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Sigrid Unshelm
Ein Blick auf das Ganze
Systemische Impulse für GestalttherapeutInnen
Ein Vortrag


Aus der Gestaltkritik 1/2013:

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus Gestaltkritik 1/2013:

Sigrid Unshelm
Ein Blick auf das Ganze
Systemische Impulse für GestalttherapeutInnen
Ein Vortrag

Sigrid Unshelm (Foto: Horst ter Haar, 2012 im GIK)
Sigrid Unshelm (Foto: Horst ter Haar, 2012 im GIK)

Bitte beachten Sie auch die Workshops der Autorin zum Thema im Gestalt-Institut Köln (GIK): "Ein Blick auf das Ganze - Oder: Wenn der Hintergrund sich verändert, verändert sich die Perspektive und etwas anderes kann in den Vordergrund treten".
Der Herausgeber

 

Ich möchte mit einem Zitat von Lore Perls beginnen.

"Wie prägnant eine Gestalt ist, ist einmal eine Funktion der Beziehung zwischen Vordergrund und Hintergrund. Wie gesund eine Gestalt ist, ist aber auch eine Funktion der Beziehung zwischen Hintergrund und Umwelt, das heißt wie gut der Hintergrund die Breite und Komplexität der Umwelt repräsentiert." (Lore Perls, zitiert von Hunter Beaumont.)

Angeregt durch mein langjähriges Lernen bei meinem Lehrer Hunter Beaumont habe ich mich den Phänomenen zugewandt, die durch die systemische Aufstellungsarbeit sichtbar und spürbar werden.

 

Ich schaue etwas an und es verbindet sich mit etwas, das darüber hinausgeht.

Als einer der Ersten bezieht sich der ungarische Psychoanalytiker Ivan Boszormenyi-Nagy in seinem Buch "Unsichtbare Bindungen" (1981) auf die Tiefenschicht des familiären Beziehungsgeflechts.

In seinen Beschreibungen leuchtet ein Verständnis für die dynamischen Wirkweisen unsichtbarer Bindungen auf, die uns mit unseren Herkunftsfamilien verknüpfen; er beschreibt unbewusste Loyalitätskonflikte, übernommene Gefühle, Schuld und Liebe über Generationengrenzen hinaus.

Es wurde entdeckt, dass dieses Hineingezogensein in fremde Dynamiken durch Aufstellungen mittels Stellvertreter und Stellvertreterinnen spürbar und anschaubar werden kann.

Ich möchte hier kurz etwas zur Vorgehensweise der Aufstellungsarbeit sagen. Ich beziehe mich dabei auf Beschreibungen in der Literatur (beispielhaft bei B. Hellinger: Ordnungen der Liebe (1994), bei G. Weber (Hrsg.): Zweierlei Glück (1992) und auf meine eigenen Erfahrungen als Protagonistin, Stellvertreterin, Aufstellungsleiterin.

Eine Person mit einem Anliegen oder einer Fragestellung (im Folgenden "Protagonist" bzw. "Protagonistin" genannt) projiziert ein möglichst spontan entstandenes inneres Bild nach außen. Mittels der StellvertreterInnen (als RepräsentantInnen für jemanden oder für etwas im System) kommt das innere Bild außen verdichtet zur Darstellung.

Ich habe bei Gunthard Weber eine gute Beschreibung von einigen Grundannahmen der Aufstellungsarbeit gefunden. In einer Aufstellung kommen zwei konzentrierte Raum-Zeit-Bilder zur Darstellung. Eines, das die Vergangenheit bis heute repräsentiert, das Innenbild, das fesselt und ein Lösungsbild, ein Innenbild, das befreit.

Das erste ist die räumliche Inszenierung des verinnerlichten Bildes des Systems, von dem man ein Teil ist.

Die Grundannahme, von der ausgegangen wird, ist dabei, dass der systemische Platz, den wir in diesem Bild in Beziehung zu den anderen im System einnehmen, unser Fühlen und Handeln entscheidend bestimmt.

