Cover: Gestaltpädagogik in Aktion

George Dennison
Gestaltpädagogik in Aktion
Ein Praxisbericht
Aus dem Amerikanischen von Hans Hermann
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Stefan Blankertz

Mitte der 1960er Jahre: Der Gestalttherapeut George Dennison gründet mitten in einem sozialen Brennpunkt New Yorks eine Alternativschule – die »First Street School«.

Aus Tagebuchaufzeichnungen und pädagogisch-politischen Reflexionen montiert George Dennison einen Praxisbericht, der sowohl mitreißend und spannend zu lesen ist als auch tiefe Einsichten vermittelt.

Die gegenwärtige Sorge um die öffentlichen Schulen – Unfähigkeit mit Gewalt unter Schülern umzugehen, sinkende Lernleistungen der Schüler und trotz aller Reformen fortgesetzte Demütigungen von Schülern und Eltern durch Lehrer – machen das Buch von Dennison wieder hochaktuell.

Stefan Blankertz baut in seinem Nachwort die Brücke zwischen der damaligen und der heutigen Diskussion.

Edition GIK Gestalt-Institute Köln und Kassel
im Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2006

393 Seiten, broschiert, 24,90 Euro

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Foto: George Dennison(George Dennison)

George Dennison
Gestaltpädagogik in Aktion
Ein Praxisbericht

Weiter unten finden Sie:

 

Inhalt des Buches

Vorwort zur deutschen Neuausgabe .......... 7

George Dennison:
Das Leben von Kindern: Die Geschichte der First Street School .......... 9
Anmerkungen .......... 267

Stefan Blankertz:
Gestaltpädagogik, Schule und Freiheit .......... 273
Anmerkungen .......... 333

Anhang

Interview von Rainer Winkel mit George Dennison 1973 .......... 347
Anmerkungen .......... 357

George Dennison: Die Einrichtung der First Street School .......... 359
Anmerkungen .......... 383

Vorwort von Mabel Dennison zur Ausgabe 1999 .......... 385

Index .......... 389

 

Leseprobe 1: Vorwort zur deutschen Neuausgabe

Die "First Street School" hat von 1964 bis 1965 existiert. Der Bericht von George Dennison darüber ist 1969 unter dem Titel "The Lives of Children" erschienen. 1971 folgte die deutsche Übersetzung in dem legendären März-Verlag unter dem Titel "Lernen und Freiheit". Der ganze Text atmet den Zeitgeist des antiautoritären Aufbruchs jener Tage. Dennoch ist er mehr als nur ein zeithistorisches Dokument. George Dennisons Buch gehört neben A.S. Neills Bericht über "Summerhill" von 1960 und Leo Tolstojs Bericht über die "freie Schule für Bauernkinder" von 1862 zu den zeitlosen Dokumenten eines Ringens um eine kind­gerechte Form der Erziehung und des Unterrichts. George Dennison ist wie Leo Tolstoj vor allem Schriftsteller gewesen. Das merkt man seinem Buch an: Es ist locker, spannend und mit einer großen atmosphärischen Dichte geschrieben.

Angeregt und inspiriert wurde die First Street School durch einen Mit­begründer der Gestalttherapie, nämlich Paul Goodman. George Dennison, ein Freund Goodmans, war ebenfalls zeiweise als Gestalttherapeut tätig. Eine der Lehrerinnen an der First Street School, Susan Goodman, die älteste Tochter Paul Goodmans, ist ebenfalls eine Gestalttherapeutin.

Auf den folgenden Seiten sehen wir gleichsam die "Gestaltpädagogik in ­Aktion": Was George Dennison mehr als die anderen Autoren der antiautoritären Zeit hervorhebt und präzise reflektiert, ist die Qualität von Kontakt. In diesem Kontakt geht es nicht um einseitige Kindorientierung, sondern um die Gleichwertigkeit der kind­lichen und der erwachsenen Bedürfnisse. Die Bedürfnisse der Erwachsenen werden jedoch nicht moralisierend eingebracht, sondern als authentische Bedürfnisse von Personen, die den Kindern gegenüber präsent sind. Die Erwachsenen leugnen nicht ihre Überlegenheit, nicht einmal ihre Macht, denn dies wäre nicht authentisch und würde sie gegenüber den Kindern unglaubwürdig machen. Und auf diese Weise kommt es zur "heilenden Beziehung".

Aber auch bezogen auf die Alltagsprobleme, mit denen sich Dennison und die anderen Lehrer der First Street School herumschlagen, überwiegt die Aktualität gegenüber den historisch-zeitgeistigen Aspekten. Wer meint, "Gewalt an Schulen" bzw. "unter Schülern" sei ein neues Phänomen, eventuell sogar Produkt einer antiautoritären, kindbezogenenen Pädagogik, in der Autorität, Ordnung, Disziplin und Strafe nichts mehr gelten, wird auf den folgenden Seiten eines Besseren belehrt.

In seinem Nachwort arbeitet Stefan Blankertz, der sich nun seit über dreißig Jahren mit Paul Goodman und der Schulkritik beschäftigt, nicht nur die Anregungen heraus, die George Dennison für die Entwicklung ­einer genuinen Gestaltpädagogik und -entwicklungstheorie gibt. Er liefert vor allem eine Theorie, die erklärt, warum sich die Ideen der Free-School-Bewegung nicht in dem Maße haben verbreiten können, wie es ihrer pädagogischen Qualität entspricht. Er zeigt, dass es nicht die päd­agogisch-gesellschaftliche Unzulänglichkeit oder der "Utopismus" dieser Ideen ist, der zu ihrem machtpolitischen Scheitern geführt hat, sondern der von der Free-School-Bewegung nicht reflektierte ökonomische Rahmen, den die öffentliche Schule absteckt.

