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Erving Polster
Sinnliche Wahrnehmung in der Psychotherpaie


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik 2-2002:

Erving Polster
Sinnliche Wahrnehmung in der Psychotherpaie

 

Erving PolsterErving Polster

 

In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen, wie die Psychotherapie dazu beitragen kann, die Kluft zu überbrücken, die sich zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und Empfindung eines Menschen und den darauf aufbauenden höheren Erfahrungen auftut. Aufgrund der zunehmenden Komplexität unserer Gesellschaft fällt es vielen Menschen schwer, genau zu sagen, was sie wahrnehmen und empfinden. Es kann sein, daß jemand ißt, nicht weil er Hunger hat, sondern weil er diese oder jene Geschmacksrichtung besonders gern mag, weil Essenszeit ist, weil er gerne Gesellschaft hat, oder auch weil er depressive oder ärgerliche Gefühle nicht zulassen will. Häufig ist unklar, in welchem Verhältnis seine Empfindungen zueinander stehen. Das daraus resultierende Durcheinander trägt zu der viel beschriebenen gegenwärtigen Identitätskrise bei, denn um zu wissen wer wir sind, müssen wir wissen, was wir fühlen. Wenn man den Unterschied zwischen Hunger, Ärger und sexueller Erregung kennt, ist es wahrscheinlicher, daß man sich richtig, d.h. angemessen verhält. Das Zusammenspiel zwischen Empfinden, Fühlen und Handeln ist der springende Punkt bei unserer Suche nach einer guten und befriedigenden Lebensgestaltung.

Um den Hintergrund der Bestimmung und Aktivierung von Empfindungen zu beleuchten, möchte ich auf das Konzept der synaptischen Erfahrung zurückgreifen. Die synaptische Erfahrung ist eine Erfahrung der Einheit von Gewahrsein und Ausdruck. Man kann diese Einheit z.B. dann erleben, wenn man sich während des Sprechens seines Atems bewußt wird, wenn man beim Tanzen die Beweglichkeit des Körpers wahrnimmt oder auch die vorhandene Erregung etwa während man malt oder zeichnet. Wenn sich gesteigertes Gewahrsein und Ausdruck vereinen, sind ein starkes Gefühl von Präsenz, eine klare und deutliche Wahrnehmung oder ein Gefühl für die Lebendigkeit des inneren Erlebens und die Ganzheitlichkeit der eigenen Person durchaus nicht ungewöhnlich.

Das Wort Synapse entspringt dem Griechischen und bedeutet Verbindung oder Vereinigung. Physiologisch ist die Synapse der Ort, an dem verschiedene Nervenfasern zusammentreffen und sich miteinander vereinen. Der Synapsenbogen ermöglicht die Vereinigung von sensorischen und motorischen Nerven und überbrückt die Lücke zwischen neuronalen Strukturen mit Hilfe spezieller, noch nicht eindeutig erforschter Energieübertragungsprozesse. Der metaphorische Gebrauch der Funktion der Synapse soll dazu dienen, uns auf die Vereinigung senso-motorischer Funktionen wie Gewahrsein und Ausdruck hinzuweisen.

Die Methoden, um Ausdruck und Gewahrsein zusammenzubringen, variieren je nach Therapieform, doch die meisten, wenn nicht alle, konzentrieren sich auf den inneren Prozeß des Individuums und beziehen dabei manchmal sowohl die Empfindung als auch den Ausdruck mit ein. Einige Therapieformen messen dem inneren Prozeß keinerlei Bedeutung bei (so etwa die Operante Konditionierung), und doch fragen ihre Vertreter immer wieder danach, wie der Patient z.B. seine Angst erlebt. Die meisten Therapeuten würden wohl darin übereinstimmen, daß wenn ein Patient über die liebevollen Gefühle berichten sollte, die er hatte, wenn seine Mutter ihm ein Schlaflied vorsang, seine Erzählung sowohl für ihn selbst als auch für seinen Zuhörer wirkungsvoller sein würde, wenn er während des Erzählens mit diesem Gefühl in Kontakt wäre. Gibt man dem Patienten eine zeitliche Orientierung, so kann er während des Sprechens eine Reihe sensorischer Phänomene wahrnehmen. So kann es sein, daß sein Körper sich z.B. feucht, warm, weich oder kribbelig anfühlt. Das Auftauchen solcher Empfindungen verstärkt die konstituierenden Kräfte seiner Geschichte, denn durch die Kongruenz von Gefühlen und Worten wird sie zu einer fast unwiderlegbaren Bestätigung einer früheren, liebevollen Erfahrung.

