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Miriam Polster
Gestalttherapie: Was es wert ist getan zu werden
Ein Interview


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 2-2000):

Miriam Polster
Gestalttherapie: Was es wert ist getan zu werden
Ein Interview

 

Miriam Polster (Foto von Thomas Bader)Miriam Polster (Foto: Thomas Bader)

 

Robert L. Harman:

Als erstes möchte dich bitten, einfach laut über die Gestalttherapie und ihre Theorie nachzudenken und über alles zu reden, was dich im Augenblick interessiert.

 

Miriam Polster:

Gut. In letzter Zeit beschäftigt mich die Frage, wie man verschiedene Phasen von Unterstützung unterscheiden und die Fortschritte, die in der Therapie gemacht werden, integrieren kann. Natürlich geht es innerhalb der Therapie um Unterstützung, aber die Fähigkeit, sich selbst außerhalb der eigentlichen therapeutischen Situation, also in anderen Umgebungen und unter anderen Umständen zu unterstützen, wächst und entwickelt sich phasenweise. In der Gestalttherapie betrachten wir Kontakt als ein Ereignis, das in Raum und Zeit und innerhalb eines Rahmens von bestimmten Gelegenheiten und Fähigkeiten stattfindet. Während wir uns von einer Umgebung zur nächsten bewegen, brauchen wir unter bestimmten Umständen notwendigerweise mehr oder weniger Unterstützung als unter anderen Umständen.

Ich glaube, daß die Entwicklung von unterstütztem Verhalten verschiedene Phasen durchläuft. In unserem Buch sprechen Erv und ich vom Konzept der Ich-Grenze, die wir als Bandbreite derjenigen Erfahrungen definieren, die jemand für sich gelten lassen kann. Diese persönliche Demarkationslinie der Erfahrung beinhaltet die Notwendigkeit, darauf zu achten, wie die Balance zwischen Selbstunterstützung und Fremdunterstützung erreicht wird. Fritz Perls betrachtete Wachstum als eine Bewegung von der Fremdunterstützung zur Selbstunterstützung. Im Grunde genommen ist das eine relative Leistung, denn eine absolute Unabhängigkeit von äußerer Unterstützung ist letztlich für niemanden erreichbar. Die Frage ist aber: Wann ist die äußere Unterstützung wichtiger? Aus welchen Elementen setzt sie sich zusammen? Und auf welche therapeutischen Aufgaben muß der Therapeut möglicherweise achten, wenn der Klient sich zunehmend aus der Abhängigkeit von der Umgebung oder ihrem Druck befreit?

 

R.H.: Du hast gesagt, es gebe verschiedene Stadien von Unterstützung. Kannst du beschreiben, wie sich diese Stadien aus deiner Sicht darstellen?

 

M.P.: Ja, ich bezeichne das als Integrationssequenz. Dabei geht es um die Frage, wie der Klient das, was in der Therapie passiert, so integrieren kann, daß es in sein gewohntes Verhaltensrepertoire übergeht und ihm auch in seinem »täglichen Leben« zur Verfügung steht. Ich unterscheide drei Phasen: (1) Die Entdeckungsphase, (2) die Akkomodationsphase und (3) die Assimilationsphase. Während jeder dieser drei Phasen bedarf es der Unterstützung, die aus zwei verschiedenen Quellen kommen kann, nämlich aus der Umgebung und aus dem eigenen Selbst.

Das Stadium der Entdeckung ist genau das, was der Name schon sagt: Ein Punkt, an dem ein neues Gewahrsein, eine neue Erkenntnis, eine ungewohnte Erfahrung, ein Impuls, Wunsch, Gefühl oder eine neue Empfindung in den Vordergrund tritt und vom Klienten erkannt und gewürdigt wird.

 

R.H.: Kannst du ein Beispiel geben, um das etwas deutlicher zu machen?

 

M.P.: Ja. Eine Frau, mit der ich gearbeitet habe, beschrieb sich selbst als »Armeekind.« Eines Tages kam sie zur Therapie und klagte über einen steifen Hals, der ihr seit ein paar Tagen zu schaffen machte. Ich schlug ihr vor, mit leichten Drehbewegungen ihres

Kopfes zu experimentieren. Während sie das tat, schaute sie zufällig zur Decke. Etwas abwesend und fast beiläufig fragte sie: »Sind das echte Balken oder sind die nachgemacht?« Sie war über ihr eigenes Verhalten überrascht; es kam ihr ungehörig vor, so eine Frage zu stellen. Was sie überraschte - und was sie gleichzeitig entdeckte - war, daß sie als »Armeegöre« und Tochter eines passionierten Militärarztes gelernt hatte, daß man keine Fragen stellt. Um aber keine Fragen zu stellen, hatte sie gelernt, eine rigide und steife Haltung anzunehmen, immer geradeaus zu schauen und auf diese Weise zu verhindern, daß die Dinge um sie herum ihre Neugier weckten. Ihr steifer Nacken war einfach nur ein Mittel, das ihr half, sich zurückzuhalten. Aber sie entdeckte, daß sie eigentlich ein neugieriger Mensch war, und als sie einmal angefangen hatte, sich selbst zu erlauben, herumzuschauen, liebte sie es, Fragen zu stellen. Das war eine Entdeckung.

Der Moment der Entdeckung enthält die atemberaubende Erkenntnis, daß etwas Neues auftaucht, ein neuer Aspekt in der Art, wie diese Frau sich selbst in der Welt erlebt, und in diesem Moment muß sie sich selbst unterstützen. Es gibt drei Wege der Selbstunterstützung: die körperlich-muskuläre Unterstützung, den Atem und die kognitive Unterstützung. Diese Klientin z.B. mußte lernen, wie sie sich selbst körperlich unterstützen konnte, indem sie z.B. eine gute Sitzposition fand. Sie mußte ihre Handlungs- und Bewegungsspielräume kennenlernen, die sich öffneten, sobald sie aufhörte, ihre Beweglichkeit einzuschränken und anfing, da wo es möglich war, Bewegung zuzulassen. Sie mußte die Erregung unterstützen, die frei wurde, als sie bemerkte, wie sie sich selbst nicht nur gegen die Bewegung versteifte, sondern auch ihren Atem einschränkte und dadurch ihre Erregung in Angst umwandelte. Oft ist es so, daß in einem Augenblick der Entdeckung die ganze Welt stehenzubleiben scheint. Ein gleichmäßiger Atem stellt das Gefühl von Fluß und Kontinuität wieder her. Und schließlich mußte sie sich gedanklich darüber klar werden, was sie entdeckt hatte, daß nämlich das Verbot, neugierig zu sein, eine Lektion war, die sie einmal gelernt hatte und die ihrer jetzigen Lebenssituation nicht mehr entsprach. Schließlich war sie ja nicht in der Armee.

Die äußere Unterstützung entstand zum einen dadurch, daß ich ihre Neugier akzeptierte, und zum anderen aus der Vertraulichkeit des Settings und der Sicherheit der therapeutischen Beziehung heraus.

Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, das Verhältnis zwischen Selbst- und/oder Fremdunterstützung zu erforschen und auszugleichen. Das heißt, da, wo es nötig ist, unterstützt er den Klienten; gleichzeitig macht er ihn aber auch auf Möglichkeiten der Selbstunterstützung aufmerksam.

Sobald sich die Konsequenzen der ursprünglichen Entdeckung zeigen, beginnt die Akkomodationsphase. In diesem Stadium wird der Klientin langsam bewußt, was Neugier für sie noch alles beinhalten kann - außer banalen Fragen über die Balken an der Decke. Sie könnte z.B. anfangen den Menschen, mit denen sie zu tun hat, alle möglichen Fragen zu stellen. Die Akkomodationsphase ist die Fortsetzung der ursprünglichen Entdeckung.

 

R.H.: Ich nehme an, daß deiner Klientin die Menschen in ihrem Leben dadurch interessanter erscheinen. Natürlich waren sie das auch schon vorher, aber in dem Moment, wo sie sich mit Hilfe dieser Art von Unterstützung selbst erlaubt, interessierter zu sein, werden auch die anderen interessanter.

 

M.P.: Genau. Und sie muß lernen, noch mit einer anderen Konsequenz umzugehen. Denn wenn die anderen interessanter werden, werden sie auch anregender. Wie geht sie nun mit dem Zuwachs an Erregung um, die sie vorher in ein nettes, wohlgeordnetes, unbefriedigendes, aber zumindest unproblematisches Leben hatte einfließen lassen?

 

R.H.: Diese Art von Lösung war kalkulierbar. Nicht sehr befriedigend zwar, aber kalkulierbar.

