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Gary Yontef
Die dialogische Haltung in der Gestalttherapie
– als Konsequenz der phänomenologischen Herangehensweise
Gary Yontef im Gespräch mit Robert L. Harman

Aus der Gestaltkritik 2/2008

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (2-2008):

Foto: Gary Yontef(Garry Yontef)

Gary Yontef
Die dialogische Haltung in der Gestalttherapie
– als Konsequenz der phänomenologischen Herangehensweise
Gary Yontef im Gespräch mit Robert L. Harman

Bitte beachten Sie auch die Beiträge von Gary Yontef in früheren Ausgaben unser Gestalttherapie-Zeitschrift "Gestaltkritik". Danke.

Yontef: Vieles, was über die Gestalttherapie gesagt und geschrieben worden ist, legt nahe, daß sie theoretisch gesehen eine Sammlung zufälliger Konzepte und Techniken sei. Ich denke aber, daß die Theorie der Gestalttherapie zusammenhängender ist, als man normalerweise meint. Die durchgängige theoretische Fundierung der Gestalttherapie wird klar, wenn man Phänomenologie und Dialog als ihre Grundlagen betrachtet. Dies kann man in den ursprünglichen Texten der Gestalttherapie – »Ego, Hunger, and Aggression« (1947) von Perls und »Gestalt Therapy« (1951) von Perls, Hefferline und Goodman – nachvollziehen.

Das Konzept »Dialog« allerdings wurde nicht weiter erläutert. Obgleich von einem Gestalttherapeuten erwartet wurde, daß er aktiv und präsent sei, um eine gute existentielle Begegnung zu ermöglichen, wurden die Details nicht klar gemacht. Fritz Perls machte es nicht klar, weil er nie lange genug daran arbeitete, um etwas theoretisch klar zu machen. Andere der frühen Gestalttherapeuten schrieben nicht viel und verfaßten keine Texte, die die Philosophie der Gestalttherapie ausdrückten und entwickelten. In den Texten und in der mündlichen Überlieferung ist viel von Kontakt, Unterstützung und Gewahrsein die Rede, aber es wird wenig Bezug genommen auf die philosophischen Hintergründe.

Perls, Hefferline und Goodman (1951) betonten überdies den Prozeß­charakter der Feldtheorie. Aber sie gingen nicht explizit auf die Art der ­Beziehung ein – den Teil des Existentialismus, der für Yontef: Vieles, was über die Gestalttherapie gesagt und geschrieben worden ist, legt nahe, daß sie theoretisch gesehen eine Sammlung zufälliger Konzepte und Techniken sei. Ich denke aber, daß die Theorie der Gestalttherapie zusammenhängender ist, als man normalerweise meint. Die durchgängige theoretische Fundierung der Gestalttherapie wird klar, wenn man Phänomenologie und Dialog als ihre Grundlagen betrachtet. Dies kann man in den ursprünglichen Texten der Gestalttherapie – »Ego, Hunger, and Aggression« (1947) von Perls und »Gestalt Therapy« (1951) von Perls, Hefferline und Goodman – nachvollziehen.

Das Konzept »Dialog« allerdings wurde nicht weiter erläutert. Obgleich von einem Gestalttherapeuten erwartet wurde, daß er aktiv und präsent sei, um eine gute existentielle Begegnung zu ermöglichen, wurden die Details nicht klar gemacht. Fritz Perls machte es nicht klar, weil er nie lange genug daran arbeitete, um etwas theoretisch klar zu machen. Andere der frühen Gestalttherapeuten schrieben nicht viel und verfaßten keine Texte, die die Philosophie der Gestalttherapie ausdrückten und entwickelten. In den Texten und in der mündlichen Überlieferung ist viel von Kontakt, Unterstützung und Gewahrsein die Rede, aber es wird wenig Bezug genommen auf die philosophischen Hintergründe.

Perls, Hefferline und Goodman (1951) betonten überdies den Prozeß­charakter der Feldtheorie. Aber sie gingen nicht explizit auf die Art der ­Beziehung ein – den Teil des Existentialismus, der für mich das Herz der ­Gestalttherapie ausmacht.

Die Phänomenologen und Gestaltpsychologen entschieden sich für jeweils einen von zwei möglichen Wegen. Entweder gingen sie in die Richtung transzendenter Phänomene, wo sie ausschließlich auf das Wesen der Dinge schauten, oder sie gingen in die Richtung, wo sie ausschließlich auf die [Gestalt-]Prozesse schauten. Es gab keine Betonung der Ganzheit der Personen. Die existentialistischen Phänomenologen gingen anders vor. Sie schenkten der phänomenologischen Prozeßorienterung Beachtung, das heißt der mensch­lichen Existenz. Das ist der philosophische Hintergrund für uns, nämlich die existentialistische Phänomenologie – aber wir machen den existentialistischen Teil nicht sehr klar. Wahrnehmung wovon? Warum? Nur aus Lust am augenblicklichen sinnlichen Wahrnehmen? Ein guter Gestalttherapeut hat eine größere Weitsicht im Sinn.

Als ich Martin Buber las, war meine Reaktion: »O mein Gott!« Dies schien wie eine systematische philosophische Begründung, die auf einer konkreten Ebene mit den Konzepten und den Praktiken der Gestalttherapie absolut kompatibel ist. Er hat Ideen auf eine Weise ausgearbeitet, die für mich theoretisch befriedigend waren. Nun brachte ich diesen Hintergrund in mein Verständnis von Worten wie »Kontakt« mit ein.

Aber nach einer Weile mußte ich erkennen, daß nicht jeder die Worte so verstand wie ich. Entweder verstanden sie sie anders oder gar nicht. Als ich an klinischen Fällen arbeitete, mit denen sich auch die »Objektbeziehungs-Theoretiker« und die Kohutianer beschäftigen, bemerkte ich, daß ich eine höher entwickelte Fähigkeit besaß, Beziehungen zu den verschiedenen Arten von Patienten aufzubauen. Ich begann, das näher anzuschauen, und gelangte dahin, die dialogische Beziehung weiterzuentwickeln.

Es scheint mir, daß die wirklichen Alternativen lauten:

1. Der Ansatz, die Symptome zu kontrollieren, egal ob in der Variante der Behavioristen, der Ericksonianer oder wem auch immer, oder

2. der psychoanalytische Ansatz, wo man sich wirklich auf die Übertragung konzentriert und daran arbeitet.

3. Oder man braucht eine Alternative, die eine genauso hoch entwickelte wissenschaftliche Theorie, einen philosophischen Hintergrund und Techniken beinhaltet, und die in der Lage ist, zwischen den verschiedenen Arten von Patienten zu differenzieren.

Die einzige Alternative, die ich zu der Art Beziehung kenne, die ein Verhaltenstrainer oder ein Analytiker aufbaut, ist der existentielle Dialog.

