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Erhard Doubrawa
"Dirk - oder der Sog zu erniedrigen"
Erzählte Gestalttherapie


Aus der Gestaltkritik 2/2006

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

  • Gestalttherapie und ihre Weiterentwicklung
  • Gestalttherapie als spirituelle Suche
  • Gestalttherapie als politische Praxis

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik 2-2006:

Erhard Doubrawa
"Dirk - oder der Sog zu erniedrigen"
Erzählte Gestalttherapie

 

Foto: Erhard DoubrawaErhard Doubrawa (Foto: Hagen Willsch)

 

Bitte beachten Sie auch das Gespräch mit Erhard Doubrawa in dieser Ausgabe unserer Zeitschrift (Gestaltkritik 1/2006): "Wider die therapeutische Inkontinez".

Der Gestalttherapeut bietet den Klienten sein eigenes inneres Erleben an, damit sie sich – auf diese Weise eingeladen – ihrem eigenen inneren Erleben mehr und mehr öffnen können. Was etwa Freude, Rührung oder Traurigkeit angeht, so ist das meist einfacher möglich. Schwieriger jedoch fällt es mir, wenn es sich um unangenehmere Wahrnehmungen handelt, wie zum Beispiel Langeweile oder Ärger.

Wie dem auch sei, das Anbieten des eigenen inneren Erlebens setzt voraus, daß ich als Therapeut mir meiner Wahrnehmungen selbst gewahr werde und merke, was wirklich in mir vorgeht. Hier ein Beispiel dafür:

Dirk hatte an einer meiner Gestalttherapie-Wochenendgruppen teilgenommen. Er war dabei recht zurückhaltend gewesen. Wohl waren seine Augen ganz wach. Er war dem therapeutischen Gruppenprozeß konzentriert gefolgt. Doch er hatte keinen Raum in Anspruch genommen – etwa zur Bearbeitung eines eigenen Themas oder Problems.

Einige Tage nach dem Wochenende nahm er telefonisch mit mir Kontakt auf und fragte an, ob er bei mir eine Einzeltherapie machen könne. Ich sagte ihm, daß ich mich über seine Anfrage freue und wir vereinbarten einen ersten Termin.

Schon bald fiel mir auf, daß ich während der Sitzungen mit ihm einen ungeheuren Sog erlebte, ihn zu erniedrigen. Ich hätte ihm wirklich Ungeheuerlichkeiten an den Kopf werfen können, wie daß er eine absolute Niete sei, ein völliger Versager, ein Schlappschwanz, ein Weichei, daß er eine Qual sei für die Mitmenschen. Ich gebe übrigens hier bloß die gemäßigteren Gedanken wieder.

Ich spürte gleichzeitig eine abgründige Scham, denn ich wußte damals nicht, wie ich mit diesem inneren Erleben umgehen sollte. Ich versuchte nur, mit aller Kraft zu verhindern, daß ich ihm meine Gedanken an den Kopf werfe – »vor den Latz knalle« – ja, das war die Formulierung dafür in meinem Kopf. Dafür brauchte ich meine ganze Aufmerksamkeit und Konzentration.

Der Sog, ihn zu erniedrigen, war einmal so stark, daß ich die Sitzung unterbrechen mußte – mit der Ausrede, ich müsse mal zur Toilette. Dort wusch ich mir dann das Gesicht mit eiskaltem Wasser in der Hoffnung, daß ich mich etwas abkühlen würde. Aber das hat nichts geholfen. Mir ist etwas ihm gegenüber rausgerutscht – ein vorwurfsvolles »was machst Du denn da schon wieder«, als er über seine Probleme an seiner neuen Arbeitsstelle berichtete: Sein neuer Chef hatte ihn erneut scharf angegangen und gerügt.

Ich war erleichtert, daß die Stunde dann vorbei war und ich nicht noch mehr Unheil angerichtet hatte. Voller Schuldgefühle »schlich« ich einige Tage später zu meinem Supervisor und erzählte ihm davon. Zum ersten Mal fiel mir das Wort »Besessenheit« dafür ein. »Ich bin wie besessen«, sagte ich ihm, »so als würden diese Gedanken einfach über mich kommen.«

Mein Supervisor zeigte mir, daß ich hier die ungeheure Wirkung der »Gegenübertragung« am eigenen Leib spüren würde. Das sei treffend als eine Art Besessenheit zu beschreiben, denn in der Tat würde hier etwas Fremdes von mir Besitz ergreifen.

