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Ruth Ronall
"Jelena, Jelena, Behalte Deine Illusionen"
Eine kritische Anwendung von Beissers paradoxer Theorie der Veränderung


Aus der Gestaltkritik 2/2009:

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus Gestaltkritik 2/2009:

Ruth Ronall
"Jelena, Jelena, Behalte Deine Illusionen"
Eine kritische Anwendung von Beissers paradoxer Theorie der Veränderung

Ruth RonallRuth Ronall

Zitat

Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist. Veränderung ergibt sich nicht aus einem Versuch des Individuums oder anderer Personen, seine Veränderung zu erzwingen, aber sie findet statt, wenn man sich die Zeit nimmt und die Mühe macht, zu sein, was man ist; und das heißt, sich voll und ganz auf sein gegenwärtiges Sein einzulassen. Indem der Gestalttherapeut es ablehnt, die Rolle dessen zu übernehmen, der Veränderung "herstellt", schafft er die Voraussetzung für sinnvolle und geordnete Veränderung. Der Gestalttherapeut verweigert die Rolle des "Veränderers", weil seine Strategie darin besteht, den Klienten zu ermutigen, ja sogar darauf zu bestehen, daß er sein möge, wie und was er ist. Er glaubt, daß Veränderung nicht durch Bemühen, Zwang, Überzeugung, Einsicht, Interpretation oder ähnliche Mittel zu bewirken ist. Vielmehr entsteht Veränderung, wenn der Klient - zumindest für einen Moment - aufgibt, anders werden zu wollen, und stattdessen versucht zu sein, was er ist. Dies beruht auf der Prämisse, daß man festen Boden unter den Füßen braucht, um einen Schritt vorwärts zu machen, und daß es schwierig oder gar unmöglich ist, sich ohne diesen Boden fortzubewegen.

Arnold R. Beisser, Wozu brauche ich Flügel? Ein Gestalttherapeut betrachtet sein Leben als Gelähmter, Wuppertal 1997.

 

Einleitung

Ich habe dieses Kapitel so geschrieben, wie ich auch lebe und arbeite. Zuerst springe ich, dann schaue ich, oder besser gesagt, zuerst handele ich, dann denke ich ... aber das trifft es auch nicht ... mein Springen/Handeln basiert fast vollständig auf den Informationen, die ich quasi gleichzeitig aus meinem Wahrnehmen/Denken erhalte, dass mit meinem ganzen Selbst geschieht.

Der folgende Therapiebericht gliedert sich in zwei Spalten. In der linken Spalte schildere ich meine Arbeit mit Jelena, ich beschreibe hier unsere spontanen Interaktionen. Diese Spalte stellt also unseren unredigierten Dialog dar, während die rechte Spalte meine Gedanken und Reflexionen enthält sowie die Theorie, auf der meine Interventionen basieren. Auf diese Weise, verehrte Leserin, verehrter Leser, erhalten Sie den vollständigen Bericht, nämlich links die Praxis, rechts die Theorie.

Wichtiger Hinweis:
Bei der Umsetzung für die Internetveröffentlichung wurden die Kommentare der rechten Spalte ("Meine Gedanken") als kursive Textteile in den Text von "Meine Arbeit" eingefügt. Wir bitten um Ihr Verständnis!

 

Meine Arbeit

Anfang April 1994 erhalte ich einen Anruf von einem ehemaligen Klienten, der mir sagt: "Ich möchte Dich gerne jemandem empfehlen. Es handelt sich um eine Frau, die sich zur Zeit hier in Maine aufhält, aber bald zurück nach New York muss und dringend eine Therapie benötigt, sie ist in schlechter Verfassung. Sie ist eine vielseitig begabte Künstlerin: eine Schriftstellerin, Dichterin, Bühnenautorin. Sie ist sowohl hier als auch in New York sehr bekannt, ein wirklich interessanter Mensch. Ich glaube, Du wirst sie mögen, und ich weiß, dass Du ihr helfen kannst."