 

M.P.: Ja. Nach der Maßgabe: »Stell keine Fragen; das Leben geht weiter.« In der Akkomodationsphase muß der Therapeut ihr helfen, Selbstunterstützung zu mobilisieren und zu entwickeln. Die eigentliche Wirkung muß sich außerhalb des therapeutischen Rahmens zeigen, wo sie mit der äußeren Unterstützung, die sie in dieser »speziellen« Umgebung bekommt, nicht rechnen kann. Natürlich kann sich ein Teil auch innerhalb der Situation abspielen. Sie könnte z.B. anfangen, neugierig auf den Therapeuten zu werden, auf seine Bücher, die Praxis oder die Einrichtung. Es ist sogar möglich, daß sie ihre eigene autoritäre Art zu urteilen entdeckt, die sie bisher immer zensiert hat, und die sie in Schwierigkeiten bringen kann. In der Akkomodationsphase hat sie Gelegenheit, das Vertrauen in ihre Fähigkeit der Selbstunterstützung aufzubauen. Darüber hinaus muß sie ihr Gewahrsein für die Umgebung schärfen. Da sie nicht mit derselben äußeren Unterstützung rechnen kann, die sie innerhalb der therapeutischen Situation erfährt, muß sie lernen, ihre Umgebung, die ihr nicht dieselben Garantien geben kann, besser einzuschätzen. Sie muß sich umschauen und herausfinden, was sie in einer schwierigen Situation unterstützen, und wer ihr neues Verhalten akzeptieren könnte. Sie muß lernen, wo sie mit ihrer Neugier experimentieren kann und wo es klüger ist, es zwar zu erleben, aber nicht zu zeigen. Und sie entwickelt die Fähigkeit, sich selbst zu unterstützen, nicht nur körperlich, sondern auch geistig.

 

R.H.: So wie du es beschreibst, klingt es, als gäbe es verschiedene Abstufungen von Unterstützung. Man geht ja nicht so einfach los und fängt an, allen möglichen Leuten Fragen zu stellen. Zunächst sucht sie sich jemanden aus, bei dem sie sich sicher fühlt, oder eben dich - als ihre Therapeutin. Sie fängt mit dir an und geht dann langsam zu anderen Leuten über. Ich könnte mir vorstellen, daß sie diesen Prozeß faszinierend findet, denn sie äußert ja genau das, was sie so lange zurückgehalten hat.

 

M.P.: Das könnte sein, ja. Verstehst du, in diesem Stadium muß sie sich nicht nur ihrer selbst gewahr sein, sondern in gewissem Maße auch der anderen. Im ersten Stadium, der Entdeckungsphase, ist sie sich ausschließlich ihrer selbst bewußt. In der Therapie braucht sie sich nicht zu schützen. Ich meine, sie kann, aber sie braucht nicht. Da die Umgebung als Ganzes aber sehr viel unsicherer und viel weniger kalkulierbar ist, muß sie ihr Gewahrsein während der Akkomodationsphase auf andere Bereiche ausdehnen. Durch ihr gesteigertes Gewahrsein ermöglicht sie eine Verbesserung der Kontaktqualität. Andererseits ist sie während dieses Stadiums immer noch ungeübt, und die Wahrscheinlichkeit, enttäuscht zu werden, ist genauso groß wie die, erfolgreich zu sein. Der Therapeut muß also die Perspektive der Klientin wiederherstellen und ihr helfen herauszufinden, wo und wie etwas schiefgelaufen ist bzw. was passiert, wenn sie etwas Neues ausprobiert.

Im dritten Stadium, der Assimilationsphase, akzeptiert die Klientin die möglichen Konsequenzen. Sie hat sich entschieden, wie sie sein und handeln will - unabhängig davon, ob das nun angenehm ist, oder nicht. Sie hat genügend Sensibilität entwickelt, um mit den Unwägbarkeiten der Umgebung fertigzuwerden, und sie hat erkannt: »Ja, das bin ich. Ich bin ein neugieriges Wesen, und das ist in Ordnung.« Das ist riskant, und die Folgen sind nicht immer absehbar. Es gibt keine Erfolgsgarantie. Während der Assimilationsphase kann es sein, daß sie öfter Erfolg hat als keinen. Trotzdem gibt es noch einen Hauch von Unsicherheit. Ihr Verhalten hängt immer noch zu einem gewissen Teil von der Umgebung ab. Vielleicht bezieht sie sich auf eine bestimmte Person oder auf bestimmte Umstände. Vielleicht stellt die Klientin ihre Fragen nach wie vor nur bestimmten Leuten, und anderen eben nicht. Vielleicht fragt sie einen Freund, aber nicht ihren Vater, oder sie fragt nur nach ganz bestimmten Dingen, aber nicht nach anderen. Es könnte z.B. sein, daß sie nach der Familiengeschichte fragt, aber nicht nach finanziellen Angelegenheiten. In der Assimilationsphase hat das Verhalten eine situationsgebundene Qualität und manchmal auch den Beigeschmack, eine bestimmte Haltung einnehmen oder etwas beweisen zu wollen. Es ist von einer gewissen Unsicherheit geprägt und noch nicht vollständig integriert.

Die letzte Phase, die Integrationsphase, zeigt sich darin, daß eine bestimmte Verhaltensoption Teil einer ganzen Palette möglicher Verhaltensweisen geworden ist. Sie ist dann nicht mehr oder weniger wahrscheinlich als andere mögliche Verhaltensweisen. Die Klientin ist in ihren Reaktionen flexibel, und diese Flexibilität ermöglicht es ihr zu wählen, anstatt irgend etwas bewußt beweisen zu müssen, außer dem, was sie in diesem bestimmten Augenblick gerade erregt. Es ist eine fließende Interaktion mit ihrem Umfeld, die sich innerhalb ihrer Ich-Grenzen etabliert, also innerhalb des Spektrums des ihr möglichen Erlebens.

R.H.: Ja. Ich frage mich gerade, wie das mit dem Gewahrseinsprozeß zusammenhängt. Im letzten Stadium kann es sein, daß sie sich ihrer Neugier bewußt ist. Ihre Selbstunterstützung könnte darin bestehen, daß sie entweder nachfragt, oder aber entscheidet, daß die Situation für sie nicht angemessen ist.

 

M.P.: Vielleicht entscheidet sie sich, später nachzufragen, wenn sie mehr Zeit hat, oder aber sie ist neugierig, oder sie läßt es als nicht so wichtig fallen. Sie fängt an, alle möglichen Alternativen zu sehen, von denen keine unsicherer oder wahrscheinlicher ist als die anderen.

 

R.H.: Diese Unterstützungsphasen ermöglichen es ihr schließlich zu wählen, und dabei in vollem Kontakt zu bleiben.

 

M.P.: So ist es. Das Entscheidende ist, daß ihr Verhalten und die Reaktionen der Umgebung während der Akkomodationsphase sehr viel unkalkulierbarer sind und die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich ungeschickt oder unwohl fühlt und erfolglos bleibt, deutlich größer ist. Ihr Umfeld wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht so entgegenkommend sein wie ihre Therapeutin oder jemand, den sie auf den leeren Stuhl setzt und mit dem sie einen imaginären Dialog führt. In dieser Phase müssen sich sowohl Therapeutin als auch Klientin darüber im Klaren sein, daß Ungeschicklichkeit und Unwohlsein unvermeidbar sind.

 

R.H.: Das gilt für jedes neue Verhalten.

 

M.P.: Ja. Das ist die Phase, in der es wahrscheinlich zu Entmutigungen kommt und in der die Klientin versucht ist zu sagen: »Ich mache nicht weiter. Es funktioniert ja doch nicht.« Die therapeutische Aufgabe könnte dann sein, die Kriterien zu erforschen, nach denen die Klientin beurteilt, ob etwas funktioniert oder nicht, oder Experimente zu erfinden, in denen sie sich vorstellen kann, bei wem sie mit ihrer Neugier gut aufgehoben sein könnte. Sie könnte sich entschließen, mit der leichtesten Person anzufangen, anstatt mit der schwierigsten. Diesen Rat habe ich meinen Klienten schon häufiger gegeben.

R.H.: Ich stimme dir zu, daß wann immer wir oder unsere Klienten etwas Neues ausprobieren, das unvermeidlich mit einer gewissen Unbehaglichkeit oder Unsicherheit verbunden ist, manchmal auch mit Aufregung. Für mich war es schön zu entdecken, daß ich auch dann noch einiges tun kann, wenn ich mich ungeschickt oder unwohl fühle. Wenn ich nur auf meine Unsicherheit oder mein Unbehagen achten würde, wäre es das leichteste, mich zurückzuziehen und keine Rede zu halten oder mit dir oder Erv kein Interview zu führen usw. Es ist wichtig zu wissen, daß ich unsicher sein und immer noch etwas tun kann.