Wir hoffen, mit "Gestaltpädagogik in Aktion" zur Weiterentwicklung der gestaltpädagogischen Ideen beitragen zu können, und freuen uns auf eine lebhafte Diskussion. Der vorliegende Band enthält neben dem ungekürzten Text der deutschen Ausgabe von 1971 den in der deutschen Ausgabe nicht enthaltenden "Anhang" über die Einrichtung der First Street School, ein umfangreiches Nachwort von Stefan Blankertz, ein Interview, das der deutsche Erziehungswissenschaftler Rainer Winkel 1973 mit George Dennison geführt hat, sowie ein Vorwort von George Dennisons Ehefrau Mabel zur Neuausgabe des Buches 1999.

Anke und Erhard Doubrawa

Gestalt-Institut Köln / GIK Bildungswerkstatt

 

Leseprobe 2: George Dennison, Kapitel 3

 

Foto: George Dennison(George Dennison)

Vielleicht verdeutlichen diese Auszüge aus meinem Tagebuch etwas von dem persönlichen, zwanglosen Stil an unserer Schule. Was sich daraus nicht so ohne weiteres ablesen lässt, ist die Verbindung zwischen diesem Stil und den Fortschritten im Lernen, die die Kinder machten. Und damit kommen wir zu einem der wirklich schädlichen Mythen der Erziehung, nämlich, dass Lernen das Ergebnis des Unterrichtens sei; dass der Fortschritt des Kindes im direkten Zusammenhang mit den Lehrmethoden und den inneren Verhältnissen des Lehrplans stehe. Daran ist ganz und gar nichts Wahres. Natürlich wollen wir gute Lehrer. Natürlich wollen wir einen gut aufgebauten Lehrplan (wir brauchen ihn nicht in einheitlicher Form vorzuschreiben). Es ist jedoch falsch, darin die wirksamen Ursachen des Lernens zu sehen. Die Ursachen liegen beim Kind selbst. Wenn wir uns die Geisteskräfte eines gesunden Achtjährigen vor Augen halten - die unersättlichen Sinnesorgane, das scharfe, unermüd­liche Beobachten, die mühelose Konzentration, das muntere Gedächtnis - dann wird uns sofort klar, dass diesen Kräften in der allgemeinen Einstufung der Dinge größerer Stellenwert zukommt. Verglichen damit kann die Stoffwahl für die Grundschulerziehung kaum als schwierige Aufgabe betrachtet werden. Und doch ist unter Berufspädagogen die Ansicht weit verbreitet, dass das Lernen irgendwie eine schwierige Sache sei.

Woran liegt es dann, dass so viele Kinder nicht mitkommen? Ich will es mit aller Deutlichkeit sagen, weil unser öffentliches Schulsystem eine fürchterliche, lebenzerstörende Schweinerei ist. Diese Zerstörung geschieht ganz direkt. Die Fähigkeiten selbst, die Geisteskräfte, werden im Keim erstickt oder zur Untätigkeit verdammt, was letzten Endes auf dasselbe hinausläuft.

Lernen gibt es nur (wie uns Dewey sagt) im ununterbrochenen Zusammenhang von Erfahrungen. Doch diese Kontinuität kann im Klassenzimmer nicht überleben, wenn es nicht zu echten Begegnungen zwischen den Erwachsenen und den Kindern kommt. Die Lehrer müssen sie selbst sein, nicht irgendwelche Rollen spielen. Sie müssen die Kinder unterrichten, nicht irgendeinen "Lehrstoff". Schließlich ist das Kind begierig darauf, sich das anzueignen, was es für die Notwendigkeiten des Lebens hält, und der Lehrer darf ihm nicht mit reinem Fachwissen und irgendwelchen Mätzchen antworten. Die Kontinuität der Erfahrungen und die echten Begegnungen werden in den öffentlichen Schulen (und in den meisten privaten) durch genau die Methoden zerstört, die die Institution selbst zusammenhalten - die hierarchische Organisation, die Reglementierung, die gesichtslosen Begegnungen, das nichts sagende Fachwissen und so fort.

Eléna und Maxine fingen an, sich ihre Lektionen in einem fantastischen Tempo einzuverleiben. Ihre Unterrichtsstunden waren kurz, und sie bekamen auch nicht viele, doch in eineinhalb Jahren schafften sie beide den Stoff von drei Jahren. Maxine, die auf der ganzen Linie zurückgeblieben war, war jetzt im Lesen drei Jahre voraus. Doch in Wirklichkeit war daran gar nichts Ungewöhnliches, wenn es auch sicherlich so aussieht. Ich will damit sagen, die Mädchen fanden es leicht. José überwand allmählich seine althergebrachte Gewohnheit des totalen Versagens. Er fing an zu lernen. Seine Fortschritte waren langsam, doch sein Erleben glich ganz dem der beiden Mädchen. Das heißt, er entdeckte - oder erahnte jedenfalls - die Leichtigkeit des Lernens. Und jedes Mal wenn er das spürte, sprudelte ein ganz bestimmtes Lachen aus ihm, ein Lachen der Erlösung.

