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"Das staatliche Schulwesen versteht es meisterhaft,
die Reformen in seinem Sinne zu korrumpieren…"
George Dennison im Gespräch mit Rainer Winkel (1)


Aus der Gestaltkritik 1/2007

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

  • Gestalttherapie und ihre Weiterentwicklung
  • Gestalttherapie als spirituelle Suche
  • Gestalttherapie als politische Praxis

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 1-2007):

"Das staatliche Schulwesen versteht es meisterhaft,
die Reformen in seinem Sinne zu korrumpieren…"
George Dennison im Gespräch mit Rainer Winkel (1)

 

Foto: George Dennison(George Dennison)

 

Der Mitbegründer der First Street School, George Dennison, lebt zur Zeit des Interviews (1973) »in privilegierter Abgeschiedenheit«, er ist »in erster Linie Schriftsteller«. Und weil er »diesen Job ganz ernst« nimmt, geht er immer wieder in die Praxis, um sich »politisch und sozial zu engagieren.« George Dennison, geboren 1925, aufgewachsen in Pittsburgh, studierte Ingenieurbau, So­zialwissenschaften und lernte Gestalttherapie am »New York Institute for Gestalt Therapy« unter Paul Goodman. Er arbeitete drei Jahre psychotherapeutisch mit kranken Kindern und gründete 1964 zusammen mit einigen Lehrern die First Street School. Sein Bericht darüber hat den deutschen Titel »Lernen und Freiheit« [= vollständig abgedruckt im Buch "Gestaltpädagogik in Aktion"]. Sein neuestes Werk trägt den Tiel »And Then a Harvest Feast. New York«. Dennison lebt zur Zeit in einem kleinen Ort im Bundesstaat Maine.

 

Winkel: Mr. Dennison, in der augenblicklichen Diskussion über Alternativen zur Schule tauchen Begriffe wie »Free Schools«, »Mini Schools«, »Street Schools« etc. auf. Was steckt hinter diesen Etikettierungen?

Dennison: Nun, die First Street School, über die mein Buch berichtet, war eine Free School, d.h. die Kinder kamen freiwillig zum Unterricht, und sie wurden nicht bestraft, wenn sie fortblieben. Hinter der Theorie und Praxis solcher Free Schools steht natürlich Summerhill von A.S. Neill. Aber unsere First Street School war auch eine Mini School, wie sie Paul Goodman vorgeschlagen hat. Wir haben eingesehen, dass unsere Alternativprogramme nicht gut in Mammutschulen verwirklicht werden können. Niemals hätten wir mehr als 25-30 Kinder aufgenommen. Einige Mini Schools nannten sich selbst Streeet Schools um anzudeuten, dass sie für die Anwohner der sie umgebenden Straßen da sein wollen und nicht etwa für die öffentliche Schulbürokratie. Die First Street School war also eine Free School, eine ­Mini School und eine Street School.

Winkel: Wo etwa würden Sie diese Schule in der Alternativprogrammatik ansiedeln?

Dennison: Die Alternativen zur Schule wollen keine Reformen sein. Das staatliche Schulwesen ist nicht zu reformieren – es versteht es nur meisterhaft, die Reformen in seinem Sinne zu korrumpieren. Nehmen Sie z.B. die augenblicklich hoch gepriesenen englischen Schulreformen etwa »Das offene Klassenzimmer«, »Der offene Korridor«, »Die informelle Erziehung« der britischen Infant Schools. (2) Sie werden jetzt auch in einigen US-Schulen erprobt und sind doch nur winzig kleine Schritte auf dem Weg einer radikalen Schulreform, den Neill, Goodman, Dewey oder Tolstoj gewiesen haben. Ihre Methoden sind einfach nicht stark genug, um mit den riesigen Problemen des öffentlichen Schulsystems fertig zu werden. Ja, sie perpetuieren die Schul­bürokratie. Deshalb halte ich nichts von ihnen. Und doch bin ich nicht in jedem Fall gegen diese Schulreformen, solange sie irgendeine Verbesserung bewirken. Denn die Alternative zur Schule wird noch viele Jahre lang erkämpft werden müssen, vielleicht Generationen noch beschäftigen. Für diese langfristige Perspektive halte ich die ­Gedanken etwa eines Ivan Illich für tragfähiger, obgleich man das Programm einer »Entschulung der Gesellschaft« eher mit Jugend­lichen und Erwachsenen wird verwirklichen können als mit jüngeren Schülern. (3) Für diese ist die Free-School Idee praktikabel.

