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Fritz Perls:

Was ist Gestalttherapie?
Ein fast vergessenes Interview

von Adelaide Bry

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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 Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 2-1996):

Foto: Fritz Perls, Mitbegründer der GestalttherapieFritz Perls

 

 

Fritz Perls:

Was ist Gestalttherapie?

Ein fast vergessenes Interview

von Adelaide Bry

 

Hinweis:
Fritz Perls: Autobiographische Stichworte (deutsche Erstveröffentlichung)

 

Etliche Briefe, viele Faxe und noch viel mehr Telefonate über den Atlantik und zurück. Und dann endlich hatten wir den Rechte-Inhaber dieses Interviews ausfindig gemacht. Ein erstes freundliches Telefongespräch mit Max Gartenberg, der nach dem Tod von Adelaide Bry die Rechte ihrer Familie vertritt. Und dann - die Abdruckerlaubnis.

Aufregend, dieses historische Dokument zum ersten Mal den deutschen Leserinnen und Leser präsentieren zu können. Übersetzt von Ludger Firneburg.

Dank an dieser Stelle besonders an Max Gartenberg und auch an Joe Wysong vom Gestalt Journal in den USA, der uns hilfreiche Informationen gab.

Das Interview ist undatiert. Wahrscheinlich entstand es Ende der 60er Jahre.

Ob Adelaide Bry nach diesem Interview wirklich von ihrer Flugangst "geheilt" war, konnten wir allerdings nicht in Erfahrung bringen.

Der Herausgeber.

P.S. Gerne weisen wir Sie an dieser Stelle auf das Buch "Was ist Gestalttherapie?" von Fritz Perls hin. Es wurde von Anke und Erhard Doubrawa in der Edition des Gestalt-Instiuts Köln / GIK Bildungswerkstatt im Peter Hammer Verlag herausgegeben.

 

Das Interview

 

Bry: Dr. Perls, was ist Gestalttherapie?

Fritz! All das Diskutieren, Reden und Erklären erscheint mir unwirklich. Ich hasse es, zu intellektualisieren, Sie nicht?

Bry: Manchmal, aber ich möchte Sie interviewen. Ich würde gerne etwas über Gestalttherapie erfahren. Also...

Fritz! Lassen Sie uns etwas anderes versuchen. Sie sind die Patientin. Seien sie echt, keine Intellektualisierungen mehr.

Bry: Nun gut, wenn Sie meinen, versuch ich's. Ich versuche, die Patientin zu sein. Also, was ich sagen würde ist folgendes:

"Dr. Perls, mein Name ist Adelaide, und ich komme zu ihnen als Patientin. Ich bin depressiv und ich habe diese körperliche Angst vorm Fliegen. Meine Hände werden feucht und mein Herz schlägt schneller." - Was nun?

Fritz! Innerhalb von fünf Minuten werde ich Sie von Ihrer körperlichen Flugangst befreien.

Bry: Oh, wirklich? Sehr gut. Wie wollen Sie das anstellen?

Fritz! Schließen Sie Ihre Augen. Steigen Sie in das Flugzeug. Vergegenwärtigen Sie sich, daß sie nicht in einem richtigen Flugzeug sitzen, es geschieht nur in Ihrer Phantasie. Die Phantasie wird Ihnen helfen zu sehen, was Sie beim Fliegen erleben.

Bry: Mein Herz beginnt, schneller zu schlagen...

Fritz! Lassen Sie Ihre Augen geschlossen...

Bry: Gut.

Fritz! Ihr Herz beginnt, schneller zu schlagen, ... erzählen Sie weiter.

Bry: Ich sehe den Rücken des Piloten da vorne, und ich bin mir nicht sicher, ob er der Situation gewachsen ist.

Fritz! Gut. Stehen Sie auf und sagen ihm das.

Bry: Ich tippe ihm auf die Schulter. Er dreht sich um. Ich sage: "Halten Sie die Straße im Auge?" Er stößt mich weg und ich gehe zurück auf meinen Platz.

