Gestaltkritik - Zeitschrift für Gestalttherapie

Stephen Schoen:

Der Vogel singt wieder

Ein Kapitel aus Stephen Schoens erstem Roman "Greenacres"


Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritk verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (2-1997 und 1-1998):

 

 Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 

Foto: Stephen SchoenStephen Schoen

 

 

Der Vogel singt wieder

Ein Kapitel aus Stephen Schoens erstem Roman "Greenacres"

Hier dokumentieren wir Stephen Schoens Beitrag anläßlich unserer ersten Tagung des Förderkreises Gestaltkritik, die vom 30. April bis 1. Mai 1997 stattfand und unster dem Titel "Gestalttherapie - Politik - Spiritualtität" stand. Wir freuen uns, unseren Leserinnen und Lesern diesen brandneuen Beitrag präsentieren zu können.

Der Herausgeber

 

Vorbemerkungen

Was ich vorhabe, ist, daß wir ein Experiment zusammen machen. Mein Beitrag zum Tagungsthema Psychotherapie, Politik und Spiritualität wird sein, daß ich ein Kapitel aus meinem noch unveröffentlichten Roman lese, in dem es um das Leben in einer privaten Klinik geht, die früher einmal als Landsitz diente und heute Greenacres heißt. Das Kapitel beschreibt den Dialog zwischen einem Psychotherapeuten, einem älteren Mann über siebzig, und einem neunzehnjährigen Studenten, einem Idealisten mit ernsthaftem Interesse an Literatur und Religion, der sich als Patient in der Klinik aufhält. Dieser junge Mann ist die zentrale Figur der ganzen Geschichte.

Um Ihnen den Zugang zu diesem Kapitel zu erleichtern, möchte ich Ihnen ein paar Hintergrundinformationen geben.

Der junge Mann ist in der Klinik, weil er getäuscht wurde. Seine Mutter hatte befürchtet, daß sein Pazifismus ihn ins Gefängnis bringen würde. Er war mit dem Gesetz in Konflikt geraten, weil er sich der allgemeinen Wehrpflicht widersetzte. Er dachte, er käme für einen Tag in die Klinik, um verschiedene psychologische Tests zu machen, und er hatte sich dazu bereiterklärt, um seiner Mutter (und seinem emotional sehr distanzierten Vater) zu beweisen, daß er nicht verrückt sei.

Als er sich jedoch hinter verschlossenen Türen wiederfand, protestierte er gegen seinen zwangsweisen Aufenthalt durch die Verweigerung jeglicher Nahrungsaufnahme. Sein Fasten wurde jedoch als Beweis seiner Geistesschwäche interpretiert. Durch diese Verwundbarkeit begann er, sich tatsächlich ein wenig verrückt vorzukommen. Doch sein inneres Chaos beginnt eigentlich erst nach einer zweiwöchigen Phase Gandhi-ähnlichen Widerstandes, als er sich durch die Institution niedergestreckt fühlt. Er gibt seinen Widerstand auf und akzeptiert seinen Klinikaufenthalt als Beweis seiner Schwäche. Er identifiziert sich gewissermaßen mit dem Aggressor. Die Ironie besteht darin, daß jetzt die Klinik selbst zum wirklichen Grund für seine geistige Störung wird, weil ihre Autorität ihn demoralisiert. An diesem Punkt fühlt er sich niedergeschlagen, zurückgezogen und innerlich fragmentiert, fast schizophren.

Zu diesem Zeitpunkt wendet sich sein Arzt, Alan Tempel, ein gutherziger aber auch schwacher Mensch, der sich wohl bewußt ist, daß er dem jungen Mann nicht helfen kann, an einen älteren Kollegen, Lehrer und Freund. Er bittet seinen Freund um ein einmaliges Gespräch mit dem jungen Mann (mehr wäre einem externen Arzt ohnehin nicht erlaubt), um zu sehen, was er für ihn tun könne.

Das Kapitel, das Sie gleich hören werden, ist eine Schilderung des Gespräches zwischen diesem Arzt und dem jungen Mann, und zwar aus der Perspektive des jungen Patienten. Unmittelbar nach ihrer Begegnung läßt er das Gespräch noch einmal revuepassieren. Alles, was der junge Mann über den fremden Arzt wußte, war, daß es sich um einen Freund seines eigenen Arztes handelt und daß er ihn möglicherweise besuchen käme. Darüber hinaus weiß er nichts von ihm, ebensowenig wie der Arzt mehr über den Jungen weiß, als ich bereits angedeutet habe.

Lassen Sie mich noch einmal wiederholen: Der junge Mann, 19 Jahre alt, sitzt in seinem Zimmer einer wohlhabenden psychiatrischen Klinik unmittelbar nach einer sehr wichtigen Unterhaltung mit einem Psychotherapeuten. Er denkt zurück an seine Depression und seine anhaltende Verwirrung der letzten Wochen und erinnert sich an dieses eben beendete Gespräch. Das Kapitel beschreibt seine Erinnerung an diese Unterhaltung und seine Reaktion darauf. Etwas Neues ist in ihm wachgerufen worden. Der Name des jungen Mannes ist Rick.

Um das Verständnis des Gesagten zu erleichtern und seine Bedeutung für das Thema dieser Tagung zu unterstreichen, werde ich hier und da ein paar Anmerkungen machen. Außerdem werde ich etwas darüber sagen, wie der Therapeut das Gespräch führt, um die therapeutische Intention hervorzuheben.

An dieser Stelle möchte ich meinem Übersetzer Ludger Firneburg für seine liebevolle Unterstützung und seine ausgezeichnete und engagierte Arbeit herzlich danken.

 

Der Vogel singt wieder

Ein Kapitel aus einem Roman

Nein; der kahle Baum vor meinem Fenster neben der üppig belaubten Espe ist nicht tot. Wochenlang sah es so aus, und immer wieder stellte ich mir die Frage: Vielleicht, Rick, kannst du von der prächtigen grünen Espe hinübergehen - ins Nichts; aber wie dann wieder zurückkommen aus dem Nichts, ohne Saat, ohne Verbindung; Sanddünen ohne Wege, die endlose, graue, nebelbedeckte, überwältigende See, die das Leben in sich begraben hält? - Vor allem, wenn es keine Bilder mehr gibt; obwohl sie manchmal doch noch auftauchten: Jess (1) zum Beispiel, der dasaß, wie er es am liebsten mochte: mit übereinandergeschlagenen Beinen und nach vorne gebeugt; Mutter, die schweren, gemessenen Schrittes vorbeiging, einer Königin gleich; David, der den Widerschein des Mondes betrachtete. (2) - Nur die Worte waren verschwunden - oder bedeutungslos geworden..

