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Gary Yontef

Beziehungen und Selbstwertgefühl in der gestalttherapeutischen Ausbildung
(Teil I)

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritk verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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 Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 1-1999):

Foto: Gary Yontef(Garry Yontef)

Gary Yontef

Beziehungen und Selbstwertgefühl in der gestalttherapeutischen Ausbildung
(Teil I)

 

Den zweiten Teil dieses umfangreichen Beitrags von Gary Yontef finden Sie hier: "Beziehungen und Selbstwertgefühl in der gestalttherapeutischen Ausbildung (Teil II)".

 

Gestalttherapie trug maßgeblich zur Überwindung der individualistischen Perspektive bei: Menschen werden nun nicht mehr unabhängig von ihrer Umgebung betrachtet, so daß man sie als Objekte wissenschaftlicher Beobachtung für sich genommen erforschen könnte, sondern als Bestandteile des gesamten Feldes, so daß man nur phänomenologisch vorgehen kann. Zu dieser neuen Ansicht gehört insbesondere die Definition des Selbst durch seine Bezüge und generell der Grundsatz, die ganze Wirklichkeit als ein Ko-Produkt des "objektiv" Existierenden und des subjektiven Betrachters zu verstehen. In diesem Sinne nimmt man auch bei Therapien vermehrt die Beziehung in den Blick, d.h. den therapeutischen Dialog und das subjektive Selbstgefühl wie z.B. Scham (Wheeler 1995). Der vorliegende Artikel greift diese Diskussion auf und dehnt sie auf die Frage der Scham in der Ausbildung von Psychotherapeuten aus.

 

Der Paradigmenwechsel

Stephen Mitchell beschreibt aus der Sicht einer beziehungsorientierten Psychoanalyse, wie dieser Wechsel aussah. Die Triebtheorie Freuds hatte ein kraftvolles und eingängiges Modell des Menschen und seiner Erfahrungen geliefert. Sie beschreibt uns als eine Ansammlung gesellschaftsloser, körperlicher Spannungen, die unserem Verstand als drängende sexuelle oder aggressive Wünsche sichtbar werden und die nach Verwirklichung verlangen. Unser Leben vollzieht sich im Widerspruch zwischen diesen Wünschen und den sekundären, oberflächlicheren Forderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Unser ganzes Denken ist nur ein Abkömmling, eine Umwandlung unserer tierischen Energien. Der Geist besteht aus vielschichtigen und gelungenen Kompromissen zwischen dem Ausleben von Impulsen und den Abwehrkräften, die sie hemmen oder umlenken wollen. Dementsprechend zielt die klassische psychoanalytische Arbeit auf die Aufdeckung und wenn möglich den Verzicht von kindlichen, instinkthaften Impulsen. Ein halbes Jahrhundert lang leitete dieses Modell die Erzeugung und Weiterentwicklung psychoanalytischer Erkenntnisse an (Mitchell 1988, S. 2).

Als stärkste Kraft der Persönlichkeitsentwicklung sah diese klassische Trieb-Konflikt-Theorie das Schuldgefühl an. Als reife Lösung betrachtete sie die individuelle Selbstzufriedenheit. Da nach diesem Modell Selbstzufriedenheit durch die Sublimierung elementarer Triebe zustandekam, wurden bedürftige oder psychisch abhängige Menschen als schwach (krank, regrediert, unreif) oder schlecht (gefährlich, agierend, bösartig) angesehen. Wie Wheeler herausstellt, war in diesem Modell Bedürftigkeit eine Schwäche und etwas Beschämendes - ja Scham selbst war ein Indiz für Abhängigkeit von anderen Menschen und wurde daher als Schwäche und beschämend verstanden. Man sah in Scham nur einen Anlaß zur Ausbildung von Selbstgenügsamkeit. Aber Scham selbst wurde dabei übersehen (Wheeler 1995).

Gestalttherapie hingegen mit ihrem Feldmodell sieht alle lebenden Organismen in wechselseitiger Abhängigkeit und wechselseitiger Bezogenheit, die durch Bedürfnisse gestaltet wird. Menschen leben immer in Abhängigkeit von den anderen Menschen des Feldes, dem sie zugehören und das sie mit ihnen zusammen erst bilden und in Erscheinung treten lassen. In diesem Sinne steht sogar die Entstehung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung ihres Selbst in Beziehungen der Abhängigkeit. Deshalb bekäme man nur eine sehr unglückliche Sicht auf die Bedingungen der menschlichen Existenz, wenn man Selbstgenügsamkeit zum Maßstab für Reife und Gesundheit machte.

Mitchell stellt dies von einem erneuerten psychoanalytischen Ausgangspunkt genauso dar: Die Objektbeziehungstheorien der Psychoanalyse, die in den letzten Jahrzehnten an Gewicht gewannen, nehmen eine ganz andere Sicht ein als Freud und haben zusammengenommen die psychoanalytische Arbeitsweise von Grund auf verändert. Von ihnen werden wir nicht als Bündel biologischer Impulse beschrieben, sondern als geformt durch andere Menschen und verbunden in einem Geflecht von Beziehungen, in dem wir darum kämpfen, unsere Bindungen zu anderen aufrechtzuerhalten und uns zugleich in ihnen als andere fortzuentwickeln. In diesem Verständnis ist die grundlegende Einheit der Betrachtung nicht ein Individuum, das eine getrennte Einheit wäre und mit der umgebenden Wirklichkeit in Konflikt geriete, sondern ein Interaktionsfeld, aus dem der einzelne hervorgeht als jemand, der zugleich Kontakte unterhält und sich in ihnen als er selbst herausdifferenziert. Bedürfnis wird nur im Zusammenhang mit Beziehungen erfahren, und überhaupt erst dieser Zusammenhang gibt ihm seinen Sinn. Geist besteht nur aus Figurationen von Beziehungen. Das Individuum läßt sich nur denken mitsamt dem Gewebe seiner Beziehungen, sowohl der gegenwärtigen als auch der vergangenen (Mitchell S. 3).