Winkel: Welche Pädagogik steckt hinter der Free-School-Idee und -Bewegung?

Dennison: Keine andere als die fundamentale Rationalität und der fundamentale Elan des Lebens in einer Kommune. Dieses Leben muss man ebenso wenig entschulen wie in große Gebäude verfrachten, die man dann Schulen nennt. Kleine Gruppen von Kindern und Erwachsenen kommen zusammen, suchen sich einen Platz oder ein Haus und lehren und lernen miteinander: sie erzählen Geschichten, tanzen, singen, musizieren, malen, erforschen ihre Umwelt … Das sind die ursprünglichen Formen wissenschaftlicher und künstlerischer Aktivitäten. Das Leben unverfälscht erfahren – darin besteht die Pädagogik der Free Schools.

Winkel: Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie Ende 1964 zusammen mit Gloria Aranoff, Susan Goodman und Mabel Chrystie mitten in den Slums von Manhattan ein paar leer stehende Räume mieteten und zusammen mit 23 Kindern die First Street School aufmachten?

Dennison: Eigentlich wurde die Schule von Mabel Chrystie, die jetzt meine Frau ist, gegründet. Sie war vorher beamtete Lehrerin in New York City, und zwar speziell für ältere Kinder, die nicht lesen konnten. Zwischenzeitlich studierte sie die Werke von Goodman, Neill und anderen. Anfang der 1960er Jahre kam ein Schüler Neills, Robert Barker, der auch mit Neill in Summerhill unterrichtet hatte, hierher und eröffnete in einer ländlichen Gegend nicht weit von New York City eine Internatsschule. Mabel hat dort drei Jahre lang unterrichtet und konnte sich davon überzeugen, dass die oben erwähnten Grundprinzipien den in den öffentlichen Schulen praktizierten Methoden einfach überlegen waren. Aber sie glaubte, daß die Idee einer Freien Schule am besten verwirklicht werden könnte, wenn sie in der Gemeinde, auf der Straße praktisch wird. So beschaffte sie Geld von privaten Spendern, um das zweijährige Experiment zu finanzieren. Da die Schule ursprünglich in der »First Street« Manhattans begann, nannten wir sie »First Street School«.

Winkel: Ihre Geschichte der Street School hat unzählige Menschen zutiefst erschüttert. Seit Ihr Buch auch in der BRD in einer Übersetzung vorliegt, übt es hierzulande besonders auf die junge Generation einen starken Einfluss aus. Dieses Tagebuch mit den Aggressionsausbrüchen von Schülern, mit den verzweifelten Bemühungen um ein wenig Menschlichkeit inmitten einer unmenschlichen Umwelt, diese ­Berichte über den aggressiven Negerjungen (4) Willard, den gerissenen Puerto-Ricaner José oder die infantile Maxime, diese Lehrergruppe, die vielleicht manche der Kinder vor dem endgültigen Ausflippen bewahrt hat und ihnen inmitten von Rassismus, Hinterhältigkeit und Ausbeutung Lerneifer und Spontaneität, Lachen und Weinen beibrachte, haben uns deutlich gemacht, um welchen furchtbaren Preis die staatlich monopolisierte Schule Erfolg hat: Hinter ihr bleibt eine wachsende Zahl von gehandikapten jungen Menschen zurück. Haben Sie dies Buch geschrieben, um uns das bewusst zu machen?

Dennison: Als ich über das Leben dieser Kinder schrieb, kannte die amerikanische Öffentlichkeit das Versagen ihrer Schulen. Nicht nur Kritiker wie J. Holt, P. Goodman, J. Kozol, J. Herndon oder N. Hentoff bewiesen es, sondern mehr noch die offiziellen Statistiken, die einerseits belegten, dass es unseren Schulen nicht gelingt, die Schüler zu erziehen und anderseits Zahlen zum Wandalismus, zum Schuleschwänzen und zum Hass der Schüler gegen die Schule auf den Tisch legten. Ich wollte in dem Buch die individuelle menschliche Realität hinter diesen Statistiken aufdecken. Und – darauf kam es mir noch mehr an: Ich wollte zeigen, daß man die Persönlichkeitsschäden, an denen unsere Schüler leiden, heilen kann. Unsere Schüler machten sowohl in ihrer charakterlichen Entwicklung als auch bezüglich ihrer Lernfähigkeit enorme Fortschritte.