Fritz! Gehen Sie nicht zurück auf Ihren Platz. Wechseln Sie den Platz. Sie sind jetzt der Pilot.

(Dr. Perls bat mich, mich auf einen Stuhl gegenüber von meinem zu setzen. Bei jedem Rollenwechsel wechselte ich auch den Platz.)

Bry: Ich bin der Pilot. Was macht diese Frau hier, sie stört mich. Verlassen Sie das Cockpit und kehren Sie auf Ihren Platz zurück. Ich weiß was ich tue.

Fritz! Ich glaube Ihrer Stimme nicht. Achten Sie auf Ihre Stimme.

Bry (als Pilot): Entschuldigen Sie bitte, es tut mir leid, es tut mir wirklich schrecklich leid, aber wir wissen, wie man dieses Flugzeug fliegt. Würden Sie bitte zu Ihrem Platz zurückgehen. Alles ist in bester Ordnung und völlig unter Kontrolle.

Fritz! O.K., wie heißen Sie, Adelaide? - Adelaide.

Bry (als Adelaide): Ich möchte ja zu meinem Platz zurückgehen, aber ich bin so aufgebracht über dieses Flugzeug; ich mag es nicht, vom Boden abzuheben. Ich mag es nicht, in zehntausend Metern Höhe zu sein, das ist unnatürlich.

Fritz! O.K., jetzt sind Sie die Autorin; schreiben Sie das Script.

Bry (als Pilot): Hören Sie, wir tun unser Bestes, wir sind auch Menschen. Sehen Sie, dieses Flugzeug kostet fünf Millionen Dollar und wurde von Pan American geprüft. Wenn es etwas gibt, das wir mögen, dann ist das Geld. Jedesmal wenn ein Flugzeug abstürzt verlieren wir Geld, und wir verlieren Leute. Das ist sehr schlecht für unser Ansehen, und wir tun alles Erdenkliche, um dieses Flugzeug in der Luft zu halten. Wenn wir hin und wieder einen Fehler machen - mein Gott - das kommt eben vor, und in dieser Welt muß man eben manchmal was riskieren. Bis jetzt hatten wir noch keinen einzigen Transatlantikunfall. Ist Ihnen das klar?

Bry (als Adelaide): Aber ich - wenn mir die Reise nach London zum Verhängnis wird, wenn ich mitten über dem Atlantik abstürze. Aber, naja, ich würde nicht alt werden, mir würden eine Menge schrecklicher Dinge erspart bleiben; vielleicht wäre es gar nicht so schlimm.

Bry (als Pilot): Hören Sie, gute Frau, das ist keine Art, die Dinge zu sehen, wenn man Urlaub macht. Das ist total töricht.

Fritz! Sagen Sie das nochmal.

Bry (als Pilot): Sie sind völlig bescheuert, total dumm... töricht, töricht, töricht, töricht, Verdammt nochmal. Ich verdiene damit mein Geld; selbst wenn ich im Jahr fünfzigtausend verdiene - ich kann was anderes machen. Jeden Tag - nein, nicht jeden Tag, aber vierzehn Tage lang jeden Monat verdiene ich hier mein Geld und sie sind eine törichte Frau.

Bry (als Adelaide): Ich weiß bereits, daß ich blöd bin. Das war ein Scherz, ich weiß, daß ich dumm bin. Wissen Sie - ich muß es Ihnen erzählen - ich habe sogar Flugstunden genommen. Ich habe Flugstunden genommen, um etwas gegen die Angst zu unternehmen, in kleinen Piper Cubs.

(A.d.Ü.: Piper Cub ist eine kleine amerikanische Propellermaschine)

Fritz! Erzählen Sie das nicht mir ...