Und dann dieser Mann heute, fülliger noch als das Espenlaub, der ohne Ankündigung aus dem Nichts auftauchte und sich als Dr. Tempels Freund vorstellte. Vielleicht war das auch nur ein Vorwand gewesen, obwohl er eigentlich keinen Vorwand zu brauchen schien. Dr. Tempel hatte so jemanden erwähnt, groß und seltsam, mit scharfem Blick. Überraschend war nur, daß dieser beleibte Mann sich mit der Leichtigkeit eines Tänzers bewegte. Als ob sich ein großer Vogel auf dem Zweig dieses kahlen Baumes niedergelassen hätte und ihn sanft schüttelte, ein bißchen ungeschickt, aber von jeder äußeren Beachtung völlig unbeeindruckt, was es um so beachtenswerter machte. Etwas, das tot zu sein scheint, aber nicht tot ist. Und wahrhaftig kann man an den Enden der Äste und auf der Spitze des Stammes einige wenige Blätter ausmachen, die rastlos im Wind flattern. Bisher waren sie mir nie aufgefallen.

Er saß bereits auf dem Stuhl als die Schwester mich hereinrief. Ich setzte mich auf den Bettrand und er schaute mich wortlos an, gerade so, als sei ich der unerwartete Besucher. Von Anfang an strahlte er diese seltsame Zuversicht aus. Dann begann er.

"Sie sagen, wir können uns auf die Hollywoodschaukel im Park setzen. Dieser wunderschöne Park ähnelt einer Weide, die mißbraucht wird, um aus Kühen Hackfleisch zu machen; Schönheit kann so vulgär sein. Aber ich wollte sehen, wo du untergebracht bist." Er sah sich um und preßte seine Lippen aufeinander. "Es ist antiseptisch, nicht wahr? Wäre an diesem Ort keine Klinik entstanden, dann hätten hier vielleicht viele gute Absichten Wirklichkeit werden können."

Ich hörte ihm zu und fragte: "Sind Sie sicher, daß Sie im richtigen Zimmer sind?" "Oh, ja, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich störe."

Ich sagte: "Ich weiß es noch nicht."

"Ich bin ein Freund deines Arztes Alan. Es war seine Idee, mich hierher zu holen. Ich bin selbst Arzt, aber was für ein Arzt? Das ist die Frage. Und was dich betrifft, ... ich meine, wenn nichts krank ist, gibt es nichts zu heilen."

Für einen Moment sah er weg. Er sah ein wenig hilflos aus, ehrlich hilflos. Dann lächelte er.

"Zu sagen, was normal ist, ist einfach solange es um die Körpertemperatur geht oder den Zustand der Organe. Wenn es hingegen um menschliche Fragen geht, wo alles ineinander verwoben ist ..."

Da er sich schon so weit vorgewagt hatte, erwiderte ich: "Und wo alles durcheinander ist."

Er nickte. "Im Sinne der Sünde." (3)

"Natürlich."

Er nickte noch einmal, diesmal langsamer.

"Ja, es ist eine großartige Entdeckung ... Ich vermute, du bist durch die Wälder gestreift als sämtliche Wege vom Regen aufgeweicht waren und du fast verloren gegangen wärst?"

Ich blieb stumm, sah ihn nur an. Er schien es als Zustimmung aufzufassen.

"Das Moor, der Schlamm - wenn es etwas gibt, wo man hineinkriechen kann, dann ist das eine Gnade Gottes. (4) Für eine Weile Schutz zu finden und warm und trocken zu sein; auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln. Doch wenn es dann aufklart, selbst wenn du noch müde bist und schlammbedeckt, dann mußt du versuchen, eine Lichtung zu finden und einen Baum, dessen Äste tief genug hängen, um da hinaufzusteigen, die Form des Waldes zu erkennen und den richtigen Wasserlauf zu finden, der dir den Weg zeigt. Nicht daß es dich völlig von der Sünde befreien würde, aber kann man jemals wirklich sicher sein? Der Kühne handelt überlegt, und dem Tollkühnen gilt sein Handeln als Überlegenheit ..."

Es war seltsam, aber es war in Ordnung, dieses unerwartete, so wesentliche Gespräch, das sich selbst führte. Ich wartete.

"Rede ich zuviel?" fragte er. "Ich rege mich sehr schnell auf." (5)

Doch etwas war gerade in mich gefahren - von einem Zweig einer alten Ulme.

"Ich erinnere mich an einen weißen Vogel, der unaufhörlich flog."

"Das muß großartig gewesen sein." - Ich nickte.

"Sie legen enorme Entfernungen zurück," fuhr er fort, "Tausende von Kilometern. Und schließlich kommen sie an. Unfehlbar."

"Unfehlbarkeit ist eine andere Geschichte."

"Natürlich. Aber auch wir haben solche Möglichkeiten. Wir können sogar unseren Atem anhalten bis wir ohnmächtig werden. Das ist auch eine ganz normale Fähigkeit."

Ich lächelte. Die Sprünge, die er machte, von einem Bild zum nächsten, und die doch in ein einziges Panorama zu münden schienen.

"Er hielt seinen Atem an während er seine Suppe schlürfte. (6) Er war nicht kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Es war einfach abstoßend."

"Wann?" (7)

"Abends, nach der Arbeit. Er trug gerne eine graue Weste. Und morgens tunkte er sein Brötchen in den Kaffee während er sich die Baseballergebnisse ansah."

"Du schautest ihm zu."

"Wie ein verschwommener Punkt am Horizont."

"Nein, ich meine Du warst verschwommen für ihn."

"Ja, das stimmt. Ich war der Punkt an seinem Horizont."

Ich sah den beleibten Mann abermals neugierig an. Ich wußte nicht, wie wir hier zusammengekommen waren, aber es hatte nichts Künstliches, und ich ließ mich tragen. "Es gibt keinen Grund, es nicht zu sagen."

Eine Weile blieb er ruhig. Dann antwortete er: "Das ist immer etwas Bemerkenswertes," - als ob wir zu einer überraschenden Übereinkunft gekommen wären. Er fuhr fort: "Ich war mir ganz und gar nicht sicher, ob es so sein würde ... ich meine, daß ich mich hier mit dir sicher genug fühlen würde. Es gibt doch immer etwas, das einen mißtrauisch machen kann, nicht wahr? Aber es ist gut, ich fühle mich sicher." (8)

Ohne jeden Zweifel spürte ich nun, wie wichtig es ihm war, von mir respektiert zu werden; und es war, also ob mit einem Mal die Tür zu einem inneren Verließ berührt worden wäre.

Er machte wieder eine Pause und sprach dann mit nachdenklichem Blick weiter: "Mein Vater redete auch nicht viel. Wir hatten ein paar Hektar Ackerland in Wisconsin. Man erledigte seine Arbeit, das war alles. Doch er nahm mich wie ich war." (9)

"Eine andere Geschichte," sagte ich erneut.