Die Exploration von Empfindungen ist innerhalb der Psychologie natürlich nichts Neues. Schon Wilhelm Wundt betrachtete die sinnliche Erfahrung als Quelle jedes höheren Gefühls, allerdings hatte seine Forschung nie jene humanistische Färbung, die vor allem den Psychotherapeuten anspricht. Doch es gibt eine ganze Reihe neuerer humanistischer Ansätze, die eine neue Erkenntnis der Kraft der Empfindung ankündigen. Schachtel (1959) z.B. hat darauf hingewiesen, wie ähnlich Kinder und Erwachsene primitive und ursprüngliche Empfindungen erleben. Er schreibt:

Wenn der Erwachsene nicht mehr unterscheidet, ob das angenehme Gefühl von Wärme, das er empfindet, von der Wärme des Wassers oder der Wärme der Luft herrührt, sondern sich der reinen Empfindung hingibt, dann erlebt er eine Verschmelzung von Wohlgefühl und körperlicher Empfindung, die wahrscheinlich dem Erleben des Kleinkindes sehr nahe kommt. [...] Dabei geht es weniger um das Objekt des Empfindens, sondern ganz und gar um das Gefühl bzw. die Empfindung selbst. (Schachtel, 1959, S. 125)

Die Stimmung der kindlichen Empfindung ist das Paradigma für die Reinheit der sinnlichen Erfahrung. Obwohl die Empfindungen im Laufe der Jahre durcheinander geraten, müssen frühe Erfahrungen nicht notwendig nur infantil sein. Auf unserer Suche nach Erfüllung geht es häufig um die Rückgewinnung früher existentieller Möglichkeiten. Die ursprüngliche Unschuldigkeit des Empfindens wird durch soziale Kräfte neutralisiert, die zu einer Dichotomisierung von Kind und Erwachsenem als zwei völlig separaten und unterschiedlichen Geschöpfen führen. Doch der Erwachsene tritt nicht bloß als Quasi-Ersatz an die Stelle des Kindes. Vielmehr ist er das Ergebnis eines Wachstums, das die Eigenart des Kindseins nicht irrelevant werden läßt. Auch angesichts neu entstehender Realitäten kann ein kindliches Gespür uns Kraft und Orientierung geben. Wie Perls, Hefferline und Goodman (1992) über die Wiedergewinnung früherer Erinnerungen sagen:

Unserer Ansicht nach ist der Inhalt der erinnerten Szene ziemlich unwichtig, aber das kindliche Gefühl und die Einstellung, in denen diese Szene erlebt wurde, sind von höchster Bedeutung. Die kindlichen Gefühle sind von Bedeutung nicht als etwas Vergangenes, dessen man sich entledigen müßte, sondern als einige der schönsten Kräfte im Leben des Erwachsenen, die wiederhergestellt werden müssen: Spontaneität, Phantasie, Unmittelbarkeit im Gewahrsein und im Zugriff auf die Umwelt. (Perls, Hefferline & Goodman, 1992, S. 85)