Bry (als Pilot): Piper Cubs, oh, Piper Cubs, ja? Piper Cubs, das ist wohl ein Scherz. Sie befinden sich in einer Boeing 707, Piper Cubs. Die beiden haben nichts miteinander zu tun. Ich schlage vor, daß Sie wieder auf Ihren Platz gehen und mich hier arbeiten lassen ...

Fritz! Ich schlage etwas anderes vor. Übernehmen Sie das Flugzeug. Setzen Sie sich auf den Pilotensitz.

Bry (als Adelaide): Oh, großartig. Ich liebe es, die Dinge unter Kontrolle zu haben.

Fritz! Erzählen Sie das nicht mir, sagen Sie ihm das.

Bry (als Adelaide): Hören Sie zu. Mit nur einer Hand fliege ich diese Maschine noch besser als Sie. Es gibt hier ein paar kleine Details und technische Feinheiten, die Sie kennen, aber ich könnte das in ein paar Monaten lernen. Ich bin intelligent genug dafür; also setzen Sie sich zurück auf meinen Platz und lassen Sie mich das hier machen.

Fritz! Sagen Sie das nochmal: "Lassen Sie mich das hier machen."

Bry: Lassen Sie mich das hier machen.

Fritz! Nochmal.

Bry: Lassen Sie mich das hier machen.

Fritz! Sagen Sie es mit Ihrem ganzen Körper.

Bry: Lassen Sie mich das hier machen.

Fritz! Jetzt sagen Sie es zu mir: "Fritz, lassen Sie..."

Bry: Fritz, Lassen Sie mich das hier machen.

Fritz! Nochmal.

Bry: Lassen Sie mich das hier machen.

Fritz! Haben Sie etwas gelernt?

Bry: Ja, das bin ich - leider.

Fritz! Das war ein kleines Stück Gestalttherapie.

Bry: Faszinierend.

Fritz! Das war ein Beispiel dafür, daß wir nicht analysieren, sondern integrieren. Sie haben das Muster geliefert, einige Ihrer dominierenden Bedürfnisse; und ich helfe Ihnen, sie für sich zurückzugewinnen. Jetzt fühlen Sie sich ein wenig stärker.

Bry: Das stimmt, ja.

Fritz! Das ist Gestalttherapie.

Bry: Ich verstehe. Funktioniert Gestalt immer so?...Ich habe gestern Ihre Demonstration gesehen. Arbeiten Sie immer mit der Technik, die Leute Rollen und Stühle wechseln zu lassen, um einen bestimmten Aspekt zu betonen?

Fritz! Immer dann, wenn ich Polaritäten erkenne, ja; wenn wir es mit zwei Gegensätzen zu tun haben. Sie werden bemerken, daß diese Gegensätze im Streit miteinander liegen. Pilot und Passagier sind Feinde. Sie sind Feinde, weil sie einander nicht zuhören. In unserem Fall - in diesem Dialog - nehmen Sie diesen anderen Teil, der Sie verfolgt, der außerhalb von Ihnen zu sein scheint, wahr und erkennen, daß er zu Ihnen gehört, daß Sie das sind. Dadurch nehmen Sie diese Gefühle zu sich zurück, Sie re-assimilieren einen Teil Ihrer dominierenden Bedürfnisse.

Bry: Nun, damit ich das wirklich ganz verstehe: Müßten wir diesen Prozeß zwanzig mal oder zwanzig Jahre lang durchgehen, oder würden wir vielleicht ein Jahr daran arbeiten, damit es ganz zu mir zurückkehren könnte?