"Aber du kannst es dir wahrscheinlich vorstellen."

Das brachte mich zum lachen. "Man kann sich alles Mögliche denken."

"Aber es sich wirklich vorzustellen," fuhr er fort. "Findest du nicht, daß das ein Unterschied ist? Du kannst wissen, was du wirklich willst, selbst wenn du es nie hattest; was nicht bedeutet, Fehlendes zu verleugnen - oder eine echte Gefahr. Offensichtlich gibt es Dinge, die nicht geleugnet werden können."

Wieder hielt er einen Moment inne. "Zum Beispiel, daß es keinen zweiten Abgrund in der Nähe gibt, wenn du zwei Meter von einer Steilküste entfernt bist. Das wäre ein schwerwiegender Fehler. Doch auf deiner anderen Seite kannst du dir alle Wunder dieser Erde vorstellen, die Vollendung der Liebe, die Vollendung des Friedens, die Vollendung der Wut." (10)

"Ich habe sie verloren," sagte ich.

"Wie war das?"

Zuerst hatte ich die Wut, und dann hatte die Wut mich. Es war, als ob ich ausrutschte."

Ich wartete, und er nickte.

"Ich verstehe. Aus zwei Metern wird ein Meter und dann ein halber Meter; und schon gibt es nur noch einen sehr schmalen Pfad am Abgrund. Es sei denn, du bewegst dich zurück in Richtung Unterholz. Und dort, ein bißchen weiter hinten, können die Wunder wieder auftauchen: Friede, Wut, Liebe, oder der Traum von ihnen. Obwohl ich glaube, daß der Abstand zwischen dir und dem Abgrund nie mehr als einsneunzig beträgt, etwa die durchschnittliche Größe eines hochgewachsenen Mannes. - Der Tag unseres Todes," fuhr er fort, "unterscheidet sich nicht vom heutigen Tag. Es gibt gute Gründe, in allem die Gefahr lauern zu sehen, oder aber völlig unbeschwert durchs Leben zu gehen."

Ich lächelte. Das alles war schon höchst merkwürdig. In anderen Gesprächen mit den Ärzten hier schien häufig nichts gesagt worden zu sein, während es jetzt so aussah, als ob es nichts mehr zu sagen gäbe.

Doch er schien gerade in seinen eigenen Gedanken versunken zu sein.

"Nun hast du also," fuhr er fort, "gegen das Gesetz verstoßen. Schön und gut." (11)

Das brachte mich zum Lachen. "Aber nicht mit den Leuten, die ich im Sinn hatte."

"Nein, das nicht." Er blieb einen Moment still. "Vielleicht aber doch. Vielleicht mit ihren Stellvertretern. Ich meine, die Armee repräsentiert das Gesetz. Die Psychiater hier wahren das Gesetz und repräsentieren auf diese Weise die Armee. Du selbst bist eine Enklave, nicht wahr? Du bist ein Teil der Gesellschaft, aber du bist auch in dieser Klinik."

Ich war nicht sicher, wo diese Logik hinführen sollte. "Sie verlieren den Abgrund nicht aus den Augen?"

"Überhaupt nicht; das ist es, worüber ich rede."

Ich brachte es selbst auf den Punkt. "Weil nur ein Patient in Greenacres weiß, wo Gefahren für sein Inneres lauern."

"Ja. An einem solchen Ort kannst du es kaum anders betrachten. Auf der anderen Seite aber kann auch ein Gefangener die edelsten Ziele verfolgen; wie Gandhi zum Beispiel, oder Malcolm X."

Für ein paar Momente war er wieder ganz still.

"Doch hier geht es nicht nur um Fragen des Zivilrechts. Es ist heiliges Gesetz. Das hier ist eine Art Religion des psychologischen Verständnisses, die auf der Krankheit basiert. Und diejenigen, die einmal darin wiedergeboren werden, sind oft für den Rest ihres Lebens die Gläubigen. Ich rede von den Ärzten, weißt du, abgesehen von Alan, meinem Freund und deinem Arzt. Es ist eine seltsame Geschichte, nicht wahr? Es gibt kein besseres Beispiel für den freien Willen als Verstehensfehler."

Die Gedankengänge dieses Mannes waren wirklich hinreißend. Seine Art, die Dinge in einem weitgespannten Netz miteinander zu verknüpfen. Ich spürte, daß ich wieder hoch oben auf der Ulme war, aber die Aussicht war jetzt eine andere. (12)

"Tom Outland liebt die Wüste von Arizona," sagte ich.

Der Mann hielt einen Moment inne. "Was macht er?"

"Er sammelt indianische Gefäße - aus den Felsenhöhlen. Geräte, die jahrhundertelang unentdeckt geblieben waren. Und viele davon sind so gut wie neu." Ich hielt kurz an und dachte plötzlich an David; ich wollte das Gespräch nicht zu nah an mich herankommen lassen. Doch er merkte nichts. (13)

"Ich schätze, daß er die Sachen, die er findet, sehr liebt", antwortete er.

"Ja."

"Und daß er sie nicht verkaufen möchte."

"Das stimmt." Ich war überrascht. "Sie kennen ihn."

"Ich bin nicht sicher. Aber ich weiß ein bißchen. Wo hast du ihn kennengelernt?"

"Überall. Es ist ein paar Jahre her." Zum erstenmal schaute der Mann ein wenig ratlos drein, und da ich ihn nicht verwirren wollte, sagte ich, "Er kommt aus einem Buch." (14)

"Oh." Er kippte mit dem Stuhl nach hinten, lächelte in sich hinein und sagte eine Zeitlang nichts. Dann fuhr er fort. "Als ich ein Junge war, erfand ich meinen besten Freund. Er lebte im Amazonasdschungel und kannte die Affen, als ob er einer von ihnen wäre. Wir brannten die Lager der profitsüchtigen Weißen, die den Wald rodeten, um das Holz zu verkaufen, und wenn wir frei hatten, schwammen wir zusammen in herrlich klaren Waldseen. - Was auch seltsam ist, ich weiß nicht, wie wir es machten, wir hatten keine Probleme mit den Insekten."

Er hielt wieder an und fügte dann hinzu: "Andererseits jedoch ist dieser Ort hier nicht so trügerisch. Ich wette, du hast alles gelernt, was du wissen mußt, als du im Hof bei den akuten Patienten gestanden hast, und auch später, als du bei den Besprechungen der Ärzte dabei warst." (15)

Ich grinste. "Um einen Ausspruch meiner Mutter umzudrehen: Wenn du nichts Nettes sagen kannst, dann sag lieber gar nichts."