Einige Wochen später ruft Jelena mich an, um einen Termin mit mir zu vereinbaren. Sie hört sich niedergeschlagen an. Ihre Stimme klingt belegt, sie spricht undeutlich. Als sie Ende April zu ihrem ersten Termin erscheint, bin ich schockiert über ihr Aussehen. Der zu lange Pony verdeckt ihre Augen. Ihr Gesicht ist geschwollen (vom Weinen?). Sie wirkt ungepflegt und ist nachlässig gekleidet. Als sie beginnt, mir von sich zu erzählen, stockt sie oft mitten im Satz und ihre Blicke schießen im ganzen Raum umher, ohne jemals bei mir zu verweilen. Sie beschreibt sich selbst als "völlig verrückt", was mir eine sehr zutreffende Beschreibung zu sein scheint. Sie sagt, sie wisse nicht, was los sei. Sie stünde neben sich, sie könne nicht arbeiten, sie könne gar nichts tun.

Meine Gedanken: In ihrem Verhalten - der gedämpften Stimme, der undeutlichen Aussprache, ihrer inneren Verwirrung, ihrer stockenden Rede - zeigt sich für mich das Bild einer "Unterbrechung" und zwar hauptsächlich im Sinne der Retroflexion. Ihre äußere Erscheinung (Frisur/Kleidung) lässt vermuten, dass sie keinen Wert auf den Eindruck legt, den sie auf ihre Umgebung macht. Sie vermeidet den Blickkontakt mit mir. Anstatt mich anzuschauen und zu sehen, wer ich wirklich bin, projiziert sie möglicherweise eine furchteinflößende Person auf mich. Auch nimmt sie den Raum nicht wahr, in dem sie sich befindet.

Das Einzige, was sie tun könne, sei, an diesen Mann zu denken. "Dieser Mann" ist ein Künstler, ein Bühnendesigner, den sie vor ungefähr einem Jahr kennen gelernt hat und mit dem sie eine Beziehung eingegangen ist, die sowohl beruflicher Natur - es ist geplant, dass er das Design für ein Theaterstück, an dem sie zusammen mit ihm arbeitet, übernimmt - als auch privater Natur ist. Er verbrachte sehr viel Zeit mit ihr, mal bei gemeinsamer Arbeit und mal in einem romantischerem Rahmen.

Meine Gedanken: Ich stelle mir Jelenas Kontaktgrenze als eine sehr dünne und durchlässige Membran vor, die alles aus ihrer Umgebung hindurch lässt und zu viele Äußerungen des Organismus hinausfließen lässt - all dies ungefiltert.

Sie schliefen sogar in einem Bett, obschon sie keinen Sex miteinander hatten, weil er, so behauptete er, zölibatär lebe. Sie beschreibt sich selbst als eine Frau, die immer sexuell aktiv gewesen sei und den Sex seit dem Tode ihres Ehemanns vor vier Jahren sehr vermisse. Dieser Mann, Bernie, der viel jünger sei als sie, ziehe sie sexuell an und sie träume davon, mit ihm zusammen zu leben. Vor kurzem zog er sich plötzlich von ihr zurück. Sie war für einige Wochen verreist gewesen und als sie zurückkam, war er fort. Er hatte in ihrer Abwesenheit bei ihr gewohnt (sie hatte ihm die Schlüssel zu ihrer Wohnung gegeben) und einige seiner Habseligkeiten dort gelassen; aber er rief nie wieder an und ging nicht ans Telefon, wenn sie versuchte, ihn anzurufen, und sie konnte einfach nicht verstehen, was los war. Während ihrer gemeinsamen Arbeit an dem Theaterstück hatte er ihr gegenüber einmal bemerkt, dass er so etwas noch nie in seinem Leben erlebt hätte, aber er würde fühlen, dass sein Unbewusstes mit ihrem Unbewusstem kommuniziere und dass sie eine sehr tiefe Verbindung zueinander hätten.

