sinnlosigkeit ist ein allgemein bekanntes Phänomen - gerade heute, da der jüdisch-christliche Sinnstiftungsentwurf zunehmend an Überzeugungskraft verliert. Einen zeitgenössischen Versuch, das so entstehende Manko auf nicht-religiöse Weise auszugleichen, stellt der Existentialismus dar; und auch andere Versuche, das menschliche Leben als bedeutsam zu begreifen, ohne sich dabei traditioneller theologischer Konzepte und Modelle zu bedienen, sind zu beobachten. Oft wird die Lösung in der Erlangung eines ausgeprägteren und verfeinerten Körperbewußtseins gesehen, in der Schulung der sinnlichen Wahrnehmung, der Konzentration auf das Hier-und-Jetzt, dem sensiblen Erspüren der eigenen Gefühle und Wünsche und der Bereitschaft, sich Ziele zu setzen. In einer Welt, deren überlieferte Moralvorstellungen oft als unzeitgemäß empfunden werden und deren gesellschaftliche Widersprüchlichkeit offensichtlich ist, bieten sich derartige Bestrebungen, dem Gefühl der Sinnlosigkeit zu entgehen, geradezu an. Und es ist ein erklärtes Ziel der Encounter-Bewegung, den einzelnen darin zu unterstützen.

Die Angst vor Einsamkeit und Verlorenheit ergibt sich aus der Tatsache, daß wir einerseits um unser Von-anderen-verschieden-Sein wissen und andererseits um die Wichtigkeit des Austauschs. Seelische Erfüllung, ja schon das bloße Überleben setzt Kontakt zu anderen voraus, den herzustellen und aufrechtzuerhalten einem jedoch durch zahlreiche Hindernisse schwer gemacht wird. Die Encounter-Gruppe versucht nun, moralische Bedenken, welche eine unbefangene Kontaktaufnahme erschweren, so weit außer Kraft zu setzen, daß dem Kontaktbedürfnis auf eine möglichst freie Weise stattgegeben werden kann. Sich wechselseitig zu berühren und zu umarmen, ist in solchen Gruppen schon fast selbstverständlich. Auch die offenherzige Mitteilung von Ärger, Langeweile, Unsicherheit, Aufregung, Liebe oder anderen Gefühlen wird nicht - wie im traditionellen Moralverständnis - für unanständig, unbeherrscht oder gar böse gehalten, sondern ausdrücklich befürwortet.

Der zweite grundlegende Aspekt einer zeitgemäßen Orientierung und der damit verbundenen technischen Neuentwicklungen in der Psychotherapie geht auf Wilhelm Reich zurück. Ihm ist insbesondere die Überwindung des (krankheits-) symptomorientierten Ansatzes zugunsten eines charakteranalytischen Verständnisses zu verdanken. Im Mittelpunkt des Therapieprozesses stehen heute das jeweilige Alltagsverhalten und der konkrete Selbstausdruck des Klienten. Obwohl Reich selbst die Auflösung charakterbedingter Blockierungen zunächst nur als notwendige Voraussetzung für jede erfolgreiche Behandlung der Symptome ansah, hat seine Arbeit doch dazu geführt, daß die Fähigkeit des Klienten, seinen Alltag erfolgreich zu bewältigen, heute das zentrale Anliegen der Therapie ist. So ist uns mittlerweile beispielsweise klar geworden, daß es für das persönliche Wohlbefinden durchaus einen Unterschied macht, ob man auf langweilige Weise oder mit einer gewissen Begeisterung zu sprechen pflegt. Ob jemand über Zärtlichkeit, Einfallsreichtum, gute sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten und ähnliche Fähigkeiten verfügt, ist nicht nur für den interaktiven Gruppenprozeß von entscheidender Bedeutung, sondern auch für sein persönliches Wachstum. Spezifische Krankheitssymptome werden deshalb natürlich nicht ignoriert, denn sie stellen ja in der Tat Behinderungen dar und bedürfen insofern der Aufmerksamkeit. Es ist auch durchaus möglich, daß charakterliche Defizite spezifische Symptome nach sich ziehen. Das frustrierende Gefühl beispielsweise, sich mit einer Arbeit abmühen zu müssen, die einem überhaupt nicht liegt, kann zu einem gegebenen Zeitpunkt als behandlungsbedürftiges Symptom anzusehen sein; einige Jahre früher wäre das vielleicht noch nicht der Fall gewesen, obwohl die charakterlichen Defizite, die zu seiner Entstehung führten, schon bestanden haben. Charakterstruktur und Symptome hängen auf ähnliche Weise miteinander zusammen wie Melodie und Text eines Liedes. Die zunehmende Einsicht in die vorrangige Wichtigkeit des Charakters ist deshalb auch ein wichtiger Grund dafür, daß die Encounter-Gruppe als therapeutisches Instrument sich heute eines größeren öffentlichen Zuspruchs erfreut. Ginge es primär um die Behandlung konkreter Krankheitssymptome, wären weitaus weniger Leute bereit, an Encounter-Gruppen teilzunehmen, weil sie sich nämlich nicht "krank" fühlen. In der Symptomorientierung spiegelt sich die Isolation eines ganz bestimmten Lebensaspektes wider.

Es gibt noch ein Drittes, das dafür spricht, daß gruppendynamische Therapieformen das Gemeinschaftsleben verbessern können, und das ist die Einsicht in die Bedeutung der psychischen Umgebung für die Entwicklung des Menschen. Schon Lewin versuchte, deren Einfluß in Form von Vektoren zu erfassen, deren Richtung, Stärke sowie Mit- und Gegeneinander für den einzelnen von Bedeutung sind. Dabei ging es ihm zum einen um die Klärung unterschiedlicher Faktoren, zum anderen aber auch um deren grafische Darstellbarkeit, wobei er sich an mathematischen bzw. physika­lischen Gepflogenheiten orientierte.

Wir können uns also das soziale Geschehen mit all seinen Ereignissen gewissermaßen als Ergebnis eines mechanischen Kräftespiels vorstellen. In der Vergangenheit ging es in der psychologischen Theorie um Themen wie Moral, Neurose und die Bedeutung spezifischer Ereignisse. Auch heute können wir diese Themen natürlich nicht einfach außer acht lassen, erkennen aber eben deutlicher, daß wir auch äußeren Kräften ausgesetzt sind und gut daran tun, auf möglichst intelligente Weise mit ihnen umzugehen. Gelingt uns das nämlich nicht, so vermögen sie, uns auch gegen unseren Willen zutiefst zu bestimmen.

So hat z.B. der Psychiater R.D. Laing verschiedene Formen der Angst unterschieden, mit denen der Mensch auf die Wahrnehmung und Wirkung äußerer Kräfte reagieren kann, nämlich die Angst vor Vereinnahmung, vor Implosion und vor Versteinerung (Laing 1961, 1965). Die Frage, von der er sich dabei leiten ließ, lautet: Wie kann der Mensch versuchen, angesichts all der machtvollen äußeren Einflüsse seine Integrität zu bewahren?