Der Mann mußte auch lachen, und ich fügte hinzu: "Wenn es eine Religion ist, worin besteht dann die Göttliche Unvernunft?"

"Ich habe nicht gesagt, daß es eine echte Religion ist! Es ist ein Kult der menschlichen Gleichheit. Gleichheit und Gesundheit gelten als dasselbe. Aber wenn du mehr willst, funktioniert das nicht mehr. Bei mir fing alles damit an, daß ich als junger Arzt plötzlich merkte, daß ich mehr sein mußte, als ich jemals gewollt hatte; was mir verrückt vorkam, wie jede Einweihung. Und wenn ich einen Ort wie diesen hier besuchte, wußte ich, daß ich hier nicht würde arbeiten können."

"Oh," sagte ich. Meine Stimme versagte. - "Wenn ich raus könnte, würde ich draußenbleiben."

"Daran habe ich keinen Zweifel."

"Aber den Kampf von drinnen zu führen ...", meine Stimme ging wieder weg. "Ich hab's versucht", sagte ich. "Ich hab's nicht geschafft."

"Deine Wut wird dir helfen."

Dieser Satz brachte mich fast zum Weinen. Ich hatte einen Hauch von Kraft gesammelt, dem Kräuseln einer Meereswelle gleich, und mein Kopf zuckte. Doch dann fand ich die Worte wieder, und mit einer Sachlichkeit, die mich selbst überraschte, sagte ich: "Ich fiel in einen Brunnen, an dessen Wänden es keine Sprossen zum hinausklettern gab."

"Das ist bitter," sagte der Mann.

Er seufzte und sprach weiter: "Neulich hatte ich einen Traum, den ich dir gerne erzählen würde. (16) Ich traf einen Landstreicher im Wald, eine unangenehme Erscheinung; ich kannte ihn nicht, er sah ziemlich heruntergekommen aus. Ich töte ihn mit einem Stein. Ich weiß nicht mehr, warum ich das tat. Und dann verlasse ich den toten Körper und gehe zurück zur Stadt, an einem Garten vorbei, in dem Kinder spielen. Aber sie sehen mich nicht. Ich gehe zu einer Hochbahnhaltestelle und fahre mit dem Zug nach Hause. Auch meiner Frau gegenüber erwähne ich nichts. Im Haus habe ich eine Pistole; ich hole sie und zeige sie meiner Frau. Doch ich weiß, ich werde ihr nichts tun. Es ist das perfekte Verbrechen und ich spüre, daß es gerechtfertigt ist. Und ich denke, daß ich niemals jemandem davon erzählen werde. Aber mir ist immer noch unwohl dabei, und jetzt möchte ich es dir erzählen. Damit geht es mir schon etwas besser."

Wir machten beide eine lange Pause. Doch in seiner Nähe hatte ich das Gefühl, mich für die Stille entschuldigen zu müssen. Ich sagte, "Ich bin ziemlich ruhig in letzter Zeit." (17)

Er nickte. "Das ist schon in Ordnung. Ich habe das Gefühl, daß wir uns vestehen."

Plötzlich stand er auf. "Ich würde gerne ein paar Minuten rausgehen. O.K.? Wo ist die Toilette? Ich bin gleich zurück." - Und im Nu war er verschwunden. (18)

Ich blieb auf dem Bett sitzen und empfand eine seltsame Mischung aus Wohlergehen und Erschütterung. Dieser Mann war eine Art Dschinn, nicht ganz glaubwürdig. Warum sollte ich hier überhaupt irgendetwas glauben? Aber ich glaubte ihm. Was war das: seine Transparenz, seine Durchsichtigkeit? Und eben das war die Art, wie er das Schloß des Verließes berührte, das mir so lange Zeit unerreichbar gewesen war; so daß ich bei all meinen Versuchen, klar zu werden, wenn sie nicht gerade fehlschlugen, an einem irgendwie lebendigen, aber unzusammenhängenden Mosaik arbeitete. Ich hatte ein Gefühl der Selbstverachtung, denn vor allem ging es mir um eine großartige Ordnung, aber diese Ordnung war geprägt von meiner inneren Unordnung. Nichts davon verschwand. Aber es beruhigte sich ein wenig. Er hatte es durchlässiger gemacht. Es war, als hätte ich einen Platz in dem Verließ gefunden, das selbst größer geworden zu sein schien, und die Wut wurde fast wieder zu einer Waffe in meiner Hand. Ich dachte über ein paar weitere Fragen nach.

Der Mann kam zurück, er hatte einen leicht entschuldigenden Gesichtsausdruck. Er setzte sich wieder auf den Stuhl. "Ich glaube, es ist die Luft hier. Ich hatte einfach das Gefühl, mal raus zu müssen." (19)

Ich nickte. "Ich weiß nicht, was ich von dem Lächeln der Schwestern halten soll."

"Was meinst du?"

"Es ist musternd, prüfend und unpersönlich."

Ich schwieg einen Moment und hatte das Gefühl, daß er auf mich wartete. "Auch das Alltägliche im Leben ist zur Ehre Gottes, nicht wahr? Ebenso all das, was du falsch machst und alles, das du richtig machen willst. Auf dem Markt löste ich eine Lawine aus. Ich machte das. Ich drückte auf einen Knopf und die Steine kamen ins Rollen. Auch das geschieht zur Ehre Gottes. Aber ich habe kein Gespür mehr dafür. Ich frage mich sogar, ob es überhaupt irgendeinen Sinn ergibt. Wenn es nicht gar eine Fata Morgana ist. Jeder scheint mich dasselbe zu fragen, aber mit einer gewissen Indifferenz. Denn ich gehöre zu einer Welt, die ihre Kriege führt und den Kriegen der anderen gegenüber doch indifferent bleibt. Und - wie die anderen auch - soll ich auf all den Leichen herumtanzen ..."

Er hörte mir sehr aufmerksam zu. "Das sind die Dinge, über die man nicht hinwegkommt." (20)

"Ja."

"Zum Beispiel", fuhr er fort, "dieses junge Paar. Sie verliebten sich und waren ein paar Jahre zusammen. Doch sie bekam Panikattacken, weil sie mit Dreizehn ihre Mutter verloren hatte. Sie war sehr fordernd und sehr mit sich selbst beschäftigt; das erschreckte ihn. Also hielt er viele seiner Bedürfnisse ihr gegenüber zurück. Wenn sie gewußt hätte, was er wollte, hätte sie ihm mehr gegeben und wäre nicht so panisch gewesen. Doch er konnte es ihr nicht sagen, solange sie ihm nicht mehr gab. Sie trennten sich. Das ist traurig, aber es ist vorbei. Hoffentlich haben beim nächsten Mal beide mehr Glück."