Fritz! Nein, nein, nein. Ich muß Ihnen erzählen, was ich gestern schon sagte: Ich habe eine Lösung gefunden. Sie brauchen nicht zwanzig Jahre auf der Couch zu verbringen oder jahrein-jahraus Therapie zu machen. Das ganze dauert vielleicht drei Monate. Von der Neurose zur Authentizität. Die Lösung liegt in der therapeutischen Gemeinschaft, wo wir zusammenkommen, zusammen arbeiten und zusammen Therapie machen. Der Kernpunkt der Therapie ist, daß wir lernen, uns unseren Gegensätzen zu stellen. Wenn Sie einmal gelernt haben, wie Sie das machen können, fällt es Ihnen beim nächsten Mal vielleicht leichter. Wenn ich Ihnen also ein Beispiel dafür gebe, was bei vielen Menschen der am häufigsten vorkommende Gegensatz ist, können Sie sehen, was sich daraus ergibt. Der am häufigsten vorkommende Gegensatz ist der zwischen Topdog und Underdog. Von hier aus gehen wir die Sache an.

Bry: Gut.

Fritz! Also, der Topdog sitzt hier in diesem Stuhl. Der Topdog beginnt: "Adelaide, du solltest..."

(Wieder wechsle ich Rollen und Stühle)

Bry (als Topdog): Adelaide, du solltest... - du solltest jeden Morgen um sieben Uhr aufstehen. Iß nicht zuviel. Mach deine Übungen. Arbeite effektiv. Setz' dich morgens um acht an die Schreibmaschine.

Fritz! Verstärken Sie das.

Bry (als Topdog): DU SOLLTEST JEDEN MORGEN UM ACHT AN DER SCHREIBMASCHINE SITZEN.

Fritz! Bemerken Sie, daß Sie sich immer noch 10 cm von ihr fernhalten?

Bry (als Topdog): Oh, ich mach' dich fertig ... Ich mach' dich fertig, weil du nicht in jeder Hinsicht ein effektives Leben lebst. Du bist voller Konflikte, du bist voller Müll, du bist eine schlechte Mutter.

Fritz! O.K., wechseln Sie die Plätze. Sie sind der Underdog.

Bry: Ich bin sehr bedürftig. Ich schaffe es nicht allein. Ich brauche einen Mann an meiner Seite, allein bin ich dem nicht gewachsen.

Fritz! Gut, schreiben Sie das Script.

Bry (als Underdog): Er ist nicht perfekt (O.K., das bin ich auch nicht). Er ist hier und ich mag ihn sehr, aber wenn ich ihn heirate, bin ich nicht mehr frei.

Fritz! Sind Sie sich dessen bewußt, daß der Underdog in die Verteidigung geht?

Bry: Ja.

Fritz! Haben Sie das wahrgenommen? Jedesmal wenn Sie den Platz wechseln, kreuzen Sie die Beine und quetschen Ihre Genitalien ein, und in diesem Moment verschließen Sie sich völlig.

Bry: Wenn ich der Topdog bin?

Fritz! Ich weiß nicht. In diesem Augenblick - seien Sie sich einfach bewußt, daß Sie völlig verschlossen sind. Sprechen Sie noch einmal als Topdog.

Bry (als Topdog): Gut. Du bist ein süßes kleines Mädchen, aber du entwickelst dein Potential nicht, und du hast Probleme, weil du Angst hast, ein unabhängiger Mensch zu sein. Du hast genug Elend gesehen: wie gestern abend in der Encountergruppe (bei einem Psychologenkongreß in Washington, D.C.). Du siehst doch, wieviel Angst die Leute vor sich selbst haben, und vor Beziehungen, und du hast dieses Problem nicht... Es wäre alles in Ordnung, wenn du nur wüßtest, wie du es anstellen sollst. Du hast nicht mal halb soviel Angst wie all die anderen Leute hier. Du bist zwanzig mal darüber hinaus und hast Angst, in die Rolle zu schlüpfen. Diese Leute sind wie ängstliche kleine Mäuse, und das bist du nicht.

Fritz! Bemerken Sie, daß der Topdog sich verändert und jetzt versucht, sich zu rechtfertigen und zu überzeugen?

Bry: Ja. Ich weiß, daß ich wahrscheinlich eine Menge mehr verstanden habe als...