Das 2. Bild ist ein inneres Lösungs- und Zukunftsbild des Systems, das der "Ordnung der Liebe" (Hellinger) entspricht, in dem jedes Mitglied der Sippe einen ihm gemäßen und guten Platz hat - was spürbar wird in der Erfahrung von Stimmigkeit und Sinn.

Dieses Lösungsbild hat - so die Annahme, wenn man es in sich aufnimmt und wirken lässt, einen heilsamen Einfluss auf die Gefühle und das Handeln des Einzelnen und auf das System als Ganzes. Ich werde später darauf zurückkommen.

Zuvor wende ich mich einem Phänomen zu, das im Zusammenhang mit Systemaufstellungen breit diskutiert wird:

Unterschiedliche Menschen, die in einer gegebenen Familienkonstellation auf einen bestimmten systemischen Platz gestellt werden, empfinden das Gleiche wie die, deren Stelle sie vertreten. Wir haben als StellvertreterInnen in Aufstellungen Körperempfindungen und Gefühle, die sich anfühlen, als seien wir hineingezogen in fremde Dynamiken.

Was bedeutet es überhaupt, Gefühle zu haben? Und ist das die Frage, die unsere Erfahrung, unser Erleben sprachlich stimmig abbildet?

Was erlebe ich, wie ist meine Erfahrung, wenn ich etwas fühle?

Es geht um unser "Gefühlsverständnis".

Ich werde in einem Exkurs die Geschichte des Gefühlsverständnisses nachzeichnen, wie sie sich im metaphorischen Sprachgebrauch abbildet.

Ich verdanke wesentliche Denkanstöße Thomas Latka: Stellvertretung und Gefühl. In Praxis der Systemaufstellung, 2/2011.

In unserer westlichen Sprachwelt dominiert das Verständnis, dass man Gefühle haben kann: "ich habe Wut". Das deckt sich selten mit der eigenen Erfahrung: Wenn ich wütend bin, dann ist das kein Besitz von Wut wie von einem Kleidungsstück, sondern dann bin ich persönlich betroffen in einem Zustand des Wütendseins, den ich am eigenen Leibe spüre.

Diese - Besitz anzeigende - Position enthält die Annahme, dass es eine von der gemeinsamen Außenwelt getrennte, private Innenwelt gibt, für jeden Bewusstseininhaber nur eine, in der Gefühle ihren Platz haben.

Die (neuzeitliche) Annahme, dass das Gefühl ein Ding ist, das man hat, eine Vorstellung, die Gefühle zu Objekten werden lässt, ist ca. 2500 Jahre alt (formuliert von Demokrit, 450 v. Chr.).

Daneben gibt es etliche Redeweisen, die von einem anderen Gefühlsverständnis zeugen: "Trauer überfällt mich", "Wut packt einen", "Zorn steigt als Wallung auf", "Freude erfüllt mich", "Kummer schnürt mir die Kehle zu".

In diesen Beschreibungen werden Gefühle im metaphorischen Sprachgebrauch zu quasi eigenständigen Subjekten, zu handelnden Akteuren, die mit mir etwas machen.

Das "Ergriffensein durch Gefühle" drückt ein archaisches Gefühlsverständnis aus; z.B. bei Homer: Gefühle werden als göttergleiche Wesenheiten dargestellt, die die Helden anfallen, übermannen, sie mit sich wegreißen.

Sie können uns mit voller Stärke überfallen, wie bei einem Schrecken (Pan!), sie können uns sanft ergreifen (siehe Homers Schilderung von Eos, der "rosenfingrigen Morgenröte"), sie können uns zu Besessenen machen (So ließ Odysseus sich und seine Mannen am Schiffsmast festbinden, weil er befürchtete, dass sie sonst dem betörenden Gesang der Sirenen anheimfallen würden; s.a. Loreley, die der Sage nach manchem Rheinschiffer zum Verhängnis wurde!).