Drogen wie etwa LSD verstärken die Konzentration auf Empfindung und Wahrnehmung. Alan Watts (1964) erzählt, daß er unter LSD-Einfluß Veränderungen in seiner Wahrnehmung so simpler Dinge wie des Sonnenlichts auf dem Boden, der Maserung von Holz, der Struktur von Textilien oder des Klangs der Stimmen auf der Straße feststellt. »Meine Erfahrung«, schreibt er,

war nie die einer Verzerrung der Wahrnehmung, wie man sie etwa erlebt, wenn man sich selbst in einem Konkavspiegel anschaut. Es ist eher so, daß jede Wahrnehmung - um eine Metapher zu gebrauchen - mehr Resonanz aufweist. Diese Chemikalie scheint das Bewußtsein mit einer Art Resonanzkörper auszustatten ... so daß sämtliche Sinne, wie Sehen, Tasten Riechen, Schmecken und die Phantasie verstärkt werden wie die Stimme beim Singen in der Badewanne. (Watts, 1964, S.120)

Vielleicht könnte man sagen, daß wir als Psychotherapeuten ebenfalls einen Resonanzkörper zur Verfügung stellen - inwiefern das so ist, werde ich im folgenden versuchen darzustellen.

Beginnen wir damit, daß wir das Spektrum menschlicher Erfahrung in zwei Bereiche aufteilen, und zwischen kulminativen und singulären Erfahrungen unterscheiden. Die kulminative Erfahrung ist eine zusammengesetzte Erfahrung, ein totales und zusammenhängendes Ereignis von für das Individuum grundlegender Bedeutung. Der Akt des Schreibens dieser Worte z.B. ist die Kulmination einer unendlichen Vielfalt an Erfahrungen. Jede Bewegung meiner Finger, jeder Atemzug, jeder noch so nebensächliche Gedanke, jede Schwankung meiner Aufmerksamkeit, meiner Zuversicht oder Begeisterung und Klarheit bilden zusammen die Komposition der Erfahrung »Ich schreibe«. Als einzelne Elemente dieser Komposition jedoch ist jede dieser Erfahrungen auch eine singuläre. Diese singulären Erfahrungen bleiben häufig unbeachtet. Wenn man sie jedoch zur Kenntnis nimmt und ihre Beziehung zu einem kulminativen Ereignis als ganzem entdeckt, dann kann das zu einer Verstärkung der Erfahrung führen. Genau das tut z.B. der Gourmet, der eine Sauce schmeckt. Im Idealfall erspürt er die Qualität des Geschmacks als etwas Vollständiges, Ganzes und Integriertes. Um die Zutaten identifizieren zu können, die die Komposition der Sauce ausmachen, wird er sein Geschmacksempfinden aber auch differenzieren. Auf diese Weise erkennt er die einzelnen Bestandteile der Sauce, die verschiedenen Kräuter, einen bestimmten Wein, die Menge an Butter etc. Dieses Gewahrsein ist eine Bereicherung und eröffnet eine neue Dimension des Geschmackserlebens. Analyse und Synthese formen einen Rhythmus zwischen Zerlegung und Wiederherstellung des aus verschiedenen Elementen zusammengesetzten Geschmacks. Die Wiederholung dieses Wechselspiels zwischen Zerlegung und Wiederherstellung trägt maßgeblich zu einem runden und intensiven Geschmackserleben bei. Wenn wir uns unsere inneren Empfindungen bewußt machen, dann erkennen wir eher die »Zutaten«, die Grundelemente unserer alltäglichen Erfahrungen, die unserem Leben Substanz verleihen. Das Abenteuer der unbegrenzten Zugänglichkeit von Erfahrung und die Fluktuation zwischen der zusammengesetzten Erfahrung und ihren elementaren Teilen unserer Existenz schaffen eine dynamische Erregung, die sich selbst immer wieder erneuert.