Vereinnahmung meint hier den Verlust der eigenen Autonomie durch die Entwicklung von Beziehungen. Man spürt die Gefahr vereinnahmt zu werden selbst dann, wenn man verstanden, geliebt oder einfach nur gesehen wird. Die Angst, gehaßt zu werden, mag andere Gründe haben, wird aber häufig als weniger bedrohlich empfunden als die Vereinnahmung, die mit liebevollen Gefühlen einhergehen kann. Daß es zumindest möglich ist, verstanden und geliebt zu werden, ohne gleichzeitig einer Vereinnahmung ausgeliefert zu sein, gehört zu den Entdeckungen, die in Encounter-Gruppen an der Tagesordnung sind. Der innere Kraftquell, welcher der eigenen Identität zugrunde liegt, wird als etwas erlebt, das auch ­intakt bleiben kann, wenn man mit anderen eng verbunden ist, ja, infolge dieser engen Verbundenheit wird sogar erst deutlich, daß die eigene Identität nicht starr und unveränderlich ist, sondern sich immer wieder neu entfaltet und erschafft. Es ist eine aufregende Erfahrung zu spüren, wie ein bislang unbekanntes Potential in einem erwachen kann und man plötzlich mehr ist als vorher - auch in den Augen der andern.

Implosion beschreibt Laing als das Überwältigtsein von neuen Erfahrungen, die die innere Leere anfüllen wie ein Gas, das in ein Vakuum strömt. Im allgemeinen wehrt sich der Mensch gegen neue Erfahrungen, und in gewisser Weise gibt es dafür auch gute Gründe. Neues kann immer nur in begrenzter Menge assimiliert werden, und wenn einem zuviel davon zugemutet wird, klingeln die Alarmglocken. Stark auf Sicherheit bedachte Menschen wollen es aber soweit gar nicht erst kommen lassen und ziehen sich lieber in eine Art Gehäuse zurück, in dem so etwas wie ein Unterdruck entsteht. Wird dieses dann von außen gewaltsam durchdrungen, kommt es zum Gefühl der Implosion. Soll dies vermieden werden, muß der Mensch lernen, wie er neue Erfahrungen gefahrlos zulassen und mit ihnen umgehen kann, wozu es einer Atmosphäre bedarf, die seinen Selbstausdruck unterstützt. Ohne die Fähigkeit, seinen eigenen Empfindungen Ausdruck zu geben, führt die Konfrontation mit dem bislang Neuen und Unbekannten schnell zu panikartigen Reaktionen. Ist diese Fähigkeit jedoch erst einmal entwickelt worden, kann das plötzliche Auftauchen so vitaler Äußerungen wie Schreien, Lachen, sexueller Lust oder Wut sogar als Bereicherung, als Angebot zur Steigerung der eigenen Lebendigkeit empfunden werden. Die Encounter-Gruppe will den Teilnehmern deshalb helfen, ihren Selbstausdruck zu entwickeln und die Angst vor Implosion dadurch zu mindern.

Und schließlich Versteinerung. Hierunter versteht Laing die von außen bewirkte Reduzierung der eigenen Lebendigkeit durch eine Art Mißachtung, die einen nicht als den- bzw. diejenige gelten läßt, die man aktuell ist. Eine solche Mißachtung kann beispielsweise darin bestehen, daß man jemanden als Typus wahrnimmt statt als ein vielschichtiges Individuum. Oder darin, daß man ihm ein Interesse an seiner Person vortäuscht, das man gar nicht hat. Oder daß man seine Bedürfnisse zu kennen beansprucht, ohne ihm selbst Gelegenheit gegeben zu haben, sich dazu zu äußern. Oder auch indem man ihn nach seiner Kleidung oder den eigenen Bedürfnissen entsprechend beurteilt. Einer derartigen Depersonalisierung versucht die Encounter-Gruppe entgegenzuwirken, indem sie sich um einen lebendigen Austausch bemüht, in dem das eigene und das fremde Ich sich wechselseitig entdecken können, ihr Aufeinanderbezogensein bestätigend, ohne die je eigene Autonomie aufzugeben.

Der vierte Faktor, welcher der Encounter-Bewegung zugute kommt, ist die Aufmerksamkeit, die man heute der Interaktionsdynamik entgegenbringt. Eine Methode, die diese Haltung repräsentiert, ist die Gestalttherapie. Sie geht davon aus, daß der Mensch, um optimal funktionieren zu können, zwei ineinander verwobenen Anforderungen gerecht werden muß: Kontakt und Gewahrsein. Kontakt ermöglicht es dem Menschen, von seiner Umwelt Gebrauch zu machen, ihr zu begegnen, auf sie einzuwirken und ihr das zu entnehmen, was er unter bio- und psychologischem Gesichtspunkt benötigt. Perls, Hefferline und Goodman legen dar:

"Ein gegenwärtiges Problem erregt Anteilnahme, und die Spannung wächst der kommenden, aber noch unbekannten Lösung entgegen. Die Assimilation des Neuen geschieht im gegenwärtigen Augenblick, während er in die Zukunft hinübergeht. Ihr Ergebnis ist nie eine bloß neue Anordnung der unabgeschlossenen Situationen des Organismus, sondern vielmehr eine Gestalt, die neues Material aus der Umwelt enthält und sich daher von allem, was erinnert oder vermutet werden konnte, unterscheidet, genau wie das Werk eines Künstlers für ihn unvorhersehbar neu wird, während er das mate­rielle Medium bearbeitet" (Perls, Hefferline und Goodman 1951b, S. 17).

Um den Kontakt zu fördern, sollte das Gruppengeschehen reich an persönlicher Begegnung sein und sich mit dem Hier-und-Jetzt befassen, statt sich irgendwelchen Geschehnissen in der Vergangenheit zuzuwenden. Ganz bewußt werden deshalb in der Encounter-Gruppe spannungsreiche Situationen, ja sogar Krisen herbeigeführt. Die Gruppe wird zum Abenteuer, weil an die Stelle des Nachdenkens über Konfliktsituationen echte und aktuelle Konfliktsituationen treten. Alle Anstrengung konzentriert sich auf die Maximierung echten Kontakts, wohingegen Kontaktvermeidungsversuche als solche aufgedeckt werden. Aufgabe des Therapeuten ist es, die angewandten Vermeidungsstrategien zu identifizieren. Diese können beispielsweise darin bestehen, daß man beim Sprechen weg sieht oder Fragen stellt, wo man doch eigentlich etwas klarstellen möchte, daß man einfachen Beobachtungen umständliche Einleitungen voranschickt oder auf zwanghafte Weise jede Parteilichkeit vermeidet, daß man sich in eine Art unbeteiligte Starre zurückzieht oder Verhaltensweisen an den Tag legt und Formulierungen benutzt, die Gleichgültigkeit zum Ausdruck bringen sollen, daß man um Sympathien buhlt oder freundliche Worte mit aggressivem Unterton vorträgt usw. Solches Vermeidungsverhalten wird in der Überzeugung aufgedeckt, daß es um der Herstellung eines fruchtbaren Kontaktes willen überwunden werden muß.