Winkel: Sie sind 1972 aus Manhattan weggezogen und leben jetzt hier in einem Städtchen im Staate Maine. Hat Charles E. Silberman recht, wenn er von Ihnen sagt, Sie seien nach den beiden Jahren Street-School Praxis zermürbt, erledigt, psychisch am Ende Ihrer Kraft? (5)

Dennison: Silberman zitiert mich selbst, wenn er sagt, ich sei am Ende dieser beiden Jahre ziemlich erschöpft und fertig gewesen. Aber er sagt dies, um die Idee der Free Schools zu diskreditieren, und das halte ich für recht gedankenlos. Schauen Sie, beamtete Lehrer sind doch am Ende eines Schuljahres nicht weniger zermürbt, oder nehmen Sie Busfahrer, Polizisten, Rechtsanwälte, Psychiater oder Kellner.

Winkel: Nun wirft Silberman den Street Schools vor, sie seien schon deshalb keine praktikable Lösung, weil sie mit einigen wenigen charismatischen Persönlichkeiten stehen und fallen, und das sei nicht mehr als ein Tropfen auf einen heißen Stein.

Dennison: Das stimmt doch einfach nicht! Viele Hausfrauen, Lehrer, ältere Schüler, Geschäftsleute, Handwerker und andere Berufstätige würden sehr gut an einer Free School wirken können. Es kommt nicht auf Charisma an, sondern auf verständliches Wissen und auf die Fähigkeit, etwas zu machen, d.h. etwas zu planen, zu bauen, zu reparieren, Geschichten zu erzählen, Gesetze zu interpretieren etc. Viele Erwachsene haben die erforderliche Persönlichkeit, besitzen Fertigkeiten, spezielles Wissen und wertvolle Erfahrungen. Z.Zt. stellen sie ein enormes Reservoir an ungenutzten Talenten dar. Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum diese Leute nicht in den Schulen unterrichten und erziehen sollen. Viele würden es gerne tun, wenn sie sich nicht den lächerlichen Zwängen der Schulbürokratie unterwerfen müssten. Unser augenblickliches Schulsystem wird wie ein riesiges Industriemonopol geführt; es basiert auf zwei Grundsätzen, die beide nicht mit dem Wohl der Menschen zu tun haben: erstens der allgemeinen Schulpflicht und zweitens der staatlichen Prüfung für das Lehramt. Wenn also Silberman meint, wir seien erschöpft gewesen, versteht er unter Lehren eine lebenslange Karriere. Ich meine jedoch, dass nur sehr wenige Menschen ein Leben lang Lehrer sein sollten. Dieses Karrieredenken untergräbt doch jede vernünftige Unterrichts- und Erziehungsarbeit. Wir sollten lieber ein paar Jahre unterrichten und dann etwas anderes tun. Alle meine Lehrer auf der Ingenieurschule waren Praktiker, die auch unterrichteten. Das sollte das Modell des Lehrerberufes sein. Meine Gründe, die First Street School zu verlassen, waren ganz einfache. Ich hatte niemals die Absicht, länger zu bleiben. Ich bin in erster Linie Schriftsteller. Und weil ich diesen Job ganz erst nehme, ging ich vorübergehend in eine Schule. Ich habe jedoch nie eine dieser Lehrerausbildungen genossen.

Winkel: Man spricht heute gern von »Alternativen zur Schule«, weil man den korrumpierten Begriff der »Reform« vermeiden will. Reformen, so sagt Goodman in seinem Buch »Aufwachsen im Widerspruch«,(6) sind von der IBM-Kultur, der »organized society« allemal aufgekauft und pervertiert worden. Das aber wollen die Alternativprogramme unter allen Umständen vermeiden. Gemeinsam ist all den Gegenentwürfen doch das tiefe Unbehagen an den Ungerechtigkeiten, dem heimlichen Terror, den im Interesse einer elitären Schicht liegenden Schrittmacherdiensten der klassischen Schule. Nun kritisieren auch die Konservativen und die Liberalen die US-Schulen. Worin unterscheiden Sie sich von C.E. Silberman, J. Bruner, J.B. Conant u.a.? (7)