In Perls' "Das Ich, der Hunger und die Aggression" (1942, wiederaufgelegt 1992) und später in der Gestalttherapie fand eine Abkehr vom Modell des isolierten, objektivierten und selbstgenügsamen Individuums statt. Die Vorstellung einer vom Beobachter unabhängigen objektiven Welt oder eines vom Lebenszusammenhang unabhängigen Beobachters wurde aufgegeben. Vom phänomenologischen Standpunkt aus lebt das Individuum in einem Organismus-Umwelt-Feld und kann nur dann verstanden werden, wenn man seine subjektive "Wirklichkeit" in Zusammenhang mit dem ganzen Feld betrachtet. Die "Wirklichkeit" des Therapeuten und seine Theorie darüber machen Platz für eine "Wirklichkeit", die aus den Wahrnehmungen eines Individuums (oder einer Gruppe von Individuen, Kulturen, usw.) und einem wie immer gearteten "Draußen" zusammen erzeugt wird. Und es wurde festgestellt, daß nicht nur die schwachen oder bösen, sondern alle Menschen von Bedürfnissen in Bewegung gehalten werden.

Damit hatte Perls den Umbruch zwar begonnen, doch er ließ von der alten individualistischen Triebtheorie auch noch Reste stehen, zum Beispiel als er davon sprach, daß zwischen organismischen Impulsen und den sozial gelernten und introjizierten Regeln ein Konflikt bestehe. Das neue Modell wurde in Perls/Hefferline/Goodmann Gestalttherapie (1951, 1994) systematisiert und untermauert, und es wird auch noch heute weiter geklärt und ausgebaut.

Perls, Hefferline und Goodman legten den Grundstein einer Theorie, in der sich der einzelne und seine Umwelt nicht mehr trennen lassen. Von der Geburt bis zum Tod, in der Theorie wie im Leben besteht die grundlegende Wirklichkeit aus dem Kontakt im Feld aus Organismus und Umwelt. Das Selbst wird definiert als die Wechselwirkung, die zwischen den einzelnen und dem übrigen Organismus/Umwelt-Feld an der Kontaktgrenze stattfindet. Die Wirklichkeit ist nicht objektiv gegeben, sondern wird gemeinsam vom erlebenden Organismus und dem, was außerhalb seiner ist, hergestellt. Daß man Bedürfnissen nachgeht, in Abhängigkeiten lebt, Gefühlen folgt oder sich gegen etwas auflehnt, ist weder Bosheit noch Schwäche, sondern es sind natürliche und unumgängliche Zustände im steten Wechsel.

Obwohl Perls, Hefferline und Goodman sich in diese neue Richtung bewegten, blieben doch in ihrer Arbeit und in den gestalttherapeutischen Techniken der sechziger und siebziger Jahre noch Zeichen des alten Paradigmas bestehen. Durch Theorie und Praxis zog sich ein Konflikt zwischen Überbleibseln aus der früheren Triebtheorie und dem neuartigen Blick auf das Selbstgefühl, ein Konflikt zwischen der Theorie vom Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft einerseits und der Auffassung von der natürlichen Interdependenz aller lebenden Wesen. Die jüngere Literatur über Scham, Dialog, Subjekt-Subjekt-Beziehungen und Feldtheorie hat dazu geführt, daß die Gestalttherapie jetzt eine klarere Position einnimmt (Hycner, 1985; Hycner and Jacobs, 1995; Jacobs, 1989, 1996, 1967, in press; Lee, 1994, 1995; Lee and Wheeler, 1996; Wheeler, 1995; Yontef, 1993).

 

Die Demaskierung der Scham

Obwohl Scham ein mächtiger, weitverbreiteter und zentraler Einfluß ist, der das normale Funktionieren unserer Kultur durchzieht und bestimmt, gibt es erst seit weniger als zwanzig Jahren eine psychotherapeutische und insbesondere eine gestalttherapeutische Literatur, die uns Scham so weit erklärt, wie wir sie nun kennen (geschichtliche und bibliographische Diskussion in Yontef 1993, 1996). Üblicherweise wirkt Scham in unserer Kultur als eine starke, aber meist unbemerkte Kraft, die das Vertrauen und die Identifizierung mit uns selbst sabotiert, das Selbstbewußtsein beschränkt, soziale Beziehungen behindert und zur Verstärkung von Abwehrhaltungen und Starrheit beiträgt. Wie war es möglich, daß ein so allgegenwärtiger Vorgang wie Scham unbemerkt blieb?

