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Erving Polster
Gestalttherapie: Die Verwandlung des Gewöhnlichen in das Bemerkenswerte
Ein Interview


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus dem Gestalt-Institut Köln
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritk verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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 Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 1-2000):

Erving Polster
Gestalttherapie: Die Verwandlung des Gewöhnlichen in das Bemerkenswerte
Ein Interview

 

Foto: Erving PolsterErving Polster

Robert L. Harman:

Wonach ich dich als erstes fragen möchte ist, was dir in den Sinn kommt, wenn du über die Theorie der Gestalttherapie nachdenkst. An welche Konzepte, Begriffe oder theoretischen Überlegungen denkst du?

 

Erving Polster:

Was mir als erstes in den Sinn kommt ist, daß die Gestalttherapie über eine große Bandbreite an Möglichkeiten verfügt, um ein eigenes Repertoire und einen persönlichen Stil zu entwickeln. So wie jede andere Theorie muß auch eine Therapietheorie berücksichtigen, daß jeder, der sich ihr anschließt, einige ihrer Aspekte favorisieren wird. Während ich z.B. gerne mit Polaritäten arbeite, zieht ein anderer es vielleicht vor, mit dem Körpergewahrsein zu arbeiten. Nun müßte man im Laufe eines ganzen Therapieprozesses viele Aspekte der Theorie mit einbeziehen, aber der persönliche Stil entscheidet darüber, welchen man den Vorrang gibt. Wenn man in der Gestalttherapie nur einige Aspekte herausgreift und alle anderen beiseite läßt, kann man damit immer noch eine wirklich gute Arbeit machen.

 

R.H.: Vielleicht hängt die Frage, welche Aspekte oder welchen Fokus wir wählen, damit zusammen, wie wir als Menschen sind. Bevor ich zur Psychologie kam, habe ich mich sehr viel mit Sport beschäftigt. Heißt das, daß ich deshalb im Vergleich zu anderen mehr auf Körpergewahrsein oder Haltung und solche Dinge achte?

 

E.P.: Schon möglich. Aber wenn du dich für Sport interessierst, kann es auch sein, daß du die Therapie nicht nur als eine körperliche Angelegenheit, sondern auch als Spiel oder als begrenztes Ereignis betrachtest - gewissermaßen als sportliche Aktivität oder eine Art Geschicklichkeitsübung. Wenn du dich am Sport orientierst, kannst du alle möglichen Sichtweisen mit einfließen lassen, und du brauchst diese Einflüsse nicht einmal ausdrücklich zu benennen. Diese menschliche Vielfalt wird im allgemeinen nicht gesehen, und deshalb fragen die Leute: "Ist das, was er da macht, wirklich Gestalttherapie?" Die Antwort lautet: Ja. Er schneidet sich sein Stück vom Gestalttherapiekuchen ab. Er entwickelt seine eigene Variante.

 

R.H.: Ich nehme an, daß wir diese Erfahrung alle gemacht haben. Ich höre immer wieder Leute sagen: "Du kannst kein Gestalttherapeut sein, dafür bist du viel zu nett." Sie müssen diesen Eindruck durch jemanden gewonnen haben, der sehr konfrontativ oder barsch arbeitet, wahrscheinlich durch Fritz oder das Gloria-Video, das die meisten Leute gesehen haben.

 

E.P.: Ja, obwohl es auch viele Videoaufzeichnungen gibt, in denen Fritz sehr sanft arbeitet. Es kann sein, daß der Dreh- und Angelpunkt einer ganzen Therapie sehr deutlich als Gestalttherapie verstanden wird, während alles andere eine Art Vorbereitung war, um auf diesen Moment hinzuarbeiten. Du kannst eine ganz normales Gespräch führen, das sich von einer Unterhaltung außerhalb der Therapie praktisch nicht unterscheidet; und plötzlich verleiht ein bestimmter Fokus des Gewahrseins diesem Gespräch eine gestalttherapeutische Dimension. Aufgrund der Besonderheit der Therapiesituation, ihrer Dichte und ihrer Intensität führt man in der Therapie normalerweise keine gewöhnlichen Unterhaltungen. Aber man könnte; und es ist wichtig, das zu wissen, weil es die Erfahrung menschlicher macht.

 

R.H.: Ja, das stimmt. Meine Erfahrung mit längeren Therapieprozesen ist, daß die Leute manchmal einfach über ihr Leben reden wollen - oder auch über das Leben des Therapeuten. Viele Leute wissen z.B., daß ich im Augenblick unterwegs bin, um Interviews zu machen. Die meisten meiner Patienten wissen, daß sie mich deshalb diese Woche nicht sehen können, und wenn ich zurück bin, werden einige mit Sicherheit fragen, was ich hier gemacht habe und wie es für mich war.

 

E.P.: Um auf die Konzepte zurückzukommen, die mich beschäftigen, muß ich sagen, daß für mich weniger die allgemein bekannten Grundsätze der Gestalttherapie im Vordergrund stehen, als vielmehr ihre idiomatischen Varianten.

 

R.H.: Ich würde gerne mehr darüber hören. Du arbeitest doch immer noch als Gestalttherapeut und bildest auch Therapeuten aus, nicht wahr?

 

E.P.: Wenn ich Therapeuten ausbilde, arbeite ich mit grundlegenden Konzepten, was ich für sehr wichtig halte. Das ist die Grundlage der Gestalttherapie, und ich fange nicht unbedingt mit den Dingen an, über die ich im Augenblick nachdenke und die mir gerade besonders wichtig erscheinen. Zuerst lehre ich die Grundlagen, und diese Grundlagen lassen sich in drei große Bereiche einteilen: Kontakt, Gewahrsein und Experiment.

 

R.H.: Ich würde das gerne zurückstellen. Ich fände es interessanter, zu erfahren, was dich im Augenblick beschäftigt. Wenn wir genügend Zeit haben, können wir später noch auf diese drei Schlüsselkonzepte zurückkommen. Aber ich würde gerne wissen, worüber du im Augenblick am meisten nachdenkst.

 

E.P.: Eine Frage, eigentlich eine ganz alte Frage, die mich beschäftigt, ist, wie man die Technik mit dem ganz gewöhnlichen Erleben zusammenbringen kann. Eine mögliche Orientierung, mit Hilfe derer man sich Klarheit verschaffen kann, ist die Ähnlichkeit zwischen dem Schriftsteller und dem Psychotherapeuten. Der Schriftsteller hat den Luxus, niemanden heilen zu müssen. Er hat die Freiheit, mit allen Mitteln seiner Wahl zu zeigen, wie Menschen ihr Leben leben. Das kann das Leben eines jeden Men-schen sein, ganz egal, ob es dabei um Psychotherapie geht, oder nicht. Aus der Sicht des Schriftstellers ist es hilfreich, jemanden unter dem Aspekt zu betrachten, was in seinem Leben besonders interessant oder dramatisch erscheint. Die Kraft des Dramatischen wirkt im Leben jedes Menschen, und dabei geht es sowohl um Handlung als auch um Perspektive. Was ich erreichen möchte ist, Gewöhnliches in Bemerkenswertes umzuwandeln. Häufig bemerken die Leute gar nicht, wie bemerkenswert ihr Leben eigentlich ist - abgesehen von den Dingen, die besonders schmerzlich oder pathologisch sind. In Wirklichkeit bilden aber gerade die Dinge, die sie aus ihrem Leben ausschließen, weil sie zu schmerzlich sind, den Stoff, aus dem ihre interessantesten Eigenschaften entstanden sind.

 

R.H.: Was du über das Bemerkenswerte sagst, interessiert mich. Ich wollte gerade danach fragen. Wenn ich mir vorstelle, daß ich hier durch die Gegend fahre, um all die Leute zu treffen, die ich interviewen möchte, finde ich das irgendwie bemerkenswert. Als ich von Lois Brien zurückfuhr, hatte ich auf einmal ein Gespür dafür, daß dieser Vorgang des Fahrens auch etwas Abenteuerliches hat. Durch die Gegend zu fahren, ist nichts Besonderes. Viele Menschen tun das jeden Tag.