Harman: Bevor wir dazu kommen, möchte ich, daß wir hier ein wenig innehalten. Kannst du sagen, inwiefern du »Kontakt« nach der Buber-Lektüre anders verstanden hast?

Yontef: Ich weiß nicht, ob ich »Kontakt« wirklich anders oder einfach nur umfassender verstanden habe. Mensch, das ist zwanzig Jahre her! Mal sehen, ob ich das klar kriege. Zuerst als ich von Gestalttherapie hörte, bedeutete »Kontakt« für mich einfach Präsenz und Lebendigkeit im Umgang mit dem Gegenüber, im Gegensatz zu zurückgezogenen oder manipulativen Umgangsweisen, um dadurch Konfluenz herzustellen. Das war der Stand der Diskussion. Eines der unglückseligen Probleme, die Perls und Simkin dadurch verursacht haben, daß sie nicht mehr von sich preisgegeben haben, sich nicht mehr mit Theorie beschäftigt haben, ist, daß die Leute ihre eigenen Schlüsse dies betreffend gezogen haben, was für das, was sie taten, wichtig sei. Fast unvermeidlich gab es viel Nachäfferei und falsche Folgerungen. Nachdem ich meine eigenen Ideen zum phänomenologischen Existentialismus und zur Beziehung ausgearbeitet hatte, erkannte ich, daß die dialogische Herangehensweise eine Anwendung der phänomenologischen Herangehensweise ist. Jeder hat eine für ihn wahre Realität, und die unterschiedliche Wahrnehmung der Phänomene auszutauschen, macht viel von dem aus, worum es im Kontakt geht. Ich habe eine Menge dazu geschrieben, weil das – obwohl es so wichtig ist – fehlte. Lynne Jacobs [1989] und Richard Hycner [1985] arbeiten am gleichen Thema.

Harman: Das hilft mir zu verstehen, wie du an den Punkt gekommen bist, an dem du gerade stehst. Hast du Buber an der Uni gelesen?

Yontef: Ja, in der Zeit, aber nicht als offizielle Lektüre. Ich habe mehr als die vorgeschriebenen Texte gelesen, damit ich die Gestalttherapie besser verstehe als nur über die in den Seminaren behandelte Literatur der Gestaltpsychologie. Es gab halt niemanden an der Uni, der »gestaltisch« orientiert war.

Harman: Dies hat zwar nicht viel mit dem zu tun, was wir besprechen, aber es ist immer noch so, daß ich einer der wenigen Gestalttherapeuten [in den USA] bin, der Verbindungen zur akademischen Welt hat. Die meisten Gestalt­therapeuten geben sich nicht damit ab, die Gestalttherapie zu lehren, weil an Universitäten zu viele Beschränkungen und strukturelle Voraussetzungen herrschen. Es gibt nach meiner Übersicht [hier] nicht viele gut ausgebildete Gestalttherapeuten in öffentlichen Beratungsstellen oder in den Universitäten.

Yontef: Richtig. Ich habe mich darüber auch oft gewundert.

Harman: Zu diesem Thema höre ich von meinen Freunden in den Heilanstalten und Krankenhäusern: »Gestalt funktioniert hier nicht.«

Yontef: Ich habe früh die Erfahrung gemacht, daß die Gestalttherapie wunderbar in Krankenhäusern, Gesundheitszentren und so weiter klappt. Man verstand, daß ich versuche, Kontakt zu machen. Ich habe versucht, das Gewahrsein des Klienten zu erhöhen. Die Theorie und die Prinzipien der Gestalttherapie konnte ich anwenden, vielleicht nicht die gleichen Techniken, aber es gibt andere von der Gestalttherapie beeinflußte Techniken, um das Gewahrsein von in Behandlung befindlicher Klienten zu erhöhen. In einer Nervenheilanstalt wirklich schwer gestörte schizophrene Patienten durch ein Psychodrama auf der Vormundschafts-Ebene interagieren lassen zu können, war sehr hilfreich. Ich glaube nach wie vor, daß man in der Weise etwas aktiv machen kann. Man hilft den Patienten, ihr eigenes Gewahrsein zu meistern. Das ist sehr, sehr nützlich, und ich hatte von der Gestalttherapie die Leit­linie und Inspiration für mein Handeln erhalten.

Harman: Eine nützliche und vielleicht neue Erfahrung für geisteskranke Patienten. Leute sagen zu meiner Frau, die an Schulen in der Mittelstufe arbeitet, daß man Gestalttherapie nicht bei Kindern in diesem Alter anwenden könne. Das ist einfach nicht wahr. Sie hat ihren Ansatz modifiziert, aber die Kinder waren sehr daran interessiert, mit den Träumen zu arbeiten, die sie gehabt hatten, und es wurden einige der klassischen [Gestalt-]Techniken eingesetzt. Es gab einen Selbstmord in der Schule. JoAnn arbeitete mit einigen Kursen, in denen der Junge gewesen war. Sie erzielte erstaunliche Resulate, die wir aufgeschrieben und publiziert haben. – Laß uns weitermachen. Erzähl mir über deine Ideen zu dialogischen Beziehungen und zu derartigen Dingen in der Gestalttherapie. Ich hab keine Ahnung, wie wir damit anfangen sollen.

Yontef: Gewöhnlich fängt es mit einer allgemeinen Beschreibung an, daß in einer dialogischen Beziehung jede Person als selbständiges Wesen behandelt wird und nicht als Mittel zum Zweck.

Harman: Kannst du mehr sagen zu dem Satz: »Jede Person wird als selbständiges Wesen behandelt.« Wie müßte das aussehen, wenn jemand anderes erkennen und anerkennen sollte, daß ich als Therapeut meine Klienten dergestalt als selbständige Person behandele?

Yontef: Nun, wir könnten umgekehrt anfangen, nämlich fragen: Wie können wir wissen, wann wir Therapeuten es nicht tun? Das wäre, wenn wir versuchen würden, die Klienten von einem Punkt zum nächsten zu drängen, wenn wir sie dazu drängen würden, etwas bestimmtes wahrzunehmen – damit sie geheilt werden, damit sie ihr Verhalten ändern. Wir sprechen über etwas, das Buber das »Ich-Es« nennen würde. Die »Ich-Es«-Beziehung ist an sich nicht schlecht, weil man nicht nur in erhabenen Ich-Du-Momenten arbeiten kann. Aber in einer dialogischen Therapie stellen Es-Momente nur dar, »was ist«, sind also nicht der Versuch, die andere Person dazu zu bringen, deine Ziele zu verwirklichen, ob nun ein Auto zu kaufen oder die Rechnung zu bezahlen oder was auch immer. Das Ziel besteht darin, in der Lage zu sein, daß wir den Klienten als Person begegnen, und die Klienten vorzubereiten, uns als Personen zu begegnen. Das Mittel dazu ist, sich gegenseitig zu erforschen, zu verstehen; zu verstehen, was in dem Leben und in dem Kopf der Klienten vorgeht. Die Klienten kennen sich selbst am besten. Unser Fokus ist, der Person zu helfen, sich selbst zu verstehen und sich als Person zu zeigen. Ich denke, einen Teil der Betonung des Dialogs macht aus, daß wir verstehen müssen, die phänomenologische Wahrnehmung der anderen Person mit ­einem starken Sinn für unsere Grenzen und Begrenzungen zu kombinieren. Das macht nach meinem Dafürhalten den Dialog zu einer Form von Kontakt. Wir sind aufmerksam, wir denken nicht die Gedanken und fühlen nicht die Gefühle des Gegenüber. Aber wir wissen, was wir selbst fühlen, denken, sehen und hören. Wenn wir der anderen Person Aufmerksamkeit schenken, bestätigen wir [implizit], daß die andere Person eine separate Existenz hat und wir mit ihr interagieren.