Gewissermaßen die komplementäre Ergänzung zum Kontakt ist das Gewahrsein. Phänomenologische Fragen wie "Was empfindest du jetzt?", "Was willst du?" oder "Was tust du jetzt gerade?" tragen zur Schärfung des Gewahrseins bei, weil sie den einzelnen dazu auffordern, sich dem zuzuwenden, was in ihm vorgeht. Aus dieser Bewußtmachung der innerseelischen Prozesse erwächst ein größeres Maß an Begeisterung, was wiederum dem interaktiven Geschehen zugute kommt. Das Wissen um die seelischen Vorgänge im eigenen Innern - die ja so etwas wie die Basis jedes Menschen bilden - unterstützt aber nicht nur die Bereitschaft zu lebendigem Kontakt, sondern ist auch die Voraussetzung für ihre sinnvolle Auswertung.

Auf den vorangegangenen Seiten habe ich versucht deutlich zu machen, daß die Encounter-Gruppe tatsächlich ein psychotherapeutisches Hilfsmittel von unmittelbarer sozialer Bedeutung ist. Einer beträchtlichen Anzahl von Leuten ist es durch die Teilnahme an solchen Gruppen gelungen, durch die lebendige Hinwendung zu anderen, die bewußte Wahrnehmung innerseelischer Vorgänge und das Experimentieren mit neuen Verhaltensweisen, zu einem größeren Maß an persönlicher Lebendigkeit zu gelangen. Genau darum ging es auch den Theoretikern der Encounterbewegung, die sich nicht mehr damit abfinden wollten, daß das Aufblühen der Persönlichkeit nur denen vorbehalten sein sollte, die zur Übernahme einer Patienten-Rolle bereit sind. Für viele praktizierende Psychologen wiederum ist aus der Einsicht, daß solche Gruppen die persönliche Lebensqualität steigern können, die Bereitschaft erwachsen, sich nicht länger in ihre privaten Praxen zurückzuziehen, sondern auch dem Durchschnittsmenschen "vor Ort" zu dienen, nicht von oben herab, sondern in einem Geist der Gleichberechtigung und der gegenseitigen Verbundenheit. Wildwachsende Blumen wollen da aufgesucht werden, wo sie wachsen.

Bevor wir uns der Beschreibung eines Gruppenprojektes zuwenden, möchte ich zunächst zu klären versuchen, ob und inwiefern es so etwas wie eine soziale Psychotherapie geben kann, welche Voraussetzungen bzw. historischen Vorgaben sie hätte und wie sie sich auf das gesellschaftliche Leben auswirken könnte.

In einer Diskussion, die ich vor Jahren mit einem Geistlichen führte - es ging um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Psychotherapie und Religion - machte ich die etwas kokette Bemerkung, daß Psychotherapeuten bestrebt seien, sich selbst überflüssig zu machen, während die Gottesleute sich darum bemühten, unverzichtbar zu sein. Während ich damals noch von dieser psychotherapeutischen Haltung überzeugt war, wurde mir später klar, daß das Konzept einer zeitlich begrenzten Therapie etwas Illusorisches hat. Die seinerzeit weitverbreitete Vorstellung, nach sechs Monaten oder auch nach Jahren regelmäßiger Sitzungen komme irgendwann der Zeitpunkt, an dem die psychotherapeutische Arbeit im konkreten Fall endgültig als abgeschlossen betrachtet werden könne, war unbegründet - das ist heute offensichtlich. Die Annahme, daß es für psychische Probleme so etwas wie eine endgültige ­Lösung geben könne, wird der Tatsache nicht gerecht, daß das Leben uns immer wieder vor neue Herausforderungen stellt. Poten­tiell problematische Erfahrungen und Ereignisse wie Tod, Geburt, Heirat, Verlust des Arbeitsplatzes oder einer tragenden Gemeinschaft, Sich-nicht-verständlich-machen-können, Mißverstanden-werden, Be­ginn eines neuen Unternehmens und so weiter - all das gehört unabdingbar zum Leben dazu. Wir Psychotherapeuten aber haben den Menschen, die sich damit konfrontiert sehen, bisher immer nur zeitlich begrenzt zur Verfügung gestanden.

Anders die Vertreter der verschiedenen Religionen. Sie stehen praktisch immer zur Verfügung, wenn es um Fragen der Lebensbewältigung geht, werden dabei jedoch oft durch theologische und institutionelle Einschränkungen behindert und beneiden uns Psychologen um unseren Erfahrungsreichtum. In der Religion geht es ja in erster Linie um die Beziehung des Menschen zu Gott; zwischenmensch­lichen Beziehungen hingegen, deren Bedeutung ja gerade die Encounterbewegung so betont, wird nur eine sekundäre Bedeutung beigemessen. Daß die Begegnung von Mensch zu Mensch machtvolle, wenn auch oft flüchtige oder nur schwer faßbare Auswirkungen haben kann, wissen wir schon seit Freud. Breuer war geradezu erschreckt, als er sich der Intensität der Gefühle bewußt wurde, die seine Patienten ihm entgegenbrachten. Freuds Entdeckung des Übertragungsphänomens trug zur Erklärung dieser Gefühlsintensität bei. Das Wissen um die Übertragung erlaubte es dem Therapeuten, den oft machtvollen Gefühlen, die ihm entgegengebracht wurden, mit einer gewissen Distanz zu begegnen.

Mit der Zeit wurde uns jedoch allmählich bewußt, daß emotionale Intensität durchaus einen Wert an sich hat und nicht vermieden werden muß. Heute neigen wir eher dazu, sie als Zeichen menschlicher Authentizität zu begrüßen, sowohl in der Gruppen- als auch in der Einzeltherapie. Die so weit verbreitete Gewohnheit, sich durch übertriebene Höflichkeit, sprachliche Etikette und Gefühlsunterdrückung vor einer wirklichen Begegnung von Mensch zu Mensch zu schützen, unterbindet den freien Energiefluß. Wenn jemand den Mut aufbringt, eine bis dahin tabuisierte Empfindung auf pointierte und nachvollziehbare Weise zum Ausdruck zu bringen, kann er sich der gespannten Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher sein. Bei Gruppenprozessen von hinreichend langer Dauer gibt es so eine Menge Möglichkeiten, unbewältigte Probleme aus der Vergangenheit einer Lösung näherzubringen. Die Gruppen­dynamik droht zwar manchmal aus dem Ruder zu laufen, aber das hohe Maß an freigesetzter seelischer Energie wirkt sich, wenn sie richtig kanalisiert wird, dabei im allgemeinen doch sehr förderlich aus. Selbst provokatives, unüberlegtes, verletzendes Verhalten oder auch ein rechtes Wort zur rechten Zeit kann die seelische Dynamik enorm anregen. Die einfache Feststellung: "Ich halte dich für einen sehr sensiblen Menschen" beispielsweise, kann zur Folge haben, daß jemand, dessen Sensibilität bisher nie wahrgenommen wurde, in Tränen ausbricht. Und eine vorsichtige Berührung kann einem das Gefühl vermitteln, wirklich akzeptiert zu werden.