Wie konnte er sie dann so plötzlich verlassen und warum? War es ihr Alter? War es etwas anderes? Sie zerbricht sich den Kopf und findet keine Antwort. Sie wisse sehr wohl, dass sie seitdem an nichts anderes mehr denken könne und dass sie alles übrige in ihrem Leben vernachlässige. Nichts von all dem, was sie sagt, ist direkt an mich gerichtet, sondern in den Raum gesprochen. Ich spüre keine Verbindung zu ihr.

Meine Gedanken: Offensichtlich bin ich nicht von Interesse für sie. Sie scheint mich nicht zu sehen und erlaubt mir kaum, etwas zu sagen. Ich gehöre nicht zu dem Feld, in dem sie sich orientiert. Ihr Gewahrsein ist massiv eingeschränkt auf ihre eigenen obsessiven Belange.

Die Art und Weise, wie sie ihre Geschichte erzählt, bestätigt meinen anfänglichen Eindruck. Und ich frage mich verwundert: Ist das die Frau, von der mein Freund dachte, dass ich ihr helfen könne? Die ich mögen würde? Als sie geht, wirkt sie zwar ein wenig erleichtert, vielleicht, weil sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen hat, aber ich bin mir nicht sicher, was sie wirklich fühlt oder welchen Anteil ich an diesem Prozess hatte. Sie vereinbart einen Termin in zwei Wochen, da sie verreist, und ich bin nicht sicher, ob sie wiederkommen wird.

Meine Gedanken: Mein mangelndes Vertrauen in ihre Rückkehr resultiert aus meiner Wahrnehmung ihrer Kontaktgrenze - Jelena war da und nicht da, sie war bei mir und doch nicht bei mir.

Jelena kommt wieder. Sie scheint immer noch ziemlich "verrückt" zu sein, wenn auch etwas weniger. Sie wiederholt vieles von dem, was sie mir bereits in der ersten Sitzung erzählt hatte, scheint mich allerdings bewusster wahrzunehmen - wenn auch vorsichtig. Sie behauptet wieder, dass sie nicht wisse, was los sei. Ich frage sie, ob sie möchte, dass ich es ihr sage, da ich zu verstehen glaube, was vor sich geht.

Meine Gedanken: Dies ist der Beginn eines Experiments, welches ihr helfen soll, "ent-wirrt" zu werden. Mit ihrer Zustimmung erkannte sie mich zum ersten Mal deutlich als eine andere Person, d.?h., sie sieht mich, sie hört mich, sie öffnet sich für die unterschiedliche Meinung eines anderen - dies sind Elemente von Kontakt herstellen.

Sie ist einverstanden und ich sage ihr, ich könne sehen, dass sie sehr darunter leide, von einem Mann, in den sie sich sehr verliebt habe, verlassen worden zu sein. Dies sei so schmerzhaft, dass sie dieses Wissen nicht zulassen könne, obwohl dies tatsächlich geschehen sei: Er hat sie verlassen. Auch wenn sie ihn manchmal zufällig treffe, könne sie nicht wirklich mit ihm sprechen oder die Beziehung, die sie so genossen habe, wieder herstellen. In ihrem Schmerz verkenne sie die Situation. Jelena hört zu, sie schaut mich an und fast empfinde ich es als grausam, ihr so deutlich zu sagen, was vor sich geht, dass sie von mir erfährt, wie ich ihre Lage sehe, die sie mir so genau beschrieben hat und doch nicht wahr haben will. Ich sage ihr: "Ich weiß, es tut weh. Und Sie können nichts anderes tun, als dem Schmerz zu erlauben, da zu sein." Sie scheint meinen Vorschlag zu akzeptieren (zumindest widerspricht sie nicht). Als sie geht, ist sie etwas irritiert und trauriger als zuvor. Als Jelena zu ihrer dritten Stunde erscheint, sieht sie etwas besser aus und scheint in der Lage zu sein, den Kontakt mit mir mehr zuzulassen. Im Laufe der Stunde unterhalten wir uns zum ersten Mal wirklich über das, was sie gerade erlebt und was es bedeutet. Sie wendet sich mir zu und allmählich entwickelt sich eine Beziehung zwischen uns. Sie beklagt sich bitter darüber, dass sie zwar wisse, dass ihre Tagträume über ein Wiederherstellen der Beziehung zu Bernie pure Illusion seien, sie diese aber nicht aufgeben könne. Sie kämpfe ständig dagegen an, aber sie träume weiterhin in einem fort von einer Beziehung zu ihm. Das sei das einzige, was sie beschäftigt. "Ich kann sie nicht aufgeben, ich kann sie nicht aufgeben. Diese Illusion bringt mich noch um."