 

E.P.: Ja, die Leute tun jeden Tag beachtliche Dinge.

 

R.H.: Mich interessiert auch deine Idee, das Gewöhnliche in das Bemerkenswerte umzuwandeln. Mir fallen ein paar Leute ein, deren Leben sehr dramatisch, fast melodramatisch zu sein scheint, während andere ein ziemlich tristes Leben führen. Der Patient, über den du schreibst, dieser Taucher - wenn ich mich recht entsinne, machte er anfänglich auch einen etwas trüben Eindruck. Das war ein Stück Arbeit. Du mußtest ihm helfen, etwas Aufregendes zu finden. Ich empfinde so etwas als Herausforderung. Bei einigen meiner Patienten glaube ich manchmal, daß sie mir nichts Aufregendes zu sagen haben, selbst dann nicht, wenn ich sie einlade über etwas zu sprechen, das sie faszinierend finden könnten.

 

E.P.: Was das Uninteressant-Sein betrifft, sind manche Patienten sehr clever. Ihre Fähigkeit, uninteressant zu sein ist größer als unsere Fähigkeit, interessiert zu sein. Interessiert und neugierig zu sein, ist ein Talent, eine Begabung.

R.H.: Wie verbindest du dein Interesse und deine Neugier mit der Gestalttherapie?

 

E.P.: Nun, es gibt eine ganze Menge Möglichkeiten, wenn du etwa an die drei Bereiche der Gestalttherapie denkst, die ich erwähnt habe: Kontakt, Gewahrsein und Experiment. Der Schriftsteller z.B. hat erstens die Aufgabe, bestimmte Aspekte zu fokussieren oder zu beleuchten, die ansonsten übergangen würden oder nicht assimiliert werden könnten. Darin, daß die Gestalttherapie den Fokus auf das Gewahrsein legt, zeigt sich ihre Art, die Dinge zu beleuchten. Letztendlich ist das Gewahrsein das Schlaglicht unserer Existenz. Mit den Geschichten, die Therapeuten bei ihren Patienten hervorrufen, beleuchten sie Erfahrungen, die ihnen ansonsten entgehen würden. Zweitens hat guter Kontakt von Natur aus etwas Dramatisches. Er ist frisch, überraschend, spannend und enthält Hinweise auf die Zukunft. Er enthält die Wünsche, von denen Menschen leben. Guter Kontakt schließt die Höhepunkte, auf die sich das Leben zubewegt, mit ein. Und drittens unterstreicht auch das Experiment die Erfahrung. Wenn du über deinen Großvater sprechen möchtest, dann führt z.B. das Experiment mit dem leeren Stuhl direkt in die Handlung und dadurch in das Drama hinein, also in die Erfahrung, mit oder zu dem Großvater zu sprechen. Anstatt den Großvater als netten Mann zu konzeptualisieren, was nicht sehr dramatisch wäre, kannst du ihn spielen, und zwar als jemanden, der Geschichten erzählen konnte. Diese Erfahrung hilft dir, dich daran zu erinnern, daß er ein wirklicher Großvater war. So entsteht Drama.

 

R.H.: Du hast den Ausdruck Kontakt benutzt, und soviel ich weiß, ist dieser Begriff in dem Buch, das du zusammen mit Miriam geschrieben hast, definiert. Könntest du ihn für unsere Zwecke hier noch einmal definieren?

 

E.P.: Kontakt ist einfach der Treffpunkt zwischen einer Person und dem, was nicht diese Person ist, bzw. zwischen einer Entität, die etwas anderem begegnet, und diesem anderen, das nicht diese Entität ist. Es gibt auch den Kontakt zwischen verschiedenen Teilen einer Person; das ist etwas, das wir uns in der Gestalttherapie häufig zunutze machen. Die Idee ist, daß Entität und Nicht-Entität sich begegnen - ob das eine Person ist, die einer anderen begegnet oder ob jemand einen Berg betrachtet, ein Kunstobjekt, ein Haus - oder wie die Begegnung sonst aussehen mag. Oder aber der Kontakt bezieht sich auf die Begegnung zwischen verschiedenen Anteilen einer Person. In jedem Fall handelt es sich bei dem Kontakt um eine Art Geburt, um eine neuartige Stimulation, eine neuartige Einheit. Wenn die Dinge nicht etwas anderem begegnen, das sie nicht selbst sind, verblassen sie. Das scheint ein natürlicher Vorgang zu sein. Selbst ein brennendes Stück Holz braucht Kontakt. Du mußt das Holz so anordnen, daß das Feuer von einem Stück Holz auf ein anderes überspringen kann. Wenn nur ein Holzscheit brennt, ist das ein anderes Feuer als eines, bei dem zwei Holzscheite "zusammentreffen".

 

R.H.: Es ist also möglich, daß ich in mir selbst, mit - sagen wir - verschiedenen Polaritäten in Kontakt komme, und zwar durch mein Gewahrsein. Würdest du sagen, das stimmt?

 

E.P.: Mit Hilfe des Gewahrseins würdest du die verschiedenen Teile erkennen.

 

R.H.: Die Einführung des Begriffs der Deflektion wird im allgemeinen dir und Miriam zugeschrieben, und das ist doch, wie ich es verstehe, eine Kontaktunterbrechung.

 

E.P.: Es ist eine Kontaktreduzierung.

 

R.H.: Eine Reduzierung. Kannst du mehr darüber sagen?

 

E.P.: Wenn ich dich lediglich als Psychologen betrachte - und nicht als jemanden, der gerade mit mir spricht, mich dabei direkt ansieht, und der eine Brille und einen gelben Pullover trägt, dann mache ich nicht dieselbe lebhafte Erfahrung. Dasselbe gilt, wenn ich dich nicht als Person betrachte, sondern dich aufgrund deiner vollen Lippen, deiner Nasenform, der Tiefe der Augen oder deiner Hautfarbe konzeptualisiere. Wenn ich abstrahiere, deflektiere ich von der Fülle der Möglichkeiten, dich zu erleben oder zu erfahren. Unter Umständen kann es sehr sinnvoll sein, mein Erleben mithilfe der Abstraktion zu organisieren und dadurch meine Einstellung zu dir zu klären. Als Einleitung oder Zusammenfassung ist die Abstraktion sehr nützlich, aber wenn ich die Abstraktion an die Stelle der deutlicher spürbaren Erfahrung mit dir setze, dann deflektiere ich. Die Abstraktion kann beides sein, sowohl eine Deflektion als auch eine Einleitung oder Zusammenfassung.

 

R.H.: Diese Art der Reduzierung von der du sprichst, scheint bei manchen Menschen eine Art Lebensstil zu sein. Sie reduzieren andere ständig auf etwas, das sie nicht wirklich sind. Das zeigt sich z.B. darin, daß die Leute von "ihrem" Psychologen oder "ihrem" Anwalt sprechen.

 

E.P.: Genau. Das ist eine der Hauptmöglichkeiten, das eigene Erleben zu reduzieren.

 

R.H.: Mir scheint, daß man dadurch - abgesehen von der Reduzierung des Kontakts - auch eine Menge Erregung aus seinem Leben raushält, oder daß es einen daran hindert, interessiert bzw. interessant zu sein.

 

E.P.: Ja. Das passiert, wenn man den Kontakt durch Deflektion reduziert. Es gibt viele Arten von Deflektion, Abstraktion ist nur eine davon. Aber manche Gestalttherapeuten sind der Ansicht, Deflektion sei eigentlich nichts anderes als Retroflektion.

 

R.H.: Ja, ich habe das Gespräch - oder die Diskussion oder wie man es nennen will - zwischen Miriam und Joel Latner gelesen.

 

E.P.: Ich habe darüber auch mit Joel und Isadore From gesprochen, und sie bezeichnen bestimmte Dinge als Retroflektion, die ich einfach nicht als retroflektiven Prozeß betrachte.