Zum Teil liegt das an dem ungeprüften Glauben an das isolierte und sich selbst genügende Individuum. Der Mythos der Selbstgenügsamkeit ließ sich aufrechthalten und Scham dementsprechend im Hintergrund halten, weil dies von der Grundhaltung gefördert wurde, nach der man das Individuum objektiv verstehen, Menschen also zuverlässig und gültig von einem logischen, äußeren Standpunkt aus beobachten und erklären könne. Mit dieser Unterstellung wurden Menschen von außen interpretiert, nicht aus ihrer eigenen Erfahrung heraus verstanden. So geriet ihr subjektives Gefühl der Scham aus dem Blick und blieb unbearbeitet.

Hinzu kam insbesondere, daß die therapeutische Beziehung meist im Sinne der herkömmlichen Auffassung unter dem Gesichtspunkt betrachtet wurde, wie sie der Klient vom Gegenwärtigen zu etwas Früherem zu verdrehen versucht, also unter dem Gesichtspunkt von Übertragung und Gegenübertragung. Aber wie die tatsächlich bestehende Beziehung aussieht, wurde nicht so sehr beachtet. Die Therapietechnik, die mit dieser einseitigen Betrachtung verbunden ist, stellt vor allem Deutungen, Konfrontationen und kathartische Effekte beim Klienten in den Mittelpunkt. Aber von dem, was Therapeut und Klient an gemeinsamer Welt hervorbringen und miteinander teilen, entgeht ihr viel. So wurde oft das, was der Klient über den Charakter der Beziehung empfand und dachte und welche Bedürfnisse und Gefühle er dabei erlebte, einfach bloß als Übertragung interpretiert.

Im Gegensatz dazu versteht der Feldansatz die therapeutische Beziehung als einen wesensmäßig dialogischen Kontakt, also als einen Kontakt zwischen Subjekt und Subjekt, der durch den Austausch ihrer Weltsichten zustandekommt und aus der Gesamtheit all dessen besteht, was sich daraus entwickelt. Parallel dazu vollzog sich in Theorie und Praxis der Psychoanalyse ein ähnlicher Wandel, seit sich die Theorien des Interpersonellen, der Objektbeziehungen und des Selbst ausbreiteten. In der therapeutischen Praxis verschob sich nun der Schwerpunkt von Konfliktdeutungen (in der Psychoanalyse) und Konfrontationen und Katharsis (in der Gestalttherapie) hin zu einer Betonung der Beziehung zwischen der Person des Therapeuten und der Person der Klienten (also der beziehungs-orientierten Psychoanalyse und der dialog-orientierten Gestalttherapie). Beide betonen jetzt gleichermaßen die phänomenologische Sichtweise (besonders das Selbst-Gefühl des Klienten), einen beziehungsmäßigen Begriff des "Selbst" und ein dialogisches Modell der therapeutischen Beziehung (authentische Präsenz des Therapeuten, empathische Einschwingung, intersubjektive Modellvorstellungen).

Eine Folge dieses Umschwungs ist, daß nunmehr Themen der frühkindlichen, besonders der präverbalen Entwicklung, darunter auch Scham, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Entsprechend wird der Umgang des Therapeuten mit dem Klienten freundlicher, sanfter, unterstützender, offener und gewinnt mehr die Qualität einer persönlichen Beziehung. Dadurch wird die Therapie erstmals sicher genug, um an Scham arbeiten zu können.

Der für die amerikanische Kultur typische, individualistische und an Schuld appellierende Standpunkt der Triebtheorie konnte Gefühle, Abhängigkeiten und Bedürfnisse als Schwäche auslegen und darüber hinwegtäuschen, daß doch alle menschlichen Lebensfunktionen in ein Feld aus Organismus und Umwelt eingebettet sind. Auch Perls Auffassung von Reife als autarker Selbstgenügsamkeit, die man durch zunehmende Ersetzung von äußerer Unterstützung durch Selbstunterstützung erlangt, hat diese Ansicht bestärkt. Da Scham ein sehr starker Affekt ist, der auf Abhängigkeit im Feld verweist, wurde sie nicht nur als Schwäche angesehen, sondern sogar selber zu etwas, für das man sich wiederum schämen konnte. Entsprechend wurde sie von der Psychoanalyse als eine Erscheinungsform regressiver Übertragung gedeutet, von der Gestalttherapie als ein Manipulationsversuch oder als ein Versagen bei der Selbstunterstützung vorgehalten.

Bei solch einem Klima in der Kultur und in der eigenen Berufsgruppe war es nicht sehr wahrscheinlich, daß sich Therapeuten ihre persönliche Scham bewußt gemacht oder gar noch anderen sichtbar gemacht hätten. Und wenn Therapeuten von ihrer eigenen Scham kein rechtes Verständnis haben und in keinem Verhältnis zu ihr stehen, dann werden sie auch kaum angemessen auf Scham bei ihren Patienten eingehen können.