Harman: »Aufmerksamkeit« ist ein Wort, das ich schätze. Wenn du eben davon gesprochen hast, die Klientin oder den Klienten dazu zu bringen, daß sie oder er dasjenige akzeptiert, was wir für wichtig halten, schenken wir in einem solchen Moment der Person keine Aufmerksamkeit. Wir ziehen dann nur unser eigenes Ding durch.

Yontef: Wenn etwas während der [Therapie-]Stunde passiert, was mir ein Problem zu sein scheint, gibt es eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten. Dazu gehört, daß es den Hintergrund bildet für unsere Interpretationen oder für irgend ein Experiment; oder wir versuchen es mit Frustration oder damit, die Person davon abzuhalten, so etwas Ungesundes zu machen. Meiner Meinung nach ist es am kontaktvollsten, wenn man sich lebendig vor Augen führt, daß dieses Problem das Verhalten und die Erfahrung der anderen Person ist. Dies ist sein Verhalten und seine Erfahrung, ich schaue, wo ich eine Brücke finden kann, um jene Erfahrung mit dem Klienten zu teilen und ihm die Erfahrung von »Selbst« und »Gegenüber« zu vermitteln.

Harman: Ja, das wäre sicherlich eine Form von Gegenwärtigkeit.

Yontef: Und es könnte bedeuten, mit Worten die Erfahrung, die ich mache, zu teilen. Es könnte bedeuten, sich mehr darum zu kümmern, der Person, mit der ich arbeite, zu zeigen, daß ich verstehe, was sie gerade durchmacht, indem ich in der Lage bin, es zu wiederholen, zu reflektieren oder den Punkt, an dem sie gerade kämpft, zusammenzufassen. Und es könnte bedeuten, ein Experiment zu kreieren.

Harman: Du würdest also nicht ausschließen, daß das Experiment eine der Möglichkeiten ist?

Yontef: Wenn ich ein Experiment mache, versuche ich immer, es auf kooperative Weise durchzuführen. Ich bin meist gewillt, die Person zu fragen, ob sie etwas Neues probieren möchte – ihr zu sagen, warum ich vorschlage, daß wir etwas tun anstatt darüber zu reden – ihr gegenüber so offen zu sein, das Experiment auch auf andere Weise zu machen. Nehmen wir an, der Klient spricht über jemanden, der nicht im Raum ist. Wenn er authentisch zu reagieren scheint, obwohl er sich im Modus des »Darüberredens« befindet, werde ich vielleicht nicht anregen, daß er die Person auf den leeren Stuhl setzt. Wenn die Person sich im Kreise dreht oder obsessiv wird, kann es sehr wohl sein, daß ich etwas wie den »leeren Stuhl« vorschlage. Ich schlage es vor, verlange es aber nicht. Und ich sage, was mein Grund ist – was ich erreichen will – so daß es der Klient verstehen kann. Dies mag wichtiger sein, als zu einem leeren Stuhl zu reden.

Harman: An dieser Stelle würdest du also etwa sagen: »Sie scheinen ohne viel Energie zu sprechen. Lassen Sie uns schauen, ob wir einen Weg finden, daß Sie mehr Enthusiasmus dafür aufbringen.«

Yontef: Ja. Ich schlage vor: »Schauen Sie, können Sie sich vorstellen, daß die andere Person hier ist? Zeigen Sie beim Sprechen auf den leeren Stuhl.« Wenn ich darauf eine starke negative Reaktion erhalte, mag es sein, daß ich mit diesem Widerstand arbeite, oder auch nicht. Aber manchmal merke ich, wenn ich dafür offen bin, daß es kein Widerstand gegen das Gefühl ist. Es mag ein Widerstand gegen die spezielle Technik sein, die ich anwende. Dann sage ich: »Würden Sie bitte Ihre Augen schließen und sich vorstellen, daß Sie zu der Person sprechen. Sprechen Sie bitte laut.« Oder ich sollte dem Körper und der Körpererfahrung Aufmerksamkeit schenken, nicht den Gedanken. Mag sein, daß der Klient sehr wohl willens ist, tiefer in seine Erfahrung einzusteigen.

Harman: Das wäre das Ziel des Experiments, das du dem Klienten an diesem Punkt vorschlagen würdest, nämlich tiefer in seine Erfahrung einzusteigen.

Yontef: Ich bestehe nicht darauf, daß die Klienten zu einem leeren Stuhl sprechen oder was auch immer ich als erstes vorschlage. Nur sehr selten mache ich da eine Grundsatzfrage draus.

Harman: »Mach es auf meine Weise oder du hast einen Widerstand.« Das klingt so, als würde das Experiment, das du vorschlägst, sich daraus ergeben, was gerade »ist« – sich aus der Phänomenologie der Therapie-Sitzung ergeben, um etwas zu klären, hervorzuheben und so weiter.

Yontef: Und noch etwas. Das Experiment ergibt sich aus meinem Verständnis des Klienten als ganzer Person im Unterschied zu anderen Klienten – also aus der Individualität dieses Klienten. Es ergibt sich daraus, wie ich die wichtigsten Charakteristika dieser Person verstehe. Ich finde, in der Gestalt­therapie gibt es nicht genug, was die psychoanalytische Informiertheit ­hinsichtlich der­artiger Entscheidungen ersetzen könnte. Bezüglich individueller Unterschiede verfügen wir [in der Gestalttherapie] nicht über eine explizite Theorie oder über genügend beschriebene Fälle.

Harman: Du sprichst also über das Verständnis für die Charakterzüge der Person, mit der du arbeitest. Aufgrund dieses Wissens paßt du deine Experimente an.

Yontef: Völlig. Es geht darum, wie der gegenwärtige Zustand zu den tief verwurzelten Eigenschaften der Person steht, und wie diese Eigenschaften das Ganze des Entwicklungmusters der Person ausmachen.

Harman: Kommen wir von deiner Idee des Dialogs ab?