Bry (als Underdog): Du kannst mich nicht dazu bringen, etwas zu tun, das ich nicht tun will. Das kannst du nicht. Das kannst du nicht.

Fritz! Sie sind dabei, gehässig zu werden; Sie verteidigen sich.

Bry (als Topdog): O.K. Wenn du nicht willst, willst du nicht. Du brauchst diesen ganzen gottverdammten Mist, den du glaubst erreichen zu müssen, nicht zu erreichen. Geh' einfach deinen Weg und sei wer du bist. So, du dachtest einmal, du würdest eine gute Schriftstellerin werden, aber dir fehlte das Wichtigste, was eine Schriftstellerin braucht, nämlich die Fähigkeit, acht Stunden am Tag alleine auf deinem Hintern zu sitzen. Und wenn du diese Fähigkeit nicht hast, dann hast du sie eben nicht. Wen interessiert das schon? Nun ja, es ist schon irgendwie bedauerlich, aber ich bedaure es nicht mehr so sehr, weißt du. So weit war es ja ganz interessant. Es hat Spaß gemacht. Was auch immer...

Fritz! Was machen Sie mit Ihren Händen?

Bry: Hmmm? Ist das zweideutig? Ich möchte sie irgendwie gebrauchen, ich möchte sie für irgendwas gebrauchen. Vielleicht, puh... ich glaube ich möchte damit schreiben - auf einer Schreibmaschine. Ich möchte sie gebrauchen.

Fritz! Warum?

Bry (als Underdog): Anerkennung, verstehen Sie. Liebe und Anerkennung. Sie sind der große Papi, und ich möchte, daß Sie sagen: "Adelaide, Sie sind großartig. Wirklich. Sie sind einfach außergewöhnlich. Sie sind verdammt gut."

Und, puh... das ist alles, was man als Mensch auf dieser Erde braucht. Vernünftig genug zu sein, etwas Liebe und Anteilnahme zu bekommen und finanziell zu überleben. Darauf läuft es hinaus.

Fritz! Wechseln Sie jetzt die Rollen.

Bry (als Topdog): Was du da sagst, ist nicht alles. Du mußt dich mal auf etwas einlassen. Du kannst dich nicht zurücklehnen und einfach dasitzen. O.K. Du möchtest dich einlassen, dann tu's. Es ist nicht so schwer. Es gibt tausend Möglichkeiten, dich zu engagieren. Tu es und sieh, was passiert.

Fritz! Es scheint, als ob Sie anfingen, eine Erfahrung zu machen.

Bry: Ja. Meine Erfahrung ist, daß ich einen Konflikt hervorbringe, obwohl es an diesem Punkt eigentlich keinen Konflikt geben müßte. Ich stelle den Konflikt her.

Fritz! Ich verstehe. Gut, dann lassen Sie uns sehen, wie wir das lösen können. Nörgeln Sie weiter und hören Sie diesen Underdog ...

Bry (als Topdog): Gut. Tu's, mach's. Mach es. Steh auf und mach es. Den Letzten beißen die Hunde. Vergiß die Vergangenheit. Was auch immer gewesen sein mag, es ist vorbei, und du solltest zu etwas Neuem übergehen. Das ist alles. Es ist an der Zeit, weiterzugehen. Es ist Zeit, durch diese verdammte Sackgasse durchzugehen. An diesem Punkt warst du schon vierzig mal. Du hast eine Million Erfahrungen gemacht; geh da durch. Du weißt es. Du weißt mehr als die Hälfte der Leute, die gestern auf der Bühne standen. Du hast Fritz Perls verstanden, und zwar sehr gut. Sehr gut. Du hast die ganze Sache kapiert, das hättest du vor fünf Jahren nicht. O.K. Fuck you. Fuck you. Fuck you.

Fritz! (Underdog) Wie kannst du so etwas zu mir sagen?