Gegen Ende unserer Sitzung sage ich ihr: "Jelena, Du musst die Illusion nicht aufgeben. Du kannst sie behalten. Aber Du musst wissen, dass es eine Illusion ist. Sei Dir bewusst, dass es sich um eine Illusion handelt, und behalte sie."

Meine Gedanken: Ich hatte Jelenas "Illusion" als ihre kreative Anpassungsleistung an ihre Einsamkeit gesehen. So lange sie diese Illusion hegte, war sie nicht völlig einsam. Indem ich ihre Illusion eine Illusion nannte, ermöglichte ich ihr, den Konflikt zwischen dem, was sie tat, und dem, was sie glaubte, tun zu müssen, zu lösen. "Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist" (Beisser, 1979).

Sie schaut mich verwundert an, scheint aber zu verstehen, was ich meine, und als sie hinausgeht, drückt sie mir einen kleinen Kuss auf die Wange.

Meine Gedanken: Ich ahne, dass ich eine Sprache verwendet habe, die ihr als Künstlerin vertraut ist. Sie erkennt mich als ihre Therapeutin an und für sie gehört zu einer therapeutischen Beziehung ein freundlicher, persönlicher Umgang miteinander, beispielsweise in Form von gelegentlichen Berührungen. Offensichtlich ist dies keine "coole" Beziehung für sie; mich zu küssen, war ihre Art, zum Ausdruck zu bringen, dass sie mich als Frau und als Therapeutin anerkennt. Sie hatte eine Lösung für ihr problematisches Verliebtsein gefunden und der Prozess der Problemlösung hatte sie bereichert.

Wenn eine offene Gestalt sehr mächtig und im Vordergrund aktiv ist, steht nur wenig Energie für irgendetwas anderes zur Verfügung. Die Person, hier Jelena, ist dann wie gelähmt, verwirrt und obsessiv (oder, wie sie es nennt "völlig verrückt"). Indem ich ihr vorschlug, ihre Illusion zu behalten, sich von ihr nähren zu lassen, brachte ich einen Prozess zum Fließen, den sie selbst nicht einmal identifizieren oder benennen konnte, nämlich den Prozess des Trauerns. So konnte sie die Gestalt schließen und weitergehen. Als das bedeutendste Ereignis in unserem Kontakt wurde diese Intervention zum "Wende-Punkt" in der Therapie.