 

M.P.: Ich glaube, das ist es, was Lore Perls meinte als sie sagte, daß alles, was es wert ist, getan zu werden, es auch wert ist, schlecht getan zu werden.

 

R.H.: Ja, das glaube ich auch. Dieser Kontakt, von dem du sprichst (und von dem wir in der Gestalttherapie ja immer wieder sprechen), wie definierst du den? Wie lautet deine Definition von Kontakt?

 

M.P.: Hmmm! Einerseits brauchen wir Definitionen, und andererseits wird jede komplexe Idee oder Vorstellung durch Definitionen eingeschränkt. Als die Juden beschlossen, daß es verboten sein sollte, sich von Gott ein Bild zu machen, das man anbeten konnte, oder seinen Namen laut auszusprechen, trafen sie eine weise Entscheidung. Sie wußten, daß sie Gott in dem Augenblick, wo sie versuchen würden, ihn allzu deutlich darzustellen, verlieren würden.

Für mich ist guter Kontakt gleichbedeutend mit unvermittelter Begegnung. Es ist eine Begegnung mit so wenig »Dazwischen« wie möglich; eine Begegnung, bei der man bereit ist, sich von dem Ereignis ergreifen zu lassen, bei der man bereit ist, Hingabe und Teilnahme zu riskieren und gleichzeitig auf Reserviertheit und Zurückhaltung zu verzichten.

 

R.H.: In diesem Zusammenhang denke ich vor allem an Paare. Wenn die Partner sich auf diese Weise begegnen, brauchen sie sich keine Sorgen zu machen, daß sie etwas sagen könnten, was später gegen sie verwendet werden könnte.

 

M.P.: Das beste Beispiel, das ich dir geben kann, stammt aus meiner Kindheit - lange bevor ich zum erstenmal mit Gestalttherapie in Berührung kam. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages draußen stand und in den Himmel sah. Der Himmel war blau, kein einziges Wölkchen weit und breit. Ein schönes, kräftiges Blau, rein und wunderschön. Ich erinnere mich, wie ich in den Himmel sah und während ich da hinaufschaute das Gefühl hatte, als seien meine Augen voll von diesem Blau, als wären meine Augen blau. Woran ich mich ebenfalls erinnere, ist eine meiner ersten Erfahrungen mit Musik - eine Folge von Akkorden, eine harmonische Abfolge von Akkorden eines bestimmten Walzers. Ich war in dem Haus, aus dem wir auszogen, als ich ungefähr elf Jahre alt war. Als ich diese Sequenz hörte, hatte ich das Gefühl, als ob mir jemand mit voller Wucht in den Bauch geschlagen hätte. Ich konnte dieser Musik überhaupt keinen Widerstand entgegensetzen, und sie beeindruckte mich so sehr, daß ich nach Luft schnappen mußte - so als ob jemand die Luft aus mir herausgepreßt hätte. Das meine ich - solche Dinge.

Die Schriftsteller können das besser beschreiben. T.S. Elliot erzählt von einer Musik, »die so tief gehört wird, daß du die Musik - solange sie anhält - nicht hörst, sondern bist.« E.M. Forster schreibt über einen himmlischen Omnibus, der ein Kind in eine Erfahrung versetzen kann, die für einen intellektuellen Erwachsenen nicht wahrnehmbar ist. Offensichtlich werden wir im Laufe unserer Entwicklung sehr klug; wir wissen, wie wir uns kleinmachen und gegen diese Invasion schützen können. Zu schade.

 

R.H.: Ja, das ist wirklich schade.

 

M.P.: Aber es läßt sich nicht verhindern. Schließlich brauchen die Kinder sich nicht die Zeitung unter den Arm zu klemmen und zur Arbeit zu gehen.

 

R.H.: Ich denke an meine Stieftochter. Wenn sie aufgeregt ist, dann gibt es überhaupt keinen Zweifel: Sie ist aufgeregt, und zwar mit jeder Faser ihres Wesens. Bei dem, was du eben sagtest, dachte ich, daß Hingabe die Sache vielleicht genauso gut beschreibt, wie Erlaubnis.

 

M.P.: Ja, das ist das Tao. Nicht im Weg zu stehen.

 

R.H.: Ich finde es interessant, daß guter Kontakt, also eine vermittelte Begegnung, auch die Möglichkeit beinhaltet, daß man sich verliert oder verzettelt.

 

M.P.: Ja. Du bist bereit, es zu riskieren. Für diesen Moment spielt das gewohnte Gefühl von »wer, was wie, warum oder wann« einfach keine Rolle. Das andere zeigt sich dir auf direkte und offene Weise, egal ob es sich dabei um einen anderen Menschen, einen Sonnenuntergang, eine Musik, eine Idee oder eine Blume handelt.

 

R.H.: So wie du den Kontakt beschreibst, hat er eine enorme Fülle. Ich frage mich, wie oft ein normaler Durchschnittsmensch diese Art von Kontakt erlebt. Manchmal verpaßt man sicherlich einiges.

 

M.P.: Das sind Momente, z.B. wenn du nach Hause kommst und einen wunderbaren Geruch wahrnimmst - frischgebackenes Brot, Kaffee oder gebratenen Speck, oder einfach den Geruch von Zuhause. Jedes Haus hat seinen eigenen Geruch. Der Geruchssinn ist übrigens von allen Kontaktfunktionen die älteste oder ursprünglichste. Ich hatte bisher nur zwei oder drei therapeutische Situationen, in denen es um den Geruchssinn ging, und sie waren alle sehr einfach und sehr jung.

 

R.H.: Der Geruch eines Menschen hinterläßt einen äußerst starken Eindruck. Die Art von Kontakt, die du ansprichst, geht über den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen hinaus und betrifft auch den Kontakt zwischen Organismus und Umfeld - Körpergeruch, Musik, Kunstformen, Visuelles, solche Dinge.

M.P.: Ich glaube, Kontakt hängt davon ab, wie durchlässig wir sind, davon, ob wir für Eindrücke offen sind. Letztlich sind wir immer in Kontakt, aber einen hochwertigen, vollen Kontakt gibt es relativ selten.

 

R.H.: Erv und du habt in euren Büchern und Artikeln verschiedene Formen von Kontaktunterbrechungen, -störungen und -vermeidungen dargestellt. Es ist allgemein anerkannt, daß die Idee der Deflektion als einer Grenzstörung von euch beiden eingeführt wurde. Du hast geschrieben, daß es sich bei der Deflektion um eine echte und eigenständige Grenzstörung handelt, und nicht um eine Variante anderer Störungsarten, wie z.B. der Retroflektion.

 

M.P.: Es ist eine eigenständige Grenzstörung, aber sie kann auch als Komponente der Retroflektion auftreten.

 

R.H.: Eine der Erfahrungen, die ich mit Deflektion gemacht habe, steht im Zusammenhang mit einer neuen Therapiegruppe, deren Teilnehmer sich noch nicht kennen. Um diese Gruppe in Bewegung zu bringen, mußte ich mich mit allen möglichen Arten von Deflektion auseinandersetzen. Die Teilnehmer deflektierten von den Erfahrungen innerhalb der Gruppe. Ich denke da an ein Beispiel, wo beim dritten oder vierten Treffen ein Mann hereinkam, der einen ziemlich niedergeschlagenen Eindruck machte. Er sah deprimiert aus. »An diesem Wochenende sollte ich meine Kinder bei mir haben. Ich mußte sie zurückbringen«, sagte er. Daraufhin fragte die Gruppe: »Hast du Jungen oder Mädchen?« Sie achteten nicht darauf, daß es diesem Mann schlecht ging. Für sie war es sehr viel angenehmer, von seinem Gefühl zu deflektieren und darüber zu sprechen, wieviele Kinder er hat, wie alt sie sind usw. Ich glaube, das ist ein ganz gutes Beispiel. Ich würde nicht sagen, daß es sich dabei um Rückzug oder Retroflektion handelt.

 

M.P.: Ich auch nicht. Der Impuls geht nach außen, aber er verfehlt das Ziel; entweder er verfehlt die andere Person als Subjekt, oder er verfehlt den Kontakt auf andere Weise.

 

R.H.: Übrigens habe ich auch Joseph Zinker interviewt. Unter anderem haben wir darüber gesprochen, daß er die Kontakt-Rückzug-Sequenz auf eine Sinuskurve projiziert hat. Er sagt, daß du und Bill Warner diese Idee entwickelt habt. Er meinte, daß Bill und du bei einem informellen Gespräch die Idee ins Spiel gebracht, und er dann darüber geschrieben hat. Mir war nicht klar, ob du das wußtest.