Therapeuten und Trainer, die Scham nicht verstehen oder den Umgang mit ihr nicht gelernt haben, gehen oft völlig über sie hinweg, oder sie gehen an ihrem gedanklichen oder nonverbal gefühlsmäßigen Anteil vorbei, oder sie lösen sogar ungewollt weitere Scham aus und tragen damit zu einem iatrogenem Zirkel bei (Jacobs 1996, 1997). Zum letzteren Fall gehören beispielsweise Interventionen, die den Patienten weiter in Abwehrhaltungen hineintreiben, oder Reaktionen auf Abwehrhaltungen, die seine Scham abermals steigern oder gar zur Entwicklung von Scham über die Scham. Manchmal kommen solche unglücklichen Verhaltensweisen eines Therapeuten dadurch zustande, daß er ein eigenes Schamgefühl abwehren will, das in ihm wachgerufen wurde, aber seiner Wahrnehmung verborgen bleibt. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß Therapeuten wesentlich besser arbeiten können, wenn sie den Prozeß von Scham und insbesondere auch ihre eigene Scham besser verstehen.

In den letzten drei Jahren nahm die Anzahl gestalttherapeutischer Veröffentlichungen über Scham sprunghaft zu. In meinem eigenen Buch (Yontef 1993) ist ein Kapitel über Scham enthalten. Ein Buch von Lee und Wheeler aus dem Jahre 1996 ist ganz dem Thema Scham gewidmet; es enthält Artikel von Erskine, Fuhr & Fuhr, Jacobs, Mathys, Wheeler und Yontef, wovon einige im British Gestalt Journal, Dezember 1995, im Nachdruck erschienen. Diese Literatur behandelt den Paradigmenwechsel (Wheeler), das Wesen und die Entwicklung von Scham, die Hemmung von Wachstum und Wohlbefinden durch generalisierte Scham und neurotische Schuldgefühle, das Auftreten von Scham in der therapeutischen Beziehung (Jacobs 1995, 1996), den Umgang mit Erscheinungsformen der Scham in der Therapie (Yontef 1993, 1996), die Minimierung von iatrogener Scham in der Therapie (Yontef 1993, 1996), die Rolle von Scham in der Supervision (Yontef, im Druck), und die Betonung von Scham in der klinischen Literatur der letzten Jahre. Außerdem gibt es eine Diskussion über Scham in der Schulbildung (Fuhr und Fuhr 1995) und eine Fallstudie über Scham im kulturellen Kontext (Mathy 1995).

Ein Lücke besteht in der Literatur allerdings in der Hinsicht, daß Scham in der Ausbildung von Psychotherapeuten nicht zur Sprache kommt. So weit ich weiß, wird praktisch nirgendwo behandelt, wie man Therapeuten dazu ausbildet, mit Scham umzugehen. In der nachfolgenden Diskussion werde ich unter anderem folgende Punkte behandeln: Die Wichtigkeit der Behandlung von Scham als Thema der Therapieausbildung, der Unterschied von unvermeidlicher und von iatrogener Scham im Verlauf der Therapieausbildung und die Bedeutung der Aufmerksamkeit auf ein eventuelles Auslösen von Scham bei Training und Lehre über Scham. Ich werde besprechen, wie man in der Therapieausbildung Scham darstellen, auslösen oder verringern kann und welches Verhältnis zwischen hohen Leistungsansprüchen und der Scham von Ausbildungsteilnehmern besteht.

 

Die Wichtigkeit von Scham in der Psychotherapieausbildung

Klienten mit Schwierigkeiten bei Scham, und dies ist meiner Ansicht nach der größte Teil in unseren Sprechstunden, können nur von solchen Therapeuten wirklich gut behandelt werden, die über Scham Bescheid wissen und dafür sensibel sind. Deswegen ist es von entscheidender Bedeutung, dies in der Therapieausbildung zu vermitteln. Ich glaube, daß dies im allgemeinen nur dann gelingt, wenn sich Ausbildungsteilnehmer mit ihrer eigenen Scham so intensiv beschäftigen, bis dies zuletzt zu einem festen Bestandteil ihres Selbstgewahrseins geworden ist. Ohne Selbsterfahrung und Training würden sie als Therapeuten am Thema Scham vorbeigehen, nötige Heilung versäumen, versehentlich Scham auslösen oder sogar aktiv Beschämungen einsetzen. Dies könnte zum Beispiel dadurch geschehen, daß sie eine überlegene Haltung einnehmen, daß sie selbst im Verborgenen bleiben, während sie von ihren Klienten Offenheit verlangen, oder daß sie auf Unzufriedenheit oder Verselbständigung des Klienten mit Rechtfertigungen reagieren.

Scham ist ein Bestandteil des Selbstgefühls und wird als solche im Feld zwischen Organismus und Umwelt erzeugt und aufrechterhalten. Deswegen kann sie nur dann wirksam behandelt werden, wenn der Therapeut dies weiß, dessen gewahr ist und mit großer Einfühlung ein heilendes Beziehungsfeld mit dem Klienten zu erzeugen vermag. Dazu kann man Therapeuten nur durch eine systematische Sensibilisierung in die Lage versetzen. Bei meinem Plädoyer für ein solches Training gehe ich von den folgenden Überlegungen aus.