Das psychodynamische Potential solcher Gruppenprozesse kann natürlich auch außerhalb förmlicher Encounter-Gruppen auf einer alltagsnäheren Ebene nutzbar gemacht werden. Die Encountermethodik wird deshalb mittlerweile nicht nur bei der Behandlung seelischer Erkrankungen im klinischen Sinne, sondern auch bei der unterstützenden Arbeit mit Schülern und Lehrern, Wirtschaftsvertretern, religiösen und kirchlichen Gemeinschaften, in der Personalentwicklung und nicht zuletzt auch mit Therapeuten selbst angewandt. Ja, man hat auch schon begonnen, sie in bislang mehr oder weniger unerforschten Gruppensettings zu erproben, mit denen Psychotherapeuten nicht nur wenig Erfahrung hatten, sondern gegen die sie sogar tiefe Widerstände hegten. Wir wandten sie beispielsweise in einem Café an, das hauptsächlich von Angehörigen der alternativen Szene besucht wurde und von Polizei und Nachbarschaft mit einigem Mißtrauen beobachtet wurde, weil es nicht nur ein Treffpunkt von Junkies und Dealern war, sondern auch Ausgangspunkt von Krawallen. Zwischen Juli 1967 und März 1968 arrangierten wir unregelmäßige Treffen (etwa vierzehntägig), die abends während der normalen Öffnungszeiten stattfanden und für die Öffentlichkeit zugänglich waren. Im März 1968 wurde das Café durch einen Brand zerstört.

Diese Kaffeehaus-Sitzungen dienten einem dreifachen Zweck. Zum einen ging es darum, die Anwesenden dazu zu bewegen, ihr Lebensgefühl in der Szene auszudrücken. Zweitens wollten wir zeigen, daß auch innerhalb eines therapeutischen Prozesses ein themenzentrierter Ansatz Anwendung finden kann. Und drittens war es unser Anliegen, den Teilnehmern zu helfen, ihre einschränkenden und destruktiven Einstellungen und Selbstbilder zu verändern.

Unser erstes Anliegen bestand also darin, die Anwesenden aus ihrer gewohnten Zuschauerhaltung herauszulocken. Der überhöhte Anspruch, in Gegenwart vieler Fremder seine Seele zu offenbaren, wird von den meisten Menschen als peinlich empfunden. Zwar vermittelt eine größere Zuhörerschaft einem das Gefühl von Lebendigkeit, gleichzeitig hat ihre Anonymität aber auch etwas Verunsicherndes. Sich vor einem öffentlichen Forum seiner persönlichen Empfindungen bewußt zu bleiben und diese dann auch zum Ausdruck zu bringen, gelingt nur wenigen. Ob in Religion, Politik, Erziehungswesen, Vergnügungsgeschäft oder Werbung - im allgemeinen gibt es nur einseitige Verlautbarungen. Für einen tiefergehenden Prozeß dagegen bleibt nur sehr wenig Raum. Gottesdienste zum Beispiel sind häufig so stereotyp, immer gleich und letztlich bedeutungslos, daß sensible und intelligente Menschen manchmal meinen, sich für ihren Besuch rechtfertigen zu müssen, wie ein Geistlicher mit einem zwinkernden und einem weinenden Auge erzählte. Und in der Politik überschattet das strategische Denken jeden Anspruch an Aufrichtigkeit.

Kann ein durch Offenheit und Authentizität gekennzeichneter Kommunikationsstil, wie er für Encounter-Gruppen charakteristisch ist, auch in öffentlichen Foren Anwendung finden? Um das erforderliche Maß an Überschaubarkeit und persönlicher Zuwendung zu gewährleisten, teilen wir die Encounter-Gruppen häufig in Kleingruppen auf. Diese Möglichkeit stellt zweifellos einen Vorteil dar - auch wenn dadurch nicht jedes Bedürfnis abgedeckt werden kann; denn die Kleingruppe ist zu klein, um darin leben zu können. Da im gesellschaftlichen Kontext wechselseitige Beziehungen und gegenseitige Abhängigkeiten aber unvermeidlich sind, bedarf es hier einer Möglichkeit, sich mit größeren Gruppen auseinanderzusetzen. Denn sonst erleben wir eine Verschwiegenheit, wie sie beispielsweise für das therapeutische Gespräch charakteristisch ist, oder wir betreten einen esoterischen Weg und sorgen für Verwirrung, sobald wir mit Uneingeweihten sprechen. Das Erleben einer großen Gruppe oder Gemeinschaft führt auf ansteckende Weise zu einer seelischen Verfassung, die sich mit dem Geborgenheitsgefühl, das in kleinen Encounter-Gruppen entstehen kann, nicht vergleichen läßt. Was die Begegnung in großen Gruppen betrifft, haben wir sicherlich noch viel zu lernen - klar ist jedoch, daß ein harmonisches Zusammentreffen vieler Menschen das innere Erleben und die Bezogenheit des einzelnen verstärkt. Da, wo wenig Offenheit vorhanden ist, ist die Herausforderung um so größer.

Die gewöhnlichen Beschäftigungen der Cafébesucher waren Gespräche und Spiele; wer vorbeikam, suchte in der Regel nichts anderes. Um die ganze Gruppe zusammenzubringen, bedurfte es allerdings besonderer Veranstaltungen wie etwa Gedichtlesungen, musikalische Darbietungen oder sogar Vorträge. Während dieser Veranstaltungen war die spontane Interaktion von Mensch zu Mensch unterbrochen, und die Anwesenden bildeten eine geschlossene Gruppe.

Unser Anliegen war es nun, die ganze Gruppe zusammenzubringen, dabei aber auch spontane Gespräche zu ermöglichen. Das zu realisieren war natürlich ein bißchen schwierig, weil man eine Encounter-Gruppe kaum anders als bewußt und absichtsvoll eröffnen kann. Der Inhaber des Cafés ging für gewöhnlich auf die Bühne um mich kurz vorzustellen, und ich erklärte dann, was wir vorhatten. Es war auch niemandem verwehrt, das Lokal nach Belieben zu verlassen oder zu betreten oder sich mit anderen Gästen privat zu unterhalten. Die Zusammensetzung der Teilnehmenden wechselte von Treffen zu Treffen, obwohl es ein paar gab, die immer wieder vorbeikamen. Das brachte natürlich gewisse Nachteile mit sich, zum Beispiel einen Mangel an Verbundenheitsgefühl mit denjenigen, die nicht regelmäßig kamen. Deshalb gingen auch manche der Anwesenden, bevor wir zu einem Ergebnis kommen konnten. Der weitgehende Verzicht auf einschränkende Reglementierungen hatte jedoch den Vorteil, daß die alltägliche soziale Situation mit ihrem Kommen und Gehen nicht künstlich verfälscht wurde.