Er sagte, daß Klienten uns manchmal, natürlich unbewußt, genau in der Weise behandeln wie zum Beispiel ihre frühen Bezugspersonen. Wir reagieren dann so auf sie, wie diese damals auf unsere Klienten reagiert hätten – und zwar im Guten wie im Bösen. Wir könnten uns mütterlich oder väterlich den Klienten gegenüber erleben und sie auch so behandeln. Aber wir könnten ebensogut zur strafenden Mutter oder zum verachtenden Vater mutieren.

Diese Erklärung meines Supervisors hat mich erleichtert. In der nächsten Stunde war ich gelassener. Zwar spürte ich wieder diesen Sog. Doch ich fühlte mich gleichzeitig auch distanziert davon – konnte ihn beobachten, mußte ihm aber nicht nachgeben.

Schließlich hat mich mein Supervisor unterstützt, mein unangenehmes – und natürlich auch sehr schambesetztes – inneres Erleben, meinem Klienten zur Verfügung zu stellen. Ich tat dies, indem ich Dirk davon erzählte, daß ich mich wie besessen davon fühle, ihn zu erniedrigen.

Dirk schossen auf einmal die Tränen in die Augen. Unter Schluchzen berichtete er mir von den langen Jahren seiner Psychoanalyse. Sein Analytiker – eine wirkliche Koryphäe auf diesem Gebiet – hätte ihn ständig erniedrigt. Das ganze habe darin gegipfelt, daß er ihn als Modellklienten in seine Weiterbildungen mitgenommen hätte. Dort hätte er ihn manchmal vor vierzig oder fünfzig anwesenden jungen Psychoanalytikern »vorgeführt« und ihm Verachtendes und Kränkendes »vor den Latz geknallt«.

Natürlich hätte er mit Schrecken bei mir auch schon ähnliche Anzeichen entdeckt und gedacht »nun geht das hier auch schon wieder damit los«, obwohl er mich doch während der anfangs erwähnten Gestalttherapie-Wochenendgruppe so genau beobachtet habe und sehr gern zu mir komme. Er sei sich so sicher gewesen, daß dies ihm bei mir nicht passieren würde.

Ich war gleichermaßen aufgeregt, aber völlig klar. Ich erzählte ihm von meiner Supervision und erklärte ihm das Konzept der Gegenübertragung. Ich fragte ihn anschließend, ob ihm Erniedrigung von früher in seinem Leben vertraut wäre.

»Ja«, schoß es aus ihm hervor. »Von meinem Vater kenne ich das. Mensch, daran habe ich lange nicht mehr gedacht. Ich habe das Verhalten meines Analytikers nie damit in Verbindung gebracht.«

Dann fing er an, davon zu berichten: Er wuchs nach dem Tod seiner Mutter, er war gerade eingeschult worden, bei seiner Großmutter auf. Bis zum Abitur lebte er bei ihr, einer nicht wieder verheirateten Kriegswitwe.

Seinen Vater sah er nur zu besonderen Feiertagen – zu Weihnachten, zu Ostern und zu seinem Geburtstag etwa. Und immer, wenn die anderen es nicht mitbekamen, beschimpfte sein Vater ihn als Niete und Versager, als Schlappschwanz und Weichei. Er sei die Pest für die Mitmenschen, eine richtige Qual.

Ja, er gebrauchte wirklich all diese Worte, die ich über ihn gedacht hatte. Ich erschrak. So etwas hatte ich bis dahin noch nicht erlebt – daß mir genau die Worte in den Sinn kommen, die der Klient schon mal über sich ergehen lassen mußte, aber mir gar nicht mitgeteilt hatte! Das war damals neu für mich. Nachdem ich die Arbeit des systemischen Therapeuten Bert Hellinger kennenlernen durfte, ist mir bewußt geworden, daß auch bestimmte Worte Bestandteil des Feldes des Klienten werden können, in welchem wir uns dann gemeinsam mit unseren Klienten bewegen.