Bry (als Underdog): Wie kannst du so etwas zu mir sagen? Ich bin für dich verantwortlich. Für die nächsten dreißig Jahre werde ich herumsitzen, mich selbst bedauern und sonst nichts tun. Und sag mir nicht, was ich zu tun habe. Tu das ja nicht.

Bry: Ich habe die Rollen durcheinander geworfen, ich bin durcheinander.

Fritz! Weil die Rollen vermischt sind.

Bry: Das stimmt. Ich will nichts tun. Ein Teil meiner glühenden Freude am Leben ist verschwunden, und jetzt suche ich danach und kann sie nicht finden. Und ich weiß nicht, welcher Funke sie wieder zum Leben erwecken könnte.

Fritz! Gut.

Bry: Ich weiß nicht. Das Ego ist mir völlig egal. Ich weiß nicht.

Fritz! Gehen Sie zurück zu dem Platz und machen Sie es nochmal.

Bry: Gut. Fuck you. Fuck you.

Fritz! Setzen Sie Ihre Stimme in den Stuhl. Sprechen Sie zu Ihrer Stimme.

Bry: Meine Stimme in den Stuhl setzen? Meine Stimme ist wunderbar. Ich habe schon eine Radiosendung gemacht.

Du bist eine sehr schöne Stimme. Du bist lebendig, du bist interessant. Es ist eine wunderschöne, leise, intelligente... Diese Stimme zeigt Hintergrund, Erziehung. Eine exzellente Stimme. Und nicht nur das, sie hat dich weit gebracht im Leben. Denn diese Stimme - wenn du mit dieser Stimme zu Leuten sprichst - diese Stimme führt sofort. Die Leute hören dir zu, weil sie diese Qualität von...- (die Stimme verändert sich) Die Stimme ist kontrolliert.

Fritz! Ich bin kontrolliert.

Bry: Ich bin kontrolliert. Ich bin die Stimme, die Stimme...

Fritz! Ich bin die Stimme.

Bry: Oh, das bin ich. Ich bin die Stimme, nicht wahr?

Fritz! Seien Sie Ihre Stimme.

Bry: Ich bin kontrolliert. Ich weiß, das ich diese Rolle spiele. Ich weiß, daß ich das kann. Ich habe Spaß daran. Ich weiß, was ich mit dir, meine Stimme, machen kann. Ich weiß sie einzusetzen, wenn ich das will. Nein...?

Fritz! Sie werden nicht zu Ihrer Stimme. Ich kontrolliere dich, betöre dich.

Bry: Ich kontrolliere dich?

Fritz! Ich betöre dich.

Bry: Ich betöre dich. In gewisser Weise entziehe ich dich der Wirklichkeit. Ich halte dich von meiner wirklichen Natur fern, weil ich dein ganzes Leben lang eine so nützliche Waffe für dich war. Durch mich hast du deinen Ärger kontrolliert. Gleichzeitig habe ich dir geholfen, zu bekommen, was du wolltest. Hierfür bin ich gut, und dafür. Das bin ich wirklich.

Fritz! Lassen Sie uns folgendes versuchen. Ich bin der größte Manipulator...

Bry: Oh, ja. Ich bin der größte Manipulator. Aber ich muß ausgerechnet hier sitzen. Ich bin der schlechteste Manipulator der Welt, weil nach einer Weile jeder die Manipulationen durchschaut. Anfangs nicht, aber nach einer Weile durchschauen sie mich. Ich glaube, ein Spiel spielen zu können, das niemand sonst erkennt, aber sie durchschauen mich. Und ich bemerke es nicht. Das ist der törichte Teil.

Fritz! Verändern Sie nicht Ihre Stimme.

Bry: Wehe mir. Wehe mir. Wehe mir. Wehe mir. Wehe mir. Und hör auf mit dem dummen Selbstmitleid. Wehe mir.

Fritz! Mehr Mitleid, mehr.

Bry: Adelaide, du tust mir leid, aber ...

Fritz! Seien Sie sehr bekümmert.