Das Erlebnis des Lernens ist ein Erlebnis der Ganzheit. Das Kind spürt die Einheit seiner Kräfte und die Kontinuität von Personen. Seine Eltern, seine Freunde, seine Lehrer und die undeutlichen menschlichen Gestalten seiner Zukunft bilden für ihn eine Welt, und es spürt die Zweckdienlichkeit und Wirklichkeit seiner Kräfte innerhalb dieser Welt. Erlebt das Kind diese Ganzheit nicht, ist es kein echtes Lernen. Kinder, die Fakten auswendig lernen und die Antworten nachplappern (wie das John Holt in "How Children Fail" geschildert hat) sind unweigerlich starken Beklemmungen ausgesetzt. Wenn sie in die Kontinuität von Personen eingereiht werden, so geschieht das nicht durch Ausübung ihrer Kräfte, sondern durch Unterdrückung ihrer Bedürfnisse. Rebellische Kinder vertrauen mehr auf ihre Instinkte, doch sie werden durch den Konflikt mit den Personen, die die Kontinuität des Lebens ausmachen, verunsichert. Die wirklich entscheidenden Dinge der First Street waren: dass wir - so gut wir das konnten - die Hindernisse eliminierten, die dem natürlichen Wachstum des Denkvermögens im Wege standen; dass wir alles auf der echten Begegnung zwischen Lehrer und Kind aufbauten; dass wir unser Möglichstes dazu beitrugen (bei weitem nicht genug), etwas von der Kontinuität der Erfahrungen wiederherzustellen, in deren Rahmen jedes Kind sein Wachstum schaffen muss. Es ist kein Wunder, dass die Kinder unter diesen Umständen zum Leben kamen. Schließlich hatte sie das Erlebnis des Versagens schrecklich gelangweilt. Denn Bücher sind tatsächlich interessant; und dasselbe gilt für Zahlen und für das Malen von Bildern und für Tatsachen über die Welt.

Lassen Sie mich das dadurch noch etwas spezifischer ausdrücken, dass ich etwas näher auf José eingehe. Gleichzeitig möchte ich auch zeigen, dass das, was man gemeinhin als "Lernprobleme" bezeichnet, sehr oft einfach Probleme der Schulverwaltung sind.

José hatte auf der ganzen Linie versagt. Nach fünf Jahren in den öffentlichen Schulen konnte er nicht lesen, konnte nicht addieren und hatte auch nicht die rudimentärsten Kenntnisse in Geschichte oder Geographie. Er wurde uns als ein Junge beschrieben, der "schlechte Motivation" habe, dem es an "Lesefertigkeit" fehle und der (noch einmal) "ein Leseproblem" habe.

Was sind das nun eigentlich für Gebilde, die er hatte bzw. die ihm fehlten? Gibt es überhaupt solche Dinge wie "ein Leseproblem" oder "Motivation" oder "Lesefertigkeit?

Wenn man "Leseproblem" sagt, zieht man einen kleinen Kreis um José und nennt den Inhalt: Silben, Rechtschreibung, Grammatik usw.

Da wir aber von einem echten Jungen reden, reden wir auch von echten Büchern und echten Lehrern und echten Klassenzimmern. Und echte Jungen lesen schließlich nicht Silben, sondern Worte; und Worte, selbst gedruckte Worte, besitzen eine Stimme; und Stimmen existieren nicht im leeren Raum, sondern in sehr deutlich aufgezeigten sozialen Schichten.

Durch welchen Vorgang sind José und sein Schulbuch zusammengekommen? Ist dieser Vorgang Teil seines Leseproblems?

Wer fordert ihn auf, das Buch zu lesen? Irgendjemand fordert ihn auf. Mit welcher Art von Stimme und zu welchem Zweck und mit welchem Interesse oder Mangel an Interesse am Ergebnis? Und wer hat das Buch geschrieben? Für wen haben sie es geschrieben? Ist es für José geschrieben worden? Kann José wirklich an dem Leben teilnehmen, das das Buch anzubieten scheint?

Und warum liest José nicht? Wir dürfen uns nicht einfach mit der Tatsache abfinden, dass er versagt. Wie verhält er sich dabei? Was tut er? Es ist schließlich unmöglich, dass er nur dasitzt und nicht zuhört. Er sitzt da und tut irgendwas. Träumt er? Wenn ja, worüber? Sind diese speziellen Tagträume nicht Teil seines Leseproblems? Hat ihn der Lehrer gefragt, woran er denkt? Ist sein Versäumnis zu fragen nicht Teil von Josés Leseproblem?

Gedruckte Worte sind eine Erweiterung des Sprechens. Lesen heißt sich mit Hilfe des Sprechvermögens in die Welt hinauszuwagen. Lesen ist Konversation. Was aber, wenn nun diese größere Welt furchteinflößend und beleidigend ist? Sollten wir Furcht und Beleidigung in Josés Lese­problem einschließen oder nicht?

Und gibt es eine Fähigkeit des Verstandes, das ABC aufzunehmen und bei Bedarf wieder zu produzieren? Oder gibt es nur eine Intelligenz, die durch Vergnügen, Schmerz, Hoffnung usw. abgewandelt wird? Offensichtlich besitzt José nur eine geringe Fertigkeit im Lesen, doch wie ich eben angedeutet habe, geht es beim Lesen nicht nur um die Kleinigkeit von Silben und Worten. Und deshalb ist auch die Fertigkeit im Lesen keine Kleinigkeit. Auch zu ihr gehören seine typischen Beziehungen zu Erwachsenen, zu anderen Kindern und zu sich selbst; er ist nämlich innerlich heftig zerrissen, und dieser Konflikt bildet den eigentlichen Kern seines Leseproblems.

Josés Leseproblem ist José. Oder, um es anders auszudrücken, es gibt kein Leseproblem. José hasst Bücher, Schulen und Lehrer, und neben hundert anderen Dingen, die er nicht kann -und sie hängen alle miteinander zusammen -, kann er auch nicht lesen. Ist das ein Lese-Problem?

Mit anderen Worten: Ein Leseproblem ist nicht eine Tatsache des ­Lebens, sondern eine Tatsache der Schulverwaltung. Es sagt nichts über José aus, sondern über die Methode der Schule, alles an José zu ignorieren, außer seiner Reaktion auf gedruckte Buchstaben.

Tun wir zur Abwechslung einmal das Nahe liegende und schauen uns José an. Diesen kleinen Einblick in Josés Verhalten hätte vielleicht ein ­Besucher während Josés ersten Monaten in der First-Street-Schule bekommen.