 

R.H.: Ich muß zugestehen, daß ich in dieser Frage mit Miriam und dir übereinstimme. Ich erkenne die Deflektion zweifellos an und arbeite auch damit.

 

E.P.: Wenn ich mir, während du sprichst, das Bild an der Wand da drüben ansehe, dann retroflektiere ich nicht in dem Sinne, daß ich etwas gegen mich selbst richten würde. Ich schaue einfach nicht dich, son-dern etwas anderes an. Wenn ich mir das Bild ansehe, habe ich nicht dieselbe Verbindung zu dir, wie wenn ich dich anschauen würde. Wenn ich aber meine Augenmuskulatur anspannen und den Druck reduzieren würde und dadurch mit mir selbst etwas machen würde, das eigentlich jemand anderem gilt, dann wäre das Retroflektion. Ich behaupte nicht, daß es Retroflektion nicht gibt, sondern daß es sich bei der Retroflektion und der Deflektion um verschiedene Phänomene handelt, wobei es nartürlich viele Überschneidungen gibt. Aber auch zwischen den anderen sogenannten "Widerständen" gibt es Überschneidungen. Projektion, Konfluenz, Introjektion, Deflektion und Retroflektion - sie alle haben z.T. gemeinsame Merkmale.

 

R.H.: Meine Erfahrung mit Gruppen ist, daß sie gerade während der ersten Phasen ein hohes Maß an Deflektion aufweisen.

 

E.P.: Das zeigt sich z.B. in der Sprache.

 

R.H.: Ja, die Leute behandeln mich als Gruppenleiter, und nicht als die wirkliche Person Bob. Oder sie behandeln eine bestimmte Teilnehmerin als die Krankenschwester der Gruppe. Nach meiner Erfahrung braucht es eine Zeit, um das hinter sich zu lassen, so daß zwischen den Gruppenmitgliedern Kontakt entstehen kann.

 

E.P.: Natürlich. Retroflektion kann eine nützliche vorbereitende Erfahrung sein. Das Denken z.B. wird als retroflektorisch betrachtet. Nun, über etwas nachzudenken bevor ich es tue, kann sehr nützlich sein. Also kann Retroflektion ein sehr hilfreiches Phänomen darstellen. Das Problem entsteht, wenn es chronisch wird und den Anforderungen der gegebenen Situation nicht entspricht.

 

R.H.: Ja. Ich glaube auch, daß diese Mechanismen, die wir angesprochen haben, manchmal sehr nützlich sein können.

 

E.P.: Absolut.

 

R.H.: Vor allem in Familien und bei Paaren. Da kann die Fähigkeit, zu retroflektieren, dazu beitragen, heftige Auseinandersetzungen zu verhindern. Später kann man den Ärger dann ansprechen. Ich glaube, das kann sehr hilfreich sein. Und sich in einer bestimmten Angelegenheit zusammenzutun, kann gewissermaßen eine sehr gesunde Art von Konfluenz darstellen. Also wie ich dich verstehe, entstehen die Probleme dann, wenn jemand chronisch retroflektiert oder deflektiert. Wenn das Retroflektieren zum Lebensstil wird, kann das zu psychosomatischen Problemen führen, zumindest aber dazu, daß man sich nicht wirklich vollständig ausdrückt.

Im Augenblick fehlen mir die Worte. Ich habe nicht das Gefühl, alles gesagt zu haben. Mir gefällt was du sagst, und ich freue mich über dich. Du siehst gesünder aus als im letzten Februar.

 

E.P.: Ja. Um zwei Uhr habe ich einen Termin beim Arzt. Es geht mir sehr gut; es ist nur die jährliche Routineuntersuchung. Vor ein paar Wochen war ich da, um einige Tests zu machen, und heute bekomme ich die Ergebnisse. Aber es gibt nichts, das mich beunruhigen würde.

 

R.H.: Ich denke an das Buch von Perls, Hefferline und Goodman, das von manchen als die "Bibel" der Gestalttherapie bezeichnet wird. Andere finden es sehr umständlich und schwer zu lesen. Es gibt da ein paar Passagen, die mir sehr viel sagen, und bei anderen Stellen habe ich keine Ahnung, wovon überhaupt die Rede ist. Hältst du dieses Buch für das definitive Werk der Gestalttherapie? Oder glaubst du, es war nur ein Anfang?

 

E.P.: Ich halte es für ein Buch mit vielen weisen Beobachtungen über das Leben und die Menschen. Es sagt nicht außergewöhnlich viel über den eigentlichen Therapieprozeß, aber ich glaube, daß es gerade für Therapeuten sehr wichtig ist, zu verstehen, was in der Therapie und im Leben geschieht. Aber die Art, wie das Buch geschrieben ist, macht es sehr schwer, dabeizubleiben. Zum einen ist es überladen. Es wäre sinnvoll gewesen, es redigieren zu lassen, aber es enthält sehr schöne Beobachtungen über Sprache, das Ich und die Kindheit, darüber wie Menschen funktionieren, und wie sie etwas Bestimmtes tun und etwas anderes, womit es ihnen vielleicht bessergehen würde. Einige Abschnitte sind sehr wertvoll, aber ich halte es nicht für eine Bibel. Ich glaube wir haben keine Bibel.

 

R.H.: In dem älteren Buch, Das Ich, der Hunger und die Aggression, finden sich ebenfalls einige sehr schöne Beobachtungen. Und auch dieses Buch enthält einiges an Material, das mir nicht sehr bedeutsam erscheint. Aber wenn ich an unsere Geschichte denke, dann war es wahrscheinlich der Anfang der Gestalttherapie.

 

E.P.: Ja. Dieses Buch ist insofern schon eher eine Bibel, als es den Anfang repräsentiert. Aber ich halte Perls/Hefferline/Goodman - vor allem den Theorieteil - für sehr viel flüssiger, differenzierter und philosophischer. Es zeigt eine umfassendere Sichtweise vom Menschen als Das Ich, der Hunger und die Aggression.

 

R.H.: Worin siehst du den Hintergrund der Gestalttherapie? Wo liegen unsere Wurzeln? Was waren deiner Ansicht nach die primären Einflüsse?

 