Ich sah ihn genau an. Es war leicht, ihm zu folgen, und ich wollte jetzt nichts sagen. Nach einer Minute sprach er weiter.

"Und dann war da dieser Junge. Eines Tages spielte er auf der Straße; seine Mutter ärgerte sich über ihn, weil er gegen ein Verbot verstoßen hatte und nicht nach draußen durfte. Zur Strafe, sagte sie, dürfe er eine Woche lang nicht fernsehen. Er wurde sehr wütend auf sie, und am Abend kündigte er an, er werde von zu Hause weggehen. Er hatte bereits seinen kleinen Koffer gepackt. Doch sie sagte: Du kannst nicht fort, du darfst nicht über die Straße gehen. - Er war aber immer noch so aufgebracht, daß er nach dem Abendessen trotzdem seinen Koffer nahm und rausging. Da er aber die Straße nicht überqueren durfte, ging er um das ganze Viertel, von einem Vorgarten zum nächsten und landete schließlich wieder zu Hause."

Wieder schwiegen wir beide für eine Weile.

Ich lächelte und meinte: "Die Geister der Weisen sitzen auf den Wolken und machen sich über uns lustig."

Der Mann seuftze und blieb stumm.

Plötzlich fiel mir etwas anderes ein. "Als ich ein Junge war, hatte ich einen Hund namens Kecki; er war sehr keck. Er stellte seine eigenen Regeln auf ..." - aber ich wußte nicht, wie ich diesen Gedanken mit dem zusammenbringen sollte, worüber wir gerade sprachen, und sagte nur ein wenig grimmig: "Nur ein sehr großer Hund wiegt eine Tonne." (21)

Er lachte und sagte: "Selbst einen Zentner. Er kann eine Menge kaputtmachen oder dich umstoßen. Nur selten hat Größe nichts Bedrohliches."

"Sie nehmen den Mund sehr voll."

"Klinge ich wie ein Prediger?"

"Ein bißchen - moralisierend."

"Dieses Wort wäre mir nicht in den Sinn gekommen", sagte er zustimmend. (22) "Du weißt doch, daß es bei Pflanzen nicht auf das Gewicht ankommt, sondern auf die Wurzeln. Eine Pflanze kann sich mit dem Wind in alle Richtungen biegen und neigen. Manchmal wird sie sogar umgepflanzt und bleibt trotzdem unversehrt. Ich meine, traumatische Ereignisse geschehen ohne jede Kontrolle, aber sie sind nicht unbedingt wertlos."

Eine Zeitlang war er wieder still.

"Praktisch ausgedrückt", sagte er zusammenfassend, "glaube ich, daß du schon sehr früh eine ehe-ähnliche Beziehung hattest.

Wieder kam er mit etwas, dem zu folgen ich keine Mühe hatte. Ich nickte. "Ja, mit meiner Mutter. - Es waren böse Gefühle und gemischte Vorahnungen." (23)

Jetzt nickte er. "Ohne Zweifel."

"Und ich werde geschieden."

"Das ist gut." - Dann, nach einer Pause: "Wirklich?"

Es war das erste Mal, daß ich einen Zweifel bei ihm hörte, und das gefiel mir nicht.

Er sprach weiter: "Ich meine, würde sie nicht wollen, daß du Deine Überzeugung bereust?"

Über all das hatte ich noch nicht nachgedacht, und es war ein Einschnitt, das konnte ich nicht leugnen.

Er sah mich wirklich besorgt an. "Eine Scheidung ist etwas sehr schmerzvolles," sagte er, "wie Zahnschmerzen ohne Schmerzmittel und ohne Zahnarzt."

Er wartete die Antwort nicht ab, sondern fügte reflexartig hinzu: "Ich habe Glück gehabt mit meiner Frau. (24) Sie vertraut mir. Das unterbindet natürlich nicht das Schlechte in mir, aber es bringt meine besten Seiten hervor."

Irgendwie trug sein Reden mich weiter, und der Schmerz verschwand.

Ich sagte: "Es passiert, wenn du zu viel zu tun hast."

"Ja. Und wenn du keine Aussicht auf etwas hast, das es leichter oder entspannter macht." Er nickte. "So ist es manchmal auch mit der Liebe, wenn ich das so sagen darf: ziemlich verheerend. Es gab einen Mann, der eine Frau liebte, die erblindete. Um ihr seine Liebe zu beweisen und sie nicht allein zu lassen, blendete er sich selbst."

Ich konnte ihm wieder folgen. "Dann gibt es diese Bürde nicht mehr."

"Das stimmt. Für ihn war es eine Art Erleichterung."

"Allerdings eine dunkle."

"Das war der Preis."

"Ich könnte das auch." (25)

Er nickte wieder. "Ich glaube, daß du es könntest. Es ist eine besondere Innerlichkeit. Und doch gibt es Zeiten, wenn man kaum weiter weiß, wenn überall Gefahren lauern."

Ich lächelte. Etwas war über mich gekommen während der letzten Woche, dann hatte ich es verloren, und jetzt kam es wieder, als gehörte es zu dem neuen Platz in meinem Verließ.

"Ich hatte auch einen Traum," sagte ich. "Da war dieses tote Baby, das auf heißen Kohlen lag. Ich hörte Trommelschläge, die mich ihm entgegentrieben. Das Baby war eingewickelt. Aber es war eigentlich gar nicht tot; ich war sicher gewesen, daß es tot war, aber dann bewegte es sich. Nur einmal, nur ein klein wenig."

Wieder schwiegen wir beide.

"Es ist ein Ort, an den sie hier nicht herankommen," sagte der Mann.

"Sie wissen nichts davon."

"Oder sie haben es vergessen."

"Dort können sie nicht hin," wiederholte ich bekräftigend.

"Das können sie nicht." Es kam wie ein Echo. "Und dabei enthält er das Allerbeste."

Als ob es gelte, diesen Punkt zwischen uns zu besiegeln, sagte ich noch einmal: "Und sie können es nicht."

Wir schwiegen eine ganze Minute. Dann schüttelte er gedankenvoll den Kopf. "Dennoch mußt du deinem eigenen Weg trauen. Wer und Wie sind verschiedene Arten, dasselbe zu sagen."

Wieder beobachtete ich ihn genau, unsicher, in welche Richtung er gehen würde. Der Mann wandte sich mir zu. "Meiner Ansicht nach unterscheiden sich die Menschen in folgender Hinsicht: es gibt die Introvertierten, deren Extrem in der Schizophrenie liegt, und die Extrovertierten, die, wenn sie dir an den Hals wollen, psychopathisch werden. Auf der einen Seite steht innere Integrität, auf der anderen äußere List. Meistens vermischen wir beide miteinander. Wie könnten wir sonst miteinander auskommen? Doch das sind reine Extreme."