 

M.P.: Es war mir aufgefallen. Aber ich hatte dieses Gespräch vergessen, das ist lange her.

 

R.H.: Ja, sehr lange.

 

M.P.: Das bringt mich auf einen weiteren Punkt, den ich interessant finde und für sehr wichtig halte. Ich glaube, daß wir in unserer Betonung des Kontakts manchmal die Tatsache außer Acht lassen, daß Rückzug sowohl unvermeidlich als auch notwendig ist. Wenn wir den Kontakt einmal auf seine physiologische Basis reduzieren, dann gibt es eine organische Parallele in der Refraktärzeit der Nervenzelle, also der Zeit, während der die Zelle nicht in der Lage ist, auf Reize zu reagieren. Ab einem bestimmten Punkt reagiert sie einfach nicht mehr. Wenn man so will, ist sie in ihrer Reaktionsfähigkeit geschwächt. Ich glaube, daß wir manchmal den Kontakt betonen, ohne uns der Notwendigkeit des Rückzugs hinreichend bewußt zu sein. In Das Ich, der Hunger und die Aggression gebraucht Perls das Bild einer flachen, neutralen Ebene mit einer Position oberhalb und einer unterhalb dieser Ebene. Diese einander gegenüberliegenden Punkte definieren sich gegenseitig, während der Punkt dazwischen den Ausgangspunkt darstellt. Rückzug könnte die Zuwendung zu diesem neutralen Punkt bedeuten. Vielleicht ist das nicht genügend berücksichtigt worden.

 

R.H.: Ich stimme dir zu. Mir scheint, daß die interessante Frage in der Therapie lautet: wann zieht sich der Klient zurück, und von was? Und manchmal auch: wie lange bleibt er da?

 

M.P.: Ja, und wie macht er das?

 

R.H.: Und ist er bereit, zurückzukommen?

M.P.: Ich erinnere mich an einen Workshop mit Fritz; das ist viele Jahre her. Er bat uns, unsere Augen zu schließen, in der Phantasie an einen Ort unserer Wahl zu gehen, dann wieder zurückzukommen und zu beschreiben, wohin wir gegangen waren. Er machte das, um herauszufinden, was uns unter den gegebenen Umständen fehlte. Was gab es dort, das wir hier brauchten oder das uns fehlte? Er benutzte den Rückzug, um einige der Elemente ausfindig zu machen, die einem guten Kontakt in der Gegenwart im Wege stehen konnten.

 

R.H.: Wenn ich das tue und mich in die Phantasie einer sexuellen Erfahrung zurückziehe, könnte es das sein, was mir in meiner laufenden Erfahrung fehlt. Oder es ist eine bestimmte Aktivität, wie Sport, Tanzen oder was auch immer; in jedem Fall kann diese Phantasie eine wichtige Botschaft für mich enthalten.

 

M.P.: Ja, das stimmt. Es könnte auch etwas darüber aussagen, was du im Augenblick für verboten hältst, und das kann dann entweder tatsächlich so sein, oder auch nicht. Wovon bist du hier ausgegangen, ohne dich zu vergewissern? Auf welche Weise bist du konfluent mit etwas, das vielleicht gar nicht stimmt? Wie erreichen die Teilnehmer einer Gruppe diese Konfluenz, wenn sie glauben, daß sie sich nicht umschauen sollten, um zu sehen, wen sie sexuell attraktiv finden?

 

R.H.: Da fällt mir eine kurze Arbeit ein, die du mit einer Teilnehmerin auf dem Workshop in St. Pete gemacht hast. Diese Frau hatte Schwierigkeiten zu sehen, was sie hatte oder haben konnte. Sie wollte immer etwas, das unerreichbar war. Sie schien wie besessen von dem Gedanken: »Ich will dies und das, und ich kann es nicht bekommen.« Sie übersah einfach die ganze Fülle ihrer Möglichkeiten.

 

M.P.: Ja, genau. Ich bin mir nicht sicher, was das mit Rückzug zu tun hat, aber es könnte gut sein, daß wenn sie sich ein paar Momente des Rückzugs gegönnt hätte, sie ihre tatsächlichen Möglichkeiten etwas klarer gesehen hätte.

 

R.H.: Was ich dazu dachte war, daß wenn sie sich selbst erlauben würde, sich zurückzuziehen, ihr vielleicht bewußt würde, daß sie die meiste Zeit in ihrer Phantasie verbringt und darüber nachdenkt, was ihr fehlt. Das scheint mir etwas anderes zu sein als der Rückzug in die fruchtbaren Möglichkeiten dessen, was da sein könnte.

 

M.P.: Ja, das verstehe ich. Wir haben den Rückzug noch nicht genügend erforscht.

 

R.H.: Auf diesem Workshop hast du noch etwas anderes angesprochen, das ich dich bitten möchte, ein bißchen auszuführen. Ich glaube, die Arbeit hatte mit der Vorstellung von den eigenen Introjekten zu tun; es ging um eine klassische Introjekt-Situation. Im Anschluß an deine Arbeit meinte jemand, du hättest dem Klienten ein neues Introjekt gegeben, und deine Antwort war, daß es manchmal sehr hilfreich sein könnte, ein negatives Introjekt durch ein positives zu ersetzen. Könntest du etwas mehr dazu sagen?

 

M.P.: Ja. Ich glaube, daß es für Therapeuten sehr wichtig ist, das zu verstehen. Die Objektbeziehungstheoretiker kennen etwas, das sie als Übergangsobjekt bezeichnen. In einem gewissen Sinne spreche ich von so einem Übergangsobjekt. Wenn man so will, verhält es sich damit ähnlich wie mit dem Heilungsprozeß bei jemandem, der Probleme mit der Verdauung hat und zeitweise eine Diät einhalten muß. Es geht nicht darum, daß er für den Rest seines Lebens auf Diät bleiben und nur noch weiche oder sehr milde Nahrung zu sich nehmen soll. Aber an einem bestimmten Punkt ist es genau das, was er braucht, um wieder gesund zu werden. Die Metapher ist insofern sehr zutreffend, als ein Introjekt etwas ist, das ein Mensch (oder eine Gesellschaft) einem anderen einflößt, der es dann schluckt. Ein mildes Introjekt kann einem harten und lähmenden entgegenwirken oder es zeitweise ersetzen. Es hat eher eine unterstützende als eine zerstörende Funktion. Letztlich muß der Therapeut jedoch sehen, daß der Klient auch darüber hinauswächst. Bei manchen Klienten ersetzt du das lähmende Introjekt zunächst durch ein milderes, und wenn der Klient dann bereit ist, über das introjektive Handeln hinauszugehen, kannst du ihn einladen, ihn daran erinnern oder ihm zeigen, wie er Fragen stellen, differenzieren oder einfach einen Augenblick warten kann, bevor er das annimmt, was du ihm anbietest.

Ideal wäre es natürlich, wenn dem Klienten einfach einmal gesagt worden wäre, daß er nicht alles glauben oder richtig finden muß, was der Therapeut erzählt, aber leider sind unsere Klienten nicht schon geheilt, wenn sie zur Therapie kommen. Man kann das Übergangsobjekt damit vergleichen, daß man in einem Auto sitzt, das ins Schleudern geraten ist. Man kontrolliert das Schleudern, indem man die Räder in die Richtung lenkt, in die das Auto sich bewegt; dadurch gewinnt man die Kontrolle zurück und kann wieder die ursprüngliche Richtung einschlagen.

 

R.H.: Aus meiner Sicht paßt das insofern zu deinen Vorstellungen von Unterstützung, als das positive oder milde Introjekt den Klienten unterstützt, während er fortfährt, sich selbst zu entdecken; und es gibt ihm Gelegenheit, neues Verhalten auszuprobieren. Dadurch kann er zu etwas übergehen, das die Selbstunterstützung verstärkt.

 

M.P.: Ja, der Klient nimmt ein exploratorisches Introjekt an. Der Therapeut sagt: »Ist das nicht interessant?«, anstatt »Das ist nicht das, was ich wollte. Tun Sie das nicht noch einmal.« Und dann forscht er nacR.H.: Wie fühlt sich das an? Was fällt Ihnen auf? Was haben Sie als nächstes vor? Wir wecken das Interesse der Leute an neuem Verhalten, nicht an stereotypen Verhaltensmustern.