1. Lernen am Vorbild und Induktion von Scham in der Therapieausbildung

Im Umgang von Therapeuten mit Klienten spiegelt sich, was ihnen in ihrer Ausbildung beigebracht wurde, was sie an ihren Trainern als Vorbild erleben konnten und wie mit ihnen selbst umgegangen worden war. Bei der Ausbildung setzen wir darauf, daß sich Unterricht, Vorbild und Behandlung der Teilnehmer positiv auf ihre spätere therapeutische Praxis auswirken. Aber zu meinem Erstaunen sprechen wir nicht darüber, wie sich negative Erfahrungen in der Ausbildung, also beispielsweise Beschämungen, langfristig auswirken. Ich vertrete in diesem Artikel die These, daß es nicht nur in der Therapie mit Klienten, sondern auch in der Ausbildung von Therapeuten an vorderster Stelle darum geht, wie man sich selbst und seine Mitwelt erlebt. Wenn Teilnehmer erleben, daß sie in der Ausbildung beschämt werden oder daß ein bei ihnen ein schon bestehendes Schamgefühl verschlimmert wird, dann werden sie später auch in ähnlicher Weise mit ihren Klienten umgehen. Deshalb muß genau beachtet werden, wie Ausbildungsteilnehmer sich in der Ausbildung fühlen und was mit ihrer Scham geschieht (Yontef, im Druck).

Die Anforderungen an eine gute Ausbildung gleichen in dieser Hinsicht denen an eine gute Therapie. Auch Trainer müssen Respekt zeigen gegenüber den persönlichen Werten und Empfindlichkeiten ihrer Ausbildungsteilnehmer. Also müssen auch sie ihrerseits mit den Schamgefühlen ihrer Teilnehmer umgehen gelernt haben und ihre eigenen Schamgefühle kennen, zeigen und teilen. Das Feldmodell verlangt auch in der beruflichen Ausbildung eine horizontale Beziehung und ein gemeinsames Weltverständnis. Für Therapeuten wie für Trainer gilt gleichermaßen, daß sie nicht als Autoritäten mit höherem Wahrheitsanspruch als ihre Partner auftreten sollten. Wenn sich Trainer als hierarchisch höherstehend darstellen, so werden ihre Ausbildungsteilnehmer ihrem Mentor folgen und später genauso mit ihren Klienten umgehen.

2. Therapeutische Selbst-Erforschung und ihr Verhältnis zur Ausbildung

Auf der einen Seite ist klar, daß Trainees viel von ihrer möglichen Wirksamkeit verlieren, wenn sie in der Ausbildung an Selbstwertgefühl einbüßen. Auf der anderen Seite wäre aber ein Selbstwertgefühl ohne hinreichende Klarheit über das Selbst ohne Nutzen. Gewahrsein bedeutet für die Gestalttherapie, sich selbst zu akzeptieren, aber auch zu kennen. Wenn das Selbstwertgefühl des Ausbildungsteilnehmers zum späteren Nutzen in der Therapie verbessert werden soll, so verlangt dies also eine Balance zwischen Selbst-Einsicht und Selbst-Wertschätzung.

Ein Selbstbewußtsein, daß sich bloß an äußere Maßstäbe hält, nicht auch an eigene innere Maßstäbe, oder das sogar mit Selbstablehnung gekoppelt wäre, eignete sich nicht als Voraussetzung zu einem guten Therapeuten. Durch Ausbildung, Supervision und Beratung können Trainees lernen, für ihre Schamgefühle sensibler zu werden. Aber dies wird wohl in der Regel durch eine psychotherapeutische Erkundung ihrer selbst ergänzt werden müssen.

 3. Wissenserwerb über Scham im Rahmen der Ausbildung

Ausbildungsteilnehmer werden auch dann für Schamgefühle blind bleiben, wenn sie keine Kenntisse darüber erwerben, welche zentrale Rolle Scham im Entwicklungsprozeß hat und hinter welchen Erscheinungsformen sie sich verbergen kann. Deswegen ist auch erforderlich, Wissensstoff darüber in didaktisch geeigneter Weise zu vermitteln.

 

Zusammenfassung

Wie Therapeuten mit ihren Klienten umgehen, spiegelt oft wider, wie sie in der Ausbildung behandelt wurden. Sie machen nach, was ihre Ausbilder vormachten. Deshalb beruht die Qualität der Ausbildung ganz wesentlich auf der Qualität der Beziehungen in der Ausbildung. Es kommt also nicht nur darauf an, was ein Teilnehmer an Feedback, Beobachtungen und Anregungen mitbekommt, sondern auch wie man es ihm gibt. Wenn in der Ausbildung die Kriterien für Wert nur introjiziert werden oder wenn frühere introjizierte Maßstäbe unbearbeitet weiterbestehen, ist das Ausbildungsergebnis wenig befriedigend.

Im folgenden werde ich näher darauf eingehen, was man über Scham weiß, wie sie in der Therapie ausgelöst oder gemildert werden kann, und wie sich in der Ausbildung Scham und Leistungsansprüche zueinander verhalten.

 

Eine kurze Übersicht über Scham (2)

Dieser Abschnitt ist für Leser gedacht, die sich in die Literatur über Scham noch nicht sehr tief eingelesen haben. Er beansprucht keine gründliche Darstellung, sondern will nur einen kursorischen Überblick geben.