Als Jelena zur nächsten Sitzung wiederkehrt (sie war wieder verreist gewesen), steht ein anderer Mensch vor mir: Sie ist gut gekleidet, ihr Haar ist kürzer und gekämmt, ich kann ihre Augen und ihr Gesicht sehen. Sie scheint nicht mehr so sehr zu leiden und wirkt innerlich klarer. Sie sagt: "Deine Intervention beim letzten Mal war sehr wirksam: Sie war die ganze Zeit präsent. Sie tut weh und sie ist hilfreich." Und wieder küsst sie mich beim Hinausgehen. Während unserer nächsten Therapiesitzungen erzählt mir Jelena von sich - sie erzählt nicht von ihrer Ursprungsfamilie, sondern von sich selbst als junger Frau. Sie hatte ein langes Verhältnis mit einem sehr berühmten Therapeuten gehabt und sie war in Therapie (Gestalttherapie) bei einer Frau gewesen. Sie erzählt mir von ihrer Ehe mit George, der ebenso wie sie eher unkonventionell lebte. Beide verdienten ihren Lebensunterhalt als Lehrer an öffentlichen Schulen. Und sie erzählt von ihren Erfahrungen als Hausfrau, Mutter, Ehefrau, Autorin und Geliebte. Sie beschreibt ihre Ehe als sehr gut. George beschützte und unterstützte sie, er bewunderte sie und ihre Arbeit. Sie vermisst ihn sehr. Sie erzählt von dem Dreiecksverhältnis in ihrer Ehe, das zwischen ihrem Ehemann, ihr und dem berühmten Therapeuten bestanden hatte, der die Beziehung zu ihr nach ihrer Heirat nicht aufgegeben hatte. Sie ist stolz darauf. Sie hatte ein ausgefülltes und aufregendes Leben geführt - ein selbstbestimmtes Leben; sie hatte sich keinen Normen unterworfen und es ging ihr gut damit. Als sie über die Beziehung zu ihren Töchtern spricht, die beide sehr talentierte Malerinnen sind, wird sie traurig. Sie beschreibt sie als extrem fordernd und kontrollierend, als sehr oft ausgesprochen garstig zu ihr und ohne jede Wertschätzung ihr gegenüber. Zum Vater hatte die ältere Tochter ein sehr gespanntes Verhältnis gehabt, während die jüngere Tochter ihm sehr zugewandt gewesen war. Die Verzweiflung und das Gefühl einer Katastrophe, hervorgerufen durch Bernies Verschwinden, sind nicht mehr da. Sie ist verletzt und das ist normal, aber es macht sie nicht mehr "verrückt" zu wissen, dass ­Bernie anderswo nach Beziehungen Ausschau hält.

Meine Gedanken: Im Allgemeinen bin ich kein Freund des "Geschichtenerzählens" doch ich spürte, dass es Jelena gut tat, mir aus ihrem Leben zu erzählen. Es half ihr, ihre Persönlichkeitsfunktion wieder zu erlangen, es war quasi die verbale Wiederherstellung ihrer selbst, als sie schilderte, wer sie war: eine talentierte, erfolgreiche und kreative Frau, eine Frau, deren Lebensgeschichte ihr gegenwärtiges Sein stärkt. Indem sie mir aus ihrer Vergangenheit erzählte, stellte sie ihren gegenwärtigen Schmerz in einen größeren Kontext und erlaubte sich dadurch, die Verletzungen und Wunden, die Bernie ihr zugefügt hatte, heilen zu lassen. So restaurierte sie das Bild der kompetenten, starken und kreativen Frau, die sie tatsächlich ist.

Dies ist allerdings nicht alles, was Jelena von mir braucht. Das Problem mit Bernie war gewissermaßen das erste Kapitel eines Romans, das ich dem Leser - als Beispiel für eine Kurztherapie - nun wie eine abgeschlossene Geschichte präsentiere.

In der nächsten Sitzung sagt sie: "Ich bin wirklich fertig mit ihm. Er interessiert mich nicht mehr. Es ist mir egal, was er tut." Dann kommt eine Überraschung. Jelena unternimmt wieder eine zweiwöchige Reise und bei unserer letzten Sitzung vor dieser Reise lässt sie mir ein Manuskript da - ein Theaterstück. Als ich einen Blick darauf werfe, bin ich völlig verblüfft. Es beginnt folgendermaßen: Eine Frau sagt: "Lebe die Illusion und wisse, dass sie eine Illusion ist. Eine Illusion leben und wissen, dass sie eine Illusion ist? Als ich die Illusion lebte und nicht wusste, dass sie eine Illusion war, war ich glücklich. Ich strahlte. Sie erleuchtete das Universum, mein Universum. Ich war ekstatisch, in einem euphorischen Zustand, und nun sagst Du, lebe die Illusion und wisse, das sie eine Illusion ist? Oh, wie kann ich das tun? Wie kann das sein?"