 

R.H.: So, wie du deine Therapie und andere Dinge beschreibst, klingt es, als ob du davon ausgehst, daß der Klient dieses neue Verhalten auch außerhalb der Therapie ausprobiert. Im Laufe der weiteren Arbeit kannst du dich danach erkundigen und vom Klienten ein Feedback bekommen.

 

M.P.: Ja, natürlich. Ich meine, ist das nicht die implizite Hoffnung in der Therapie? Letztlich wird doch das, was wir in dieser künstlichen therapeutischen Situation tun, ganz woanders gebraucht und umgesetzt. Isadore From meinte einmal, Therapie sei das Zweitbeste, es komme direkt nach dem wirklichen Leben.

 

R.H.: Ich bin sicher, daß die Klienten diese Hoffnung haben.

 

M.P.: Seriöse Therapeuten aber auch.

 

R.H.: Wahrscheinlich würden die Klienten ansonsten kaum bei uns bleiben.

 

M.P.: Ja, das stimmt, aber hast du nicht auch Klienten gehabt, die in der Therapie wunderbare Dinge tun? Für gewöhnlich sind das die erfahrenen Klienten, allerdings auch die verführerischen. In der Therapie tun sie wunderbare Dinge, und irgendwann bemerkst du dann, daß sich nichts verändert. Sie machen ständig die tollsten Entdeckungen und Durchbrüche, aber immer nur innerhalb der therapeutischen Situation. Sobald sie aus der Tür sind, scheint nicht mehr viel zu passieren. Mit anderen Worten: sie kommen nie wirklich in die Akkomodationsphase, sie bleiben beim Entdecken stehen.

 

R.H.: Ja, sie bewegen sich ständig in der Entdeckungsphase.

 

M.P.: Und dann ist es Zeit, ihnen eine Hausaufgabe zu geben, um den Einsatz zu erhöhen.

 

R.H.: Diese Erfahrung habe ich in meiner Ausbildung auch gemacht. Ich war jeweils einen Monat lang dort. Danach hatte ich elf Monate Zeit, um zu integrieren und zu assimilieren. Ich glaube, manche Menschen werden süchtig nach der Entdeckungsphase. Kann man etwas tun, um solchen Klienten zu helfen, über die Entdeckungsphase hinauszukommen?

 

M.P.: Ja, ich glaube das müssen wir. An diesem Punkt kommt das Experimentieren mit Hausaufgaben ins Spiel.

R.H.: Zum Beispiel hast du der Klientin, die du vorhin erwähnt hast, geholfen zu unterscheiden, bei welchen Menschen in ihrem Leben sie genügend Sicherheit hat, um ihre neuen Möglichkeiten auszuprobieren.

 

M.P.: Es kann auch etwas anderes sein. Ich erinnere mich, daß ich einmal mit einem Mann gearbeitet habe, der Schwierigkeiten mit einem adoptierten Kind hatte. Er hatte ein Mädchen, das mit ungefähr neun Jahren in die Familie gekommen war. Sie hatte bereits in mehreren Pflegefamilien gelebt, und einige der Schwierigkeiten, die sie mitbrachte, liegen auf der Hand. Ihr Adoptivvater rühmte sich seiner Fähigkeit, die Menschen zu lieben, und er hatte recht. Er war ein sehr liebender und großzügiger, aufgeschlossener Mann, aber er hatte Schwierigkeiten, dieses Mädchen zu lieben. Sie war nicht liebenswert. Sie tat nichts, woran er Gefallen finden konnte und tat sogar Dinge, die er schlichtweg nicht ertragen konnte. Er war verzweifelt, denn das war ein enormer Widerspruch zu allem, was er sonst über sich selbst dachte und glaubte. Wir sprachen darüber, und er fing an, wieder ein bißchen mehr Vertrauen zu seiner eigenen Liebesfähigkeit zu entwickeln. Ich gab ihm eine Hausaufgabe. Jeden Abend sollte er ihr etwas über seinen Tag erzählen, und es mußte etwas sein, das er sonst niemandem erzählte. Es mußte nichts Großes sein, vielleicht nur, daß er zu Mittag ein Schinkenbrot gegessen hatte, aber niemand sonst sollte es wissen. Er sollte nicht erwarten, daß sie irgendwie darauf reagieren würde, es ging einzig und allein um seine Erfahrung und sein Erleben. Das führte dazu, daß der aggressive Charakter ihrer Beziehung aufweichte - dieses kleine bißchen an Information reichte schon. Ein anderes Mal stellte ich ihm die Aufgabe, jeden Tag eine Möglichkeit zu finden, wie er sie beiläufig berühren konnte - am Kopf, an der Schulter, ganz einfach, nur so im Vorbeigehen. Er fing an, sich anders zu fühlen. Eine solche Situation erfordert unendliche Geduld, denn man macht nur sehr kleine Fortschritte. Sobald er sich als liebender Mensch fühlte, hatte er diese Geduld, aber wenn er das Gefühl hatte, nicht lieben zu können, war er entmutigt.

 

R.H.: Ich bin selbst Stiefvater. Wenn ich darauf bestünde, daß meine Stieftochter mich liebt oder daß ich sie liebe, bekämen wir arge Schwierigkeiten. Ich habe festgestellt, daß wir auch ohne den Anspruch, daß sie mir gegenüber dieselben Gefühle haben muß, die sie wahrscheinlich für ihren leiblichen Vater empfinden würde, eine ganz gute Beziehung haben können. Ich empfinde das als Entlastung.

 

M.P.: Ein Freund von uns hat etwas ähnliches über seine Gefühle gegenüber seiner Frau erzählt. Die beiden haben relativ spät geheiratet, nachdem der frühere Partner des einen gestorben war und der andere eine unglückliche Scheidung hinter sich hatte. Sie trafen sich und heirateten. Damals waren sie etwas mehr als ein Jahr miteinander verheiratet. Der Mann sagte, er liebe seine zweite Frau jetzt, aber er sei nicht in sie »verliebt.« Er meinte, das würde ein paar Jahre dauern. Ich finde, das ist ein Knüller. »Verliebt« zu sein - das ist wie ein völliges Aufgeben jeglicher Abwehr, wobei man den Reflex zur Vorsicht verliert.

 

R.H.: Wir sprachen über Hausaufgaben. Mancheiner bringt das nicht unbedingt mit Gestalttherapie in Verbindung. Einige Leute, die uns nicht besonders gut verstehen, denken, daß wir vor allem an der - ich mag den Ausdruck nicht, aber er wird immer noch benutzt - »Hier-und-jetzt-Erfahrung« interessiert seien. Demnach müßten Hausaufgaben uns eher fremd sein. Wenn ich mit Kollegen spreche, habe ich den Eindruck, daß wir auf die eine oder andere Art fast alle mit Hausaufgaben arbeiten.

 

M.P.: Ja, ich glaube, daß man all die Dinge, die wir als Teil der Gestaltmethodologie beschreiben, entweder benutzen kann oder nicht. Ich bin davon überzeugt, daß es eine ganze Reihe Gestalttherapeuten gibt, die exzellente Arbeit leisten und nie von der Möglichkeit der Hausaufgaben Gebrauch machen.

 

R.H.: Ich hatte Klienten, die zu mir sagten: »Das ist wunderbar, Bob, ich kann das hier mit dir machen, aber außerhalb der Therapie gelingt es mir nicht.« Natürlich habe ich dann darauf geachtet, wie sie sich selbst daran hinderten, es auch außerhalb der Therapiesietzungen umzusetzen; oder ich schlug ihnen vor, sich jemanden zu suchen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit mir hat, so daß sie etwas lernen oder übertragen konnten.

 

M.P.: Ja, genau. Es ist ein bißchen so, wie wenn ein Klient sich in uns verliebt. Für einige mag das die erste gute Wahl sein, die sie in ihrem Leben getroffen haben. Vielleicht haben sie vorher Menschen geliebt, die nicht zu ihnen paßten, und jetzt kommen sie in eine Situation, in der sie mit jemandem ehrlich über intime Dinge sprechen können und wo ihnen Zeit und Respekt entgegengebracht wird. Das sind Elemente, die für die Liebe sehr wesentlich sind. Also verlieben sich manche Klienten natürlich in ihre Therapeuten. Es ist an der Zeit, daß sie lernen, was Liebe bedeutet oder wie sie sich anfühlen kann. Der nächste Schritt ist dann, daß sie einen geeigneten Partner finden, den sie wirklich lieben können und der auch sie so lieben kann, wie sie es verdienen.