Unser erstes Thema war "Hippies und die Polizei". An ihm läßt sich recht gut demonstrieren, wie die Bereitschaft der Anwesenden, sich auf einen gemeinsamen Prozeß einzulassen, im Laufe der Sitzung wuchs. Ich bat ein paar Leute zu einem Rollenspiel: Ein Hippie und ein Polizist reden miteinander. Anfänglich klang der Dialog ziemlich stereotyp. Der Polizist meinte, der Hippie solle sich gefälligst eine Arbeit suchen, die Haare schneiden lassen und mehr Wert auf Reinlichkeit legen. Hippies, so meinte er, seien asozial, gefährlich und überhaupt einfach widerlich. Für den Hippie wiederum war der Polizist brutal, kalt, ohne Verständnis, unsensibel und distanziert. So ging das eine ganze Zeit weiter, jeder hackte auf dem anderen herum. Von mir auf die undifferenzierte Grobheit einiger seiner Bemerkungen angesprochen, begann der Polizist, etwas genauer auf seine Gefühle zu achten. Er sagte, er müsse seinen Job erledigen und könne sich dabei nicht viele Gefühle leisten. Außerdem habe er Angst, sich verletzlich zu machen, wenn er nicht hart bleibe. Der Hippie zeigte keine Reaktion auf diesen veränderten Ton seines Gegenübers und redete unbeirrt weiter. Als er darauf hingewiesen wurde, stimmte er zwar zu und meinte, daß man jetzt vielleicht wirklich miteinander ins Gespräch kommen könne, ihm selbst aber fehle es an Bereitschaft. Er wolle das Feindbild "Polizist", dem er mit seinem ganzen Ärger und seiner Überlegenheit begegnen könne, nicht aufgeben. Anzuerkennen, daß er den Polizisten zumindest teilweise verkannte, das paßte ihm nicht; er zog es vor, weiter zu wüten, und zwar auf so unnachgiebige und fast schon eloquente Weise, daß das Publikum ihm applaudierte. Indem er sich so verhielt, machte er unwissentlich einen Umstand deutlich, den man bei sozialen Konflikten, auch zwischen gesellschaftlichen Großgruppen (z.B. zwischen Schwarzen und Weißen) oder Nationen, immer wieder beobachten kann. Eine aufgestaute innere Abwehr sucht nach der Möglichkeit, sich zu entladen. Wenn der Grund für diese Anspannung auf einmal entfällt, ohne daß sie sich hatte entladen können, bleibt das Verlangen, sie aggressiv zum Ausdruck zu bringen, dennoch bestehen. Deshalb werden entsprechende Veränderungen im Umfeld oft einfach nicht wahrgenommen, solange die innere Spannung nicht abgebaut werden konnte. Militante Schwarze z.B. neigen dazu, Verbesserungen im Verhältnis der Rassen zueinander zu ignorieren.

Solche Asymmetrien in der Konfliktbewältigungsbereitschaft führen immer wieder zu erheblichen Problemen. Auch wenn die ­eine Seite bereit ist einzulenken und eine gemeinsame Lösung zu unterstützen - solange die gegnerische Seite "ihr Pulver nicht verschossen" hat, ist oft nichts zu machen.

Während dieser Sitzung im Café waren ungefähr 125 Leute anwesend. Und im Gegensatz zu einem normalen Publikum nahm dieses Publikum aktiv teil. Viele brachten zum Ausdruck, daß sie mit den - aus ihrer Sicht unbegründeten - Äußerungen des Polizisten nicht einverstanden seien und sahen darin ein Symbol für die Irrtümer des gesellschaftlichen Denkens im allgemeinen. Nach einer gewissen Zeit wurden die beiden Akteure (Polizist und Hippie) gebeten die Rollen zu tauschen, was der bisherige Polizist als große Erleichterung empfand, denn mit einem Mal wirkte er sichtlich entspannt. Dieser Rollentausch gab dem Publikum ein Gespür für die Dynamik des Rollenspiels und die Möglichkeiten der offenen Situation. Das wurde als so reizvoll empfunden, daß viele mitmachen wollten und das dann auch taten. Schon sehr bald war so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl entstanden. Es kam zu einem lebhaften Austausch, der dem während einer gruppentherapeutischen Sitzung durchaus ähnelte. Schließlich verließ der gerade agierende Polizist die Bühne, um den Wirt wegen diverser Gesetzesverstöße festzunehmen. Der Wirt bestand auf seinem Auskunftsverweigerungsrecht; er nannte zwar seinen vollen Namen, verweigerte jedoch im übrigen jede Aussage. Als der Polizist ihn abführen wollte, zögerte der Wirt, dem Polizisten nach draußen zu folgen, leistete aber nur geringen Widerstand, weil er die Macht des Polizisten respektierte und fürchtete. Die Leute im Publikum riefen: "Laßt nicht zu, daß er abgeführt wird!" und verließen ihre Tische, um dem Wirt zu Hilfe zu eilen. Ein wildes Handgemenge entwickelte sich. Stühle wurden geschwungen und Drohungen ausgestoßen. Wenn jemand in diesem Augenblick ahnungslos hereingekommen wäre, er hätte es für einen echten Krawall gehalten. Nachdem sie sich gewissermaßen ausgetobt hatten und der Wirt "gerettet" worden war, kehrten die Leute friedlich zu ihren Tischen zurück - mit dem Gefühl, an einem echten Drama teilgenommen zu haben.

Aus dem kleinen Rollenspiel auf der Bühne war ein höchst dramatisches, kollektives Rollenspiel geworden. 125 Leute hatten eine tief bewegende, kathartische Erfahrung gemacht, der ein fast ehrfurchtsvolles Schweigen folgte. Viele hatten sich hart an der Grenze zwischen spielerischer Fiktion und brutaler Realität bewegt, hatten es aber bei allem Engagement geschafft, die kritische Linie nicht zu überschreiten. Niemand hatte die Situation als Entschuldigung für echte Gewalttätigkeit ausgenutzt. In der anschließenden Diskussion wurde überwiegend die Meinung vertreten, daß das kollektive Rollenspiel die Wut zum Ausdruck gebracht habe, die die meisten der Anwesenden gegenüber der Polizei empfanden, aus dem Gefühl der Ohnmacht oder aus Angst vor einer Niederlage jedoch "im richtigen Leben" nicht zu zeigen wagten. Diese Ohnmacht, so meinten sie, führte zu einem Gefühl von Entfremdung, wohingegen die Gelegenheit, die Szene im Rollenspiel auszuleben bei allen ein Gefühl von Gemeinschaft erzeugte.