Die Wiederbelebung dieses dynamischen Prozesses bedarf häufig einer gesteigerten Aufmerksamkeit und ähnelt darin z.B. dem Versuch, nach einer langen oder schweren Krankheit das Gehen wiederzuerlernen. Eine mögliche Technik zur Wiederherstellung der Empfindung ist die Konzentration. Jeder weiß, daß man sich konzentrieren muß, um eine gute Arbeit leisten zu können, aber die Instruktionen hierzu klingen meistens eher vage, moralistisch und allgemein. Dennoch kann Konzentration auch eine Herangehensweise darstellen, bei der man dem Gegenstand seines Interesses besondere Beachtung schenkt. Allerdings muß dies in sehr klarer und zielgerichteter Weise geschehen. Sind diese Bedingungen erfüllt und richtet sich die Konzentration ganz auf die innerlichen Empfindungen, dann können Dinge passieren, die ansonsten eher der Hypnose, der Drogenerfahrung, der sensorischen Deprivation, einer Heldentat oder anderen Umständen zugeschrieben werden, die jenseits der Grenzen unseres normalen oder gewohnten Bezugsrahmens liegen. Nun ist die Konzentration zwar nicht ganz so wirkungsvoll wie diese anderen Zustände, dafür hat sie allerdings den großen Vorteil, daß man aus der gesteigerten Aufmerksamkeit sehr schnell wieder auf ganz normale Ereignisse und Kommunikationsweisen umschalten kann. So kann man zwischen verschiedenen Interaktionsformen wie etwa dem Gespräch, dem Rollenspiel, der Phantasie, der Traumarbeit etc. wechseln, was es leichter macht, dieser Erfahrungsqualität auch im Alltagsbewußtsein eine angemessene Bedeutung zu geben.

Was die eigentliche therapeutische Situation angeht, werde ich nun die Rolle der Empfindungen im Hinblick auf drei therapeutische Ziele beschreiben, nämlich 1. die Akzentuierung von Erfüllung, 2. die Vereinfachung des Durcharbeitungsprozesses und 3. die Wiederbelebung alter Erfahrungen.

Was die Erfüllung betrifft, scheint es zwei Gruppen von Menschen zu geben: die handlungsorientierten und die gewahrseinsorientierten. Beide können ein reiches und erfülltes Leben führen, solange die jeweilige Orientierung die andere nicht ausschließt. Der handlungsorientierte Mensch, der sich dem Gewahrsein der Erfahrung nicht verschließt, erfährt und erlebt sich selbst vor allem durch sein Handeln. Ein Sportler z.B. kann durchaus eine Menge starker innerer Empfindungen bemerken, ebenso wie der Geschäftsmann, der gerade eine neue Firma übernommen hat. Jemand, der stärker gewahrseinsorientiert lebt, wird feststellen, daß solange er das Handeln nicht ausschließt, sein Gewahrsein ihn zum Handeln führt. Der Psychologe schreibt ein Buch oder gründet eine Organisation, der Rastlose zieht in eine andere Stadt, und ein stark sexuell orientierter Mensch agiert seine Erregung im Geschlechtsverkehr aus. Psychologische Probleme entstehen dann, wenn der Rhythmus zwischen Gewahrsein und Ausdruck gestört wird.