 

R.H.: Ja, das sehe ich genauso, vor allem in der Arbeit mit Klienten, die unglücklich verheiratet sind. Ich muß mich selbst warnen, und manchmal auch die Klientin. Ich biete ihr die Art von Beziehung, die sie nicht hat, aber vielleicht gerne hätte. Ich schenke ihr Aufmerksamkeit. Ich höre ihr zu. Ich gehe vorsichtig mit ihr um und vielleicht sogar liebevoll. Da besteht die Gefahr, daß ich dieser Klientin helfe, ihre Beziehung aufzugeben.

 

M.P.: Entweder das, oder aber sie nimmt es als Information. Vielleicht geht sie nach Hause und versucht, ein ähnliches Gespräch mit ihrem Partner zu führen. Vielleicht versucht sie sogar, wenn sie kann, das Gespräch zu initiieren, anstatt nur darauf zu warten, daß es sich ergibt. Man kann nie wissen.

 

R.H.: Das stimmt, man kann nie wissen. Wenn ich nach Hause gehe und mich meiner Frau gegenüber anders verhalte, wird sie auch irgendwie anders auf mich reagieren.

 

M.P.: Ja. Habe ich dir schon mal erzählt, wie ich an meinen Kindern die klientenzentrierte Gesprächstherapie nach Rogers ausprobiert habe? Das war am Anfang meines Studiums, und ich schwöre, ich war völlig unerfahren. Ich ging nach Hause und war fest entschlossen, es mit ihnen auszuprobieren. Es schien recht einfach zu sein. Ich dachte sogar, daß ich mich ziemlich geschickt anstellte, bis unser Sohn Adam, der damals höchstens acht war, ein paar Minuten, nachdem unsere Sitzung - ich meine, unser Gespräch - begonnen hatte, meinte: »Mom, warum sagst du mir alles nach, was ich dir erzähle?«

 

R.H.: Das gehört zu den schönen Seiten am Leben mit Kindern, man studiert - zumindest was uns betrifft; wir kommen nach Hause und probieren alles aus. Ich glaube, meine Kinder haben mehr Stanford-Binets und Wechsler-Tests mitgemacht als jeder andere in der Bevölkerung. Während der Testkurse wurden Greg und Tim von sämtlichen Studenten getestet mit denen wir befreundet waren.

 

M.P.: Sarah hat, glaube ich, einen Stanford-Binet mitgemacht. Für mehr hat sie sich nicht hergegeben.

 

R.H.: Ich möchte dich bitten, einen Augenblick darüber nachzudenken, was außer dem, worüber wir schon gesprochen haben, der Theorie der Gestalttherapie aus deiner Sicht fehlt. Was müßte die Theorie aufweisen, um umfassender zu werden?

 

M.P.: Ich denke, wir brauchen eine Entwicklungstheorie. Wir müssen die Entwicklungsbedingungen dessen einschätzen können, was ich als selbstregulative Aktivität an der Kontaktgrenze bezeichne.

 

R.H.: Das, was andere Störungen nennen würden?

 

M.P.: Ja, andere sprechen von Störungen an der Kontaktgrenze. Ich bin nicht der Ansicht, daß es sich dabei bloß um Störungen handelt. Ich denke, wenn wir über den einzelnen sprechen (im Gegensatz zu seinem Umfeld), sind es selbstregulative Handlungen. Perls, Hefferline und Goodman sprechen von der »neurotischen Selbstregulation.« Demnach könnte man auch von funktionaler Selbstregulation sprechen. Ich glaube, daß dieses selbstregulative Handeln als der Entwicklung dienlich und repräsentativ betrachtet werden kann. Konfluenz z.B. ist zweifellos eine in utero Funktion. Introjektion ist offensichtlich eine Funktion des Neugeborenen. Wir könnten die Funktion dieser Aktivitäten beschreiben und zum Verhalten Erwachsener in Beziehung setzen. Das erwachsene Bedürfnis nach Konfluenz z.B. wäre dann mehr als nur der Instinkt, zurück ins Paradies zu wollen. Der Bauch der Mutter war schließlich nicht einfach nur himmlisch. Irgendwann mußte der Fötus da hinauswachsen und ihn verlassen - oder sterben.

Die Psychoanalyse basiert im wesentlichen auf drei Säulen: der Entwicklungstheorie, der Theorie der Persönlichkeitsstruktur und der Therapietheorie. Meines Erachtens ist die Entwicklungstheorie die stärkste dieser Säulen, und selbst diese weist einige Mängel auf. Meine Schwierigkeit mit der Freudschen Theorie (und da bin ich nicht die einzige) ist, daß seine Entwicklungstheorie, so schön sie auch sein mag, im wesentlichen nicht überprüfbar ist. Es ist also lediglich eine Theorie, nicht die einzige, und sicherlich auch keine für die Ewigkeit. Ein weiterer Nachteil ist, daß sie dem tatsächlichen körperlichen Erleben nicht genügend Respekt zollt. Sie skizziert das Muster der autoerotischen Reifung, aber erst Reich hat diesen Aspekt verstärkt und beschrieben, wie der Körper die persönliche Geschichte und die Traumata in den Muskeln, der Haltung und dem Atem speichert.

Unser Nachteil ist unser Mangel an einer Entwicklungstheorie. Und solange wir keine solche Theorie formulieren können, die mit der Theorie der Gestalttherapie übereinstimmt, wird man uns nicht so ernstnehmen, wie wir uns das wünschen. Diese Richtung hat nichts Ketzerisches. Sieh dir die neueren Ergänzungen der Freudschen Theorie an, das sind Verfeinerungen seiner z.T. recht groben und unvollständigen Überlegungen. Wir brauchen diese Art von Fruchtbarkeit.

R.H.: Kennst du jemanden in der Gestaltszene, der so etwas macht?

 

M.P.: Nein, ich kenne niemanden. Ich hoffe, daß jemand darüber nachdenkt. Ich denke an Violet Oaklander; sie arbeitet mit Kindern. Vielleicht sind wir an einem ähnlichen Punkt angekommen wie Eriksen, als er die Freudsche Theorie überarbeitete. Er fand heraus, daß Freud genau da aufhörte, wo es anfing interessant zu werden, nämlich bei der Phase des jungen Erwachsenen. Also entwickelte Eriksen weitere Phasen und beschrieb sie unter entwicklungstheoretischen Gesichtspunkten. Auch Jung mußte Freud um die Motivation des alternden Erwachsenen erweitern.

Das ist ein Defizit innerhalb der Theorie der Gestalttherapie. Es kann sein, daß Fritz, als er seine Überlegungen formulierte, die Freudsche Entwicklungstheorie für damalige Verhältnisse so vollständig vorkam, daß er kein Bedürfnis oder Interesse hatte, sie weiterzuentwickeln. Ich glaube, er hatte ohnehin kein sehr ausgeprägtes Interesse an Kindern, aber inzwischen sind wir mit der Lerntheorie ein ganzes Stück weiter. Ich bin nach wie vor nicht der Ansicht, daß die Psychotherapietheorie (abgesehen von den strikt behavioristischen Modellen) das psychologische Wissen über Lernprozesse ausreichend berücksichtigt. Piaget hat viel zu unserem Wissen über die kognitive Entwicklung von Kindern beigetragen. Die Gestaltpsychologen hatten eine umfassende Theorie des Lernens, die Instinkt und Erfahrung miteinander verband.

 

R.H.: Ich glaube, daß Norman Shub aus Columbus angefangen hat, eine Gestalt-Entwicklungstheorie zu erarbeiten. Aber mir ist nicht bekannt, daß er etwas davon publiziert hätte.

 

M.P.: Er arbeitet in Dayton, nicht wahr?

 

R.H.: Vor ein paar Jahren hat er auf der Gestalt-Konferenz einen Vortrag gehalten; seit dem habe ich nichts mehr gehört. Zumindest hat er darüber nachgedacht.

M.P.: Wenn wir das nicht tun, machen wir es den Leuten zu leicht, Gestalttherapie lediglich als Konglomerat von Techniken zu betrachten.

 

R.H.: Du denkst in eine Richtung, die über die Ideen in Das Ich, der Hunger und die Aggression hinausgeht. Dinge wie orale Fixierungen? In der Art?

 

M.P.: Natürlich, das ist ein Anfang. Aber es gibt noch sehr viel mehr zu tun. Und vor allem in Verbindung mit anderen Quellen wie etwa den Gestaltpsychologen oder Piaget ...

 

R.H.: Es wäre gut, eine solche Theorie zu haben. Vielleicht ist das etwas, worüber Miriam Polster schreiben könnte.

 

M.P.: Nein, nein. Zumindest noch nicht. Nicht bevor ich das, woran ich arbeite, zu Ende gebracht habe.

 

R.H.: Gut, das ist noch ein anderes Thema. Wie kommst du damit voran?