Er steht im Gang und unterhält sich mit Vicente und Julio. Ich sitze allein im Klassenzimmer, auf einem der Kinderstühle. Vor mir liegt ein Stück Papier, und darauf steht ein Satz mit fünf Worten. Die Worte werden unter dem Satz nochmals in drei Spalten wiederholt, so dass jedes Wort mehrfach auftaucht. Da José mit einem Leseproblem zu uns kam, wollen wir doch einmal sehen, welche Beziehung wir zwischen diesen zwölf Silben und dem außergewöhnlichen Verhalten, das er an den Tag legt, herstellen können.

Er hatte sich auf dem Gang lebhaft unterhalten. Als er jetzt zu mir hereinkommt, zieht sich sein Gesicht krampfhaft zusammen, und von den großzügigen Gesten seiner Arme bleibt fast gar nichts übrig. Es ist niemand in seiner Nähe, und es steht ihm völlig frei, den Unterricht abzulehnen, und doch beginnt er sich zu winden und zu krümmen, als zerre ihn jemand am Arm. Er zieht die Hosen hoch, schiebt die Unterlippe vor und starrt vor sich auf den Boden. Er runzelt unruhig die Stirn, wie ein Mann, der physischen Schmerz aushalten muss. Seine Augen sind verschleiert. Plötzlich schüttelt er sich, hebt den Kopf und reißt sich zusammen. Seine Augen sind aber immer noch glasig. Er gähnt abrupt und wirft sich auf den Stuhl neben mich und rutscht so weit nach vorne, wie es nur geht. Doch jetzt wendet er sich mir zu und gibt mir sein typisches Lächeln, ein unverschämter Bluff, doch tapfer und attraktiv. "Okay, Mann - fangen wir an." Ich zeige auf den Satz, und er rasselt ihn herunter, denn sein Gedächtnis ist nicht schlecht, und er erinnert sich vom Tag vorher noch ganz genau daran. Doch als ich ihn bitte, dieselben Wörter in den darunter stehenden Spalten zu lesen, wiederholt er wütend den Satz und stößt seinen Finger auf die Spalten, denn er hatte den Satz überhaupt nicht gelesen, sondern einfach auswendig hergesagt. Er lacht laut und wird rot. Jetzt setzt er sich auf, voller Aufmerksamkeit, und beugt sich über das Stück Papier und sucht es nach irgendwelchen Anhaltspunkten ab: Schmierstellen, zufällige Bleistiftmarkierungen, seine eigenen Kritzeleien vom Tag vorher. Er wirft mir prüfende Blicke zu und versucht, den jeweiligen Gesichtsausdruck zu interpretieren. Er versucht bei sich den ganzen Verlauf der gestrigen Unterrichtsstunde zu rekonstruieren, damit die geschriebenen Worte zu Anhaltspunkten für die gesprochenen werden können, und wenn er die gesprochenen wiederholt, kann er vielleicht den Eindruck erwecken, er könne lesen. Der intellektuelle Aufwand und der Scharfsinn - den er dabei einsetzt, sind mehr als er bräuchte, um das Lesen zu lernen. Es ist an dieser Stelle erwähnenswert, dass das geschriebene Wort "ich" immer Verwirrung bei ihm hervorruft, obwohl er im Gespräch keinerlei Schwierigkeiten damit hat.

Was sind nun Josés Probleme? Eins davon ist sicherlich die Tatsache, dass er nicht lesen kann. Doch dieses Problem wird offensichtlich von anderen fundamentaleren Problemen verursacht; seine Unfähigkeit zu lesen sollte überhaupt nicht als Problem angesprochen werden, sondern als Symptom. Wir brauchen José nur anzusehen, um zu erkennen, wo seine Probleme liegen: Scham, Furcht, Hass, Zurückweisen anderer und seiner selbst, Beklemmung, Selbstverachtung, Einsamkeit. Nichts von alledem wurde von der Schwierigkeit beim Lesen gedruckter Worte verursacht - das wird erst recht klar, wenn ich hier erwähne, dass José, als er mit sieben Jahren in dieses Land kam, Spanisch lesen konnte und dass er regelmäßig seiner Mutter, die nicht lesen kann, die Postkarten von dem in Puerto Rico zurückgebliebenen schreibkundigen Vater vorgelesen hatte. Fünf Jahre lang war er in den Klassenzimmern der öffentlichen Schulen herumgesessen und dabei tatsächlich von Jahr zu Jahr dümmer geworden. Er hatte in allen Fächern versagt (nicht nur im Lesen) und war nur immer wieder versetzt worden, um anderen Kindern Platz zu machen, die mehr oder weniger dazu verdammt waren, in seinen Spuren zu wandeln.

Natürlich gingen nicht alle von Josés Problemen von der Schule aus.