Yontef: Nun, meiner Intuition nach gehört beides zusammen. Aber ich habe meine Schwierigkeiten damit, gut darzulegen, warum ich denke, daß ein guter dialogischer Gestalttherapeut auch psychoanalytisch informiert sein soll. Ich denke, beides gehört zusammen.

Harman: Mit scheint es, daß du jetzt über das Unterstützungs- [Support-] System für uns, die Therapeuten, sprichst. Wir benötigen diese Unterstützung, um unsere ­Klienten zu verstehen und um aufbauend auf dieses Verständnis Experimente zu entwickeln. Ohne solche Unterstützung machen wir technisch ­orientierte Arbeiten und haben nicht viel darüber hinaus zu bieten.

Yontef: Aber warum braucht ein dialogischer Therapeut alle diese Informationen, die aus der Tradition einer nicht-dialogischen Therapie stammen? Ich weiß nicht recht, wie ich das erklären soll.

Harman: Vielleicht brauchst du es gar nicht zu erklären?

Yontef: Meine Neugier ist geweckt: »Wie erklärst du das?«

Harman: Es gibt einiges, was wir über eine Person wissen sollten, ohne daß sich das offensichtlich in ihrem praktischen Verhalten ausdrückt – etwas, was nicht zu diesem Verhalten zu passen scheint. Anderes jedoch verstehen wir.

Yontef: Ich denke, psychoanalytische Informiertheit ist Teil unserer Unterstützung, und ich habe herausgefunden, daß es ein guter Weg ist, dies auch offen zuzugeben.

Harman: Ich stelle mir vor, daß du

Gestalttherapie ganz anders betreibst als es in den meisten Filmen zu sehen ist, die man kaufen kann – wie die Videos oder Filme von Fritz Perls oder sogar von Jim Simkins Arbeit. Es scheint mir, daß wir die psychotherapeutische Welt immer noch nicht erreicht haben. Sie sieht die Gestalttherapie immer noch so an, als werde sie so betrieben, wie Fritz Perls sie in »Gestalt Therapy Verbatim« (1969) dargestellt hat.

Yontef: Ja. Interessanterweise wurde in den letzten zehn Jahren oder so in vielen ­Artikeln darauf hingewiesen. Das Modell (Perls, 1969) ist keine richtige Darstellung der Gestalttherapie heute. Dennoch besteht immer noch der Eindruck, daß Gestalttherapie im Wesentlichen so betrieben wird wie in den späten Sechzigern in Kalifornien. Ich denke, in aller Welt gebrauchen viele Leute die Techniken der Gestalttherapie auf diese Weise.

Harman: Oder mißbrauchen sie?

Yontef: Oder verwandeln die Gestaltpraxis in etwas anderes, nennen es irgendwie anders, nicht mehr Gestalttherapie – sondern z.B. »Gestalt und Objektbeziehung« oder »Gestalt-dies-und-das«. Darum denkt man, Gestalttherapie sei immer noch das, was Fritz und Jim in den 1970ern machten. Darum werde ich nicht als echter Gestalttherapeut angesehen, wenn ich solche anderen Sachen mache.

Harman: Ich sollte einen anderen Namen finden, wie ich nennen kann, was ich tue, oder zu »Gestalttherapie« etwas hinzufügen.

Yontef: Darum denken viele immer noch, die Gestalttherapie sei antiquiert, obwohl unsere Praxis sich weiterentwickelt hat.

Harman: Zuerst, als ich mich der Welt präsentierte, sagten die Leute zu mir: »Du kannst kein Gestalttherapeut sein, du bist doch ein netter Kerl.« Jemand sagte: »Wo sind deine Sandalen, wo ist dein Bart?« Er sagte es halb im Spaß, denke ich, aber er meinte es auch irgendwie ernst. Es ist verwirrend, was Gestalttherapie ist. Ich denke, wir kämpfen immer noch diese Schlacht. Oder: Wir haben immer noch die Aufgabe, unsere Kollegen zu informieren.

Yontef: Nun, ich denke, das tun wir. Es gibt ein paar hervorragende Artikel, die das sehr deutlich machen. Wie dem auch sei, die allgemeine Öffentlichkeit liest diese Artikel nicht. Es ist wie ein Spiel: »Echte Gestalttherapeuten, bitte aufstehen.«

Harman: Wenn mir das passiert, fühle ich mich an Familiensituationen erinnert. Wenn man in der Familie eine klare Rolle inne hat, aufwächst, zum Studium weggeht und dann wiederkommt, drängt die Familie einen stark, daß man wieder die gewohnte Rolle in der Familie übernimmt. Es scheint mir, daß die psychotherapeutische Welt uns stark drängt, daß wir uns an unserer 1960er/1970er-Jahre-Modell halten.

Yontef: Und wie in einer Familie, an der jede Person ihren Anteil hat, hat die Person, die in eine Rolle gedrängt wird, ihren Anteil daran, daß sie die Rolle übernimmt. Das Defizit [der Gestalttherapie] an klaren und eindeutigen theoretischen Arbeiten, das Defizit an wirklicher Forschungsarbeit und das Defizit an organisatorischer Struktur schafft die Bedingungen, unter denen die Leute uns die Rolle anhängen können, die sie wollen. Wir haben auch ein Defizit an Klarheit. Es ist wie bei Richard Nixon, der immer klarstellen mußte, was er meinte, weil er sich vorher unklar ausgedrückt hatte.

Harman: Es gibt da ein Video von John Swanson, das ich gesehen habe. Er zeigt den Fall einer Frau, mit der er arbeitet. Es ist eine hervorragende Präsentation der Sache der Gestalttherapie. Er setzt kein einziges Experiment ein. Es ist ein gutes Beispiel davon, was ich für den dialogischen Ansatz halte, aber es ist nicht weit verbreitet. Ich habe es für das »Gestalt Journal« (Harman 1985) besprochen. Darum weiß ich davon.

Yontef: Ich überarbeite gerade das Kapitel über Gestalttherapie im Corsini-Buch, das Jim und ich für die 3. Auflage verfaßt hatten. Ich will eine neue Fassung für die nächste Auflage erstellen, zu der es übrigens einen zusätzlichen Band mit großen Fällen geben wird. Ich denke, man wird an guten Fällen in der Gestalttherapie Interesse haben. Ich habe mich schon mal informell nach Fällen umgesehen. Ich könnte diesen Fall von John Swanson vorschlagen, wenn er passend scheint.

Harman: Du kannst das Video bestellen. – Ich habe übrigens einen Artikel über Gruppen­arbeit geschrieben. Ich meine, ich hätte dir eine Kopie geschickt. Er wurde in »The International Journal of Group Psychotherapy« (1984) veröffentlicht. Er hat wenig Beachtung gefunden. Es gab nur eine Nach­frage wegen eines Nachdrucks. Ich dachte, in diesem Artikel hätte ich klar gemacht, daß wir in einer Gruppe diese Sache mit dem »heißen Stuhl« nicht brauchen, weil andere Personen anwesend sind. Ich dachte, dies würde einigen Leuten darüber die Augen öffnen, was Gestalttherapie in Gruppen bedeutet. Aber er wurde entweder nicht gelesen oder die Leute dachten: »Was soll’s?« Oder was auch immer. Ich habe etliche Reaktionen erwartet und bekam aber nur sehr wenige.