 

M.P.: Ich komme voran. Inzwischen habe ich den ersten Entwurf fertig und sehe ihn durch. Die Überarbeitung ist sehr viel schwieriger als der erste Entwurf. Beim ersten Entwurf setzt du dich hin und schreibst einfach auf, was immer dir einfällt. Dann liest du es und denkst: »Oh Gott!«, oder »Was um Himmels willen habe ich damit gemeint?«

 

R.H.: Neulich habe ich mein Manuskript über Gestalt-Gruppentherapie noch einmal gelesen. Ich las einen Absatz und dachte: das kann nicht sein. Ich nahm das Original, und da stand es, genau so - in allen vier Versionen dasselbe, nachdem ich es schon vier oder fünfmal gelesen hatte. Es ergibt keinen Sinn, es paßt einfach nicht. Jetzt weiß ich es.

 

M.P.: Es gibt noch andere einsame Momente, wenn du auf etwas stößt und du denkst: »Oh, das ist gut.« Und manchmal begegnet dir etwas, das du ganz toll findest (so toll, daß du denkst, jemand anderes hätte es geschrieben), und du merkst, daß es nicht paßt. Weg damit - das tut weh!

 

R.H.: Ich möchte dich bitten, etwas mehr darüber zu sagen, warum du von »selbstregulatorischen Mechanismen« sprichst, und nicht, wie viele andere, von »Grenzstörungen«. Könntest du das näher ausführen?

 

M.P.: Nun, einfach deshalb, weil ich glaube, daß jede dieser Verhaltensweisen als völlig natürlich und funktional definiert werden kann. Du hast bestimmt erlebt, daß deine Kinder, als sie klein waren und hohes Fieber bekamen, ganz benommen waren. Sie regulieren den Kontakt, indem sie ihn reduzieren, und wenn man will, kann man das natürlich als Störung betrachten. Aber es handelt sich dabei um einen natürlichen Prozeß, um eine gesunde Reaktion auf einen Zustand, der ansonsten unerträglich und zu schmerzvoll für sie gewesen wäre; eine simple tierische Reaktion auf eine überwältigende Erfahrung. Ich glaube, daß jede dieser selbstregulatorischen Aktivitäten unter bestimmten Umständen und als Reaktion auf entwicklungsbedingte Notwendigkeiten funktional und wachstumsfördernd ist.

Manchmal lernt man durch einfache Introjektion. Die Gestaltpsychologen, die Lerntheoretiker, waren der Ansicht, daß Imitation eine bedeutende Art des Lernens darstellt. Man erfindet das Rad nicht immer wieder neu. Im Gegenteil: man kann etwas anderes nur deshalb erfinden, weil das Rad bereits erfunden wurde. Also erfindet der nächste Erfinder ineinandergreifende Zahnräder und macht dabei einerseits vom Prinzip des Rades Gebrauch, geht aber andererseits darüber hinaus. Hier zeigt sich Introjektion als Grundlage der Kreativität.

 

R.H.: Ich weiß nicht mehr, ob du in eurem Buch von Störungen sprichst, oder nicht. Ich erinnere mich an ein Kapitel, das mit »Der Umgang mit dem Widerstand« überschrieben ist.

M.P.: Ja, ich glaube, das ist es.

 

R.H.: Ist das für dich eine neue Posititon, oder eine, in die du hineingewachsen bist?

 

M.P.: Ja, sie ist neu, und wir sind da hineingewachsen, aber sie ist ein Teil der Theorie der Gestalttherapie. Wir gehen davon aus, daß jeder Mensch so viel von sich selbst in den Moment der Begegnung mit einbringt, wie er kann. Er versucht nicht, Widerstand zu leisten, sondern so präsent zu sein, wie es ihm unter den gegebenen Umständen möglich ist.

 

R.H.: Heißt das, diese selbstregulatorischen Aktivitäten bestimmen die Kontaktnahme, also die Frage, ob wir in der Lage sind, uns auf eine dieser unvermittelten Begegnungen einzulassen oder nicht?

 

M.P.: Ja. Siehst du, wenn wir über die Kontaktgrenze sprechen, und insbesondere über die Ich-Grenzen, dann meinen wir damit das individuelle Spektrum der möglichen Erfahrung. Das Gleichgewicht verschiebt sich mit den Veränderungen, die entweder beim einzelnen oder innerhalb seines Umfeldes auftauchen. Es gibt Momente, in denen das Umfeld zu überwältigend ist und weder abgewehrt noch assimilierbar gemacht werden kann. Ein ungeheuer lautes Geräusch z.B. verzerrt das Gleichgewicht zwischen dem, der es hört und dem Umfeld, aus dem der schädigende Einfluß kommt. Sich die Ohren zuzuhalten ist eine gesunde, selbstregualtorische Reaktion, die langfristig den Erhalt eines guten Kontakts ermöglicht. Wenn ich mich nicht vor diesem lauten Geräusch schütze, kann das meine Fähigkeit, guten Kontakt herzustellen jetzt oder später ernsthaft beeinträchtigen.

Wiederum M.P.: Ein solches Verhalten als Störung zu bezeichnen wäre reduktionistisch. Das ist natürlich nur ein einfaches, physiologisches Beispiel, aber ein Prinzip muß auch auf einfache Beispiele anwendbar sein.

 

R.H.: So wie du es beschreibst, fällt es mir leicht, das als gesunde Selbstregulation zu verstehen. Andererseits gibt es auch diese Art, ständig zu retroflektieren oder zu deflektieren. Das als Selbstregulation zu betrachten, fällt mir hingegen nicht ganz leicht.

 

M.P.: Natürlich, aber das ist es, was Perls, Hefferline und Goodman als »neurotische Selbstregulation« bezeichnet haben. Und das stimmt. Wir beide würden sagen: »Aha, das funktioniert also nicht.« Zum einen fehlt die Erfahrung des Wählenkönnens. Wenn jemand in seinem Leben nie die Erfahrung macht, wählen zu können, ist das in der Regel eine neurotische Erfahrung: festgelegt, rigide, unflexibel und vorprogrammiert, verstehst du? Das bedeutet »neurotische Selbstregulation«.

 

R.H.: Aber aus deiner Sicht ist es immer noch das Beste, was derjenige im Augenblick tun kann, nicht wahr?

 

M.P.: Wenn man von seinem Erleben ausgeht?

 

R.H.: Ja.

 

M.P.: Ein Erleben, das auch veraltet, unzeitgemäß oder unverbunden sein kann?

R.H.: Ja, das macht es noch klarer. Glaubst du, daß in unserer Darstellung der Gestalttherapie außer der Entwicklungstheorie noch andere Ideen oder Konzepte fehlen?

 

M.P.: Etwas, das nicht eigentlich fehlt, aber meines Erachtens sehr viel klarer herausgestellt werden müßte, ist die Bedeutung des Verhältnisses zwischen Theorie und Technik in der Gestalttherapie. Mir scheint, daß wir nicht ausreichend deutlich machen, in welchem Verhältnis unsere Technik zur Theorie steht bzw. wie sie daraus hervorgeht. Das gilt natürlich nicht für unsere eigentliche Arbeit mit den Klienten, sondern für unsere theoretische Auseinandersetzung. Zum Beispiel glaube ich, daß Fritz Perls vieles tat, ohne jemals darüber zu reden, oder er tat etwas, wovon er gleichzeitig behauptete, es nie zu tun. Er sagte »Dies und das tue ich nie«, und dann liest man ein Transkript - und er macht es.

R.H.: »Ich interpretiere nie.«

 

M.P.: Ja, genau. Am Ende einer Sitzung, in der es um Träume ging, sagt Fritz Perls: »Siehst du, du brauchst keine Erlaubnis um kreativ zu sein.« Was sollte das sein, wenn nicht eine Interpretation? Eine freie Assoziation? Laura ist dagegen äußerst beredt und auf brilliante Weise explizit.

 

R.H.: Mir scheint, daß eine der Schwierigkeiten, mit denen Gestalttherapeuten zu tun haben, darin besteht, daß die Technik so dramatisch ist, daß die Leute glauben, es komme nur auf die Technik an.

 

M.P.: Ja, sie verstehen den Begründungszusammenhang nicht, der im übrigen ein sehr eleganter ist und sich von den Anforderungen Freuds deutlich unterscheidet.

 

R.H.: Ganz anders als zu Zeiten von Perls?

 

M.P.: Ja, das stimmt.

 

R.H.: Die rebellischen und anti-intellektuellen Zeiten, in denen sich die Gestalttherapie während der sechziger und siebziger Jahre entwickelte, sind vorbei.