Scham ist eine kognitive und emotionale Reaktion in Bezug auf die eigene Existenz, insbesondere auf die eigenen primären Gefühle und Bedürfnisse, z.B. nach Liebe, Aufmerksamkeit, Beachtung, Anerkennung und Unterstützung. In ihr steckt die Unterstellung, man würde durch das Vorhandensein oder den Ausdruck dieser Bedürfnisse unwert, unangemessen, unfähig, unzulänglich, mangelhaft, aufdringlich, ungeliebt, unberührbar, unberechtigt zum Erleben von Achtung, Liebe und Freude. Diese Haltung gegenüber sich selbst entsteht durch eine spezielle Art von Bruch in den Beziehungen mit der Umwelt, nämlich wenn sich ein Mensch schutzlos exponiert und dann eine bestimmte Abweisung erhält. Besonders groß ist die Verletzlichkeit dann, wenn die Person nicht perfekt, am besten, ideal und zufrieden ist, sondern Gefühle und Bedürfnisse hat und sie zum Ausdruck bringt bzw. sie nicht unterdrücken und verstecken kann. Scham kommt dann auf, wenn ein bedeutender oder mächtiger anderer Mensch darauf kalt, abweisend, abwertend, verurteilend, wütend oder angewidert reagiert.

Situative Scham ist eine Reaktion, die nur zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Situation auftritt und hier Fehler, Schwächen oder Unzulänglichkeiten hinsichtlich einer Persönlichkeitseigenschaft, Verhaltensweise, Erfahrung, Idee oder Emotion unterstellt. Allerdings gibt es auch Menschen, die gewohnheitsmäßig mit Scham reagieren und bei denen eine situationsbedingte Scham sogleich in existenzielle oder primäre Scham weiterführt. Bei ihnen ist die situative Scham nur die Aktualisierung einer tieferliegenden Grundhaltung, die generell in Frage stellt, daß man zum Dasein auf der Welt und zum Dazugehören berechtigt ist. Solche existenzielle Scham beschränkt sich nicht auf eine spezielle Verhaltensweise und ihre vermeintliche Schwäche, sondern bezieht sich auf das gesamte Wesen eines Menschen.

Existenzielle Scham wird wachgerufen, wenn zwar ein konkreter Sachverhalt vorliegt, etwa ein Irrtum oder eine Schwäche, aber subjektiv als ein grundlegender Fehler gedeutet wird, woraus als nächstes das Urteil entsteht "Ich bin verkehrt". Dieser Prozeß geschieht bei schamhaften Menschen geradezu automatisch und ohne Begriffe; er vollzieht sich im Hintergrund und höchstens noch zu Beginn mit Bewußtsein (Yontef 1993).

Scham ist eine erlernte Haltung, sich nicht mit sich so zu identifizieren, wie man ist. Sie tritt immer dann auf, wenn sich im Beziehungsfeld Brüche ereignen, erinnert oder auch nur vorgestellt werden, und wenn die Person tatsächlich oder vermeintlich nicht mehr wahrgenommen wird. Die Bestandteile dieses komplexen Prozesses sind das aktuelle Empfinden von Scham, der Impuls sich zu verstecken, um weiteren Gefahren der Beschämung zu entgehen, und die Vermeidung, das Schamgefühl und die Fluchttendenz zu spüren, zu wissen oder gar zum Ausdruck zu bringen.

Gewöhnlich wird der gesamte Prozeß automatisch vor der eigenen Wahrnehmung verborgen. Als Folge davon ist das Erleben bei Scham oft nur vage, unklar, nebelhaft, geheimnisvoll und verwirrend. Bei besonders schamhaften Menschen ist die Energie dieses Affekts geradezu unterträglich, so daß sie schon im Vorfeld Situationen vermeiden, in denen sie für unzulänglich oder schlecht gehalten werden können.

Scham fungiert als Mittel der sozialen Kontrolle, insofern sie eine Grenze zwischen dem Betreffenden und den anderen, zwischen privat und öffentlich, definiert und aufrechterhält. Sie schreckt von Versagen ab, belohnt Erfolg, Einsatz und Rücksicht und bewahrt die persönliche Würde. Scham kann vernünftig, angemessen und sozial nützlich sein, vor allem wenn sie sich auf spezifische Situationen bezieht. Dagegen führen verallgemeinerte existenzielle Scham und ihr Gegenteil, generelle Schamlosigkeit, zu Schwierigkeiten im Beziehungsfeld.

Seine Ursprünge hat das Schamempfinden in einem Lebensalter, von dem keine klare Erinnerung besteht. Es geht aus den frühesten Strebungen und zwischenmenschlichen Erfahrungen des Kleinkinds hervor. Da es sich entwickelt, bevor ein sprachliches Bewußtsein besteht, entgeht es auch später oft dem sprachlich vermittelten Gewahrsein oder bleibt zumindest sehr diffus.

 

Die Entwicklung des Schamgefühls

Erfahrung kommt durch die biologisch gegebene Selbstfunktion der Gestaltbildung zustande. Sie besteht, gelingt und entwickelt sich stets in einem Geflecht zwischenmenschlicher Interaktion. Wenn ein Kind heranwächst, kann dieses interpersonelle Geflecht seine Selbstfunktionen fördern, vergrößern oder behindern. Existenzielle Scham kommt dann auf, wenn das Kind mit seinen sich ausbildenden Erfahrungen auf Negativität trifft, etwa Angriffe, Demütigungen, Kälte oder Ignoranz, und wenn es sich zwecks Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an zwischenmenschlicher Beziehung von seinen eigenen Selbstentwicklungen distanziert.