E.P.: Also, ich sehe die Grundlage in der Psychoanalyse. Fritz hatte die Gabe, die Einflüsse der Zeit zu sehen, ihre Zusammenhänge zu verstehen und sie miteinander zu verbinden. Er gilt nicht als Eklektizist, aber er hatte etwas Eklektizistisches. Das Verbindende bestand in seiner Fähigkeit, die Dinge auf prägnante Weise zusammenzusetzen. Er stand unter dem Einfluß des Existentialismus, des Buddhismus, außerdem von Rank, Reich, Horney usw., und auch von Moreno und den Bewegungsschulen, wie z.B. der von Charlotte Selver. Er tat das, ohne seine eigene Integrität zu verlieren. Wenn ich von Integrität spreche, dann meine ich seine Art von Zusammenhalt, den er unter dem Einfluß sehr unterschiedlicher Leute immer bewahrte. Ich glaube, sein vornehmlicher Beitrag bestand darin, daß er all diese verschiedenen Einflüsse miteinander verbinden konnte. Geroge Bernard Shaw hat einmal gesagt, daß der große Schöpfungsakt nicht unbedingt in der Innovation, sondern in der Integration besteht. Integration nicht im Sinne eines Zusammenfassens, sondern als kraftvolle Nutzbarmachung in einer Weise, die sich vorher bereits angeboten hat. Zum Beispiel würde er sagen, daß Mozart eher einen Höhepunkt darstellte als eine Innovation. Diese kulminative Fähigkeit brachte Fritz in seiner Arbeit zur Geltung; es war die Kulmination der Kräfte dieses Jahrhunderts, angefangen mit Freud bis hin zu Perls selbst. Aber er hatte nicht dieses kommunikative Denken, das es ihm oder der Gestalttherapie erlaubt hätte, als etwas Kulminatives verstanden zu werden. Er war viel zu sehr daran interessiert, die Rolle des enfant terrible zu spielen. Außerdem hatte er im Hinblick auf die Ordnung dessen, was ihn unterstützte, keinen sehr guten Geschmack. Er mißachtete die Ursprünge seiner Entwicklung. Obwohl er gelegentlich fremde Einflüsse einräumte und anerkannte, war er anti-abhängig; er vergaß die Anerkennung und betrachtete vieles, was nicht von ihm kam, einfach als Mist. Ein großer Teil der Entwicklung der Psychotherapie während der letzten 35 bis 40 Jahre ist stark durch die Gestalttherapie beeinflußt worden, aber dieser Einfluß ist nicht so deutlich, wie das wünschenswert wäre. Zum Beispiel wurden große Teile der Encountergruppen-Bewegung durch Fritz' Arbeit in Esalen angeregt. Nicht, daß er der einzige gewesen wäre; neben einigen anderen wirkten auch Rogers und Maslow sehr entscheidend auf diese Entwicklung mit ein. Von einem methodologischen Standpunkt aus betrachtet, schuf seine Arbeit die Voraussetzungen für einen Großteil der gegenwärtigen Methodologie. Für die handlungsorientierten Systeme (die so entgegengesetzte Schulen wie Primärtherapie und Verhaltenstherapie umfassen), über die exiestentiellen Therapieformen und die Betonung des aktuellen Erlebens bis hin zur Spezialisierung der therapeutischen Arbeit war er ein bedeutender Faktor. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die er als Therapie bezeichnen würde: das Entwerfen von therapeutischen Experimenten (das in der strategischen Therapie eine Rolle spielt), die dialogische Arbeit usw. All das floriert - unabhängig von der Gestalttherapie. Selbst in psychoanalytischen Kreisen gibt es beachtliche Überschneidungen, z.B. was die Objektbeziehungen angeht. All diese sich gegenseitig überschneidenden Richtungen sollten eigentlich eine Gemeinschaft bilden. Mit Fritz war das nicht leicht zu bewerkstelligen, aber heute wäre so etwas möglich.

R.H.: Ich habe meine Frage vergessen, aber deine Antwort gefällt mir! Du hast erwähnt, daß die Gestalttherapie für die Betonung der gegenwärtigen Erfahrung eingetreten ist. Könntest du das für diejenigen, die keine Gestalttherapeuten sind, etwas näher erläutern?

 

E.P.: Ja, ich schließe mich der Betonung der Gegenwart nicht an. Die Betonung der gegenwärtigen Erfahrung verfolgte ursprünglich eine andere Absicht als das, was sich dann in ihrer Anwendung zeigte. Was ich damit sagen will ist, daß die Betonung der Gegenwart darauf abzielte, Funktion und Konzentration hervorzuheben. Doch dann traten Funktion und Konzentration zugunsten des "Hier-und-Jetzt" in den Hintergrund. Die Betonung des Hier-und-Jetzt war im Grunde genommen ein Instrument der Abgrenzung. Es half den Leuten, sich von den Einflüssen ihres Lebens abzukoppeln. Wenn man das Hier-und-Jetzt betont, dann werden die Verbote von Vater und Mutter eine weniger große Rolle spielen als in der allgemein üblichen, umfassenderen Orientierung. Die Betonung des Hier-und-Jetzt hat eine ähnliche Wir-kung wie Hypnose, Gehrinwäsche oder Drogen. Sie entzieht dich deinem Kontext. Das Hier-und-Jetzt fordert dich im wesentlichen dazu auf, deinen Kontext zu verlassen. Das Problem dabei ist, daß der Kontext wieder auftauchen wird. Um eine verläßliche Veränderung im Leben zu bewirken, muß man sich damit auseinandersetzen. Wenn du ein dissoziiertes Leben führst, indem du im Hier-und-Jetzt bleibst, kann es sein, daß die Fortschritte, die du machst, sich auf die Situationen, in denen du sie anwenden willst, nicht übertragen lassen. Wenn du die Perspektive einengst, sieht es so aus, als ob es nur darauf ankäme, was du hier und jetzt tust, aber das stimmt nicht. Ebenso wie der heutige Wohlstand auf einem Schuldenberg basiert, der Milliarden von Dollar umfaßt. Man kann das ignorieren, aber früher oder später wird diese Tatsache uns einholen. Im Hier-und-Jetzt kannst du sagen, daß alles in Ordnung ist. Im übrigen ist die Gestalttherapie eine Figur-Grund-Therapie, d.h. wir gehen davon aus, daß sämtliche Erfahrungen unweigerlich miteinander verbunden sind. Das Hier-und-Jetzt-Prinzip läßt diesen Grundsatz außer acht. Es wäre richtiger, zu sagen, daß Klischee des Hier-und-Jetzt läßt ihn außer acht.

 

R.H.: Da gebe ich dir Recht. Hast du ein Beispiel dafür? Ein Beispiel aus der Therapie?

 

E.P.: Ich denke da an einen meiner Patienten, der sich seiner eigenen Wünsche kaum bewußt war. Wünsche richten sich immer auf die Zukunft. Wenn du etwas bereits hast, dann ist es kein Wunsch mehr. Also ging es darum, seinen Glauben an seine Zukunft zu stärken. Er lebte sein Leben so, als ob sich heute alles ergeben würde - ohne die dazu notwendige Vorbereitung, aber er war Therapeut und hatte eine sehr kleine Praxis. Er hatte praktisch keine Gemeinschaft. Er war besessen von einer Frau, mit der er keine Zukunftsperspektive hatte. Er hatte angefangen, den Boden für seine Zukunft zu bereiten, indem er sich auf seine Promotion vorbereitete, aber er kam keinen Schritt weiter. Inzwischen erlebt er seine klaren Bemühungen als unterstützend, und er lernt mehr als von ihm erwartet wird. Er erfährt Unterstützung, weil er sieht, daß die Gemeinschaft im großen und ganzen bereits besteht, und weil er seinen Freundeskreis erweitert. Dadurch ist seine Welt größer geworden, und er ist nicht mehr so ängstlich, weil er in der Lage ist, sich aus diesen verschiedenen Bereichen Unterstützung zu holen: aus seiner Ausbildung, seinen neuen Freunden und seinen neuen Zukunftsaussichten.

 

R.H.: Dann verstehe ich, glaube ich, was du sagst. Wenn du dich mit ihm auf das Hier-und-Jetzt konzentrierst, bleibt es eng.

 

E.P.: Zumindest solange, wie seine Philosophie mitsamt seinen Intentionen und Aktivitäten sich auf das Hier-und-Jetzt bzw. auf seine eingeschränkte Sichtweise beschränkt. Aber mein Fokus liegt auf den vielen Erfahrungen, die er hinsichtlich der Frage seiner Funktion gemacht hat: was er tun möchte, mit wem er spricht, mit wem er gern sprechen würde, oder ob er möchte, daß seine Praxis besser läuft als bisher, usw. Wenn ich diese Erfahrungen aufgreife und er dadurch anfängt, darüber nachzudenken, dann ist das eine fruchtbare Form der Gegenwart. Bleibt es jedoch eine philosophische Gegenwart, dann wird die natürliche Sorge um die Zukunft, die in der Gegenwart enthalten ist, und die natütliche Bewegung dieser Gegenwart beschnitten. Es gibt keine eigentliche Gegenwart; die Gegenwart ist lediglich ein Punkt in der Dimension der Zeit. Im Gegensatz zur digitalen Uhr bewegen wir uns permanent. Ein digitaler Zeitmesser sagt dir, wie spät es ist, aber er sagt nichts über die vergangene oder die zukünftige Zeit oder den zeitlichen Kontext. Die Betonung der gegenwärtigen Erfahrung ähnelt dieser digitalen Uhr. Was ich betonen möchte, ist, wie wichtig es ist, die Bewegung wiederherzustellen und ihr die entsprechende Richtung zu geben. Sobald du das tust, fragst du nach der Spannung im Leben, und nicht bloß nach Klarheit. Das Leben ist von Natur aus spannend, weil du einerseits nie weißt, und dich andererseits doch damit beschäftigst, was passieren wird. Du kannst nicht gespannt sein, wenn du ausschließlich mit dem Hier-und-Jetzt beschäftigt bist. Die Anhänger des Gestalt-Kults würden jetzt sagen, daß die Zukunft für sich selbst sorgen wird. Das stimmt natürlich. Sie wird kommen. Aber wenn du nicht auf die Zukunft vorbereitet bist, wenn du dich nicht mit ihr beschäftigst, wenn du angesichts dieser Zukunft keine Spannung empfindest, dann verliert dein Leben seine Lebendigkeit.