Er hielt einen Moment inne, als ob er sich an etwas zu erinnern suchte.

"Zum Beispiel gab es da einen Mann auf einer offenen psychiatrischen Station. Die Türen hatten keine Schlösser, aber der Mann protestierte dagegen, daß er gegen seinen Willen festgehalten wurde und bestand darauf, entlassen zu werden. Die Tür war offen. Es bedurfte überhaupt keiner List. Doch die Schwester fand ihn mitten in der Nacht neben seinem Bett. Er war dabei, mit einem Löffel, den er versteckt gehalten hatte, einen Tunnel zu graben, durch den er entfliehen könnte. Verstehst du, was ich sagen will, wo ein Extrem dich hinführen kann? Noch schlimmer als blind zu sein, ist die geistige Blindheit."

Er machte wieder eine Pause und sah besorgt aus, als ob seine eigenen Gedanken ihn verblüfft hätten. Dann fuhr er fort: "Etwas komplizierter ist folgende Situation. In Los Angeles gibt es ein Hilfezentrum für Selbstmordgefährdete. Die Leute dort erhalten viele verzweifelte Anrufe von Menschen, deren Leben an einem Faden hängt. Einer meiner Patienten arbeitet dort. Er mag seine Arbeit. Mit seinem Interesse rettet er anderen Menschen das Leben. Eines Tages, als er in der Stadt war, machte er eine Erfahrung, auf die man unmöglich vorbereitet sein kann, eine höchst seltsame Gelegenheit, könnte man sagen. Im siebten Stock eines Hotels war ein Mann aus dem Fenster gestiegen und stand nun außen auf dem Fenstersims. Mein Patient stürmte in das Hotel, fuhr hinauf in den siebten Stock und fand das Zimmer des Mannes. Das Zimmer war offen, er ging hinein und redete auf den Mann ein. Zunächst wandte er all die Techniken an, die er durch seine Arbeit gelernt hatte. ?Sie sind im Augenblick sehr übberreizt. Geben Sie sich noch eine Chance. Morgen werden Sie sich besser fühlen.' Der Mann hörte ihm zu. Er sprang nicht, aber er machte auch keine Anstalten, zurückzukommen. Im Gegenteil, er bewegte sich noch ein Stück weiter vom Fenster weg. Und da wußte mein Patient, was er tun konnte. Er konnte selbst hinausklettern und den Mann bei der Hand nehmen. Er mußte sich jedoch so weit vom Fenster entfernen, daß er sich nirgends mehr festhalten konnte. Er mußte das Risiko eingehen, daß der Mann ihn hinunterziehen und sie beide in den Tod stürzen würde. Oder aber der Mann würde aufgeben und sich zurück in das Zimmer führen lassen. Erinnerst du dich, daß wir über den Abgrund sprachen? Hier war wirklich keine Handbreit mehr zwischen ihm und dem Abgrund." Der Mann seufzte und hob seine Hände zu einer hilflosen Geste. "Was würdest du tun?"

Ich konnte nur meinen Kopf schütteln. "Da gibt es nichts zu überlegen."

"Das ist wahr. Aber, ich meine, er mußte sich für oder gegen das Risiko entscheiden. War er nun schizophren oder psychopathisch?"

"Wenn er alles zu verlieren hatte?"

"Genau. Oder zu gewinnen."

"Das war sehr klug."

"Das denke ich auch. Eine Art Göttlicher Unvernunft. Jetzt sind wir wieder bei der Überlegung des Kühnen. Man spielt ein Spiel, um ein Leben zu retten. Er ließ es darauf ankommen, rücksichtslos und ohne nachzudenken. Natürlich muß er überlegt haben, zumindest für einen Augenblick, aber nicht, während er es tat. Und für den Mann, der springen wollte, war es die einzige Chance, nicht wahr? Ich meine, er bestand auf ein Vabanquespiel, so daß der andere das Risiko in Kauf nehmen mußte."

Ich fühlte mich leicht und heiter, als ob mein Verließ unendlich weit geworden wäre, wie die Höhle während meiner ersten Zeit. Doch gleichzeitig fühlte ich mich gedanklich erschöpft. Ich wollte plötzlich alleine sein. Ich schloß meine Augen.

Dann passierte etwas Merkwürdiges. Ich fühlte ein Tippen, eine Art Trommeln auf dem Kreuz. Für einen Moment öffnete ich die Augen. Der Mann war zu mir herüber gekommen, hatte sich über mich gebeugt und klopfte mir mit den Handkanten auf den Rücken, fest und schnell, aber sanft. Es fühlte sich an, als ob der einen Brotteig ausrollte. Und es war, als ob das Zittern, das er dadurch verursachte, aus meinem Inneren käme; das war um so eigenartiger, als ich dieses Gefühl mochte, was ich nicht erwartet hatte. Das Klopfen bewegte sich langsam nach oben, Wirbel für Wirbel, über die Brust- und die Halswirbelsäule; das Trommeln und Rollen ging weiter und das Eigenartige war, daß es mich gleichzeitig schüttelte und beruhigte. Es war, als hätte er die Unreinheit unter meiner Haut aufgelöst und weggekratzt. Dann hörte es auf - mit einem kurzen Druck auf meine Schultern. Als ich meine Augen wieder öffnete, stand er an der Tür.

"Mein Patient hatte den Mann zurück ins Zimmer geholt," sagte er. "Später wurde er von Reportern gefragt, wie er den Mut dazu hatte aufbringen können, und er antwortete: ?Ich habe es einfach getan.' Gewissermaßen ohne nachzudenken, wie du selbst meintest."

Auch wenn die Möglichkeit eigentlich nicht mehr bestand, weil man mich offiziell für unzurechnungsfähig erklärt hatte - brachte er aber die Frage in mir auf: "Was wäre, wenn ich ins Gefängnis müßte?" (26)

"Weil du an eine friedliche Welt glaubst?"

Die Art, wie er fragte, machte die Lächerlichkeit der Frage deutlich.

"Ja."

"Nach wie vor: tu was du tun mußt. Ich würde versuchen, das beste Gefängnis für dich zu finden, wo du schreiben könntest, z.B. über die Inhaftierung von Pazifisten. Was auch immer geschehen mag, Gott sei mit dir. Aber zuerst mußt du hier rauskommen."

Er machte eine kleine Pause. "Ich habe dir gar nicht gesagt, wie ich heiße. Ich heiße Lawrence." (27)

"Mich nennen sie Rickie," sagte ich und verzog das Gesicht. "Die Leute hier nennen mich Mr. Adler, oder Richard. Das klingt wohl reifer."

"Wie möchtest du genannt werden?"

"Rick," sagte ich.