Doch bei der Vertrautheit und Freiheit der Umwelt in der First Street, ließ sich sein von der Schule geprägtes Verhalten leicht beobachten. Er konnte zum Beispiel nicht glauben, dass alles, was in Büchern stand oder in Klassenzimmern gesagt wurde, sein rechtmäßiges Eigentum war oder auch nur zu der Welt im allgemeinen gehörte, so wie Bäume und Laternenpfähle ganz einfach zu der Welt gehören, in der wir alle leben. Er glaubte dagegen, dass Dinge, mit denen man es in der Schule zu tun hatte, irgendwie zur Schule gehörten oder von irgendeinem weit reichenden bürokratischen Arm zugeteilt wurden. Es war ihm nie deutlich gemacht worden, dass er an ihnen teilhaben konnte, sondern vielmehr, dass er an ihnen gemessen und zu leicht befunden würde. Er glaubte auch nicht, dass ihm persönliche Rücksichtnahme zustand, sondern er war der Meinung, wenn er mit einem Klassenkameraden oder mit dem Lehrer sprechen wollte, oder wenn er aufstehen wollte, um Arme und Beine zu bewegen, oder wenn er auch nur hinausgehen und urinieren wollte, dass er das dann mehr oder weniger der Autorität zum Trotz tun müsse. Während der ersten Wochen in unserer Schule suchte er bei den harmlosesten Anlässen Streit. Außerhalb der Schule hatte er viele Spiele gelernt, so wie alle Kinder, ohne sich bewusst zu werden, dass sie dabei einen "Lernprozess" durchmachen. In der Schule verließ ihn diese Fähigkeit. Es war ihm auch noch nie in den Sinn gekommen, dass man sich ganz bewusst das Ziel setzen konnte, etwas zu lernen, denn die vollständigen Formen des Lernens hatte er noch nie erlebt. Was er kennen gelernt hatte, das war das auswendige Aufsagen von Texten, Abschreiben, das Beantworten von Fragen, Klassenarbeiten - und diese Dinge ergeben beileibe noch kein Lernen. Außerdem sah er keinerlei Verbindung zwischen der Schule und seinem Leben zu Hause und auf den Straßen. Hätte er gehört, wie unsere liberalen Pädagogen mannhaft zugeben: "Wir kommen bei ihnen einfach nicht an", hätte er mit Scham und Wut auf diese kleine Zweiteilung "wir/sie" reagiert, denn er war ihr in hunderterlei Form begegnet.

Man konnte nicht sagen, dass er vorher überhaupt schon auf der Schule gewesen war, sondern vielmehr dass er fünf Jahre lang in der Kunst der Menschenverachtung unterwiesen worden war, denn Menschenverachtung war es, was in den Klassenzimmern zuallererst demonstriert worden war, und zwar hatte sie sich zu gleichen Teilen auf Lehrer, Eltern und Kinder bezogen. Josés Unfähigkeit zu lernen begründete sich praktisch genau auf dieses von der Schule geprägte Verhalten.

Man kann als Axiom feststellen, dass der hauptsächliche Energie­aufwand des Schulkindes der Selbstverteidigung gegen die Umwelt gilt. Wenn das in einer Beeinträchtigung des Wachstums gipfelt - und das geschieht fast immer -, dann ist es völlig hoffnungslos, die Tendenz dadurch umwandeln zu wollen, dass man Phonetik unterrichtet, anstatt wie bisher alles blind nachsprechen zu lassen. Die Umwelt selbst muss verändert werden.

Wenn ich so immer neben José saß und ihn mit den gedruckten Worten kämpfen sah, fiel mir auf, dass er Schwierigkeiten hatte, sie auch nur zu sehen. Von ärztlichen Zeugnissen wusste ich, dass seine Augen in Ordnung waren. Es war klar, dass seine rein physischen Schwierigkeiten Anzeichen eines schrecklichen Konfliktes waren. Auf der einen Seite wollte er die Worte gar nicht sehen, wollte seine Augen nicht darauf richten, seinen Kopf vorbeugen, seinen Kopf ruhig halten. Auf der anderen Seite wollte er wieder lesen lernen, und so zwang er sich dazu, diese Dinge zu tun. Doch der Konflikt war sichtbar. Es war, als sei zwischen ihm und den gedruckten Worten eine Barriere aus geschwärztem Glas aufgebaut worden: Er bewegte seinen Kopf hierhin und dorthin, kniff die Augen zusammen, riss sie wieder auf, presste seine Hand gegen die Stirn. Die Barriere bestand natürlich aus den bereits erwähnten chronischen Empfindungen: Hass, Scham, Selbstverachtung usw. Doch wie lässt sich eine solche Barriere entfernen? Es lässt sich offensichtlich nicht einfach in einer kleinen Ecke im Leben eines Jungen in der Schule erreichen. Es muss in seinem ganzen Leben in der Schule erreicht werden. Und diese chronischen Empfindungen lassen sich auch nicht einfach so entfernen, als handle es sich um Zysten, Tumore oder Splitter. Hass kann man nur dadurch abbauen helfen, dass man dazu beiträgt, dass das Vertrauen wächst und dass es oft Anlässe zur Zufriedenheit gibt; ähnlich lässt sich Scham nur überwinden, wenn sie durch Selbstachtung ersetzt wird; und Verlegenheit löst sich nicht einfach in Wohlgefallen auf, wenn man dem Kind beweist, dass es keinen Anlass hat, verlegen zu sein; sie muss durch Zuversicht ersetzt werden und durch großherzigere Achtung für andere. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass durch solche Umwandlungen die Fähigkeit des Kindes, zu lernen, ebenso spektakulär wächst, wie seine Fähigkeit zu spielen und positive Beziehungen zu Gleichaltrigen und Älteren herzustellen. Welche Bedingungen im Leben in der Schule sind aber imstande, diese so wünschenswerten Veränderungen zu unterstützen? Sie können offensichtlich nicht gelehrt werden. Und auch bessere Unterrichtsmethoden oder bessere Lehrbücher können sie nicht herbeiführen.

Wenn mir José nach zehn Minuten einer Lesestunde sagte, er wolle in die Turnhalle, und ich sagte: "Okay", dann spielte sich in seiner Seele ­eine kleine Revolution ab. Sein Lehrer respektierte seine Wünsche! Das hieß doch wohl, dass ihn der Lehrer als Person ernst nahm? So wurde es für José leichter, sich selbst als Person ernst zu nehmen. Und wenn er fluchte, provozierte, sich mit Klassenkameraden schlug, und die Lehrer nur mit ihren eigenen Gefühlen reagierten und nie mit schulmäßiger Bestrafung, Minuspunkten, Nachsitzen usw., hieß das dann nicht, dass sie ihn genau so akzeptierten, wie er war, und dass er nicht erst alles unterdrücken musste, bis auf sein gutes Benehmen, wenn er ihnen gegenübertrat? Er konnte auf seinen eigenen zwei Beinen stehen, und sie auf den ihren. Seine Beklemmung ließ nach, und sein Hass - und seine Verwirrung.