Yontef: Es ist verblüffend, daß du das [über die Gruppenarbeit] gesagt hast. Einige andere [Gestalttherapeuten] haben das auch klar gemacht. Die Stereotypen bestehen jedoch weiter.

Harman: Feder und Ronall (1980) haben es beispielsweise in ihrem Buch geschrieben. Doch der Ansatz, den wir diskutieren, ist außerhalb der Gestalt-Szene nicht zur Kenntnis genommen worden.

Yontef: Ich weiß. Manchmal passiert es, daß Leute sagen: »Oh ja, Bob Harman, nun er beschäftigt sich mit Gruppenprozessen, und er ist Gestalttherapeut.« Grad so wie: »Einige meiner besten Freunde sind Juden.« Es wird an einem engen Bild von Gestalttherapie festgehalten.

Harman: Welche Reaktionen erhälst du auf deinen »dialogischen Ansatz« in der Gestalttherapie?

Yontef: Nun, ich bekomme im allgemeinen positive Reaktionen zu dem, was ich schreibe, aber die Leute haben manchmal Schwierigkeiten mit meinem Stil, aus verständlichen Gründen. Bezogen auf meine Praxis bekomme ich entweder positive oder gemischte Reaktionen – gemischt aus Zustimmung und Verwirrung. Selbst wenn ich nicht über Dialog spreche, kommentieren die Leute meist, daß ich ziemlich genau das tun würde, was ich sage. Sie sagen: »Sie scheinen mehr wie ein Kollege zu sein. Ich habe das Gefühl, genügend Zeit und Raum für mich zu haben, um meine Arbeit mit Ihnen zu entwickeln. Ich fühle mich nicht gedrängt.« Diese Kommentare sind positiv gemeint. Einige Leute sagen Dinge wie: »Toll, was passiert ist.« Aber ­einige Trainees heben ihre Augenbrauen und sagen: »Ich verstehe das nicht.« Und was sie meinen, ist, daß sie keinen theoretischen Bezugsrahmen herstellen können. »Was hast du gemacht?« »Du hast mich nicht in knalliger Form konfrontiert.« »Du hast mich nicht zu einem leeren Stuhl sprechen lassen.« »Du hast keine Körperarbeit gemacht.« »Ich weiß nicht, was du gemacht hast.« Manchmal ist in meinen besseren Arbeiten der Kontakt gut, klar und prickelnd. Ich treffe an der Grenze auf das, was die Trainees tun und was ich erfahre. Einige können das sehen und einige gehen völlig verwirrt heraus. Entweder kann ich das nicht konkret genug beschreiben oder sie haben zunächst Schwierigkeiten, die Methode ausfindig zu machen. Aber im allgemeinen sind die Reaktionen positiv – zunehmend positiv.

Harman: Meinst du, es ist nötig, dies ­alles in der Arbeit den Klienten zu erklären?

Yontef: Nein, ich habe eher an Ausbildungs-Workshops gedacht. Ich erkläre Klienten einiges, aber sie müssen nicht verstehen, was meine Methodologie ist. Wichtig ist, daß die Klienten meine Haltung zu ihnen verstehen, und die Haltung mache ich klarer, als sie mir je in meiner analytischen oder gestaltischen Ausbildung klar gemacht worden ist. Aber ich muß nicht den Gestaltansatz diskutieren. Verstehen die Klienten, wie ich sie behandle? Vertrauen sie mir? Scheine ich ihnen zu vertrauen? Das ist wichtig.

Harman: In dem Buch »Psychotherapist’s Casebook« ([Kutash und Wolf] 1986) gibt es ein Kapitel über existentielle Therapie von Bugental. Als ich das gelesen habe, schien es mir, daß er Gestalttherapeut sein könnte. Sein Kapitel erinnert mich an die Art, wie wir über Gestalttherapie sprechen. Es erinnert mich daran, auf die Person als selbständiges Wesen zu reagieren und zugleich präsent zu sein.

Yontef: Ja, das ist ein interessanter Trend, denke ich. In der Therapie ist im allgemeinen eine Vermischung zu beobachten – Vermischung der Modelle und Ansätze. Ich denke nicht, daß die Methoden der unterschiedlichen Schulen der Therapie noch so total getrennt sind wie noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Es war so, daß der Existentialist über existentielle Beziehungen sprach, und wir konnten sagen (und es wurde geschrieben), daß die Gestalttherapie als einzige therapeutische Richtung über eine operationalisierte klinische existentialistische phänomenologische Methodologie verfüge. Gestalttherapie war die einzige Anwendung existentialistischer Prinzipien. Jemand hat das gesagt und es scheint für die 1970er Jahre richtig gewesen zu sein, aber jetzt, wo sich unsere Methoden mehr vermischen und andere Therapeuten anfangen, Gestalthaltungen anzunehmen, ist es schwer zu sagen, wer wer ist.

Harman: Ja. Manche Leute haben zu mir gesagt: »Nun, Sie sind ein Ericksonianer.« Oder: »Sie sind dies, Sie sind das.« Natürlich sehen sie nur einen Ausschnitt und haben keine Ahnung von dem theoretischen Hintergrund, von dem aus ich zu dem gekommen bin, was ich tue.

Yontef: Ich denke, es sollte darum gehen, was eine gute Therapie ist, nicht darum, was Gestalttherapie ist. In diesem Sinne glaube ich, daß die Vermischung ­eine gute Sache ist. Wie dem auch sei, im Hinblick auf die Klarheit der ­Modelle in der Ausbildung führt sie allerdings zu einem chaotischen Milieu in der ­Psychotherapie.

Harman: Du hast die Worte gebraucht: »eine Person an der Grenze kontaktieren«. Kannst du mehr darüber sagen, wie von deiner Warte aus die Grenze definiert ist?

Yontef: Ich lächele. Ich habe daran gedacht: »Laß’ mal sehen, wenn ich es so sage, würde Joel Latner meinen, daß das richtig formuliert ist oder nicht?« Darum mußt du die Frage wiederholen.

Harman: Ich dachte daran, als wir Texte zur Theorie der Gestalttherapie lasen, das Perls-, Hefferline- und Goodman-Buch (1951) und andere Bücher. Viel wurde zu Kontakt und Kontaktgrenze gesagt, und ich nehme an, wir alle haben unsere eigene Idee darüber. Ich würde gern hören, was du über die Grenze denkst.