"Auf wiedersehen, Rick."

Obwohl ich sehr müde war, wollte ich das nicht unkommentiert lassen. Ich lächelte und sagte leise: "Der Fall ruht."

Er machte die Tür zu und ich ging hinüber zu seinem Stuhl. Die Rockmusik im Stationsfernsehen macht diese Privatatmosphäre noch ruhiger. Der knochige Baum, der jetzt auszuschlagen beginnt, schwerer geworden durch den großen Vogel, als der dieser Mann mir erschienen war, gehört mit dazu. Doch jetzt läßt sich ein echtes Rotkehlchen auf einem der kahlen Äste nieder und singt sein Lied. Hwwwwhwww. Es ist gut, leise zu bleiben. ... Wie kommt dieser selbstsichere Mann dazu, mir seine innere Ausgeglichenheit zuzutrauen? Und doch - nach seiner Berührung fühle ich dieses Gleichgewicht - wie ein Boot, das durch die sanfte und gleichmäßige Bewegung des Wassers immer wieder leicht gegen die Kaimauer stößt. ...Woher kommt dieser Mann, der ohne Ankündigung aus dem Nichts auftauchte? Ich könnte sein Sohn sein - oder er meine Sonne. Der Vogel singt wieder.

 

Weitere Bemerkungen

In ihren Grundzügen hat die Geschichte einen autobiographischen Hintergrund. Mit 18 Jahren wurde ich aufgrund meines Pazifismus' unter einem Vorwand in eine Klinik eingewiesen. Der Rest der Geschichte ist frei erfunden, also die Charaktere, die Entwicklung der Handlung sowie der Schluß. Die ganze Geschichte wird aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt: der des jungen Mannes, der seines Arztes, dann aus der Perspektive des fremden Arztes, der zu Besuch kommt, und zuletzt der einer schwarzen Sozialarbeiterin, die in der Klinik arbeitet. Sämtliche Szenen und Dialoge sind erfunden; ebenso wie der Dialog, den Sie gerade gehört haben. Wie fast alle ernsthafte Literatur, kann die Geschichte als Autobiographie meiner persönlichen Themen betrachtet werden, faktisch ist sie das jedoch nur in dem begrenzten Rahmen, den ich eben skizziert habe.

Das Ziel, das ich verfolge, wenn ich einen psychologischen Austausch mit spiritueller Tiefe darstelle, besteht darin, einen Sinn für Präsenz und gerichtete Aufmerksamkeit zu wecken. Die Metaphern, die ich verwende, dienen vor allem dazu, Gefühle zu wecken und zum Handeln zu ermutigen. Sie haben den Charakter des Aufrufs, und lassen dem einzelnen doch die Freiheit, seinen Weg zu finden.

Die Spiritualität des Austausches besteht in der Tiefe und Lebendigkeit der Metaphern, die auftauchen, im Teilen grundlegender Gefühle, und in der gerichteten Offenheit des Gesprächs: anstatt gesagt zu bekommen, was er tun soll, wird der junge Mann ermutigt, sich mit seiner eigenen Kraft zu verbinden.

Der Therapeut sagt dem anderen nicht, wie er sich fühlen soll. Statt dessen ruft eine seiner Metaphern beispielsweise ein Gefühl dafür hervor, was ein Abgrund mit einer herrlichen Aussicht darstellen kann. Oder der Therapeut weckt ein Gefühl, das andere haben, wenn ich von meinen Gefühlen erzähle: Gefahren zu begegnen, es darauf ankommen zu lassen, oder jemanden zu lieben.

Da er mit jemandem spricht, den er kaum kennt, jemand, der offensichtlich intelligent, einfühlsam, komplex und in sich zurückgezogen ist, geht der Therapeut viele Risiken ein, indem er ein breites Spektrum an Metaphern und eigenen, offenen Antworten in das Gespräch mit einbringt.

Um den Aspekt der Spiritualität in diesem Gespräch zu verdeutlichen, möchte ich die Idee des Sakraments heranziehen, wie die katholische Kirche es kennt:

Ein Sakrament ist "das äußerlich sichtbare Zeichen einer inneren, unsichtbaren Gnade." Ich meine damit, daß der äußere Austausch zwischen dem Therapeuten und dem Klienten hier ein Sakrament verkörpert. Ihr Austausch (was Martin Buber das "Zwischenmenschliche" nennt), findet "jenseits des Ich jedes einzelnen" statt, nämlich zwischen den Seelen des älteren und des jüngeren Mannes. Ihr Austausch entflammt ihre Seelen wie ein brennendes Streichholz ein Feuer entfacht.

Was andere moderne Psychotherapierichtungen betrifft (Humanistische, Existentialistische, Phänomenologische, Hypnotherapeutische u.s.w.), so können wir sie meines Erachtens mit einem Kreisel vergleichen, der sich schnell und energisch dreht. Doch diese Energie reicht nicht aus, um die Ausrichtung aufrecht zu erhalten. Die Spitze wackelt. Die spirituelle Orientierung ergänzt die Energie und Drehrichtung und hält die Spitze oben.

Die Idee der Spiritualität ist, daß es im Zentrum des Lebens eine tiefe Quelle der Kraft gibt, aus der die Phänomene des Lebens entspringen. Eine Kraft, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und all das, was wir an der Oberfläche erleben, beherrscht. Diesen Gesetzmäßigkeiten, die zwar auch zerstörend, vor allem aber aufbauend wirken, müssen wir uns ergeben; und das gibt uns einen tieferen Sinn für Selbstbeherrschung. (Siehe das Tao des Lao Tse.) Diese Mitte, oder Tao, negiert nicht den freien Willen, doch es ähnelt dem freien Willen eines Kindes, der den Willen der Eltern braucht, um bestehen zu können. (siehe unten: Kafka - Menschliche Wahlmöglichkeiten). ...

Das verleugnet keineswegs den Zufall. Aber es betont Charaktergewohnheiten, wie etwa, die Folgen des Zufalls anzupacken. (Novalis: "Charkter ist Schicksal.") Charakter kann dann in spirituelles Verständnis münden, aber es muß nicht.

Siehe auch meine Besprechung über Subjekt-Ich und Prädikat-Ich in meinem Buch: Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten . (28)

Spirituelle Orientierung ist voll von logischen Paradoxen. Sie zentriert, und doch ist sie "an keinem bestimmten Ort". Sie ist "hier und überall." Sie ist voller Form - und sie ist leer. Ihre Leere ist ihre Form. Sie ist nichts (no-thing) - und sie ist alles (all-things). Sie ist flüchtig - und sie ist immerwährend. Welchen Un-sinn wir reden müssen, wenn wir ernsthaft über das Spirituelle sprechen!