Die allmählichen Veränderungen in Josés Temperament entwickelten sich aus der Gesamtheit unseres Lebens in der Schule, nicht aus winzigen, speziell auf Josés akademisches Problem zugeschnittenen Programmen. Und nicht der unbedeutendste Aspekt dieses Lebens (möglicherweise sogar der allerwichtigste) war die Wirkung, die die anderen Kinder auf ihn hatten. Ich meine, wenn Erwachsene zur Seite treten, damit Kinder den ganzen Reichtum ihrer natürlichen Beziehungen zueinander entwickeln können, dann üben sie eine positive heilende Wirkung aufeinander aus. Kinder haben erschreckend selten die Gelegenheit dazu. Ihr Schulleben wird von Erwachsenen beherrscht, und nach der Schule können sie nirgendwo hingehen. Denn die Straßen werden auch von Erwachsenen beherrscht, und manchmal von Gewalttätigkeit Jugendlicher, die selbst nichts anderes ist, als ein Ausdruck der Beklemmung.

Wenn ich diese Worte schreibe, muss ich unwillkürlich die Straßen unserer Städte mit der Umwelt meiner eigenen Kindheit in den letzten Depressionsjahren in den kleinen Vororten von Pittsburgh vergleichen. Ringsum waren Wälder, und es gab Felder und unbebaute Grundstücke. Und amerikanische Eltern waren noch nicht so ängstlich um ihre Kinder besorgt- oder um sich selbst. Nach Schulschluss und an Samstagen und Sonntagen wussten unsere Eltern kaum einmal, wo wir waren.

Ich spreche jetzt von Acht-, Neun- und Zehnjährigen. Wir streiften in kleinen Cliquen umher oder spielten im Wald, in den engen Gassen, auf den Feldern. Von den Essenszeiten abgesehen waren wir nicht gezwungen, uns nach den Wünschen der Erwachsenen zu richten. Im New York unserer Tage und in der Welt unserer Tage - mit ihren Beklemmungen, ihrer Pest von Beamten und Beamtentum, ihrer rücksichtslosen Karrieremacherei, ihrem Fluch der alles durchdringenden Politik, die selbst intelligente Köpfe dazu verführt, Abstraktionen so zu behandeln, als seien sie konkrete Dinge - in einer solchen Welt ist das Leben eines Kindes in der Tat schwierig.

Das wichtigste von allen Dingen, die wir den Kindern in der First Street boten, waren vielleicht die vielen Stunden unbeaufsichtigten Spielens. Mit "unbeaufsichtigt" meine ich, dass wir Lehrer überhaupt nicht eingriffen, sondern daneben standen und Däumchen drehten. Wir spielten nicht Schiedsrichter oder Appellationsgericht. Ich habe sogar bei den älteren Jungen mehrfach Gewalttätigkeiten abgewendet, indem ich einfach aus der Turnhalle ging! Wir sorgten für ein gewisses Maß an Sicherheit im Falle einer Verletzung, und wir hielten ihnen andere Leute vom Leib. Das war ein Luxus, den diese Kinder noch selten erlebt hatten.

Ich möchte später auf dieses Thema zurückkommen und zunächst einmal etwas näher darauf eingehen, woher und wie es kommt, dass Kinder eine positive heilende Wirkung aufeinander ausüben, wenn man sie sich selber überlässt. Viele "Experten" reagieren auf eine solche Feststellung mit Misstrauen, sie nennen sie romantisch, was nichts anderes heißen soll, als dass die Weltkugel auf dem Schneckenhaus ihrer eigenen Karrieren reitet. Viele Lehrer und Eltern erkennen jedoch in dieser Feststellung eine der schönsten und bedeutungsvollsten Tatsachen des Lebens. Wäre Wachstum möglich - ja, gäbe es überhaupt eine Welt, wenn die Jungen nur die Dinge aufnehmen dürften, die ihnen bewusst von den Erwachsenen geboten werden? Wir sollten uns auch einmal vor Augen halten, was für ein Schock es wäre, wenn wir Erwachsenen zwei Minuten lang noch einmal die Geisteskräfte erleben könnten - die Konzentration, das Gedächtnis, das Interesse am Detail, von der physischen Beweglichkeit ganz zu schweigen -, die wir im Alter von zehn Jahren besaßen. Die Eitelkeit in unseren Beziehungen zu den Jungen würde ganz sicherlich nicht überleben.

Hier sind zwei kleine Vorfälle aus unserer Schule. Sie stehen für Tausende andere, die die Entwicklung von Selbstachtung, Zuversicht, Vertrauen und Achtung für andere unterstützten. Gleichzeitig verminderten sie Scham, Verlegenheit, Selbstverachtung, Feindseligkeit und Miss­trauen gegen andere. Außerdem trug all dies dazu bei, die Barriere aus dem Weg zu räumen, die vorher alle Erlebnisse der Kinder, und dazu gehört auch das Lernen, behindert hatte.