Yontef: Nun, Grenze ist ein Prozeß, ein Prozeß der gleichzeitigen Trennung und Verbindung, des Unterscheidens zwischen Ich und Nicht-Ich. Entscheiden, was ins Ich rein soll und was nicht. Was ich raus haben will und was nicht. Es ist eine Beziehung, eine Beziehung zu anderen Personen oder zu anderen Dingen. Es ist immer eine Beziehung, und Kontakt ist das Gewahrsein, ist, die Grenze zu einer anderen, differenten Person anzuerkennen.

Harman: Teil dessen, was ich als Gestalttherapie ansehe, ist die Beschreibung, daß Leute ein Gewahrsein von ihren Kontaktgrenzen entwickeln können, um darüber zu entscheiden, was sie in sich hineinnehmen und aus sich herauslassen. Nehmt mehr nährendes Material hinein und haltet mehr giftiges Material heraus.

Yontef: Ja, es geht darum, das Gewahrsein der Kontaktgrenze auszuweiten, damit sie der Person klarer wird. Das ist eine Art Ausweitung. Es gibt noch eine andere Form der Ausweitung, nämlich das auszuweiten, was die Person in Betracht zieht, in sich hineinzunehmen und was nicht. Es geht also nicht nur um die Steigerung des Gewahrseins der Grenze, sondern auch um die Steigerung der Flexibilität und der Ausdehnung der Grenze.

Harman: Damit es mehr Chancen gibt, etwas aufzunehmen?

Yontef: Ja. Eine Sache, die wir meiner Meinung nach klar machen müssen, besonders wenn wir über den Vergleich zwischen Gestalttherapie und Systemtheorie sprechen, ist, daß wir der Person nicht nur helfen, Gewahrsein zu entfalten und zu ihrem alten Gleichgewicht zurückzukehren. Sondern wir helfen den Leuten, das zu tun, was die Systemiker ein »level two shift« nennen würden, nämlich die Grenze zu verändern, nicht nur zu einem vorhergehenden Zustand zurückzukehren. Ich denke, das war immer das Ziel, aber wir haben es nie klar gemacht, bis die Systemiker darüber gesprochen haben.

Harman: Ein wichtiges Konzept in der Gestalttherapie ist Gewahrsein. Was ist deine Definition von Gewahrsein?

Yontef: Gewahrsein ist ein Weg des Wissens. Es ist Teil unserer Selbstregulation. Ich denke, Gewahrsein hat eine Beziehung zur Figurbildung, dem Gebrauch der Sinne. Ein gutes Gewahrsein ist nicht nur scharf, sondern auch klar. Die Figur repräsentiert, was den Organismus anzieht, nicht was ihn abstößt. Jeder nimmt immer wahr, und was immer eine Person wahrnimmt, irgend etwas anderes nimmt sie nicht wahr. Die Welt ist unendlich und wir sind endlich. Was immer wir in einem Augenblick wahrnehmen, es gibt etwas, was sich außerhalb unseres Gewahrseins befindet. Unser Fokus in der Gestalttherapie ist, den Leuten zu helfen, sich des Gewahrseins bewußt zu werden: daß sie den Prozeß steuern können und darum in der Lage sind, über die Art und den Inhalt des Gewahrseins so zu entscheiden, wie es zu ihren Bedürfnissen in verschiedenen Zeiten, Räumen und zwischenmenschlichen Beziehungen am besten paßt.

Harman: Ich mag das, was du darüber sagst, wie wir uns erlauben, uns auf eine Figur zu konzentrieren und sie zu entwickeln, und dabei andere Möglichkeiten ausschließen. Wir können nicht alle Dinge wahrnehmen.

Yontef: Alles wahrzunehmen ist wie nichts wahrzunehmen. Es ist undifferenziert. Die Theorie sagt, daß wir uns immer selbst regulieren. Wenn der Grad des Gewahrseins niedrig ist, regulieren wir uns durch Gewohnheit. Die ist nötig, da wir hunderte von gleichzeitigen Transaktionen regulieren müssen. Die Frage lautet nicht, ob wir wahrnehmen, sondern daß wir das Gewahrsein entwickeln, das wir brauchen.

Harman: Kannst du mehr darüber sagen, sich durch Gewohnheit selbst zu regulieren?

Yontef: Nun, nochmals: Die Welt ist unbegrenzt. Wenn wir einen Fuß vor den anderen setzen und weiteratmen und gleichzeitig vermeiden, von einem Auto überfahren zu werden, regulieren wir uns durch Gewohnheit.

Harman: Wir haben noch nicht über deine Idee von der Feldtheorie gesprochen und wie diese zur Gestalttherapie beigetragen hat.

Yontef: Das ist das schwerste, weil die Feldtheorie ein so hohes Abstraktionsniveau hat. Es bedeutet, daß wir über die allgemeine wissenschaftliche Art des Denkens sprechen, über ein Konzept, nicht über ein Faktum, also über die Art, Dinge anzuschauen. Wir folgen diesem Konzept nicht konsequent. Ich denke, es ist angemessen, aber es ist schwierig, darüber zu sprechen. Wenn man darüber spricht, daß alles ein Werden ist, muß man auf ein hohes Abstraktionsniveau wechseln. Es gibt da die Zeitdimension, so daß alles sich auf etwas anderes zubewegt. Alles ist nicht nur Prozeß im Sinne von Werden, sondern alles steht auch in Beziehungen zueinander, so daß es Subprozesse und Zwischenbeziehungen zu anderen Dingen gibt. Die Teilchen, Sterne, Planeten und Menschen: alles ist Prozeß, Beziehung und Werden, alles bezieht sich aufeinander und »wird«. Es ist fast einfacher, zur Physik zu wechseln und über Einsteins Relativitätstheorie und über die Quantenmechanik zu sprechen. Da haben wir wenigstens etwas Konkretes, auf das wir uns beziehen können. Schau her, das Elektron ist nicht wirklich ein Ding. Das Elektron ist in Wirklichkeit eine Welle. Dann kann man sagen, es sei manchmal eine Welle und manchmal ein Teilchen. Das hängt davon ab, wie du es ansiehst.

Wir verdanken der Gestaltpsychologie viel. Ich denke, es ist falsch, das, was wir ihr verdanken, auf die Worte »Figur« und Grund« zu beschränken, ohne die dahinter stehende Philosophie in Betracht zu ziehen. Wie du weißt, haben wir die Worte »Figur« und Grund« von der Gestaltpsychologie. Aber wenn das alles wäre, wäre es nicht der Rede wert. Zu sagen, etwas sei hervorgehoben oder etwas anderes trete zurück, kommt auf das gleiche raus [wie von Figur und Grund zu sprechen], es sei denn da steht ein größerer philosophischer Anspruch dahinter. Ich denke, was wir von der Gestalt­psychologie haben, ist ein Begriff einer Feldtheorie, der, neben dem, was ich über Werden und Sich-aufeinander-Beziehen gesagt habe, darauf achtet, wie die Teile sich zu einem Ganzen fügen. Es geht nicht um die Teile allein, nicht um einen vagen Begriff der Ganzheit, sondern darum, daß die Teile und das Ganze sich zu etwas zusammenfügen, das die Teile und das Ganze systematisch in Beziehung zu einander setzt. Wir machen bei der Gestalt­psychologie auch Anleihen hinsichtlich eines Konzepts der Einsicht, das nicht psychoanalytisch ist, sondern auf die Erkenntnis der Gestaltbildung – wie die Teile und das Ganze sich zusammenfügen. Dieser philosophische Aspekt der Gestaltpsychologie ist etwas, mit dem die amerikanischen ­Psychologen scheints die größten Schwierigkeiten haben. Sie können nicht mit Theorie umgehen. Köhler und Kofka mußten auf der konkreten Ebene bleiben, um in Amerika verstanden zu werden.