Dennison: Lassen Sie mich zunächst feststellen: Alle augenblicklichen Veränderungen in den amerikanischen Schulen, Lehrercolleges etc. kommen von einer Tradition her, nämlich der Tradition der radikalen Kritik. Es gibt keine echte konservative Kritik. Das hat historische Gründe. In den beiden letzten Jahrhunderten haben die Vereinigten Staaten keine wirklich sozialen Institutionen gehabt, sondern lediglich Macht ausübende Zentren. Darauf gibt es zwei Antworten: Reformbemühungen oder radikaler Wandel. Daher haben wir zwar Reaktionäre, Liberale und Radikale, aber keine Konservativen gehabt. Silberman ist Sprecher des Establishments. Er möchte die bestehenden Machtverhältnisse mit Hilfe von Reformen bewahren. Aber das geht heute nicht mehr mit Hilfe der alten Methoden. Deshalb muss er sich an die Radikalen wenden und Reformen vorschlagen, die jedoch die grundlegenden Machtverhältnisse nicht berühren. In seinem Buch gibt es nichts, was nicht vor 40 Jahren von Neill oder vor 30 Jahren von Goodman ausgesprochen wurde. Die Radikalen der 1960er Jahre – Kritiker, die Silberman als »Romantiker« abtut – haben ihm die Grundgedanken seiner Kritik geliefert. Wo aber die heutigen Radikalen die Autonomie der Schule und fundamentale Veränderungen in der Schule fordern, ruft Silberman nach der verständnisvollen Administration, aber eben Administration. Mir kommt das vor wie aufgeklärter Kolonialismus. Man wird nicht mehr brutal unterdrückt, sondern auf höfliche und vornehme Art und Weise. J. Bruner unterscheidet sich davon kaum. Intellektuell sind diese Autoren uninteressant. In ihrer praktischen Wirkung billige ich ihnen zu, dass sie zuweilen mehr nutzen als schaden, denn sie mildern die furchtbaren Effekte des Systems, dem sie dienen. Töricht ist es jedoch anzunehmen, dass die Vorschläge dieser Reformer zu einem grundsätzlichen Wandel führen könnten.

Winkel: Für wie stark halten Sie den Einfluss der Free Schools auf die amerikanische Gesellschaft?

Dennison: Für nicht sehr stark. Lassen Sie sich nicht von den Zahlen täuschen! Was sind 300 oder 400 Free Schools in einem Land wie den Vereinigten Staaten?

Winkel: Woran liegt das?

Dennison: Vier Gründe: Erstens sollen die Free Schools in die jeweilige Kommune integriert werden, aber z.Zt. weisen die meisten Kommunen die Free-School-Idee vehement zurück. Zweitens leiden die Free Schools chronisch an Geldmangel. Drittens sollte jede Free School möglichst klein sein. Das aber erfordert – schon allein um Provinzialismus zu vermeiden – eine enge Kooperation mit anderen in der Nähe liegenden Free Schools. In Wirklichkeit aber sind sie weit über das ganze Land zerstreut. Und viertens beginnt die Free-School-Bewegung erst allmählich, ihre pädagogischen und didaktischen Aussagen zu machen. Wie aber kann sie das unter den sie umgebenden Zwängen?! Kurz gesagt: Ich halte es für absurd zu behaupten, die Free-School-Idee sei ausprobiert worden. Man kann das öffentliche Schulsystem ausprobieren und kritisieren, denn es existiert als System. Aber man kann heute noch keine Aussagen über die Free-School-Bewegung als mögliches Schulsystem machen, denn dieses System gibt es noch nicht. Wir haben allenfalls mehr oder weniger gute Repräsentanten dieser Idee einer Freien Schule. Und wir können die Wirkungen beschreiben, die diese Schulen auf Schüler, Lehrer und Eltern ausüben. Der Rest ist Spekulation.

Winkel: Hat es vielleicht am nötigen Engagement der Free-School-Verfechter gefehlt?