Ein Beispiel: Ein handlungsorientierter, erfolgreicher Geschäftsmann kam zur Therapie, weil er in seinem Leben keine Erfüllung fand. Außergewöhnlich lebhaft und aktiv, wie er war, machte ihn jeder Moment, der irgendwie unproduktiv schien, unruhig und ungeduldig. Er war nicht in der Lage, das Entstehen von Empfindungen zuzulassen und war sich selbst ständig voraus, indem er jede Empfindung vorschnell entweder durch direktes Handeln oder durch das Planen von Handlungen entlud. Infolgedessen hatte er große Schwierigkeiten zu sagen, »wer er eigentlich war.« Die ersten zehn Sitzungen verbrachten wir vorwiegend mit Gesprächen, in denen wir uns mit seinem inneren Erleben beschäftigten, was u.a. bestimmte Gewahrseinsexperimente und Atemübungen beinhaltete. Als ich ihn eines Tages bat, die Augen zu schließen und sich auf sein inneres Erleben zu konzentrieren, spürte er zum erstenmal eine gewisse Stille in sich und hatte ein Gefühl der Verbundenheit mit den Vögeln, die draußen vor dem Fenster sangen. Es folgten viele weitere Empfindungen. Er behielt sie für sich und erzählte mir erst später davon, denn um sie zu beschreiben, hätte er sich selbst unterbrechen müssen - was eine weise, aber für diesen Mann sehr untypische Wertschätzung des eigenen Gefühls gegenüber seiner Produktivität deutlich machte. Als mir auffiel, daß sein Bauch an seiner Atembewegung überhaupt nicht beteiligt war, bat ich ihn, den Bauch stärker mit einzubeziehen, was er daraufhin auch bereitwillig tat. Dabei empfand er eine neue Leichtigkeit beim Atmen und eine Energie, die sich von seiner vertrauten, ungeduldigen Art unterschied. Er konnte den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Energie genau beschreiben. Er sagte, er fühle sich wie ein Auto, dessen Motor optimal eingestellt worden sei. Als er ging, sagte er, er habe ein für sein Leben wichtiges Bindeglied wiedergefunden und habe das Gefühl, die Zeit nicht verschwendet, sondern erlebt und erfahren zu haben.

Das zweite therapeutische Ziel, die Vereinfachung des Durcharbeitungsprozesses, soll die Geschichte einer jungen Frau verdeutlichen, die eine neue Stelle als Abteilungsleiterin in einer Spielzeugfabrik gefunden hatte. Ihre Sekretärin, eine ziemlich desorganisierte und kontrollierende Person, arbeitete bereits seit Jahren in dieser Abteilung. Meine Patientin erfuhr, daß die Sekretärin in ihrer Abteilung bereits einigen Ärger verursacht hatte und konfrontierte sie mit bestimmten Ansprüchen und Anforderungen. Das war ein schwerer Schlag für die Sekretärin, die plötzlich »wie ein obdachloses Kind« dastand. Meine Patientin hatte das Gefühl, einem Teil ihrer selbst gegenüber zu sitzen. Aufgewachsen in einem verarmten Viertel von New York, waren sie und ihr Bruder als Kinder tatsächlich alleingelassen worden. Da sie jedoch ihren jüngeren Bruder immer versorgt hatte, betrachtete sie zwar ihn als alleingelassenes Kind, nicht aber sich selbst. Zeit ihres Lebens hatte sie entweder verlassene Kinder unterstützt, oder aber selbst die Verlassene gespielt.

Während unserer Gespräche wurde ihr klar, daß sie nicht länger als Verlassene leben wollte. In der Auseinandersetzung mit ihrer Sekretärin hatte sie eine Chance gesehen, diesen Teil von sich zu überwinden und eine eigenständige Frau zu werden. Als sie mir das erzählte, hatte sie einen völlig neuen Gesichtsausdruck, eine Mischung aus Versunkenheit, wachsamer Introspektion und Verwirrung. Als ich sie nach ihren Gefühlen fragte, antwortete sie überrascht, daß sie ein Engegefühl im Brustkorb und in den Beinen spüre. Sie konzentrierte sich eine Weile auf diese Empfindungen, schaute mich dann wiederum überrascht an und sagte, daß sie jetzt ein Engegefühl in der Scheide verspüre. Ich bat sie, sich auf diese Empfindung zu konzentrieren. Nach ein paar Momenten der Konzentration hatte sie wieder diesen leuchtenden Gesichtsausdruck und sagte, daß das Engegefühl schwächer würde. Dann wirkte sie irgendwie erschreckt und hatte plötzlich eine tiefe Empfindung, die sie allerdings nicht beschreiben konnte. Statt dessen verfiel sie in ein krampfartiges Weinen und nannte immer wieder den Namen eines Mannes, den sie liebte und mit dem sie die erste wirklich starke und partnerschaftliche Beziehung hatte. Als sie aufschaute, strahlte sie eine enorme Schönheit und Vollständigkeit aus. Im Laufe unseres weiteren Gesprächs erkannte sie, welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit der Sekretärin und die Wiederentdeckung ihrer Gefühle gegenüber verlassenen oder alleingelassenen Menschen für sie hatte. Die Sekretärin wurde schließlich von ihr gekündigt. Der eigentliche Durchbruch kam jedoch durch die Erkenntnis ihrer Empfindungen in der Scheide zustande. Die daraufhin erwachenden klaren Gefühle ihres Frauseins machten Schwierigkeiten erlebbar und damit lösbar, die ansonsten vielleicht nur theoretisch hätten besprochen werden können.