Als weiteres Beispiel für die engagierte Beteiligung des Publikums war eine Encountersitzung zum Thema Aufruhr und Feindseligkeit. Das Thema war eine Woche zuvor vom Publikum selbst vorgeschlagen worden und wurde mit Begeisterung angegangen. Der Saal war regelrecht überfüllt; die Leute standen noch bis zu fünf Reihen um die mit Tischen bestückte Fläche herum. Drei Rollen sollten gespielt werden: ein Konservativer, ein Gleichgültiger und ein schwarzer Muslime. Schon gleich zu Beginn erwies sich der Konservative als rechtsorientierter Fanatiker. Über Schwarze sprach er voller Verachtung. Für ihn waren sie schmutzig, animalisch und abstoßend. Er warf ihnen vor, im Müll zu hausen, dumm und faul zu sein und zu stinken. Diese beleidigenden Schmähungen vertrat er mit großer Eindringlichkeit. Die Reaktionen waren entsprechend. Einer der anwesenden Schwarzen schoß aufgebracht nach vorne und brüllte den Konservativen wütend an als sei dies kein Rollenspiel mehr, sondern als fühlte er sich unmittelbar und persönlich angegriffen.

Ob dies wiederum nun tatsächlich der Fall oder nur gut gespielt war, kann ich nicht sagen, jedenfalls war die Atmosphäre im Raum voller Spannung. In einem Raum zu sein, in dem jeden Augenblick Gewalttätigkeiten ausbrechen konnten, war faszinierend und angst­einflößend zugleich; aber irgendwie ging doch jeder davon aus, daß es nicht wirklich dazu kommen würde. Gegen Ende der Sitzung kam sogar einer der Schwarzen nach vorne, um sich bei allen Anwesenden zu bedanken, auch bei denen, die sich rassistisch geäußert hatten. Ich versuchte, mit dem Konservativen daran zu arbeiten, welche Gefühle die ihm entgegengebrachte Ablehnung in ihm auslöse. Einen Moment lang war er verwirrt; sollte er nun als Rollenspieler antworten oder als der Mensch, der er wirklich war. Ich bat ihn, bei seiner Rolle zu bleiben, diese aber gegebenenfalls zu verändern, wenn sein Gefühl ihm das nahe lege. Er nahm wieder eine aggressiv-verächtliche Haltung den Schwarzen gegenüber ein und tat so, als ob der heftige Protest aus dem Publikum ihn kalt ließe. Solange er an seine Rolle gebunden war, sah er sich anscheinend genötigt, kompromißlos zu bleiben. Ich nahm das zum Anlaß, ihm selbst und allen anderen deutlich zu machen, daß die Übernahme einer Rolle - auch im "richtigen" gesellschaftlichen Leben - leicht dazu führt, daß man seine Freiheit, seine Individualität und seine Offenheit für das wirklich Gegebene verliert und sich mit einem stereotypen, vorprogrammierten Dasein ohne echte Wahlmöglichkeiten zufrieden gibt. Darin lag für die meisten eine sehr wichtige Erkenntnis.

In der nächsten Sitzung blieben wir bei diesem Thema, besetzten aber die Rollen neu. Wieder ging das Publikum aktiv mit; Probleme, die sich aus dem Mit- und Gegeneinander verschiedener Rassen ergeben, wurden lebhaft diskutiert. So wandte sich eine der Anwesenden, ein junges Mädchen, aufgebracht gegen den Mann, der einen liberalen Spießer spielte, und warf ihm vor, reaktionäre Auffassungen zu vertreten. Es kam zu einem hitzigen Wortgefecht. Er wollte wissen, ob sie denn bereit sei, etwas mit einem Schwarzen anzufangen, was sie bejahte: Na klar, sie habe schon verschiedentlich etwas mit Schwarzen gehabt, und es seien alles durchaus erfreuliche Beziehungen gewesen, meinte sie und wirkte dabei durchaus glaubwürdig und offenherzig. Das erzeugte im Publikum eine höchst positive Resonanz und ermutigte manchen, sich ebenfalls zu äußern, wobei auch die Frage auftauchte, ob Schwarze sich in der Black-Power-Bewegung zusammenschließen sollten. Viele unterstützten diese Idee, insbesondere natürlich die Schwarzen selbst. Die Spannung erreichte einen Höhepunkt als ein junger Weißer erklärte, er sei gegen Black Power; bei einer Anti-Vietnam-Demonstration in New York City habe er nämlich erfahren müssen, wie unduldsam sich die Schwarzen gegenüber ihm und seinesgleichen verhielten. Eine Gruppe von Schwarzen, der er sich anschließen wollte, habe ihm jedenfalls zu verstehen gegeben, daß Weiße bei ihnen nichts zu suchen hätten.

Er erzählte das mit einiger Bitterkeit, und die Unruhe im Raum nahm zu. Nach einigem Hin und Her erhob sich schließlich ein Befürworter der Black-Power-Bewegung - er kletterte sogar auf seinen Stuhl - und bat den jungen Weißen mit sanfter Stimme und in wohlgesetzten Worten um Verständnis dafür, daß es für die Schwarzen wichtig sei, zunächst einmal ein eigenes Selbstwertgefühl, eine eigene Identität aufzubauen. Er habe die Hoffnung, daß die Weißen ebenfalls ihren Weg gingen, so daß sie sich irgendwann in der Zukunft wieder offen und gleichberechtigt begegnen könnten. Soweit aber sei es eben noch nicht, und deshalb bitte er den anderen um Geduld. Dieser Diskussionsbeitrag zeigte eine enorme Wirkung. Durch die Sanftheit, mit der der Sprecher seine Position vertreten hatte, verlor die latente Gewaltbereitschaft, die sich aufgebaut hatte, merklich an Schärfe. Ja, es war so etwas wie eine allgemeine Erleichterung, sogar ein gewisser Optimismus zu spüren. Und damit war die Sitzung zu Ende.

Unser zweites Anliegen bestand darin, die Möglichkeiten einer themenzentrierten Encounter-Gruppe zu erkunden. Üblicherweise wird die themenzentrierte Interaktion in der Gruppentherapie ausdrücklich vermieden; man möchte einer Intellektualisierung vorbeugen, weil diese die persönlichen Erfahrungen der Teilnehmer zu kurz kommen lassen könnte. Auch ich selbst habe immer wieder die Erfahrung gemacht, daß die Behandlung von Themen wie Vietnam, zeitgenössische Architektur, politische Strukturen, aktuelles Weltgeschehen etc. von den meisten Gruppenteilnehmern abgelehnt wird, weil es nichts mit ihrer eigenen Erfahrungswirklichkeit zu tun hat. Das stimmt aber nicht, denn wir alle leben ja in einem gesellschaftlichen Umfeld, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Wenn es gelingt, das auf persönliche und authentische Weise zu tun, z.B. im Hinblick auf den Vietnamkrieg, entsteht eine intensive Gruppendynamik. So beispielsweise infolge der sehr gefühlsgeladenen Äußerungen eines Mannes, dessen eigener Sohn nach Vietnam geschickt werden sollte. Er hielt den Krieg für grundweg falsch, bedauerte die vielen Toten, die er schon gekostet hat, und gestand auch freimütig seine Angst um seinen Sohn ein. In unserem theoriegeleiteten Bestreben, die Aufmerksamkeit unserer Klienten nach innen bzw. auf die unmittelbare Gegenwart zu lenken, haben wir Therapeuten, so fürchte ich, in unseren Gruppen einen Teil der Wirklichkeit amputiert und sie dadurch oft ihrer möglichen Bedeutung beraubt. In unseren Kaffeehaus-Sitzungen ging es uns darum, genau diesen Fehler zu vermeiden und gemeinsame Themen herauszufinden, die Mittel- und Ausgangspunkt des Encounters sein sollten. Die oben vorgestellten Beispiele dokumentieren die Bedeutung themenzentrierten Arbeitens mit einem mehr oder weniger geschlossenen Publikum. Im folgenden geht es um themenzentrierte Encounterarbeit auf kommunaler Ebene. Das Thema lautete: Hippies und Bürgerliche.