Dennison: Das glaube ich nicht. Ich habe vor vielen Verwaltungsfunktionären und Schulbürokraten gesprochen. In der Regel habe ich dabei kein Blatt vor den Mund genommen und ihren Zorn hervorgerufen. Ich höre sie noch heute endlos protestieren. Niemals jedoch vernahm ich eine intellektuelle oder moralische Verteidigung des bestehenden Schulwesens. Ich finde das erstaunlich, und doch überrascht es mich nicht. In den Büchern der Silbermans und Bruners finden Sie nirgends eine ernsthafte Kritik an der Free-School-Idee, sondern allenfalls ein paar herablassende Bemerkungen über die lässlichen Sünden der Free-School-Praxis.

Winkel: Was haben Sie, Mr. Dennison, an der First Street School gelernt? Was würden Sie heute anders machen?

Dennison: Wenn ich das Buch noch einmal schreiben müsste, würde ich vor allem die Bedeutung der kommunalen Integration betonen. Die Free School ist eine Schule ihrer Anwohner. Die meisten Probleme der z.Zt. bestehenden Free Schools sind das Resultat äußerer Pressionen und Nöte, nicht interner Widersprüche.

Winkel: Mir scheint es notwendig zu sein, alle Alternativprogramme einmal daraufhin zu befragen, ob sie nicht eine gemeinsame Globalstrategie gegen die herrschende Schulpraxis und für eine neue Lehr- und Lernwirklichkeit entwickeln können. Zum ersten Problem: Welches sind Ihre wichtigsten Anklagen gegen die Schule und das sie tragende gesellschaftliche System?

Dennison: Am heftigsten werfe ich den Schulen vor, dass sie echtes demokratisches Leben unmöglich machen. Eine wirklich demokratische Gesellschaft braucht informierte Wähler (Jefferson), muss kritische Bürger hervorbringen, nicht nur Männer und Frauen (Goodman; Rosenstock-Huessy), und eine solche Gesellschaft lebt davon, bestehende Praktiken laufend zu kritisieren und nach Modellen eines besseren Lebens Ausschau zu halten (Dewey). (8) Das traditionelle Schulsystem zerstört all diese Notwendigkeiten.

Winkel: Und wie würden Sie langfristig und global ein Alternativprogramm skizzieren?

Dennison: Auf die Dauer gesehen können die schulischen Probleme natürlich nicht losgelöst von den gesellschaftlichen und politischen gelöst werden. Darauf, Herr Winkel, zielt ja Ihre Frage. Illich z.B. empfiehlt, bestehende Fabriken und Arbeitsstätten als Lernfelder zu benutzen. Aber die dort getane Arbeit ist entfremdete Arbeit und als solche anti-erzieherisch. In den USA hat das Schulproblem viel zu tun mit der Beziehung der Familien zum Staat und mit unserer belastenden Tradition des auf Wettkampf ausgerichteten Individualismus. Wenn Sie aber nach einer globalen Strategie fragen, muss ich Ihnen antworten: Mich beeindrucken bereits die lokalen Schwierigkeiten dermaßen, dass ich mir diejenigen einer globalen Strategie gar nicht vorstellen kann. In New York City z.B. arbeiten einige politisch erfahrene und engagierte Eltern zwei Jahre lang daran, eine Free School innerhalb des allgemeinen Schulwesens zu etablieren. Mittlerweile besteht diese Schule auch, aber sie hat viele Feinde und kämpft verzweifelt um ihre Existenz. Ich meine damit, wir sollten mit den Alternativen zur Schule dort anfangen, wo wir leben; Globalstrategien helfen uns z.Zt. nicht weiter.

Winkel: Die USA sind in vielen Bereichen bereits weiter entwickelt als europäische Gesellschaften. Das heißt aber auch, die gesellschaftlichen Widersprüche sind bei Ihnen bereits schärfer zu sehen als bei uns. Und gerade deshalb sollten wir uns nichts vormachen. Auch in der BRD haben wir z.B. ein Problem der Minderheiten (ca. 1 Mio. Gastarbeiterkinder), der Drogenabhängigen, der jugendlichen Kriminalität, der Disziplinkonflikte etc. Aber diese Probleme werden ignoriert, totgeschwiegen, verdrängt, geleugnet … Dabei ist jedem Einsichtigen klar, dass wir in kurzer Zeit dort angelangt sein werden, wo Ihr Land heute ist. Frage: Was können wir konkret tun, um diese scheinbare Zwangsläufigkeit zu vermeiden? Wie verhindern wir, dass eine immer exklusivere Elitenkultur und eine mehr und mehr absackende, brutaler werdende Schicht von Leuten, die beim »Rattenrennen« keine Chance haben?