Dirk berichtete davon, daß er die Vorwürfe seines Vaters immer für sich behalten und seiner Großmutter aus Scham nie von ihnen erzählt habe. Darum gab es für seine Oma auch gar keinen Grund, daß er seinen Vater nicht wiedersehen sollte, obwohl sie schon merkte, daß Dirk sich nicht auf seinen Vater freute und sich lieber vor diesen Besuchen drücken wollte.

Schritt für Schritt deckten wir gemeinsam auf, was sich wie ein roter Faden durch sein Leben zog. Immer wieder traf er auf Menschen, genauer: auf Männer, die auf ihn herabblickten und ihn abschätzig behandelten, klein machten, häufig auch gerade vor anderen: vor seinen Mitschülern, seinen Kommilitonen, seinen Kollegen.

Nun ging unsere Arbeit eigentlich erst richtig los. Die »Gegenübertragung« ist nämlich die unreflektierte Antwort des Therapeuten auf das ebenfalls unbewußte Übertragungs-Angebot seines Klienten. Wir begannen zu erforschen, welchen Anteil Dirk daran hatte, daß ihn so viele – einschließlich mir – erniedrigen wollten.

Gemeinsam fanden wir heraus, daß er sein Gegenüber (in diesem Fall also mich) so anschaut, als sei dieser erstens mächtiger als er und als sei von diesem zweitens nichts Gutes zu erwarten. Letzteres hat natürlich eine beachtliche passiv-aggressive Ladung.

Er betrachtete mich also aus einer unterlegenen Perspektive und behandelte mich gleichzeitig vorwurfsvoll-klagend, als würde ich seine Fähigkeiten und Qualitäten nicht anerkennen. Der Vorwurf bestand darin, daß ich ihn schlecht behandeln würde. Natürlich geschah dies, ohne daß es ihm bewußt war. Meine »Antwort« war ebenfalls ohne Bewußtheit gewesen: Ich machte ihm innerlich – und mindestens auch in einem Fall direkt – Vorwürfe und behandelte ihn herablassend. Ich behandelte ihn also tatsächlich schlecht. Das, was er so sehr befürchtete, das war nun wieder eingetreten.

Das Wissen um diese Zusammenhänge bedeutete bereits die »Heilung«. Dirk entdeckte, daß er Wahlmöglichkeiten hatte. Er erkannte, daß seine Befürchtung, der andere könne ihn schlecht behandeln, nicht immer und unbedingt etwas mit dem anderen zu tun hatte, sondern vielmehr seine eigene Befürchtung, seine eigene Unterstellung war. Dieses Wissen hat dazu beigetragen, daß Dirk den Sog stoppen konnte. Langsam. Schrittweise.

Später berichtete er mir, was er beispielsweise mache: Er hätte einmal vorgegeben, zur Toilette gehen zu müssen, als er sich seinem neuen Chef gegenüber wieder einmal so vorwurfsvoll erlebt habe, und dort habe er sich sein Gesicht mit eiskaltem Wasser gewaschen, um sich »herunterzukühlen«.

Ich mußte laut lachen und gestand ihm dann, daß ich es am Anfang der Arbeit mit ihm genauso gemacht hatte. Dies hat uns noch vertrauter miteinander werden lassen.

 

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Foto: Erhard DoubrawaErhard Doubrawa (Foto: Hagen Willsch)

Erhard Doubrawa arbeitet seit vielen Jahren als Gestalttherapeut. Er ist Gründer und Leiter des »Gestalt-Instituts Köln/GIK Bildungswerkstatt«, wo er auch als Ausbilder tätig ist. Außerdem gibt er die Gestalttherapie-Zeitschrift »Gestaltkritik« heraus. Im Peter Hammer Verlag ediert er zusammen mit seiner Frau Anke, die als niedergelassene Psychotherapeutin tätig ist, eine Reihe zur Theorie und Praxis der Gestalttherapie. Von ihm erschien dort u.a. »Die Seele berühren: Erzählte Gestalttherapie« (in dem der obige Beitrag zuerst veröffentlicht worden ist).

Bitte beachten Sie auch das Gespräch mit Erhard Doubrawa in dieser Ausgabe unserer Zeitschrift (Gestaltkritik 1/2006): "Wider die therapeutische Inkontinez".

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