Wir hatten eine Gruppe sogenannter "bürgerlicher Leute" gebeten, an unserer Sitzung teilzunehmen. Diese Leute, die einer anderen Cafészene in Cleveland angehörten, standen den Hippies durchaus aufgeschlossen gegenüber, führten aber ihrerseits ein wohl geregeltes Leben, trugen konventionelle Kleidung, hatten normale familiäre Beziehungen und feste Jobs. Außer diesen ausdrücklich eingeladenen kamen auch noch andere "Bürgerliche" zu unserem Treffen. Schließlich kamen mindestens so viele sogenannte "Bürgerliche" wie "Hippies".

Die Sitzung begann zunächst recht verhalten, aber schon bald beschuldigte einer der Hippies die Bürgerlichen ziemlich unverblümt, sich zu sehr zurückzuhalten. Er hieß Jack und ging richtig in die vollen. Mit Klischees um sich zu werfen, schien ihm Vergnügen zu machen. Den Bürgerlichen gefiel das überhaupt nicht; dennoch blieben sie ruhig, zumal Höflichkeit und Toleranz zu ihrem Selbstverständnis gehörten; außerdem fühlten sie sich von Jacks plötzlicher und massiver Attacke anscheinend überrumpelt. Das änderte allerdings nichts daran, daß "Hippies" und "Bürgerliche" sich jetzt mit einer gewissen Feindseligkeit gegenüberstanden. Grundsätzlich stimmten zwar alle darin überein, daß stereotype Etikettierungen wenig hilfreich seien und eigentlich jeder der Anwesenden als Individuum wahrgenommen werden sollte. Nichtsdestoweniger bildeten sich klar erkennbar zwei Parteien, die einander voreingenommen und ablehnend gegenüberstanden. Einige der Bürgerlichen waren dann irgendwann sogar so aufgebracht, daß sie erregt aufstanden und erklärten, sie hätten die Vorurteile, mit denen Jack und seine Kumpels ihnen begegneten, satt; man möge in ihnen gefälligst die wirklichen Menschen sehen, die sie seien, und nicht einfach Angehörige einer bestimmten gesellschaftlichen Szene. Als besonders unverschämt wurde Jacks Behauptung empfunden, sie, die "Bürgerlichen", seien doch nur hergekommen, um endlich mal ihrem langweiligen Alltag zu entfliehen. Weitere Provokationen schlossen sich an. Die Bereitschaft, sich wirklich für "die anderen" zu interessieren, ihnen Fragen zu stellen und zuzuhören, war also zunächst gering - jedenfalls auf Seiten der Hippies. Man meinte halt, auch so schon zu wissen, mit wem man es zu tun habe.

Nach und nach aber kam es zu Veränderungen. Im Hippie-Lager regte sich Widerspruch gegen Jacks Konfrontationskurs. Man sei durchaus an den Bürgerlichen interessiert, hieß es, und mit diesen respektlosen Attacken komme man doch nicht weiter. Ein Hippie-Mädchen meinte, sie und ihresgleichen sähen in den Bürger­lichen wohl gewissermaßen ihre Eltern, deren Verständnis sie sich wünschten, von denen sie sich aber abgelehnt fühlten. Ihr eigener Vater jedenfalls wolle von ihrer Lebenseinstellung nichts wissen und würde auch nie im Leben in ein solches Café gehen. Sie sei froh darüber, daß auch "bürgerliche" Leute hergekommen seien. Diese Feststellung fand ein breites Echo. Nicht wenige Angehörige der Hippieszene empfanden die Möglichkeit, sich mit "gestandenen" Leuten außerhalb ihrer eigenen Subkultur auszutauschen, als echte Bereicherung. Ein Mädchen ließ sogar durchblicken, daß sie eigentlich gar keinen unüberbrückbaren Gegensatz erkennen könne. So wie sie die Bürgerlichen verstehe, hätten diese in jüngeren Jahren doch oft ähnliche Ansichten vertreten wie sie selbst und ihresgleichen.

Dieser Erfolg ermutigte uns, in den folgenden Sitzungen weiterhin themenzentriert zu arbeiten, natürlich unter Einbeziehung des Publikums. "Psychedelische Drogen", "Möglichkeiten der Veränderung", "Hippies und Lehrer", "Hippies und Schule", "Sex zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Rassen", "Wehrdienstverweigerung", "Die Bedeutung von Krieg", "Vernünftiger Umgang mit Geld", "Liebe und Sex", "Rebellion und Feindseligkeit", "Gesellschaft und Religion" und "Wie kann ich mich anderen verständlich machen?" - all diese Themen und weitere mehr führten zu lebhaften Auseinandersetzungen, die häufig mit beträchtlicher Aggressivität geführt wurden, aber gerade die Aggressivität und Direktheit machte die Sitzungen auch lebendig. Weitschweifige Intellektualität rief Langeweile hervor und mündete schließlich in Ungeduld und Nervosität. Je authentischer die Beiträge und Äußerungen waren, desto stärker wurde das Gefühl, eine echte Gemeinschaft zu sein.

Das dritte Anliegen, um dessen Beachtung wir uns während unserer Kaffeehaus-Sitzungen bemühten, war es, insbesondere solche Probleme durchzuarbeiten, die charakteristisch für die Szene zu sein schienen. So ging es beispielsweise einmal um das Unvermögen, mit Außenstehenden in ein wirkliches Gespräch einzutreten. Zwei Wochen zuvor war es zu einem leidenschaftlichen Encounter zum Thema Religion gekommen, an dem auch eine Reihe von Mitgliedern verschiedener Kirchen teilgenommen hatten. Ich eröffnete den Abend mit dem Vorschlag, daß das Thema noch einmal aufgenommen werden sollte, da es seinerzeit nicht wirklich habe abgeschlossen werden können.