 

Anmerkungen

(1) Ein früherer, enger Studienfreund.

(2) Ein schizophrener Patient, mit dem Rick befreundet ist.

(3) Der Therapeut sagt das aus seinem Verständnis für Ricks Religiosität heraus.

(4) Hier greift der Therapeut erneut auf seinen religiösen Wortschatz zurück.

(5) Der Therapeut macht sein eigenes Engagement deutlich.

(6) Wie der Therapeut, so springt auch Rick von einem Thema zum nächsten. Hier spricht er von seinem Vater. Das hehört auch zu seiner schiziphrenen Tendenz.

(7) Der Therapeut geht darauf ein und wartet geduldig, daß der Zusammenhang klarer wird.

(8) Der Therapeut spricht hier ehrlich über seine eigene Situation. Darüber hinaus geht es ihm um die Sicherheit des jungen Mannes. Und Rick bereitete er damit den Boden für dessen eigene Sicherheit.

(9) Der Therapeut erzählt von einer ähnlichen Erinnerung aus seinem eigenen Leben, die jedoch einen anderen Charakter hat.

(10) Der Therapeut leitet das Thema Wut auf sehr sanfte Weise ein.

(11) Der Therapeut bezieht sich darauf, daß Rick den Kriegsdienst verweigert hatte bevor er in die Klinik kam und in Kauf genommen hatte, dafür ins Gefängnis zu kommen.

(12) Rick beginnt, Bewunderung für jemanden anderen zu empfinden, und ahnungsweise auch für sich selbst.

(13) Die Beziehung zwischen Rick und David entwickelt sich in den nachfolgenden Kapiteln.

(14) Momentan verliert hier derTherapeut wirklich den Faden. (Das Buch ist von einer berühmten amerikanischen Autorin). Als er aber hört, daß es sich um eine Romanfigur handelt, erzählt der Therapeut eine ähnliche kleine Geschichte aus einem eigenen Leben.

(15) Diese schmerzlichen Situationen werden in früheren Kapiteln beschrieben.

(16) Der Therapeut entwickelt das Thema Wut hier anhand eines eigenen Traumes, was typisch für ihn ist, wenn dasThema für Rick zu schwierig zu sein scheint.

(17) Rick zögert, das Thema Wut aufzugreifen,und der Therapeut drängt ihn nicht.

(18) Der Therapeut verläßt den Raum, um Rick Gelegenheit zu geben, den letzten Teil des Gesprächs sinken zu lassen, vor allem dasThema Wut.

(19) Durch sein Verhalten und seine Worte gibt er Rick den Hinweis, diese Klinik zu verlassen. Rick beantwortet diesen Hinweis mit einer sehr vagen kritischen Bemerkung über die Klinik. Danach kommt er auf sein eigentliches Thema,seine emotionale Gelähmtheit, zurück.

(20) Von hier an konzentriert sich der Therapeut klarer auf Ricks emotionale Gelähmtheit.

(21) Rick fängt an, etwas kühner zu klingen; mit dieser sinnlosen Bemerkung, die er hier macht, kommt er jedoch wieder davon ab. Er ist, wie Sie gleich hören werden, ein bißchen verärgert, als das Thema auf persönliche Initiative kommt.

(22) Der Therapeut fühlt sich von Ricks Kritik nicht angegriffen; er sucht nach einer annehmbareren Metapher.

(23) Dies ist eine absichtliche Verdrehung derWorte, typisch für die Art, wie Schizophrene oft sprechen. Gewöhnlich sagt man: "gemischte Gefühle" und "böse Vorahnungen".

(24) Angesichts der für Rick schwierigen Beziehungsthematik,spricht der Therapeut hier wieder sehr persönlich.

(25) Tatsächlich tut Rick im weiteren Verlauf etwas ähnliches. (Aber das würde uns jetzt zu weit führen).

(26) Erinnern Sie sich: Der junge Mann war bereit gewesen, für seinen Pazifismus ins Gefängnis zu gehen, aber die Ärzte hatten ihn für unzurechnungsfähig erklärt. Am Ende ihres Gespräches kommt Rick auf die Frage zurück: er will wissen, ob der Therapeut glaubt, daß sein Idealismus krankhaft oder gesund sei.

(27) Erst am Ende des Gesprächs nennt Lawrence seinen Namen, weil Namen führ ihn fast keine Rolle spielen; ihm ist das Ich-Du-Gespräch wichtig. Gleichzeitig spricht er sehr persönlich; er nennt seinen Vornamen. Wie Sie gleich hören werden, ist auch die Art, wie er mit dem jungen Mann über dessen Namen spricht, sehr perönlich.

(28) Stephen Schoen: Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten. Gestattherapie als spirituelle Suche, Edition Gestalt-Institut Köln im Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1996, S. 71ff.


Zum Autor:

Dr. Stephen Schoen

Psychiater und Gestalttherapeut in freier Praxis in San Rafael/Kalifornien und Ausbilder am Gestalt Institute of San Francisco. Zu seinen Lehrern gehörten Fritz Perls, Harry Stuck Sullivan, Milton Erickson und Gregory Bateson, mit dem ihn eine Freundschaft verband. Er lehrt seit vielen Jahren Gestalttherapie in den USA und in Europa.

Außerdem erschien bei uns sein Vortrag "Ich-Du und die Übertragung" auf einer Audio-Cassette (19,80 DM zzgl. Versand).

Bitte beachten Sie auch Stephen Schoens nächsten Workshops im Gestalt-Institut Köln: Das Herz über das Hindernis werfen. Gestalttherapie-Workshop, Möglichkeit I: 4. - 6. 7. 97, Möglichkeit II: 17. - 19. 11. 97

 

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Kurzinfo zu Stephen Schoens Buch

Stephen Schoen

Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten

Gestalttherapie als spirituelle Suche

"Dieses Buch handelt von der spirituellen Dimension des Kontaktes zwischen TherapeutInnen und KlientInnen, besonders aus der Perspektive der Gestalttherapie. Und bitte, laßt es mich gleich am Anfang sagen, falls Euch diese religiöse Wortwahl überraschen sollte: Habt Geduld mit mir! Wie Monsieur Jourdain in Molières Theaterstück, der sehr verwundert war festzustellen, daß er sein ganzes Leben lang ,Prosa geredet' hatte, könnte es für Euch TherapeutInnen und KlientInnen verblüffend sein, wenn Ihr erkennt, daß Ihr ,immer etwas Spirituelles tut'."

Co-Produktion von Peter Hammer Verlag und Gestalt-Institut Köln/Bildungswerkstatt

120 Seiten, broschiert, 19.80 DM (Lieferung auf Rechnung, natürlich versandkostenfrei)

Bestellanschrift: gik-gestalttherapie@gmx.de


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