Das dritte Ziel, dem die Erneuerung der Empfindung dienen kann, ist die Wiederbelebung vergangener Ereignisse. Die unerledigte, offene Situation bewegt sich ganz natürlich auf eine Schließung zu, sobald bestehende Hindernisse aufgelöst werden und eine neue innere Stimulierung den Impuls zum Abschluß des Unerledigten vorantreibt. Die Psychoanalyse, die sich ja in vielen konzeptionellen und technischen Details von der Gestalttherapie unterscheidet, hat den an die Psychotherapie gestellten Anspruch, Vergangenes und Vergessenes wiederzubeleben, in hohem Maße geprägt und gefördert. Doch obwohl in der Psychotherapie viel über die Vergangenheit gesprochen wird, geschieht dies häufig ohne das Erleben tiefergehender Empfindungen. Das nächste Beispiel zeigt, inwiefern Empfindungen besser als bloße Worte geeignet sind, den Zugang zu vergangenen Ereignissen zu ermöglichen.

Eine Frau, deren Mann seit etwa zehn Jahren tot war, sprach mit mir über ihre Beziehung zu ihm. Dabei erwähnte sie an keiner Stelle ein Gefühl der Tiefe zwischen sich und ihrem verstorbenen Mann. Während einer Sitzung tauchten verschiedene Wahrnehmungen auf, wie ein Kribbeln auf der Zunge, ein brennendes Gefühl um die Augen herum, Verspannungen im Rücken und im Schulterbereich, und dann ein Gefühl von Feuchtigkeit in den Augen. Nachdem sie eine ganze Reihe solcher Empfindungen beschrieben hatte, holte sie einmal tief Luft und bemerkte, daß ihr nach Weinen zumute war. Das Gefühl in ihren Augen erinnerte sie an Tränen, und im Hals spürte sie etwas, das sie nicht beschreiben konnte. Nach einer sehr langen Pause spürte sie ein Jucken, auf das sie sich eine Zeitlang konzentrierte. Ich sollte hinzufügen, daß die Stille und innere Konzentration bei jeder neuen Empfindung recht lange anhielt, häufig mehrere Minuten lang. Stille, gepaart mit konzentrierter Aufmerksamkeit wirkt verstärkend und intensivierend auf das Gefühl. Sehr bald nahm sie das Jucken an mehreren Stellen wahr. Es fiel ihr schwer, bei der Empfindung zu bleiben, ohne sich zu kratzen, aber sie tat es. Sie amüsierte sich sogar darüber, daß das Jucken sich so ausbreitete, gleichzeitig war sie aber auch frustriert und traurig, als ob sie weinen müßte. Sie erzählte von einer ärgerlichen Begebenheit, die sie am Abend zuvor im Hause ihrer Eltern erlebt hatte, wo sie jedoch nicht in der Lage gewesen war, ihren Ärger zu zeigen. Dann hatte sie einen Kloß im Hals, und nachdem sie sich eine Weile auf diesen Kloß konzentriert hatte, spürte sie ein Zucken im Brustkorb. Ihr Herz fing an zu rasen, und das machte ihr Angst. Sie machte das Pochen ihres Herzens nach - Pabam, Pabam, Pabam - und nahm dann einen stechenden Schmerz im oberen Rücken wahr. Wieder nahm sie sich viel Zeit, um sich auf diesen Schmerz zu konzentrieren, und sagte dann - sichtlich unter Druck stehend: »Jetzt erinnere ich mich an jene schreckliche Nacht, als mein erster Mann einen Herzinfarkt bekam.« Es folgte eine weitere, lange Pause, während der sie sehr verspannt und versunken wirkte. Dann sagte sie mit gedämpfter Stimme, daß ihr wieder der Schmerz, die Angst und das ganze Erlebnis dieser Nacht bewußt werde. An diesem Punkt gab sie sich einem tiefen, von Herzen kommenden Weinen hin, das etwa eine Minute andauerte. Als das Weinen aufhörte, schaute sie auf und sagte: »Ich glaube, ich vermisse ihn noch immer.« In diesem Moment war alles Verschwommene weg, und ich konnte spüren, wie echt und umfassend ihre Beziehung zu ihrem Mann war. Die klare Wandlung von der Oberflächlichkeit hin zu dieser Tiefe war offensichtlich durch die Verstärkung ihrer Empfindungen, durch das Gewahrsein ihrer selbst und die Konzentration möglich geworden. Nicht ihre Ideen und Erklärungen hatten ihr diesen Zugang ermöglicht, sondern ihre Empfindungen.