Wir müssen unterscheiden zwischen denen, die den "Hier-und-Jetzt-Kult" pflegen und damit Spannung, Drama und Kontext eliminieren, und denjenigen, die Funktion und Konzentration für wesentlich halten und die Bewegung betonen. Für mich liegt der entscheidende Fokus nicht auf dem Hier-und-Jetzt, sondern auf dem Übergang. Ich versuche, den Leuten das Gefühl für den Übergang zu erleichtern, das Gespür dafür, wie die Dinge sich verändern anstatt nur darauf zu achten, wie sie jetzt gerade sind. Ist die Konzentration gefestigt, dann geschieht das auf ganz natürliche Weise. Die wesentliche Unterscheidung ist die zwischen Konzentration und Fixierung.

 

R.H.: Der Kult, den du angesprochen hast, ist eine Karrikatur der Gestalttherapie - z.B. darauf zu achten, wie ich meine Hand halte oder Aussagen wie: "Ich bin mir gewahr, daß du deinen Kopf schüttelst." Das sieht mir nicht nach Psychotherapie aus.

 

E.P.: Das war in der Gestalttherapie noch nicht einmal beabsichtigt, aber ich glaube fest an die Erkenntnis der Deutungsfähigkeit eines jeden Prinzips. Wenn die Deutungen dich an einen Punkt bringen, wo du eigentlich gar nicht hinwillst, dann mußt du dich mit den Deutungen und Bedeutungen, die du hervorgerufen hast, auseinandersetzen. Als Fritz z.B. sagte, das Hier-und-Jetzt sei alles, was für ihn zähle, dachte er nicht darüber nach, wie die Leute, mit denen er sprach, das auffassen würden. Später bemerkte er dann, daß einige Leute ihn falsch verstanden hatten. In Gestalttherapie in Aktion widersprach er dem Glauben an eine schnellen Heilung, den er überall wahrnahm, und verweigerte dieser Idee seine Unterstützung. Aber das reichte nicht aus, um die falschen Deutungen dessen, was er gesagt hatte, zu korrigieren.

 

R.H.: Kannst du etwas mehr über deine Vorstellung vom Übergang sagen?

 

E.P.: Ja. Wenn du hörst, was ich jetzt sage, wirst du dich ganz natürlich auf das nächste Wort hin orientieren. Bei jedem Wort, das ich sage, achtest du bereits auf das nächste. Wenn du diese Eigenschaft deines Geistes, sich vorzulehnen, ein bißchen übertreibst und bewußt darauf achtest, also nicht so sehr auf das Wort, das ich gerade sage, sondern auf das nächste und dich in den Fluß meiner Rede hineinlehnst, wirst du wahrscheinlich eine Steigerung der Gefühlsintensität wahrnehmen. Merkst du es?

 

R.H.: Ja. Das ist diese Haltung, von der du gesprochen hast.

 

E.P.: Genau. Das meine ich mit Übergang, und es geschieht ganz von selbst. Aber wenn du auf die momentane Erfahrung fixiert bist, funktioniert es nicht so leicht, wie wenn du dich auf die fortlaufende Erfahrung einstellst, also das, was Fritz als "Gewahrseinskontinuum" bezeichnet hätte. Seine Intention war zwar, daß dieses Kontinuum in seiner ganzen Prozeßhaftigkeit erlebt werden sollte, aber er sprach nicht genug über das Kontinuum. Die Frage ist nun, wie man dieses Interesse wieder herstellen kann. Es läßt sich sicherlich nicht dadurch wiederherstellen, daß man - wie Fritz das tat - behauptet, es gebe nichts als das Hier-und-Jetzt. Einen solchen Widerspruch kann das menschliche Denken nicht fassen. Als Fritz anfing, schauten die Leute zu weit in die Zukunft, und dagegen setzte er sich zur Wehr. Heutzutage wird dagegen die Gegenwart mißbraucht und korrumpiert, und deshalb geht es m.E. jetzt darum, den Sinn für Bewegung und Kontext wiederherzustellen, aber auch das kann natürlich außer Kontrolle geraten. Es müßte einen kontinuierlichen Fluß in der Theoriebildung geben, der den jeweils deutlichsten, aktuellen Mißbrauch berücksichtigt. Als Theoretiker müssen wir uns mit diesen Mißbräuchen auseinandersetzen, die unser System im Laufe seiner Entwicklung hervorgerufen hat, um mit anderen Mißbräuchen fertigzuwerden.

 

R.H.: Das leuchtet mir ein. In der Praxis wäre eine unserer Aufgaben als Therapeuten also dazu beizutragen, diesen Übergang spannend und aufregend anstatt beängstigend zu machen. Anstatt mich also selbst zu ängstigen, weil ich durch die Gegend fahre und hierher komme, um ein Interview mit dir zu machen, würde es ein Abenteuer für mich werden. Durch die Therapiesitzungen, die ich bei dir gemacht habe, betrachte ich manche Dinge als aufregender und weniger furchterregend.

 

E.P.: Ja, genau. Was ich bei einigen Menschen festgestellt habe ist, daß sie die Angst ausgeschaltet haben, indem sie beängstigende Vorstellungen hinter sich lassen, die sie nicht abstellen können, und sie leben gut damit. Um bei deinem Bild zu bleiben: wenn du ausschließlich im Hier-und-Jetzt leben würdest und Angst vor dem Interview hättest, anstatt dich mit dieser Angst auseinanderzusetzen, würdest du das Interview nicht machen.

 

R.H.: Du sagtest vorhin, du seist nicht der Ansicht, daß wir ein definitives Gestalttherapiebuch hätten, also eine Bibel. Was müßte noch hinzugefügt werden? Was fehlt deiner Ansicht nach in unserer Literatur?

 

E.P.: Ich glaube, was fehlt, ist ein großer Schreiber. Ich denke, das Material ist vorhanden. Jemand der lebendig und mit menschlichem Interesse schreibt, mit Konzepten, die etwas zum Klingen bringen, jemand, der weise schreibt, und weniger stereotyp oder formal. Jemand, der auf zwei Ebenen kommunizieren kann, sowohl auf einer einfachen als auch auf einer tiefen Ebene. Freud z.B. kann man auch als Laie lesen. Als Laie kann ich seine grundlegende Einführung in die Psychoanalyse durchaus lesen, ebenso seine neuen einführenden Vorlesungen und wahrscheinlich noch einige andere seiner Schriften. Gleichzeitig haben diese Schriften aber auch eine gewisse Tiefe. Diese Begabung, die man braucht, wenn es um eine Art Bibel geht, kommt nicht allzu häufig vor. Freud hatte sie. Seine Ideen waren nicht so viel besser als etwa die von Janet, aber er war in der Lage auf beiden Ebenen zu kommunizieren. Puccini ist ein gutes Beispiel für den Bereich der Musik. Man muß sich nicht für Opern interessieren, um Puccinis Musik zu mögen, aber man kann sie auch auf einer sehr tiefen Ebene lieben. Eine Bibel ist sehr tief und gleichzeitig sehr gastfreundlich zu ihrem Leser. Diese Kombination fehlt uns, aber das gilt nicht nur für die Gestalttherapie.