Dennison: Damit schneiden Sie ungeheure politische, soziale und historische Probleme an. Grundsätzlich sehe ich die Alternative darin, radikal zu dezentralisieren, Regierungsgewalten zu entmachten, Steuern lokal zu verbrauchen, freiwillig Verbindungen regionaler Gruppen zu bilden – kurz: Ich plädiere für den »Anarchismus« eines Kropotkin, (9) den auch P. Goodman meinte. Anarchismus heißt hier: eine überschaubare, direkte, flexible und humane Form des miteinander und füreinander Lebens, wobei alle Produktions- und Konsumtionsmittel in Gemeineigentum überführt werden.

Winkel: Aber finden Sie das nicht sehr utopisch? Glauben Sie im Ernst, dass diese Ansicht überhaupt Gehör findet? Immerhin sind die gegnerischen Stimmen laut und zahlreich. Ich meine nicht diejenigen, die von all dem nichts wissen wollen, sondern die rührigen Konservativen. So sagt etwa der Behaviorist B.F. Skinner in seinem jüngsten Bestseller, (10) wir könnten uns diese Freiheit, diesen Kampf um mehr Autonomie und Emanzipation nicht länger leisten. Stattdessen schlägt er ernsthaft vor, wir sollten uns freiwillig (!) so konditionieren und kontrollieren lassen, dass wir aufhören, frei zu denken und zu handeln und permanent Probleme aufzuwerfen; stattdessen sollten wir das tun, was uns die Verhaltenstechnologie »zu unser aller Glück« vorschreibt. Nochmal gefragt: Haben die Kritiker und damit die Unterprivilegierten überhaupt eine Chance?

Dennison: Ich kenne die Skinnerschen Konditionierungstechniken aus eigener Anschauung. Sie zerstören alle Möglichkeiten einer kreativen Veränderung. Skinners Position ist zutiefst unwissenschaftlich und reaktionär. Sein Plan funktioniert doch nur, wenn es auch weiterhin eine führende Klasse von Professionellen gibt, die die anderen wie Täubchen dirigieren. Skinner appelliert ja auch vornehmlich an die Armee, die Industrie und die öffentlichen Schulen, die alle ein vehementes Interesse daran haben, die Massen zu manipulieren und damit ihre eigene Macht zu stärken. Wenn wir Selbstsucht für wenige und Dummheit für viele wollen, ist der Skinnerismus ein ausgezeichneter Weg. Aber wir haben eine Chance, dies zu verhindern.

Winkel: Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine etwas persönliche Frage, Mr. Dennison. Was tun Sie z.Zt. und wie stellen Sie sich Ihre nähere Zukunft vor?

Dennison: Im Augenblick schreibe ich – Erzählungen, Gedichte, Schauspiele. Es gibt Vieles, was ich gern tun würde. Gleichzeitig fühle ich mich besorgt wegen der privilegierten Abgeschiedenheit, in der ich z.Zt. lebe. Falls ich nichts künstlerisch Wertvolles für meine Mitmenschen zustande bringe, werde ich mich sicherlich wieder politisch oder sozial engagieren.

Winkel: Haben Sie recht herzlichen Dank für dieses Gespräch.

 

Anmerkungen

01 Rainer Winkel, Jahrgang 1943, war Lehrer an verschiedenen Grund- und Hauptschulen, 1972 in den USA und zur Zeit des Interviews (1973) an der Gesamthochschule Essen tätig. Seit 1980 Inhaber eines Lehrstuhls für Erziehungswissenschaft an der Berliner Hochschule der Künste und jetzt Leiter einer Gesamtschule in Gelsenkirchen. Das Gespräch ist Original erschienen in: betrifft:erziehung, 6. Jg., Heft 10, 1. Oktober 1973. Wir danken dem Beltz-Verlag und Rainer Winkel für die freundliche Abdruckerlaubnis. [Anm. vom Hg. ergänzt.]

02 Die britische Grundschulreform aus den 1960er Jahren ist besonders von Joseph Featherstone in den USA popularisiert worden; vgl. Joseph Featherstone, Schools Where Children Learn, New York 1971. [Anm. d. Hg.]