Harman: Ich möchte dich etwas fragen, das dich hoffentlich nicht ablenkt. Wir sprachen darüber, wie die Teile und das Ganze sich zueinander verhalten. Wie läßt sich das praktisch auf den Klienten anwenden? Gibt es da eine Verbindung?

Yontef: Ich habe immer im Sinn, daß alles, was ich bei einem Klienten sehe, im Kontext, in der Zeit und im Raum zu betrachten ist. Welche Eigenschaft oder welcher Gemütszustand sich zeigt, was auch immer wir anschauen, hat eine Bedeutung bezogen auf Zeit, Raum und Gewahrsein. Ich verstehe sein Verhalten nicht, wenn ich nicht den Kontext anschaue. In der Arbeit mit einem Paar macht einer der beiden manchmal etwas, worüber der Partner sagt: »Das ist verrückt.« In Wirklichkeit ist es nicht verrückt. Wir kennen nur die Bedeutung noch nicht. Wir wissen noch nicht, was der Kontext ist. – Gleichzeitig gehe ich immer davon aus, daß alles ein Prozeß ist, kein »Ding«. Beispielsweise jemand, der sagt: »Ich habe in mich hinein gehorcht, was mein wahres Selbst ist, und ich fühle mich leer, darum habe ich kein Selbst.« Da tut er so, als sei das Selbst ein »Ding« und er hat dieses »Ding« nicht. Es ist hilfreich, zu dem Blinkpunkt des Prozesses zurück­zukehren: »Das Selbst ist, was du tust und was wichtig für dich ist. Du hast versucht, du selbst zu sein und in dich hineinzuschauen und du fühlst dich leer, doch es ist in dir nichts, was andere Leute haben, du aber nicht.« Es ist eine Haltung der »Entdinglichung« [no-thingness]. – Mit wenigen Ausnahmen spreche ich nicht über die Feldtheorie, wenn ich sie einsetze, aber ich habe sie im Hinterkopf. Sie ist Teil meiner Unterstützung.

Harman: Ich bin froh, daß du das Beispiel mit dem Paar angeführt hast. Als du über die Teile und das Ganze gesprochen hast, die sich zueinander verhalten, dachte ich, wie gut das auf Paare, Familien und Gruppen zutrifft, mit denen wir arbeiten. Es ist leichter, es daran zu erklären, als an einem Individuum.

Yontef: Nun, es ist besser zu beobachten und leichter zu erklären. Intuitiv gesehen ist es leichter zu erklären, warum ich ein Ganzes bin. In gewissem Sinne ­bezieht sich alles von mir auf alles andere. Wenn man das Ganze nicht ­versteht, kann man nicht verstehen, was ich sage. Fordere ich einen Klienten, mit dem ich arbeite, dazu auf, ein Experiment mit dem leeren Stuhl zu machen, weiß er vielleicht bezüglich meiner Intention nicht, ob ich ver­suche, wie Fritz Perls oder ein Ericksonianischer Guru zu sein, der etwas erzwingen will, oder vielleicht versteht er es gar nicht als Experiment. Er sieht mich als ­jemanden, der ihn dazu veranlassen will, etwas zu tun, nicht als jemanden, der mit ihm arbeitet. Das gibt dem Experiment eine ganz andere Bedeutung [als es meiner Absicht entspricht]. Der Kontext des Ganzen ­verändert die Bedeutung, obwohl es sich [technisch] um das gleiche Experiment handelt.

Ohne die Beziehungen zu kennen, also wie das Ganze zusammenstimmt, kann man die Bedeutung nicht erfassen. Einen bestimmten Klienten kann ich necken und im Kontext unserer Beziehung ist es völlig klar, daß es nicht feindselig und verletzend ist. Es ist eine Art Spiel. Er versteht das Gefühl, das hinter dem steht, was ich sage. In einer anderen Beziehung würde die gleiche Art Neckerei völlig unsensibel und rüde sein. Man muß den Kontext kennen. Selbst bei einem Klienten, mit dem ich die Art Beziehung habe, daß ich ihn necken kann, kann die gleiche Neckerei völlig schief gehen, wenn gerade sein Vater gestorben ist. Ja, wir haben eine gute Beziehung, aber jetzt, zu diesem Zeitpunkt, geht es um etwas Ernsthaftes.

Harman: Technisch gesehen kann ich mir vorstellen, daß sich die Beziehung zu dem Klienten, dessen Vater gestorben ist, wieder erholt, auch wenn du ihn intensiv neckst, weil es eine gute Beziehung ist und viel Kontakt stattfindet. Wenn es sich dagegen um einen neuen Klienten handelt, ist das eine andere Baustelle.

Yontef: Wenn wir eine gute Beziehung haben, die wenigstens auf einem Minimum von Selbstunterstützung des Klienten basiert, ist die Beziehung zu dem ­Klienten laut Definition echter Kontakt und keine rein narzistische Befriedigung; und wenn der Therapeut nicht zu sehr in die Selbstverteidigung geht, kann er sagen: »Ich bin über’s Ziel hinausgeschossen.«

Harman: Gibt es etwas, über das wir noch nicht gesprochen haben, was du aber für wichtig hältst? Ich denke noch an das, was du über die Arbeit mit Paaren gesagt hast. Ich erinnere mich an das Gespräch mit Joseph Zinker, in welchem er sagte, die »Störungen an der Kontaktgrenze« seien interaktiv. Wenn ich mit einem Paar arbeite, ist es wichtig zu wissen, daß, wenn er projiziert, sie ihren Anteil daran hat. Sie muß unerkennbar bleiben. Wenn man das Feld anschaut, fängt man an, sein ganzes Verhalten zu sehen, das manchmal nicht nur sein isoliertes Verhalten ist, sondern in einem Kontext steht. Da ist noch eine Frau, die rätselhaft bleibt, so daß er projizieren kann.