Meine Gedanken: Jelena hat die Erfahrung, ihre Illusion loslassen zu können, in ihr künstlerisches, kreatives Selbst integriert.

 

Epilog

Frühling 1996. Es ist zwei Jahre her, dass Jelena das erste Mal zu mir kam. Seitdem ist sie ziemlich regelmäßig erschienen und hat intensiv gearbeitet. Ihre Intelligenz hat ihr nicht nur dabei geholfen, zu verstehen, was in der Therapie passiert, sondern auch dabei, ihre Therapieerfahrungen in ihr alltägliches Leben zu integrieren. Sie hat allmählich akzeptiert, dass sie auf ihre Töchter nicht zählen kann - weder auf deren Gesellschaft, noch in sonstiger Hinsicht. Und sie erkennt, dass dies nicht ihre Schuld ist. Sie hat wieder begonnen zu schreiben; darin und in anderen beruflichen Aktivitäten, wie Lesungen halten oder die Teilnahme an Komitees, findet sie große Befriedigung. Außerdem hat sie verschiedene Reisen unternommen und will diesen Sommer als "Writer in Residence" vier Wochen in Prag verbringen. Ihre beruflichen Erfolge haben ihr Selbstwertgefühl wieder hergestellt. Sie ist weniger konfluent und kann wesentlich besser zwischen Geben und Nehmen unterscheiden. Sie braucht meine Unterstützung nicht mehr so häufig wie im letzten Jahr und ist insgesamt zufriedener mit ihrem Leben.

 

Literaturhinweis

Arnold R. Beisser, Wozu brauche ich Flügel? Ein Gestalttherapeut betrachtet sein Leben als Gelähmter, Wuppertal 1997.

 

Danksagung

Ich möchte Jelena danken, die mir, nachdem sie dieses Kapitel gelesen hatte, die Erlaubnis gab, es zu veröffentlichen, sowie meinem Kollegen und Freund, Dan Bloom, der mir durch manch eine Krise half, einschließlich dem Schreiben dieses Kapitels (Schreiben bedeutet immer eine Krise für mich).

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Ruth RonallRuth Ronall

Ruth Ronall. Vor einem Jahr, am 6. April 2008, verstarb die bekannte Gestalttherapeutin im Alter von 91 Jahren in New York City. Dort hatte sie seit vielen Jahren in ihrer privaten Praxis mit Einzelnen, Paaren, Familien und Gruppen gearbeitet und am "New York Institute for Gestalt Therapy" gelehrt. Ruth Ronall ist in Wien geboren und aufgewachsen. Sie begann dort auch ihr Studium - bis sie vor dem Nationalsozialismus fliehen musste. In den USA erwarb sie schließlich den Abschluss als Klinische Sozialarbeiterin und machte schließlich ihre gestalttherapeutische Ausbildung bei Laura Perls. Während dieser Ausbildung lernte sie auch Bud Feder kennen, mit dem sie eng persönlich und beruflich verbunden blieb. U.a. veröffentlichte sie gemeinsam mit ihm das Buch "Gestaltgruppen" (Stuttgart 1983). Seit den 1970er Jahren war sie darüber hinaus international als Gestalttherapie-Ausbilderin und gefragte Referentin tätig.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in "A Living Legacy of Fritz and Laura Perls: Contemporary Case Studies" (hrsg. Von Bud Feder und Ruth Ronall, 1996). Wir danken Bud Feder für die freundliche Genehmigung der deutschen Erstübersetzung. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ingrid Müller, Bonn.

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