03 Ivan Illich (1926-2002), Entschulung der Gesellschaft (1971), München 1995. [Anm. d. Hg.]

04 Der Begriff »Neger« gilt inzwischen als diskriminierend. Diese Ansicht teilte Dennison nicht. Zu Beginn seines Buches (S. 17ff) legt er dar, warum er den Begriff »schwarz« zumindest für ungeeignet hält, das Erleben von Kindern zu beschreiben. [Anm. d. Hg.]

05 Vgl. das Interview mit Charles E. Silberman in: betrifft:erziehung, 6. Jg., 2/1973, S. 50-52 sowie in: Unterricht heute, 24. Jg., 6/1973.

06 Vgl. Paul Goodman: Aufwachsen im Widerspruch: Über die Entfremdung der Jugend in der verwalteten Welt, Darmstadt 1971. Titel der Originalausgabe: Growing Up Absurd: The Problems of Youth in the Organized Society, New York 1960.

07 Zu C. Silbermann vgl. Anm. 5; zu J. Brunner vgl. in George Dennisons Bericht Anm. 1 sowie seine Bemerkungen zu Brunner weiter hinten (Anm. 17); James Bryant Conant war Chemiker, Diplomat (u.a. amerikanischer Botschafter in der Bundesrepublik) und konservativ-liberaler Bildungspolitiker, vgl. z.B. The Child, the Parents and the State, Cambridge 1960. [Anm. d. Hg.]

08 Thomas Jefferson (1743-1826), Verfasser der us-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und dritter Präsident der USA (1801-1808), trat für Bürgerrechte und gegen Staatsallmacht ein. Paul Goodman (1911-1973), Mitbegründer der Gestalttherapie (1951), war in den 1960er Jahren stark im Jugendprotest engagiert. Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973) war ein einflussreicher deutsch-amerikanischer, jüdisch-christlicher Kulturphilosoph. Zu dem bedeutensten us-amerikanischen Pädagogen John Dewey (1859-1952) vgl. die umfangreichen Äußerungen von Dennison in seinem Berich über die First Street School. [Anm. d. Hg.]

09 Vgl. z.B. Peter Kropotkin (1842-1921), Memoiren eines Revolutionärs (1899), Frankfurt/M. 1969. Kropotkin wird heute wieder unter Soziobiologen diskutiert aufgrund seiner in kritischem Anschluss an Darwin aufgestellten These, nicht (nur) Konkurrenz, sondern (vor allem auch) Kooperation sei der Motor der Evolution (Mutual Aid, 1902; dt. Gegenseitige Hilfe, Berlin 1975). [Anm. d. Hg.]

10 Vg. B.F. Skinner: Beyond Freedom and Dignity, New York 1971. Dt. Ausgabe: Jenseits von Freiheit und Würde, Reinbek 1973.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Foto: George Dennison(George Dennison)

George Dennison,

1925-1989, Mitstreiter und Freund von Paul Goodman, begründete mit seinem Bericht über die »First Street School« die Gestaltpädagogik. Später wendete er sich der Literatur und Poesie zu.

 

Cover: Gestaltpädagogik in Aktion

George Dennison
Gestaltpädagogik in Aktion
Ein Praxisbericht
Aus dem Amerikanischen von Hans Hermann
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Stefan Blankertz

Mitte der 1960er Jahre: Der Gestalttherapeut George Dennison gründet mitten in einem sozialen Brennpunkt New Yorks eine Alternativschule – die »First Street School«.

Aus Tagebuchaufzeichnungen und pädagogisch-politischen Reflexionen montiert George Dennison einen Praxisbericht, der sowohl mitreißend und spannend zu lesen ist als auch tiefe Einsichten vermittelt.

Die gegenwärtige Sorge um die öffentlichen Schulen – Unfähigkeit mit Gewalt unter Schülern umzugehen, sinkende Lernleistungen der Schüler und trotz aller Reformen fortgesetzte Demütigungen von Schülern und Eltern durch Lehrer – machen das Buch von Dennison wieder hochaktuell.

Stefan Blankertz baut in seinem Nachwort die Brücke zwischen der damaligen und der heutigen Diskussion.

Edition Gestalt-Institut Köln / GIK Bildungswerkstatt
im Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2006

  • 393 Seiten, broschiert, 24,90 Euro
    Wir senden Ihnen dieses Buch gerne auf Rechung - natürlich versandkostenfrei!

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