Es ist gut nachvollziehbar, dass die Vorstellung, dass Gefühle Objekte sind, die wir haben und die wir beeinflussen und kontrollieren können, sich in unserem neuzeitlichen Denken durchgesetzt hat.

Daneben gibt es Redeweisen, deren Metaphorik Gefühle als räumliche Atmosphäre abbildet, in die ich - auch gemeinsam mit anderen - fühlend hineingeraten kann.

Ich habe dazu bei Hermann Schmitz ("Der Gefühlsraum" (2005) eine Fülle von oft sehr poetischen Beschreibungen gefunden:

"tiefe Freude"
"Ein Gefühl von innerer Räumlichkeit, von seelischer Ausdehnung: Es ist wie ein Durchlichtetsein und Aufgehelltsein von Gründen der Seele, die sonst in tiefem Dunkel liegen; aber auch ein machtvolles Erfülltsein und Durchflutetwerden in weiten, tiefen Schwingungen, ganz ruhig und groß…"

"Wehmut"
"Die Seele ist von einem Schleier überzogen, in eine Regenatmosphäre eingebettet."

"nagender Kummer"
Der Betroffene wird immer mehr hineingezogen in einen "trüben Grund", als ob das Gefühl, in das er eintritt, schon objektiv als ein ausgebreitetes Element wie ein Sumpf vorhanden sei und ihn verschlucke. Hier erscheint der "nagende Kummer" als ein umgreifendes Ganzes, in das der Betroffene eintritt.
Anderes Beispiel: "versinken in Melancholie".

"sich fehl am Platz fühlen"
Wenn wir z. B. eine gefühlsbeladene Atmosphäre nicht teilen, weil wir von einem anderen Gefühl ergriffen sind: zum Beispiel als Trauernder in eine Atmosphäre strahlender Heiterkeit eines Frühlingsmorgens eintreten. Der verschärfende Kontrast macht das Erleben umso intensiver!

Ein Gefühl ist in diesem Verständnis eine räumlich ausgedehnte, ergreifende und umgreifende Atmosphäre - und etwas, das die Betroffenen in sich selbst spüren, wovon sie leiblich durchdrungen werden.

In diesem Sinne befindet man sich in einem Gefühl; Bsp.: anstatt "Wut haben" ist "in-der-Wut-sein" der passende Ausdruck für das Erleben (vergl. "to be in love").

Auf die Aufstellungsarbeit übertragend könnte man es so verstehen:

Protagonist und Stellvertreter geraten - an einem bestimmten systemischen Platz - in die gleiche Gefühlsatmosphäre, sie teilen sich den gleichen Gefühlsraum; Veränderungen - z. B. dadurch, dass ein oder mehrere Stellvertreter einen anderen systemischen Platz einnehmen - wirken sich auf das gemeinsame atmosphärische Fühlen von Stellvertreter und Protagonist und oft auf das gesamte System aus.

Sigrid Unshelm (Foto: Horst ter Haar, 2012 im GIK)
Sigrid Unshelm (Foto: Horst ter Haar, 2012 im GIK)

 

Der "Blick" in der Narzissmus-Forschung

Donald W. Winnicott sagt: "Das Selbst des Baby-Kindes existiert zuerst im Auge der Mutter" (Winnicott (1974)).

Die Mutter schaut das Kind an, und wie sie schaut, hängt davon ab, womit sie selbst in Verbindung ist (und sei dies auf einer unbewussten seelischen Tiefenschicht).

Beispiele:

Schauen wir auf die systemische Wirkweise:

Wie sind wohl die Auswirkungen auf das Kind, das in eine derartige Gefühlsatmosphäre hineingerät, von ihr leiblich durchdrungen wird?

Was hat das für Auswirkungen auf die spätere Identität des/der Erwachsenen?

 

Wenn der Hintergrund sich verändert, verändert sich die Perspektive und etwas anderes kann in den Vordergrund treten.