Rudella, das neunjährige Negermädchen, war wegen einiger harter Worte beleidigt, die in Susans Klasse an sie gerichtet wurden. Wegen ihrer Schüchternheit war es sehr schwierig für sie, sich zu verteidigen, doch deshalb war sie nicht gezwungen, zu schmollen und ihren Stolz hinunterzuschlucken. Sie zog ihren Mantel an und verkündete, sie haue ab. Sie sagte, sie komme nicht wieder, und meinte damit "nie wieder", ließ aber durchblicken, es sei nur für den Rest des Tages. Und so marschierte sie hinaus und genoss ihren Abgang, der jedem triumphalen Einzug auf der Bühne ebenbürtig war. Sie ging zum Süßwarengeschäft an der Ecke und kaufte sich einen Schokoladendrink. Man kann sich gut vorstellen, dass in dem Maße, in dem das Glas leer wurde, das "auf immer" zu einem einzigen Tag zusammenschmolz, und dass dieser Tag, als das Glas erst leer war, sehr lang schien. Vielleicht dachte sie daran, dass sie triumphierend und mit großer Würde abgegangen war und dass ihre Klassenkameraden ihren Stolz kennen gelernt hatten. Auf jeden Fall tauchte sie plötzlich in der Tür des Klassenzimmers auf, zog den Mantel aus und warnte dabei ihre Lehrerin wütend, sie solle dafür sorgen, dass so was nicht noch mal vorkomme. Ihre Lehrerin lächelte, und eine ihrer Klassenkameradinnen sagte aufmunternd: "Da ist Rudella!" Als Kenzo Eléna wehtat, wusste er, dass José, dem für die puerto-ricanischen Männer so wichtigen Kodex des "machismo" folgend, sich rächen würde, um die Familienehre wiederherzustellen. José war fast drei Jahre älter als Kenzo, und Kenzo hatte allen Grund, sich zu fürchten. Kenzo war für sein Alter groß und kräftig und außerdem flink; auch war er für sein Alter schon ein richtiger Judo-Experte. In einem normalen sauberen Zweikampf könnte er José vielleicht schlagen, doch in Wirklichkeit - und Kenzo wusste das - war José unbezwingbar. Er würde einfach nie aufgeben. Und er würde nicht vergeben. Sollte er im Faustkampf unterliegen, würde er eben zum Messer greifen. Er würde das Messer vielleicht nicht einsetzen, doch das war keinesfalls sicher. Und er würde sich nach der Schule auf die Lauer legen. José war an die Gewalttätigkeiten der umliegenden Straßen gewöhnt. Kenzo war viel zahmer großgezogen worden, der Vater war ein Bohemien, die Mutter Künstlerin. Er war von seinem Naturell her kein Kämpfer.

Solche Gedanken ließ sich Kenzo mit Sicherheit durch den Kopf gehen. Doch wenn José nicht aufgeben und ihm nicht verzeihen würde, eins würde er bestimmt tun: Wie alle Jungen würde er allmählich (und am Standard der Erwachsenen gemessen schnell) vergessen. Und so blieb Kenzo drei Tage lang der Schule fern, Freitag, Montag und Dienstag, so dass zwischen dem Vorfall und seiner nächsten Konfrontation mit José fünf ganze Tage lagen. Als er wiederkam, war er darauf vorbereitet, José zu versöhnen, und er brachte ein kleines Geschenk mit.

Der Ausgang dieses Abenteuers wird in der nächsten Eintragung des Tagebuchs geschildert werden. Hier möchte ich nur darauf hinweisen, dass Kenzo wusste, dass man ihn nicht zwingen würde zur Schule zu geben. Wir würden ihm seine Abwesenheit nicht ankreiden und ihn bei seiner Rückkehr nicht bestrafen.

Wie verzweifelt wäre er gewesen, wenn ihn trotz seiner Angst und seiner recht realistischen Einschätzung der Gefahr eine gefühllose Koalition von Erwachsenen zum Schulbesuch gezwungen hätte! Hatte er kein Recht darauf, sich zu fürchten? Und mit welchem Recht hätten wir ihn zwingen können, sich der Gefahr auszusetzen, wenn wir ihn nicht beschützen konnten, vor allem in den Stunden nach Schulschluss. Es bedeutete sehr viel für ihn, dass wir seine eigene Lösung akzeptierten. Sein jungenhaftes Gefühl der Hilflosigkeit verringerte sich, wie auch seine Abneigung gegen Erwachsene und Autorität im allgemeinen - eine Abneigung, die durch die widerwilligen Akte des Gehorsams in der Kindheit so zwangsläufig erzeugt wird.

Die Wirkung auf José war beträchtlich. Er musste sich selbst ganz direkt mit Kenzos Abwesenheit auseinandersetzen. Hätten sich in diesem Stadium Erwachsene eingemischt, so hätte sich daraus ein absolut unerwünschter Schutzwall aus "moralischen Gesichtspunkten" ergeben, die mit ihrer Blindheit gegenüber den harten Fakten ganz und gar nicht moralisch gewesen wären. Und was noch wichtiger ist: irgendwelche Entscheidungen von Autoritäten hätten José in der Überzeugung gestärkt, dass er außerhalb der Gesetze stand. Ich erklärte ihm, dass man Kenzo dafür, dass er Eléna schlug, keinen echten Vorwurf machen könne; und ich ließ ihn wissen, dass ich Gewalttätigkeit verabscheue. Davon abgesehen versuchten wir Erwachsene nicht, einen Streitfall zu "schlichten", der den Kindern gehörte. Und José fühlte sich überhaupt nicht außerhalb der Gesetze, sondern staunte nur im Stillen darüber, dass er selbst der Anlass für Kenzos Abwesenheit war. Es schmeichelte ihm ein wenig, dass ihn jemand so fürchtete, doch es war auch ein wenig deprimierend. Was hielt nun Kenzo wirklich von ihm? Waren seine gelegentlichen freundlichen Annäherungen einfach ein Ergebnis seiner Furcht?

Ich brauche kaum zu betonen, dass solche Freiheiten, wie ich sie hier beschrieben habe, ganz wesentlich dazu beitrugen, die Selbstachtung und den natürlichen Stolz der Kinder wieder aufzubauen. Weniger deutlich ist vielleicht die Tatsache, dass Freiheit moralische Überlegungen aktiv in das Leben der Schule treten lässt. Die Frage richtigen Handelns kann überhaupt nie aufgeworfen werden, wenn Gefühle nicht ausgedrückt und geachtet werden. Selbst das "Pflichtbewusstsein", das oft Mitgefühl übergeht, hat mit Gefühlen zu tun, und gewöhnlich mit sehr tiefgehenden. Ohne Gefühle gibt es nur Vorschriften, und Vorschriften sind nahezu wertlos. Gefühle, die zum richtigen Handeln gehören - Zweifel, Scham, Schuld, Mitgefühl, Liebe, Gerechtigkeitssinn - lassen sich auch nicht von anderen Gefühlen isolieren und wie Blumen im Gewächshaus kultivieren. Sie gehören buchstäblich zu all den anderen Gefühlen. Das sich entfaltende Ego erfährt sich selbst durch Gefühle. Wenn Gefühlsregungen ganz allgemein unterdrückt werden, werden damit auch die "feineren Gefühle" unterdrückt.