Bry: Du tust mir leid und ich bin bekümmert, weil Gott dir viel gegeben hat und du bisher noch nicht allzuviel daraus gemacht hast. Das hast du einfach nicht. Das hast du wirklich nicht. Du tust mir leid, weil du nicht standhältst. Oh, du hast oft standgehalten, aber es hätte mehr sein können.

Fritz! Was hören Sie?

Bry: Ein kleines Mädchen, das sich rechtfertigt.

Fritz! Wie alt?

Bry: Ich komme immer auf neun. Da war etwas mit neun.

Fritz! Nochmal.

Bry: Oh, du tust mir leid, Adelaide, wegen dieser einfältigen Familie und all dem Geschrei in meinen Ohren.

Sie haben meine Ohren ruiniert. Ich konnte nicht mehr zuhören. Es gab so viel Geschrei. Ich konnte es nicht mehr hören. Ich verschloß meine Ohren - und mich selbst.

Doch jetzt ist es Zeit, deine Ohren wieder zu öffnen, denn niemand schreit mehr. Und deiner Kindheit hinterher zu hängen ist so unbefriedigend.

Ich bin es müde, darüber nachzudenken; es interessiert mich nicht.

Wenn es dich wirklich nicht mehr interessiert, brauchst du nur die Ohren zu öffnen und zuzuhören. Das ist alles. Hör einfach hin. Horch in die Welt hinein. Höre die Musik. Höre. Vielleicht ist das schon alles.

Fritz! Sprechen Sie mit Ihren Ohren.

Bry: Meine Ohren. Diese Ohren sind ... meine Ohren sind zu. Ich bin meine Ohren und ich bin verschlossen und höre nichts. Ich habe alles ausgeschlossen. Ich will nicht hören. Ich höre nur eines, höre dieses schreckliche Geschrei ... all diese grausigen, scheußlichen Menschen in meiner Familie - mit Ausnahme dieses wundervollen Vaters. Konnte ich ihn hören? Nein, ich konnte niemandem zuhören.

Fritz! Ihr Vater?

Bry: Er war bemitleidenswert, aber nett.

Fritz! Sprechen Sie zu ihm.

Bry: Ich wünschte, ich hätte dich mehr geliebt als du noch hier warst. du warst ein liebenswerter Mann, intelligent - gelehrt, und ich habe nicht auf dich gehört. Ich habe dir nicht zugehört. Ich habe dir überhaupt nicht zugehört. Ich würde gerne. Wenn meine Kinder dich nur hören könnten. Sie haben keinen Vater, dem sie zuhören könnten.

Hör auf mit dem Selbstmitleid. Sie haben andere zum Zuhören. Sie leben in einer völlig anderen Umgebung.

Fritz! Was hören Sie?

Bry: Eine Mischung. Ich höre eine Mischung aus ihm und dem Geschrei - beides.

Fritz! Was hören Sie?

Bry: Ich höre, wie das Tonband die ganze Zeit läuft. Das höre ich. Ich habe etwas Neues daraus gewonnen. Ich habe etwas völlig Neues gehört, etwas, das ich nie bekommen habe, Fritz. Alle Achtung, Fritz. Ich habe etwas völlig Neues über das Zuhören erfahren, das ich nie zuvor erfahren habe, ein Gefühl dafür, meine Ohren zu öffnen.

Fritz! Was hören Sie?

Bry: Was ich höre? Ich höre, daß ich hinhören will.

Fritz! Sie haben noch keine Ohren?

Bry: Ich habe noch keine Ohren? Aber ich bin unterwegs, und ich ... und die Leute sagen immer: "Aber Sie hören mir ja gar nicht zu. Sie haben nicht gehört, was ich sagte."

Fritz! Seien Sie still.

Bry: Seien Sie still. Gut. Ich höre, wie mein Vater sich für mich einsetzt.

Fritz! Was hören Sie jetzt?