1. Beispiel "Astrid"

A. hatte eine herausgehobene Position in der Familie. Sie war "Retterin der Mutter", sie war nie Schwester ihrer Schwester. Nachdem - in der Aufstellung - die Mutter sich ihrer eigenen Mutter zugewandt hat, konnte A. den ihr gemäßen Platz als Tochter einnehmen; die beiden Schwestern sahen sich zum ersten Mal als Schwestern an.

2. Beispiel "Gerhard"

G. ist gebannt durch den abwesenden Blick der Mutter; in der Aufstellung wendet sich ihr Blick ihrem in uneingestandene Schuld verstrickten Vater zu (er war SS-Offizier); sie nimmt ihrer beider Verschlossenheit wahr, schaut auf die Opfer. G. kann sich entspannen und sich seiner aktuellen Familie zuwenden.

3. Beispiel "Petra"

P. ist in einer Ambivalenz zur Mutter gefangen; P`s Mutter schaut - in der Aufstellung - ihr eigenes Trauma an, aufgrund dessen sie sich verschließen, einen Teil ihrer Seele abtöten musste. P. würdigt das Schicksal ihrer Mutter, verabschiedet sich und wendet sich ihrem eigenen Leben zu.

 

Schau hin und lass deine Seele vom Schicksal der Ahnen/Ahninnen berühren.

Eine neue Suchbewegung hin zu neuen Fragen oder ersten "Lösungen" kann entstehen.

 

Man muss Geduld haben

Mit dem Ungelösten im Herzen,

Und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,

Wie verschlossene Stuben,

Und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache

Geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.

Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,

Ohne es zu merken,

Eines fremden Tages

In die Antworten hinein.

(R. M. Rilke)

 

Literatur

Ivan Boszormenyi-Nagy: Unsichtbare Bindungen. Stuttgart (1981).

Gunthard Weber (Hrsg.): Zweierlei Glück. Heidelberg (1992).

Bert Hellinger: Ordnungen der Liebe. Heidelberg (1994).

Thomas Latka: Stellvertretung und Gefühl. In: Praxis der Systemaufstellung. Heft 2/2011. München 2011.

Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum. System der Philosophie. Bd. 3, T. 2. Bonn (2005).

Donald W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart (1974).

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Sigrid Unshelm (Foto: Horst ter Haar, 2012 im GIK)
Sigrid Unshelm (Foto: Horst ter Haar, 2012 im GIK)

Sigrid Unshelm, 1938, Gestalttherapeutin, Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin, langjährige Tätigkeit in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen und Beratungsstellen. Langjährige Weiterbildung in Form von Supervision und Selbsterfahrung bei Hunter Beaumont. Weiterbildung in Systemischer Aufstellungsarbeit am Wieslocher Institut für Systemische Lösungen. Seit vielen Jahren Lehrtherapeutin und Ausbildungstrainerin am Gestalt-Institut Köln (GIK). Private Praxis in Velbert und Köln.

Ihr Interesse gilt der "Tiefenschicht" des familiären Beziehungsgeflechts, den dynamischen Wirkweisen "unsichtbarer Bindungen" (Boszormenyi-Nagy), die uns mit unseren Herkunftsfamilien verknüpfen. Sie verbindet dabei die phänomenologische Sichtweise mit Vorgehensweisen der Systemischen Aufstellungsarbeit.

Der obige Vortrag wurde von Sigrid Unshelm im Rahmen der Gestaltkritik-Jahrestagung 2012 (31. 8. - 1. 9. 2012) im Gestalt-Institut Köln (GIK) gehalten. Erstveröffentlichung an dieser Stelle.

Bitte beachten Sie auch die Workshops der Autorin zum Thema im Gestalt-Institut Köln (GIK): "Ein Blick auf das Ganze - Oder: Wenn der Hintergrund sich verändert, verändert sich die Perspektive und etwas anderes kann in den Vordergrund treten".
Der Herausgeber

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