Yontef: Ich denke, es ist wichtig, daß wir, wenn wir mit Paaren arbeiten (und ich arbeite viel mit Paaren), nicht aufhören, auszuklammern [bracketing]. Die Unterstellungen auszuklammern und zu sagen: »Schauen wir, in welchem Maße sie, wenn er projiziert, sich wirklich verhüllt und nicht selbst zeigt.« Oder fährt er damit fort, zu projizieren, wenn sie sich tatsächlich schon selbst zeigt? Das wäre natürlich eine viel ernsthaftere Art der Projektion. Eines der Dinge, die uns in der Paar- und Familien-Arbeit Schwierigkeiten machen, ist, daß wir nicht wie in der Eins-zu-eins-Therapie ausklammern.

Harman: Kannst du mehr dazu sagen, was du mit »Ausklammern« [bracketing] meinst?

Yontef: Vorurteile beiseite lassen. Vom Gegebenen und Offensichtlichen ausgehen. In der Lage sein, mit den eigenen Sinnen die gegenwärtige Situation neu aufzunehmen. Das ist phänomenologische Erkundung. Man praktiziert diese Disziplin, wenn man sagt: »Okay, ich lasse meine Vorurteile beiseite und wende mich dem reineren Gewahrsein zu, so daß ich erfolgreich ein klares, verständliches und einsichtiges Bild von der Interaktion bekomme.«

Harman: Nun, bitte, wende das doch mal auf das Paar an, mit dem du arbeitest.

Yontef: Nun, wenn ich beginne und annehme, daß sie, wenn er projiziert, sich zurückhalten muß, klammere ich mein Vorurteil nicht aus. Die meiste Zeit werde ich recht haben. Aber nicht immer. Wenn man annimmt, daß die Mutter oder der Vater gestört sind, wenn das Kind gestört ist, wird man manchmal recht haben. Manchmal wird man nicht recht haben. Die Annahme tritt, selbst wenn sie richtig ist, immer der Erforschung der Beziehung und der Entwicklung in den Weg. Man kann keine klare phänomenologische Erforschung betreiben, wenn man der Situation ein festes Bild überstülpt, selbst wenn es ein relativ richtiges Bild ist.

Harman: Wir sind fast dorthin gelangt, wo wir angefangen haben. Wenn da eine Person ist, die beobachtet und dem Aufmerksamkeit schenkt, was vor sich geht, wird sie ihre Annahmen über »das, was die Ursache davon ist, wenn das und das passiert«, ausklammern und sehen und hören, was wirklich geschieht.

Yontef: Ja, eine Person mit phänomenologischer Disziplin wird sehr präsent sein, klaren Kontakt machen und bei dem bleiben, was wirklich geschieht.

Harman: Wir haben die sogenannten Störungen an der Grenze nicht behandelt, was für mich okay ist. Sie sind an anderen Stellen gut beschrieben worden.

Yontef: Ja, aber ich denke, einige Aspekte sind doch noch nicht sehr klar geworden. Ich nehme an, daß dir das aufgefallen ist. Ein Punkt ist der Unterschied zwischen der Störung an der Grenze wie der Projektion und dem Verlust der Grenze. Auch, daß der Verlust der Grenze etwa in der Konfluenz oder Isolation eine Illusion ist. Es gibt einen Verlust, die Differenz wahrzunehmen, aber organismisch halten wir eine Differenz zur Umwelt aufrecht. Ein Aspekt, der bei der Diskussion von Störung und Verlust der Grenze vergessen wird, ist, daß gleichzeitig eine Störung des Gewahrseins und des Kontaktes vorliegt. Die Definition also, ob die Prozesse gesund sind oder nicht, hat mit Gewahrsein und Bedürfnis zu tun. Wenn die Störung an der Grenze mit dem Bedürfnis der Person in diesem Moment übereinstimmt, ist sie gesund. Störungen sind nicht negativ oder positiv an sich. Diese Dinge sind dir, glaube ich, klar, aber ich denke, die Literatur ist in diesen Punkten nicht immer eindeutig. Ich stimme zu, daß es genug Klarheit über Störungen an der Grenze in anderer Hinsicht gibt und daß wir darauf nicht weiter einzugehen brauchen.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Foto: Gary Yontef(Garry Yontef)

Gary Yontef, Ph.D.

Gary Yontef, Ph.D. arbeitet nach seiner Ausbildung bei Fritz Perls und James S. Simkin seit 1965 als Gestalttherapeut.

Er ist Fellow der "Academy of Clinical Psychology", diplomierter Klinischer Psychologe (ABPP), Mitglied des Editorial Board der Fachzeitschrift "The Gestalt Journal", editorischer Berater des "British Gestalt Journal" sowie Autor des Buches "Awareness, Dialog, Prozess. Wege zu einer relationalen Gestalttherapie“ (EHP-Fachbuch) und zahlreicher Fachartikel über Theorie und Praxis der Gestalttherapie und Supervision.

Er war lange Zeit Mitglied des Lehrkörpers an der Psychologischen Fakultät der Universität von Kalifornien und Vorsitzender des Ausbildungsinstituts für Gestalttherapie in Los Angeles (GTILA).

Gemeinsam mit Lynne Jacobs ist er Gründer und Leiter des „PGI Pacific Gestalt Institute“ in Santa Barbara/Kalifornien.

Robert L. Harman

Robert L. Harman ist der Gründer des »Gestalt Institute of Central Florida«, Direktor des »Counseling and Testing Center« der Universität von Florida und Mitarbeiter des »American Board of Professional Psychology«.

Zum Beitrag auf dieser Seite:

Der nebenstehende Beitrag ist zuerst erschienen in: Robert L. Harman (Hg.), Werkstattgespräche Gestalttherapie. Mit Gestalttherapeuten im Gespräch, 2001 (Edition des Gestalt-Instituts Köln GIK im Peter Hammer Verlag). Aus dem Amerikanischen von Stefan Blankertz.

In seinen Werkstattgesprächen mit erfahrenen und weltbekannten GestalttherapeutInnen geht Robert L. Harman der Frage nach, wie GestalttherapeutInnen über ihre Praxis reflektieren. Seine Idee lautet: Eine lebendige Praxis kann eine lebendige Theorie fördern und umgekehrt. Schülerinnen der Begründer der Gestalttherapie Fritz und Lore Perls wie Erving und Miriam Polster, Joseph Zinker, Gary Yontef u.a. sprechen mit ihm über ihren reichen Erfahrungsschatz.

Der Interview-Stil macht das Buch zu einer lebendigen Lektüre nicht nur für Fachleute, sondern für alle, die sich für die (gestalt-)therapeutische Praxis und die dahinter stehende Theorie interessieren. Das kommentierte Transkript einer Gestalttherapie-Sitzung schließt das Buch ab. Anhand dieses Transkripts können sich die LeserInnen ein Bild davon machen, wie Gestalttherapie »funktioniert«.

Herausgegeben von Anke und Erhard Doubrawa. Edition Gestalt-Institut Köln / GIK Bildungswerkstatt im Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2001, 191 Seiten, A5, broschiert, 20,90 Euro. Wir senden Ihnen dieses Buch gerne auf Rechung – versandkostenfrei!

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