Einer der Hippies reagierte darauf und sagte, daß er nicht an Gott glaube und das Thema für ihn deshalb belanglos sei. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß seine Unterstellung, Religion sei gleichbedeutend mit einem Glauben an Gott, voreilig sei. Dennoch bestand er darauf, daß Religion doch nur ein großer Schwindel sei, der darauf abziele, Menschen gefügig zu machen, und damit, so meinte er, wolle er nichts zu tun haben. Offensichtlich war er nicht der einzige, der das so sah. So etwas wie ein aggressives Desinteresse war zu spüren und die unterschwellige Aufforderung, dieses "überflüssige" Thema doch lieber fallen zu lassen. Aber ein paar aktive Beiträge gab es schon, die sich nicht so sehr mit der Frage nach Gott, sondern eher mit Fragen nach Sinn, nach persönlichen Zielen und Wünschen usw. beschäftigten. Einer meinte beispielsweise, seine eigene Religion basiere nicht auf dem Glauben an Gott, sondern auf einem Gespür für das moralisch Gebotene, und dieses Gespür erwachse aus ihm selbst. Immer wenn er das Gefühl habe, sich richtig zu verhalten, meinte er, entspreche er den Geboten seiner ur­eigenen Religion; mit Gott oder konventionellen Moralvorstellungen habe das gar nichts zu tun. Als ich wissen wollte, wann er denn beispielsweise diese Übereinstimmung mit sich selbst empfunden habe, antwortete er, daß das z.B. gerade in diesem Moment der Fall sei. Dabei lächelte er, und seine ganze Ausstrahlung zeugte davon, daß seine Erklärung authentisch und nicht aufgesetzt war. Eine Gruppe von ca. zehn Leuten, die gemeinsam an einem Tisch saßen, interessierte das allerdings überhaupt nicht. Alle paar Minuten blödelten sie herum, machten abfällige Bemerkungen oder kapselten sich demonstrativ ab. Gerade dadurch erregten sie allerdings mein besonderes Interesse. Wenn die Diskussion wirklich Sinn machen und dem Zweck der Veranstaltung entsprochen werden sollte, mußten auch sie eingebunden werden. Deshalb war es wichtig, daß wir uns ihrem Desinteresse und ihrer Unruhe zuwandten.

Bei den übrigen Anwesenden lösten diese Störenfriede zunehmend Ärger aus. Schließlich erhob sich eine Frau und forderte laut­stark etwas mehr Höflichkeit und Engagement ein. Sie erwarte, daß man ihr gefälligst zuhöre, wenn sie etwas zu sagen habe. Einer der Störenfriede wies das als streitsüchtiges Gehabe zurück; auf so etwas stehe er nicht. Es wurde immer deutlicher: Sich an einem normalen Gespräch zu beteiligen, fiel diesen Leuten außerordentlich schwer; ihnen ging es eigentlich nur um emotionsschwangere Auseinandersetzungen.

Einer der Anwesenden versuchte, eine Brücke zu schlagen, indem er den Corpsgeist der gesprächsunwilligen Zehnergruppe pries; untereinander verstünden sie sich ja wohl prächtig; auch das könne ein Ausdruck von Religion sein. Dem widersprach allerdings ein Geistlicher. Nein, mit Religion habe diese asoziale Cliquensolidarität nun wirklich nichts zu tun.

Nachdem verschiedene Redner ihre Meinung geäußert hatten, warf einer aus der umstrittenen Clique ein, das allermeiste, was da gesagt worden sei, sei nichts als unehrliches Gelabere; von echter Kommunikation könne doch überhaupt keine Rede sein. "Make it, don't fake it", war sein Slogan. Das reichte mir; ich wurde richtig wütend und schoß entschieden zurück. Kommunikation mit Leuten, die nicht mit den eigenen Sichtweisen und Vorurteilen über­einstimmen, donnerte ich, sei nun mal ein mühseliges Unterfangen. Ihre Weigerung, einmal über den Tellerrand hinauszublicken, und ihre dämlichen Kommentare zu allem und jedem, was ihnen nicht in den Kram passe, nerve mich einfach nur noch. Ich verließ sogar die Bühne und ging aufgebracht auf sie zu. Interessanterweise waren sie jetzt auf einmal ganz Ohr. Sie ließen mich Dampf ablassen und entschuldigten sich dann gewissermaßen mit der Feststellung, daß Religion nun mal nicht ihr Thema sei. Das hätten sie doch von Anfang an gesagt. Warum wir nicht lieber über Randale reden würden. Die emotionale Situation im Raum veränderte sich schlagartig. Jemand äußerte sich aggressiv gegen die Weißen. Schon bald kochten die Gefühle über, und wir waren wieder mitten in einer der ­üblichen Encountersitzungen. Jeder vertrat rechthaberisch seinen Standpunkt, ohne daß es allerdings zu körperlicher Gewalt kam, wodurch wieder mal eine Menge Aggressivität einigermaßen schadlos abgelassen werden konnte. Wenn auch auf der argumentativen Ebene kein Konsens erreicht worden war - irgendwie hatte schließlich jeder das Gefühl, Teil einer lebendigen Gemeinschaft zu sein.

Literatur:

Buber, Martin (1945). Pfade in Utopia, Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung, Heidelberg: Lambert Schneider, 1985.

Bugental, James F. T. (1965). The Search for Authenticity. New York: Holt, 1965.

Laing, Ronald D. (1961). Das Selbst und die Anderen. München: DTV, 1989.

Perls, Friedrich S. / Hefferline, Ralph / Goodman, Paul (1951). Gestalttherapie. Deutsch in zwei Bänden: Gestalttherapie. Praxis (zitiert als 1951a), sowie Gestalttherapie. Grundlagen (zitiert als 1951b), München: DTV, 1992.

Tillich, Paul (1952). Der Mut zum Sein. Berlin: de Gruyter, 1991.

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Foto: Erving Polster

Erving Polster

Erving Polster, Ph.D., gehört zu den bekanntesten Gestalttherapeuten der Welt. Vor fast 30 Jahren veröffentlichte er - gemeinsam mit seiner 2001 verstorbenen Ehefrau Miriam - das Grundlagenwerk "Gestalttherapie. Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie" (als erweiterte Neuauflage 2001 in unserer Edition des Gestalt-Instituts Köln im Peter Hammer Verlag erschienen).

Doch schon weit länger ist er - u.a. im Rahmen des Gestalt Training Center, San Diego/Kalifornien - als Gestalttherapeut und Ausbilder tätig.

Aus seiner intensiven Therapie- und Lehrtätigkeit sind zahlreiche weitere Veröffentlichungen hervorgegangen - so auch die folgende Sammlung seiner Artikel zur Praxis der Gestalttherapie - wieder gemeinsam mit seiner Ehefrau: "Das Herz der Gestalttherapie. Beiträge aus vier Jahrzehnten" (erschienen 2002 ebenfalls in unserer Edition).

Der obige Artikel ist zuerst erschienen unter dem Titel "Encounter in Community" in: Arthur Burton (Hg.), Encounter, San Francisco: Jossey Bass, 1969. Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg. Jetzt in: Erving und Miriam Polster, Das Herz der Gestalttherapie: Beiträge aus vier Jahrzehnten.

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