 

R.H.: Das stimmt. Wird die Gestalttherapie weiterbestehen? Glaubst du, es wird uns auch in Zukunft noch geben?

 

E.P.: Ich glaube, daß die Gestaltthetapie einige der entscheidendsten Grundprinzipien der Therapie enthält, aber im allgemeinen werden sie nicht mit der Gestalttherapie in Verbindung gebracht. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die verschiedene Aspekte der Getalttherapie herausgreifen und sie für ihre Arbeit bedeutsam machen, aber sie betrachten sich selbst nicht als Gestalttherapeuten. Dafür gibt es verschiedene Image-Gründe. Einer dieser Gründe besteht darin, daß Gestalttherapeuten ein Image aufgebaut haben, das sie als rau, fordernd und abweisend darstellt. Bei meinen Demonstrationen sind die Leute im Nachhinein häufig erstaunt, daß ich so freundlich zu ihnen war. Das ist eine Sache des Renommees, häufig falsch, aber nichtsdestoweniger einflußreich. Ein anderer Faktor ist, daß wir keine so ausgefeilten Ausbildungssysteme haben, wie wir sie bräuchten. Ich sehe diesen Mangel in unseren Trainingsprogrammen. Was wir tun ist, daß wir die Leute in die Gestalttherapie einführen; dabei gehen wir wahrscheinlich genauso gründlich vor wie andere Ausbildungsprogramme, die meines Wissens alle mehr oder weniger einführenden Charakter haben. Diese Trainings wenden sich an Leute, die in ihrem Arbeitsleben stehen und nur für eine sehr begrenzte Zeit hierherkommen. Eines dieser Programme ist so konzipiert, daß die Teilnehmer sich drei Jahre lang einmal wöchentlich treffen, ein anderes dauert zwei mal einen ganzen Monat. Das reicht nicht aus, um einen Kern von Leuten zu bekommen, die sich der weitergehenden Auseinandersetzung mit gestalttherapeutischen Fragen widmen wollen. Was wir brauchen, ist ein Fulltime-Training, das mindestens ein Jahr dauert und sowohl die Arbeit im klinischen Bereich beinhaltet als auch Supervision, Theorie und Praxiserläuterung usw. Der dritte Faktor ist, daß wir nicht organisiert sind. Das bringt einige Vorteile mit sich, z.B. eine gewisse Freiheit. Man braucht keiner Liturgie zu folgen. Aber die Nachteile sind nicht weniger groß: niemand kann wirklich sagen, wo-für wir eigentlich stehen, und wir werden permanent fehlrepräsentiert. Nicht nur sind unsere einzelnen Stimmen sehr unterschiedlich, sondern wir haben auch einen großen Abstand untereinander. Ich kann mich kaum erinnern, wann ich zum letzten Mal eine der anderen einflußreichen Stimmen der Gestalttherapie gehört habe. Leute, die ich wirklich sehr mag - aber ich sehe sie nie. Nächstes Jahr wird es in Kalifornien ein Treffen geben, das von San Franzisko aus organisiert wird. Das letzte Mal hatten wir so ein Treffen vor ungefähr zehn Jahren. Es gab nie eine Fortsetzung. Ich weiß nicht, ob dieses nächste Treffen eine Fortsetzung haben wird, aber es gibt keine organisierte Kontinuität. Ich glaube, das Gestalt Journal hat dazu beigetragen, daß die Dinge etwas mehr zusammenkommen; das ist ein Anfang für unsere Kommunikationsmöglichkeiten, aber es reicht nicht aus. Wir bräuchten jemanden, der daran interessiert und in der Lage ist, uns zusammenzubringen. Ich glaube, daß unsere Prinzipien lange fortbeste-hen werden, weil sie m.E. sehr grundlegend und in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Verhältnissen anwendbar sind.

R.H.: Ja. Ich denke daran, wie ich die Ausbildung bei Jim Simkin angefangen habe. Wir waren 22 Leute in einem einmonatigen Workshop. Ich glaube, du warst 1972 als Gasttrainer da. Unter diesen 22 Teilnehmern sind nur zwei oder drei, von denen ich sagen würde, daß sie ein intensives Interesse an Gestalttherapie bewahrt haben und sich weiterbilden. Ich habe das Training bei Jim abgeschlossen und betrachte mich immer noch als "Lernender". Deshalb kam ich letzten Februar zurück, um mit Miriam und dir zu arbeiten.

 

E.P.: Ja, aber wir brauchen mehr Kontinuität. Ansonsten werden nur die engagiertesten Leute weitermachen, wie du z.B. in Florida, aber du bekommst keine Unterstützung. Du stehst ziemlich alleine da. Ich glaube, in der gestalttherapeutischen Szene waren wir zu sehr auf uns selbst und zu wenig auf die Gemeinschaft zentriert; ich nehme mich da nicht aus.

 

R.H.: Wenn du Diktator wärst, was würde passieren?

 

E.P.: Wenn wir den Diktator mal weglassen, habe ich ein Beispiel anzubieten. In Cleveland hatten wir, glaube ich, die lebensfähigste Organisationsstruktur innerhalb der Gestalttherapie seit Mitte der Fünfziger Jahre. Wir hatten eine konkrete, vielleicht banale Vereinbarung ausgearbeitet. Alle Therapeuten verlangten eine deutlich reduzierte Bezahlung für die Arbeit, die sie im Institut leisteten. Dadurch bekam das Institut das Geld, das es brauchte, um arbeiten zu können. Das war ein Opfer, oder ein Geschenk, von Seiten der Therapeuten, also der Trainer. Ich denke, wir brauchen eine vergleichbare gemeinschaftsorientierte Motivation auch auf nationaler Ebene. Wie die Dinge im Augenblick liegen, bin ich z.B. nicht motiviert, Zeit für eine landesweite Organisation zu investieren. Ich könnte motiviert sein, aber ich bin es nicht. Irgend jemand muß sich für die Entwicklung dieses Gefühls für eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit interessieren. Vielleicht ist dieser Prozeß gerade am Anfang. Aber wenn jetzt in Chicago ein Treffen von Gestalttherapeuten stattfände, wieviele führende Köpfe der gestalttherapeutischen Szene, also von denen, die die einflußreichsten Stimmen haben, wären bereit, daran teilzunehmen, wenn sie nicht gebeten würden - wahrscheinlich gegen Bezahlung - eine bestimmte Arbeitsweise vorzustellen?

 

R.H.: Ich gebe einen Tip ab: Nicht sehr viele.

 

E.P.: Eben. Nehmen wir die Gestalt-Konferenz. Ich bin bereit, daran teilzunehmen und einen Vortrag zu halten, ohne Bezahlung, aber ich bin nicht bereit, hinzugehen, wenn ich keinen Vortrag halte. Ich glaube, ich wäre dazu bereit, wenn es Teil des ganzen Geschehens wäre. Wenn ich das Gefühl hätte, daß diese anderen Leute auch kommen würden und es eine gemeinschaftliche Erfahrung wäre, würde ich wahrscheinlich teilnehmen. Aber so läuft es nicht. Was das kalifornische Treffen angeht, kommen alle auf einer gemeinschaftlichen Basis, aber die ist nicht sehr groß. Wir müssen den Akzent auf einen gemeinschaftlichen Geist setzen, der aus meiner Sicht unter der Oberfläche existiert. Ich glaube, diese Dinge basieren auf einer selbstzentrierten Einstellung, die von Fritz ausging, ebenso wie das anarchistische Mißtrauen in Organisationen. Mir ist sehr wohl klar, daß es gute Gründe gibt, nicht an Organisation zu glauben, aber wenn man sie aufgibt, bezahlt man einen Preis dafür.

 

R.H.: Du erwähntest, daß ich in Orlando lebe und tue, was ich tun kann, aber nicht sehr viel Unterstützung bekomme. Wie könnte diese Unterstützung aussehen?