 

M.P.: Genau, das ist ein wichtiger Punkt. Das heißt, auf der einen Seite steht Freud, der seiner Zeit entsprechend die Rationalität hervorhob. Auf der anderen Seite steht Perls zusammen mit den Phänomenologen und Existentialisten, die darauf hingewiesen haben, daß der Verstand eine subjektive Erfahrung ist und über Macht und Ohnmacht reflektierten. Und heute haben wir es mit einer Generation zu tun, die sich um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Macht und Ohnmacht bemüht. Diese Generation beschäftigt sich mit Protest, Petitionen und Streiks.

 

R.H.: Ich finde es ermutigend zu sehen, daß die Gestalttherapie sich weiterentwickelt, daß sie sich verändert und wächst. Ich glaube, daß diejenigen, die sich lediglich der Techniken bedienen, nur daran interessiert sind, was gerade en vogue ist. Neulich habe ich mit jemandem darüber gesprochen wie lange es her ist, daß ein Klient gesagt hätte: »Ich möchte einfach bewußter leben und als ganze Person wachsen.«

 

M.P.: Ja, aber die Leute kommen auch mit ihren konkreten Problemen. Ich meine, Freud lebte in einer repressiven Gesellschaft, und dementsprechend kamen seine Klienten mit Leiden, die aus der Repression resultierten. Wir dagegen leben in einer Gesellschaft, von der man fast behaupten könnte, sie litte an einem Mangel an Repression. Wir haben es mit einem Gefühl der Grenzenlosigkeit zu tun, und vielleicht ist es das, was man mit dem Begriff der Borderlinepersönlichkeit zu umschreiben versucht. Das Gefühl, daß es keine unzulässigen Gedanken und vielleicht sogar keine unzulässigen Handlungen gebe. Die Menschen kämpfen mit der Schwierigkeit, sich auf einander zu beziehen, ja selbst andere zu finden, auf die sie sich beziehen könnten. Sie leiden an einem Mangel an tiefen Verbindungen. Sie wissen weder, wie sie sich mit anderen verbinden können, noch mit wem. Nur sehr selten kommt jemand mit einem nervösen Tick - wie zu Freuds Zeiten. Vielleicht stellt sich während der Therapie heraus, daß der eine oder andere Klient einen Tick hat, aber der Grund, warum die meisten zur Therapie kommen, liegt in irgendwelchen praktischen Problemen, für deren Lösung sie therapeutische Hilfe suchen.

Ich halte das für einen großen Fortschritt. Es handelt sich dabei nicht bloß um eine nette Übung zum Selbstgewahrsein. Die Therapie wird als praktische und nützliche Ressource betrachtet. Ein weiterer Aspekt von Therapie, der mich interessiert (und ich bin sicher, daß du diese Erfahrung auch gemacht hast), ist der, daß Leute, die sich auf eine Beziehung einlassen wollen, ihren Partner mitbringen. Das heißt, sie stellen den Partner nicht ihren Eltern vor, sondern ihrem Therapeuten! Ich weiß nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll.

 

R.H.: Ja, an der Universität ist mir das schon häufiger begegnet. Die Klienten bringen jemanden mit und sagen: »Wir sind jetzt zusammen« oder »Wir überlegen, ob wir zusammenleben wollen.«

M.P.: Ja, genau. Erst neulich bat mich jemand, seine geschiedene Partnerin zu sehen. Die beiden waren schon seit Jahren geschieden. Es ging nicht um eine Aussöhnung oder so etwas; die frühere Partnerin hatte Probleme, und dieser Mann wollte ihr helfen.

 

R.H.: Gibt es etwas, worüber wir noch nicht gesprochen haben und das noch interessant wäre? Es gibt natürlich noch einiges, aber ich meine speziell in diesem Zusammenhang. Was beschäftigt dich gerade? Fällt dir etwas ein, das wir noch nicht angesprochen haben und das für die Theorie von Bedeutung sein könnte?

 

M.P.: Mich beschäftigt noch etwas, worüber wir im Zusammenhang mit Hausaufgaben nur andeutungsweise gesprochen haben. Ich habe gesagt, daß ich mir einen hervorragenden Gestalttherapeuten vorstellen kann, der niemals jemanden auffordern würde, Hausaufgaben zu machen. Die Gefahr, die ich sehe, wenn man die Technik mit der Theorie verwechselt, besteht darin, daß wir die Bandbreite der möglichen Interventionen sehr unterschiedlich arbeitender Gestalttherapeuten eingrenzen. Wir müssen unsere theoretischen Grundaussagen definieren. Zum Beispiel könnten wir sagen, daß ein wichtiges Kriterium, das unsere Arbeit als Gestalttherapeuten von anderen Ansätzen unterscheidet, darin besteht, daß wir die Qualität von Kontakt und Gewahrsein betonen, und zwar unabhängig davon, welche Techniken wir verwenden. Unsere Grundaussage lautet, daß Gewahrsein und Kontakt wichtige Komponenten des Wachstums darstellen, die sich in der Wechselwirkung zwischen dem Individuum und seiner Umgebung zeigen.

Ich glaube, daß die Gestalttherapie unter sämtlichen mir bekannten Psychotherapietheorien das größte Repertoire an Interventionstechniken aufweist. Vielleicht rührt die Unsicherheit darüber, was einen Gestalttherapeuten eigentlich ausmacht, aus der großen Vielfalt seiner Möglichkeiten. Das Klischee besagt, daß ein Gestalttherapeut jemand ist, der mit dem leeren Stuhl arbeitet oder dich auffordert, mit deinem Magen zu reden usw. Aber das Korrektiv hiefür ist eine klar formulierte Theorie und Methodologie, deren Grundaussagen den Therapeuten, die sich mit diesen Prinzipien identifizieren, vertraut ist und von ihnen anerkannt wird.

 

R.H.: Wenn man sich in der therapeutischen Szene umschaut, gewinnt man den Eindruck, daß vieles von dem, was die Gestalttherapie hervorgebracht hat, auch von anderen aufgegriffen wird, die sich nicht als Gestalttherapeuten verstehen. Vieles von dem, was wir in die Psychotherapie eingebracht haben, ist aufgegriffen und in andere Systeme integriert worden. Ich denke da z.B. an NLP, aber auch die Arbeit von Milton Erickson hat aus meiner Sicht eine gewisse Ähnlichkeit mit der Gestalttherapie.

 

M.P.: Ich habe eine gewisse Abneigung dagegen, wie manche das Wort »Gestalt« als Verb gebrauchen. Im Englischen gibt es dieses Wort »gestalten« einfach nicht.

 

R.H.: Ich meine mich zu erinnern, daß Isadore From sich darüber ziemlich aufregen konnte. Er bestand darauf, daß man über »Gestalttherapie« sprach, und nicht über das »Gestalten«.

 

M.P.: Ja, es verwischt die Unterscheidung zwischen der Gestalttherapie und der Gestaltpsychologie. Aber diese Unterscheidung ist wichtig. Die Gestaltpsychologen waren Forscher, Lerntheoretiker, und keine Psychotherapeuten.

 

R.H.: Und in manchen Fragen kommen sie einfach nicht zusammen. Erinnerst du dich an Mary Henles Artikel im American Psychologist vor ein paar Jahren? Sie vertrat die Ansicht, daß Gestalttherapie und Gestaltpsychologie nichts miteinander zu tun hätten.

 

M.P.: Ja, aber das stimmt nicht.

 

R.H.: Nein.

 

(Ende des Gesprächs)

 

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Zu Beitrag und Person:

Dr. Miriam Polster,

 

ist eine der weltweit führenden Ausbilderinnen der Gestalttherapie und Co-Autorin (zusammen mit Ihrem Ehemann Erving Polster) des Klassikers "Gestalttherapie. Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie" (Edition GIK im Hammer Verlag), sowie Autorin zahlreicher weiterer Fachbeiträge zur Gestalttherapie.

Zuletzt erschien in deutscher Sprache: "Evas Töchter. Frauen als heimliche Heldinnen" (EHP).

Das nebenstehende Interview mit Miriam Polster führte der amerikanische Gestalttherapeut und Leiter des Gestalt Institute of Central Florida, Robert L. Harman.

Es ist zuerst erschienen in: "Gestalt Therapy Diskussions with the Masters", herausgegeben von Robert L. Harman, Springfield/Illinois, 1990, Charles C Thomas., Publisher. © 1990 by Charles C Thomas., Publisher.

Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg.

Zur Zeit bereiten wir die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe dieses Buches vor. Sie wird (voraussichtlich im Herbst 2000) in der Edition des Gestalt-Instituts Köln im Peter Hammer Verlag erscheinen.

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