Im Falle gesunder Entwicklung identifizieren sich Menschen mit dem, was sie zustandebringen, und mit den Erfahrungen (einschließlich Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen und Bedürfnissen), die sie machen. Sie haben eine klare und durch die Zeit hindurch stabile Vorstellung von ihrem Selbst, ein gutes Gefühl der Wertschätzung dieses Selbst und eine vorbehaltlose Anerkennung der Erfahrungen der anderen Menschen in ihrem Feld. Während der frühen Lebensjahre können die Interaktionen in der Familie ein solches Selbstbewußtsein fördern und unterstützen. Sie können aber auch Unterbrechungen der Erfahrungsbildung und der Entstehung eines Selbst bewirken, wobei das Kind dann mit den negativen Reaktionen auf sich als ganze Person alleine zurückbleibt.

In manchen Umgebungen hängt Scham fast automatisch mit den Geräuschen des Raums, dem Gesichtsausdruck der Eltern, dem Klang ihrer Stimmen, dem Rhythmus ihrer Bewegungen, der Art ihrer Berührungen usw. zusammen (für eine ähnliche Diskussion der frühen Kindheit siehe Stern 1985). Die Augen der Eltern können die Botschaft vermitteln, daß ihnen das Kind ein Geschenk und eine Freude ist - oder auch nicht. Wenn die Interaktion mit den Eltern zu unterkühlt oder zu überhitzt ist, undurchschaubar oder einfach überwältigend, dann fühlen sich die Kinder in aller Regel verwirrt und verworren. Sie zimmern sich als Erklärung dafür zusammen, wenn auch nicht mit vollem Bewußtsein, daß sie selber dieses Problem verursachen, nämlich weil sie nicht in Ordnung, ein Belastung für die anderen, der Liebe nicht wert und nicht würdig seien, und daß sie sich nur viel mehr anstrengen müßten, damit die Situation wieder gut wird. Das Kind entfernt sich also von sich selbst: es identifiziert sich nicht mehr mit sich, wie es ist, sondern mit einem idealen Selbst. Manchmal wird die Scham mit Heftigkeit und Brutalität ausgelöst (vor allem in der Kindheit von Klienten mit Persönlichkeitsstörungen), manchmal fast unmerklich mit einer leichten Unterkühltheit, Schalheit, Teilnahmslosigkeit, einem angewiderten Blick oder unterlassener Resonanz der Eltern.

 

Verlegenheit und Verstecken

Gesehen zu werden bedeutet für einen schamvollen Menschen, daß sein unzulängliches, scheußliches, unerträgliches Wesen den anderen ausgesetzt ist. Deswegen ist seine offene oder verborgene Botschaft gewöhnlich: "Ich will nicht gesehen werden". Um sich nicht nackt und ausgeliefert zu fühlen, wird eine Vielfalt von Möglichkeiten erfunden, sich selbst und die eigene Scham zu verbergen. Das ist es, was die anderen zu sehen bekommen. Zum Verstecken gehört zum Beispiel ganz wörtlich die Isolation, aber auch Erstarrung und Erfrorenheit, Wortgeklingel und Verwirrung, Angriffe, Selbstgerechtigkeit oder Verächtlichkeit gegenüber den Mitmenschen.

 

Scham und Schuldgefühl

Schuld erzeugt das "schlechte Gefühl", das einen heimsucht, wenn man einem Menschen, einer Beziehung oder der Gesellschaft Schaden zugefügt hat oder gegen Gesetz und Moral verstoßen hat. Scham tritt bei der Erfahrung auf, daß das eigene Wesen fehlerhaft oder verkehrt ist. Die archetypische Strafe für Schuld besteht in Verstümmelung oder Tod, die archetypische Strafe für Scham im Verschwinden.

Viele stecken in einer Zwickmühle zwischen Scham und Schuld: Handeln sie gemäß ihren eigenen Impulsen, werden sie für schlecht erklärt; unterlassen sie es, für schwächlich. Ein Klient, der in dieser Klemme steckt, wird gewöhnlich zunächst nur den einen der beiden Pole ins Spiel bringen. Erst mit geduldiger und einfühlsamer Unterstützung über eine längere Zeit wird auch der andere Teil des Bildes ans Licht kommen (Yontef 1993, 1996).

 

Psychotherapie bei Scham

Um mit Scham therapeutisch arbeiten zu können, muß der Therapeut feinfühlig und achtsam sei (3). Nur wenn die Beziehung dialogische Qualitäten hat, kann Scham geheilt werden (Hycner, 1985; Hycner & Jacobs, 1995; Jacobs, 1989; Yontef, 1993). In solch einer Beziehung sind beide Seiten verwundbar und dem Urteil, als Menschen mißraten zu sein, ausgesetzt. Ihr Selbstwertgefühl wird durch die Erfahrung mit dem anderen tief berührt. In dem Maße, wie sich der Therapeut oder Trainer in der Beziehung vergrößert und erhöht, in dem Maße wird der Klient oder Ausbildungsteilnehmer herabgesetzt und noch tiefer in sein Schamerleben gestoßen.