Bry: Leere.

Fritz! Jetzt...

Bry: Ich höre das Tonband. Ich höre Sie. Aha. Aha. Ich hab's. Ich höre, was ist. Ich höre, was jetzt ist.

Fritz! Mehr...

Bry: Ich höre die Leute in der Halle. Ich höre Sie. Ich höre das Tonband. Ich höre die Klimaanlage.

Fritz! Was hören Sie?

Bry: Es stimmt. Ich höre, was jetzt ist.

Fritz! Sie müssen Ihre Ohren benutzen.

Bry: Weil ich eine ganz neue Art des Hörens erfahren habe. Ich höre mich selbst, und meine Stimme ist immer noch da draußen. Meine Stimme ist ... In mir fühle ich diese Wirklichkeit, die ich lange Zeit gespürt habe. Aber meine Stimme bringt das nicht 'rüber. Sie bringt nicht 'rüber, was ich sagen will. Darin liegt der Zwiespalt.

Fritz! Das Hören und das Sagen.

Bry: Sehen Sie, was das Hören betrifft - soll ich Ihnen erzählen? Ich weiß nicht einmal mehr, was ich als Chefin gesagt habe.

Fritz! Dann brauchen Sie das Tonband.

Bry: Stimmt. Ich selbst nehme nichts auf. Ich nicht.

Fritz! Nein, Sie absorbieren nicht.

Bry: Aber - Himmel - ich bin nicht gekommen ... ich muß das mal sagen ... ich bin wegen des Interviews gekommen, nicht um so etwas zu machen.

Fritz! Aaaaah...

Bry: Wußten Sie das? Ich meine, deswegen bin ich nicht gekommen.

Fritz! Das sind nur Entschuldigungen.

Bry: Das sind nur Entschuldigungen?

Fritz! Ich habe das hundertmal erlebt.

Bry: Das ist das, was ich ... nein. Können wir weitermachen? Bitte. - Bitte, bitte. Frauen darf man doch ihre Wünsche erfüllen, nicht wahr? Nein? Bitte. Ich möchte so gerne. Wenn nicht, muß ich mir das Interview, das ich geplant hatte, selbst erstellen.

Fritz! Nein.

Bry: Ich nehme 'rein, was Sie während des Vortrags gesagt haben: daß Reife bedeutet, sich selbst den Hintern abwischen zu können. Ich habe eine andere Dimension erfahren. Die Sache ist nur, daß ich das ohne mein Leben, so wie es bisher war, nie hätte. Verstehen Sie, was ich meine?

Fritz! Ich weiß, was Sie meinen.

Gerne weisen wir Sie an dieser Stelle auf das Buch "Was ist Gestalttherapie?" von Fritz Perls hin. Es wurde von Anke und Erhard Doubrawa in der Edition des Gestalt-Instiuts Köln / GIK Bildungswerkstatt im Peter Hammer Verlag herausgegeben. 

 Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Anmerkungen:

Dr. Friedrich Salomon Perls, (genannt : Fritz) 1893 - 1971, Begründer der Gestalttherapie - zusammen mit seiner Frau Lore Perls und dem amerikanischen Sozialphilosophen und Schriftsteller Paul Goodman. Fritz Perls an dieser Stelle weiter vorstellen zu wollen, wäre Eulen nach Athen tragen.

Das nebenstehende Interview ist zuerst erschienen im Buch ãInside Psychotherapy" von Adelaide Bry. Copyright © 1972 bei Adelaide Bry. Wir danken Max Gartenberg - Literary Agent - für die freundliche Abdruckgenehmigung.

Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg.

Gerne weisen wir Sie an dieser Stelle auf das Buch "Was ist Gestalttherapie?" von Fritz Perls hin. Es wurde von Anke und Erhard Doubrawa in der Edition des Gestalt-Instiuts Köln / GIK Bildungswerkstatt im Peter Hammer Verlag herausgegeben.

 

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