 

E.P.: Das weiß ich nicht genau. Vielleicht gibt es Leute, denen du schreiben und mit denen du dich über eure Erfahrungen hinsichtlich der Trainigsprogramme austauschen könntest. Vielleicht wäre es interessant, in den Programmen der jeweils anderen mitzuarbeiten. Es könnte ein nationales Treffen zu Ausbildungsfragen geben. Viele Trainingsprogramme werden von Leuten initiiert, die weitaus weniger Training und Erfahrung haben als du, und die weniger begabt dafür sind. Viele haben unternehmerische Fähigkeiten, aber keine entsprechende Substanz. Das ist schlecht für unseren Ruf. Hätten wir eine landesweite Organisation, dann wüßten wir mehr über die Leute, deren Arbeit wir respektieren und hätten vielleicht eine stärkere Stimme. Welche Form könnte das haben? Vielleicht ein Zertifikat? Das wäre sicherlich sehr problematisch.

 

R.H.: In diesem Zusammenhang fällt mir ein, daß einige Mitglieder der American Group Therapy Association einen "Fellow-Status" haben. Die Fellows vereinbaren, daß sie für sämtliche Treffen von Gruppen, die der Gesellschaft angeschlossen sind, lediglich ihre tatsächlich entstandenen Kosten erstattet bekommen. Auf diese Weise wird eine Befruchtung und Unterstützung der örtlichen Gruppen ermöglicht. Geht das in die Richtung, die du vorschlägst?

 

E.P.: Vielleicht. Diese Leute leisten einen Beitrag zum Entstehen einer landesweiten Identität. Das ist eine Möglichkeit, eine Stimme auszubilden. Natürlich gibt es direktere Wege: schreiben, lehren, forschen etc. Aber diese Möglichkeiten decken nicht alles ab. Ich wüßte gerne, ob jemand daran interessiert ist, das Organisatorische und das Gemeinschaftliche zu entwickeln.

 

R.H.: Am ehesten wahrscheinlich Joe Wysong.

 

E.P.: Das stimmt zwar, aber er hat sich eine speziellere Aufgabe gestellt. Ob er auch an einem globaleren Projekt interessiert wäre, weiß ich nicht. Im Augenblick muß er sich mit den landesweiten Angelegenheiten nicht auseinandersetzen. Er sucht Leute aus und lädt sie ein, und sie kommen oder sie lassen es bleiben. Was er tut, ist für unser Zusammenkommen sehr wertvoll. Wenn du Joe fragen würdest ob er bereit wäre, ein nationales Komitee zu leiten, das den Interessen der Gestalttherapie dienen sollte, was glaubst du, würde er antworten?

 

R.H.: Ich nehme an, er würde sagen: "Ich habe kein Interesse." Das wäre meine Vermutung.

 

E.P.: Vielleicht wäre er interessiert, wenn es eine starke Dynamik hätte und nicht nur Zeit und Geld zum Fenster hinausgeworfen würde, wenn es einen wirklichen Geist dahinter gäbe. Bis jetzt habe ich von einer solchen Entwicklung noch nichts mitbekommen.

 

R.H.: Du hast als Diktator aufgegeben, weil es nicht funktionieren würde.

 

E.P.: Ich weiß nicht einmal, was ich sagen sollte. Was würde man als Diktator sagen? Ihr kommt nach Chicago, oder ... !?

 

R.H.: Unter welchen Bedingungen würdest du zur Gestalt-Konferenz kommen, ohne einen Vortrag zu halten?

 

E.P.: Gemeinschaft. Ich werde nach Montreal fahren. Joe hat alle Redakteure eingeladen, und es ist eine Jubiläumsfeier.

 

R.H.: Ist das ein Teil der Konferenz, die für 1988 geplant ist?

 

E.P.: Ja, und ich kann mich nicht einmal an die Einzelheiten dieser Konferenz erinnern. Aber wie auch immer die Einzelheiten aussehen mögen, wenn ich wüßte, daß es dort ein Treffen gäbe, an dem Isadore, Laura, Joseph, Bob Martin, Bob Resnick, Gary Yontef, Cynthia Sheldon, du - wenn dreißig solcher Leute teilnehmen würden, würde ich kommen. Ich wäre dabei. Nicht weil ich unter den "Großen" sein will. Ich habe genauso viel Spaß mit Leuten, die nicht soviel reden, die nicht schreiben und keine Trainings durchführen. Ich würde mich mehr in Gemeinschaft fühlen. Ich weiß nicht genau warum. Vielleicht weil durch ihre Anwesenheit auch ihre Mitstreiter angesprochen würden, die nicht dabeisein können, und die Konferenz dadurch ein breiteres Spektrum an Menschen ansprechen würde. Es würde die Gestalttherapie hervorheben.

 

R.H.: Ich erinnere mich dunkel, daß Jim Simkin vor ein paar Jahren einige Leute zu sich nach Big Sur eingeladen hat. Wahrscheinlich waren Miriam und du, Cindy und Joel auch dort. Ich weiß nicht, wer alles da war. Es kann sogar sein, daß ich mir Videos angesehen oder die Transkripte gelesen habe.

 

E.P.: Dieses Treffen hatte eine sehr warme Atmosphäre, und es hatte keine Wirkung! Auch in San Franzisko gab es so ein Treffen. Hatte keine Wirkung! Als ich noch in Cleveland war, gab es ein Treffen. Bob Martin kam von Los Angeles. War Jim auch dabei? Wahrscheinlich ja, ich erinnere mich nicht genau. Es kamen eine ganze Reihe Leute. Hatte keine Wirkung! Warum zeigte es keine Wirkung? Weil es keine Kontinuität gab. So etwas kann man nicht ohne Kontinuität machen. Bei solchen Dingen funktioniert das Hier-und-Jetzt nicht. Kontinuität erfordert eine Verbindlichkeit, die über die eigene Karriere hinausgeht. Das Ganze beinhaltet auch eine gewisse Bereitschaft zu geben. Die American Psychological Association (APA) lebt von den Geschenken ihrer Mitglieder. Ein Teil dieses Geschenks ist, daß niemand für das, was er tut, bezahlt wird. Wahrscheinlich bezahlt ihnen nicht einmal jemand die Reisekosten.

 

R.H.: Ich nehme an, daß einige der exponierteren Mitglieder ihre Kosten erstattet bekommen. Ich habe für die APA eine Präsentation gemacht und keinen Pfennig bekommen. Das war meine Art, einen Beitrag zu leisten.

 

E.P.: Ja, genau.

 

R.H.: In dem Zusammenhang: Ich war erstaunt über den Mangel an gestalttherapeutischen Vorträgen bei der APA. Ich glaube, während der letzten drei oder vier Jahre hat es keinen einzigen gegeben.

 

E.P.: Ich glaube, die Gestalt-Leute mögen die APA nicht besonders.

 

R.H.: Da bin ich sicher.

 

E.P.: Also, vielleicht mögen sie die APA nicht, aber dort spielt sich eine Menge ab.

 

R.H.: Ja, auf der anderen Seite ist sie eine der größten Organisationen. Ich würde mich freuen, wenn "wir" innerhalb dieser Organisation aktiver wären. Ich hatte einen Workshop bei der APA, eine Gesprächsrunde in Los Angeles 1981. Die letzten beiden Workshops, die ich eingereicht habe, wurden von der APA abgelehnt.

 

E.P.: Was war das Thema?