Therapie mit schamvollen Klienten muß dem Motto folgen: "Nicht schaden!". Jedoch viele Aktivitäten von Therapeuten verstoßen dagegen, zum Beispiel: offene Demütigungen, kühle Reserviertheit, bei zwischenmenschlichen Spannungen den Fehler im Klienten lokalisieren (Jacobs 1996, 1967, im Druck), bei Meinungsverschiedenheiten dem Klienten Unrecht geben, Belehrungen erteilen, Rechtfertigungen ausbreiten, Sarkasmus, Herablassung, feindseliges Schweigen, Verachtung. Auch wenn der Therapeut damit keine negativen Absichten verfolgt, wird der Schaden nicht auf sich warten lassen. Wenn ein Therapeut aus Frustration, zur Verteidigung oder mit einer negativen Empfindung gegenüber dem Klienten ein Gestaltexperiment durchführt, sogar wenn er dies in technisch an sich geschickter Weise tut, wird er damit bei einem schamvollen Klienten unweigerlich neue Scham erzeugen. Und er wird denselben Effekt erreichen, wenn er in einer Äußerung zwischen den Zeilen durchblicken läßt, der Klient sei "zu bedürftig".

Generell birgt jede Arbeit im Rampenlicht die Gefahr der Beschämung, zum Beispiel auch experimentelle Rollenspiele, Konfrontationen zwischen Gruppenmitgliedern oder aufdeckende Untersuchungen der Gruppenstruktur. Es liegt in der Verantwortung des Therapeuten, dafür zu sorgen, daß die Arbeit nicht am Unterstützungsbedürfnis des Klienten vorbeischießt, sondern daß sich der Klient auch nach der Arbeit noch verstanden, getragen und ehrlich angenommen fühlt. Zu einem guten therapeutischen Kontakt gehört Ehrlichkeit auch im Hinblick auf Negativa dazu, doch stets auch Rücksicht, Taktgefühl, Wärme und Liebe. Wenn ein Kontakt den anderen nicht so respektiert und schätzt, wie er ist, wird er Scham auslösen oder vertiefen. Nach einer intensiven Arbeit der Selbstoffenbarung sollte kein Klient ohne Wiederherstellung oder Neuaufbau einer zwischenmenschlichen Verbundenheit zurückgelassen werden; dazu gehört auch besonders Feedback, wie ihn andere erlebt haben und was für Gefühle sie für ihn haben.

Wenn Scham und Verbergen einfach nur offengelegt werden, wird sich daraufhin mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut eine Schamreaktion einstellen. Deswegen muß der Therapeut vorher dafür sorgen, daß die Umgebung Scham und Verbergen respektieren und den Klienten mit Verständnis, Zuneigung und Achtung annimmt.

 

Den zweiten Teil dieses umfangreichen Beitrags von Gary Yontef finden Sie hier: "Beziehungen und Selbstwertgefühl in der gestalttherapeutischen Ausbildung (Teil II)".

 

Anmerkungen:

(1) In diesem Artikel wird "Ausbildung" als Oberbegriff auch für Supervision, Konsil, Ausbildung zum Psychotherapeuten sowie psychotherapeutischen Weiterbildungen verwendet. Entsprechend meint "Ausbilder" auch Supervisoren, Berater, Lehrer und Trainer. Mit der Bezeichnung "Ausbildungsteilnehmer" oder "Auszubildender" wird jeder bezeichnet, der als tätiger oder künftiger Psychotherapeut an irgendeiner Stufe von Ausbildung, Konsultation oder Supervision teilnimmt.

(2) Eine vollständige Darstellung meiner Sicht der Schamreaktion, ihrer Entwicklung, ihrer Erscheinungsformen in der Psychotherapie etc. findet sich in Yontef (1993 und 1996).

(3) Wie man Schamreaktionen erkennen kann, wird in Yontef 1993 und 1996 besprochen. Die Frage, wie man entscheiden kann, ob Scham ein aktuelles Problem für den Klienten ist oder nur ein persönliches Steckenpferd des Therapeuten, wird in Yontef (1996) diskutiert. Ziele und Phasen der Schambehandlung werden in beiden Werken behandelt.

 

Literatur:

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Gary Yontef, Ph.D.

arbeitet nach seiner Ausbildung bei Fritz Perls und James S. Simkin seit 1965 als Gestalttherapeut.
Er ist Fellow der "Academy of Clinical Psychology", diplomierter Klinischer Psychologe (ABPP), Mitglied des Editorial Board der Fachzeitschrift "The Gestalt Journal", editorischer Berater des "British Gestalt Journal" sowie Autor des Buches "Awareness, Dialogue and Process: Essays on Gestalt Therapy" und zahlreicher Fachartikel über Theorie und Praxis der Gestalttherapie und Supervision.
Er war lange Zeit Mitglied des Lehrkörpers an der Psychologischen Fakultät der Universität von Kalifornien und Vorsitzender des Ausbildungsinstituts für Gestalttherapie in Los Angeles (GTILA).
Hinweis: Die deutsche Ausgabe seines Buches "Awareness, Dialogue and Process" ist z.Zt. in Vorbereitung. Sie wird in der Edition Humanistische Psychologie EHP in Köln erscheinen.

Die nebenstehende Beitrag ist zuerst erschienen in: The Gestalt Journal, Vol. 20, No. 1.
© The Gestalt Journal Press, 1997
http://www.gestalt.org
Wir danken Joe Wysong vom Gestalt Journal für die Genehmigung der deutschen Erstübersetzung.
Aus dem Amerikanischen von Thomas Bliesener.

Den zweiten Teil dieses umfangreichen Beitrags von Gary Yontef finden Sie hier: "Beziehungen und Selbstwertgefühl in der gestalttherapeutischen Ausbildung (Teil II)".

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