Es ist hier auch erwähnenswert, dass Erwachsene den Kindern, die man ihre moralischen Probleme selbst lösen lässt, nicht mehr ausschließlich als Autoritätspersonen erscheinen. Sie verlassen ihre zentrale Stellung als Schauspieler und werden zu interessierten Beobachtern, und anstatt wie Anführer der Organisation sehen sie nun eher wie Gemeinde-Älteste aus. Während die Entscheidungen von Autoritäten den Interessen der Kinder oft zuwiderlaufen und ihnen schaden, werden die Meinungen von Älteren häufig respektiert und manchmal sogar ausdrücklich eingeholt. Auch hier ist die natürliche Autorität der Erwachsenen wieder optimal auf die Bedürfnisse der Kinder abgestimmt. Ich rede immer wieder vom Wachstum der Kinder. Ich sollte hinzufügen, dass man unter den oben beschriebenen Bedingungen auch bei Lehrern ein Wachstum beobachten kann. Es ist keine Kleinigkeit, mit einer Anzahl von Kindern in ein ganz direktes, nicht nachlassendes Verhältnis einzutreten. Sie lassen nicht viel Raum für Eitelkeit, Selbstgefälligkeit und Launenhaftigkeit, für die wir Erwachsenen allzu empfänglich sind. Wenn erst einmal die Barriere des Zwangs zwischen den Altersgruppen aufgehoben ist, sieht sich der Erwachsene unweigerlich zu Einfachheit, Direktheit und Ehrlichkeit angehalten.

Es gab viele andere Vorfälle - buchstäblich Tausende - bei denen sich das Wachstum des Ich im direkten Zusammenhang mit den Regeln, denen wir folgten, beobachten ließ. Einige sind bereits im Tagebuch erwähnt worden, und weitere werden in späteren Auszügen erscheinen. Wenn ich sie so ausführlich schildere, so will ich damit ganz einfach sagen: wir können Kinder nicht zu freien Menschen erziehen, wenn wir sie wie kleine Roboter behandeln; wir können keine zukünftigen Demokraten erzeugen, wenn wir Kinder im Gleichschritt marschieren lassen und alle Entscheidungen irgendwelchen Autoritäten überlassen. Wir können das moralische Prestige der Schule nicht dadurch steigern, dass wir die ganze Institution auf Zwang aufbauen und damit den Schulbesuch erzwingen.

So viele Erwachsene unserer Tage leben in einer Welt aus Worten - die halb-wirklichen Geschichten in den Zeitungen, die halb-wirklichen Bilder im Fernsehen, dass sie nicht verstehen, dass es ihnen nicht aufgeht, dass der obligatorische Schulbesuch nicht nur ein Gesetz ist, das sich irgendwie selber Geltung verschafft, sondern dass er letzten Endes ein Akt der Gewalt ist: ein erwachsener Mensch, der sich seinen Lebensunterhalt als eine Art Polizist verdient, legt seine linke Hand und seine rechte irgend einem Kind (gewöhnlich einem gestörten) auf den Arm und führt ihn ins Gefängnis für Jugendliche ab - die Erziehungsanstalt. Ich beschreibe das Schicksal Hunderter eingefleischter Schulschwänzer. Die Existenz der Erziehungsanstalt und des Beamten, der Schulschwänzer aufspürt, war für zwei unserer Jungen ein heißes Thema. Sie verstanden die Bedeutung des obligatorischen Schulbesuchs sehr gut, und eben deshalb hatten sie die Schule geschwänzt. Wir schafften diesen Akt der Gewalt ab, und diese chronischen Schulschwänzer waren kaum mehr aus der Schule hinaus zu bekommen.

 

  Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 

Foto: George Dennison(George Dennison)

George Dennison,

1925-1989, Mitstreiter und Freund von Paul Goodman, begründete mit seinem Bericht über die »First Street School« die Gestaltpädagogik. Später wendete er sich der Literatur und Poesie zu.

 

Cover: Gestaltpädagogik in Aktion

George Dennison
Gestaltpädagogik in Aktion
Ein Praxisbericht
Aus dem Amerikanischen von Hans Hermann
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Stefan Blankertz

Mitte der 1960er Jahre: Der Gestalttherapeut George Dennison gründet mitten in einem sozialen Brennpunkt New Yorks eine Alternativschule – die »First Street School«.

Aus Tagebuchaufzeichnungen und pädagogisch-politischen Reflexionen montiert George Dennison einen Praxisbericht, der sowohl mitreißend und spannend zu lesen ist als auch tiefe Einsichten vermittelt.

Die gegenwärtige Sorge um die öffentlichen Schulen – Unfähigkeit mit Gewalt unter Schülern umzugehen, sinkende Lernleistungen der Schüler und trotz aller Reformen fortgesetzte Demütigungen von Schülern und Eltern durch Lehrer – machen das Buch von Dennison wieder hochaktuell.

Stefan Blankertz baut in seinem Nachwort die Brücke zwischen der damaligen und der heutigen Diskussion.

Edition GIK Gestalt-Institute Köln und Kassel
im Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2006

393 Seiten, broschiert, 24,90 Euro

Dieses Buch erhalten Sie im gut sortierten Buchhandel und
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