Das Konzept der synaptischen Erfahrung eröffnet einen Hintergrund dafür, welche Bedeutung dem Empfinden für ein befriedigendes Leben zukommt und welche Rolle der Rhythmus zwischen Gewahrsein und Ausdruck in diesem Zusammenhang spielt. Und obwohl es nur einen Teil der therapeutischen Methodik repräsentiert, kann die Entdeckung des eigenen Empfindens beim einzelnen doch sowohl zu einem erfüllteren Erleben führen als auch den Durcharbeitungsprozeß in der Therapie erweitern und zur Wiederbelebung vergangener Ereignisse beitragen.

 

Literatur

Perls, F., Hefferline, R. und Goodman, P. (1992), Gestalttherapie. Grundlagen. München: DTV.

Schachtel, E. (1959). Metamorphosis. New York: Basic Books.

Watts, A. (1964), A psychedelic experience: Fact or fantasy. In: D. Solor (Hg.), LSD, the consciousness expanding drug. New York: Putnam.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 

Eving Polster Ph.D.

gehört zu den bekanntesten Gestalttherapeuten der Welt.

Vor fast 30 Jahren veröffentlichte er - gemeinsam mit seiner Ehefrau Miriam - das Grundlagenwerk »Gestalttherapie. Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie« (als erweiterte Neuauflage 2001 in unserer Edition des Gestalt-Instituts Köln im Peter Hammer Verlag erschienen).

Doch schon weit länger ist er - im Rahmen des Gestalt Training Center - San Diego/Kalifornien - als Gestalttherapeut und Ausbilder tätig. Aus ihrer intensiven Therapie- und Lehrtätigkeit sind zahlreiche weitere Veröffentlichungen hervorgegangen - u.a. die folgende Sammlung seiner Artikel zur Praxis der Gestalttherapie:

Erving und Miriam Polster, »From the Radical Center. The Heart of Gestalt Therapy«, © 1999 by The Gestalt Institute of Cleveland Press.

Zur Zeit bereiten wir die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe dieses Buches vor. Sie wird im Herbst 2002 in der Edition des Gestalt-Instituts Köln im Peter Hammer Verlag erscheinen - und zwar unter dem Titel: »Das Herz der Gestalttherapie. Beiträge aus vier Jahrzehnten«.

Weitere Informationen dazu finden Sie in der nächsten Ausgabe unserer Zeitschrift (Heft 1/2003 im November 2002).

Der nebenstehende Beitrag von Erving Polster ist in dieser Aufsatzsammlung erschienen.

Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg.

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eMail: gik-gestalttherapie@gmx.de

 

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