 

R.H.: Einmal ging es um aktuelle Ausbildungsmodalitäten der Gestalttherapie. Es sollte eine Fortsetzung von Jim Simkins Podiumsdiskussion von 1974 werden, und teilnehmen sollten Jim, Irma Lee Shepard, Jack Mulgrew und ich selbst. Der Vorschlag wurde abgelehnt. Ich hielt es für einen wirklich guten Programmpunkt. Ich erinnere mich noch an die Diskussion, die Jim angeboten hatte; sie zog die Leute zu Hunderten in seine Vorträge in New Orleans. Letztes Jahr schlug ich vor, eine Diskussion über die Entwicklungen der Gestaltgruppentherapie durchzuführen. Ich weiß nicht, ob es noch andere Leute gibt, die Vorschläge einreichen, oder nicht. Auf der nächsten Konferenz der American Group Psychotherapy Association (AGPA) in New Orleans bietet Harvey Rifkin etwas an. Ich werde auch ein Angebot machen, und dann ist noch ein Mann dabei, den ich nicht kenne, sein Name ist Doug Greve.

 

E.P.: Ja, bei der AGPA habe ich auch regelmäßig etwas angeboten. Es ist nur so, daß ich nicht mehr sehr gerne an Konferenzen teilnehme. Ich habe das zehn Jahre lang gemacht.

 

R.H.: Ich habe ein bißchen das Gefühl, daß es reicht. Wie ist es bei dir?

 

E.P.: Das kommt darauf an, was du willst.

 

R.H.: Also, die Dinge, die mir am wichtigsten sind, haben wir angesprochen. Im ersten Teil unseres Gesprächs haben wir über etwas anderes als Gewahrsein und Kontakt gesprochen. Denkst du noch über etwas anderes nach?

 

E.P.: Ja, mich beschäftigt das Thema Härte und Sanftheit, und meistens wird die Gestalttherapie mit Härte assoziiert.

 

R.H.: Wie kommt das? Ich kenne diesen Vorwurf seit ich mit Gestalttherapie angefangen habe. Miriam und dich habe ich nie als hart erlebt; ich habe euch immer eher für beständig gehalten. Und Jim - er konnte hart sein, aber ich habe ihn nie so erlebt.

 

E.P.: Du hattest eine kontinuierliche Beziehung zu ihm. Mit zunehmendem Alter wurde Jim sehr viel sanfter. Er konnte immer schon sanft sein. Er war es auf eine ganz bestimmte Art und nahm es damit sehr genau. Damit kamen einige Leute nicht gut zurecht. Was die Gestalttherapie betrifft, glaube ich, daß die Härte teilweise daherrührt, daß einige Therapeuten schnelle Heilungserfolge erzielen wollten. Wenn du hart bist, bekommst du eine schnelle Reaktion. Irgend etwas wird passieren. Manches davon war äu-ßerst vorteilhaft, solange die Therapeuten bei ihren Patienten blieben. Anderes war sehr unvorteilhaft. Aber selbst, wenn diese Prozesse sehr erfolgreich waren, würde jemand, der solche Sitzungen beobachtet oder davon gehört hat, sie kaum selbst erleben wollen.

 

R.H.: Ja, diese Reaktion bekomme ich immer noch von Leuten, die am Anfang ihres Graduiertenprogramms stehen und die Gloria-Videos sehen. Diese Videos respräsentieren nicht den Stil der Gestalttherapie; eigentlich arbeiten nur sehr wenige Therapeuten so.

 

E.P.: Selbst Fritz war nicht so. Er machte eine Show. Damals war Ehrlichkeit ein Fetisch, und insbesondere die Gestalttherapie wandte sich vehement gegen Heuchelei und Scheinheiligkeit. Was man nicht verstand war, daß Authentizität nur sehr schwer zu erreichen ist. Um dorthin zu kommen, muß man Heuchelei und Scheinheiligkeit möglicherweise durchmachen. Manchmal handelt es sich auch nicht um Heuchelei oder Unaufrichtigkeit, sondern lediglich um einen inneren Widerspruch. Als Heuchler zu bezeichnen verfehlt den Punkt. Würdest du zu einem Schizophrenen sagen: "Du bist ein Heuchler!"? Was könnte unauthentischer sein als ein Schizophrener? Aber ihn so zu betrachten zeugt von außerordentlicher Ungeduld. Um aufrichtig und authentisch zu werden, also alles andere als heuchlerisch, muß man die Widersprüche auflösen. Wenn du nur begrenzt Zeit hast, um eine Heilung zu erzielen, kann es sein, daß du ziemlich hart wirst. "Beweg deinen Hintern!" Manchmal ist diese Art von Druck sehr angemessen, aber meistens ist es nur ein billiger Trick.

 

R.H.: Ja, du hast Recht. Viele Leute halten uns für hart und aggressiv. Aus welchen Gründen auch immer - irgendwie schaffen wir es nicht, zu zeigen, daß das für die Gestalttherapie nicht typisch ist.

 

E.P.: Ja, obwohl ich glaube, daß das heute ein bißchen deutlicher wird.

 

R.H.: Innerhalb der Gestaltszene. Außerhalb unserer Szene, glaube ich nicht.

E.P.: Aber es zieht seine Kreise. Wir müssen darüber reden. Wir reden nicht genug darüber. Die Bücher, die wir schreiben, berücksichtigen diesen Punkt nicht genug. Obwohl, wenn man Josephs Buch liest, das ja nicht neu ist, wird es ganz klar. Da findest du keine "Beweg deinen Hintern"-Sprache. Ich denke, das Buch, das ich gerade schreibe, wird auch eine andere Färbung haben. Und es gibt noch andere.

 

R.H.: Wenn man die Fallpräsentation liest, die ich 1985 auf der Konferenz vorgestellt habe, wo ich mit einer Frau namens Rose gearbeitet habe, würde man sehen, daß die Arbeit sehr viel Sanftheit beinhaltet.

 

E.P.: Auf jeden Fall.

 

R.H.: Ich glaube, Yontef schreibt darüber in dem Simkin-Kapitel bei Corsini. Der Gestalttherapeut scheint sanfter zu sein.

 

E.P.: Gary, du, ich - keiner von uns hat die projektive Kraft, die Fritz hatte - teilweise aufgrund seiner Persönlichkeit und teilweise, weil es eine andere Zeit war. Was er und die Leute um ihn herum damals taten, hat eine größere Langlebigkeit. Aber es wird sich verändern. Das tut es bereits.

 

R.H.: Ich glaube, daß Miriams und dein Auftreten auf der Konferenz "Evolution of Psychotherapy" der Milton H. Erickson

Foundation 1985 in Phoenix bei einigen Leuten eine Veränderung ihrer Einstellung gegenüber der Gestalttherapie bewirkt hat.

 

E.P.: Davon habe ich gehört.

 

(Ende des Gesprächs)

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Zu Beitrag und Person:

Dr. Erving Polster

Seit seiner "Lehre" in den frühen 50er Jahren bei Fritz und Lore Perls, Paul Goodman, Paul Weisz und Isadore From hat Erving Polster einen eigenständigen und bedeutenden Beitrag zur Weiterentwicklung und Verbreitung der Gestalttherapie geleistet. Er ist Mitbegründer und ehemaliger Leiter des "Gestalt Institute of Cleveland", Mitverfasser des Klassikers "Gestalttherapie. Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie" (zusammen mit seiner Ehefrau Miriam; Edition GIK im Hammer Verlag) und Autor zahlreicher weiterer Publikationen. Gegenwärtig ist Erving Polster Co-Leiter des "Gestalt Training Center, San Diego" und lehrt klinische Psychologie in "School of Medicine at the University of California, San Diego". In deutscher Sprache erschien außerdem sein Buch "Jedes Menschen Leben ist einen Roman wert" (EHP).

Das nebenstehende Interview mit Erving Polster führte der amerikanische Gestalttherapeut und Leiter des Gestalt Institute of Central Florida, Robert L. Harman. Es ist zuerst erschienen in: "Gestalt Therapy Diskussions with the Masters", herausgegeben von Robert L. Harman, Springfield/Illinois, 1990, Charles C Thomas., Publisher. © 1990 by Charles C Thomas., Publisher.

Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg.

Zur Zeit bereiten wir die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe dieses Buches vor. Sie wird (voraussichtlich im Herbst 2000) in der Edition des Gestalt-Instituts Köln im Peter Hammer Verlag erscheinen.

 

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