GESTALTKRITIK - Zeitschrift für Gestalttherapie

 

Erving Polster:

Gestalttherapie
Die therapeutische Kraft der Aufmerksamkeit

Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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 Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Zeitschrift Gestaltkritik (Heft 2-1997):

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Erving Polster:

Gestalttherapie

Die therapeutische Kraft der Aufmerksamkeit

 

Im Laufe der Jahre haben wir Therapeuten bestimmte theoretische Themen immer wieder durchgespielt. Und jedesmal, wenn wir ein Thema von neuem anspielen, erscheint es ganz anders, und wir entdecken neue, bisher verborgen gebliebene Implikationen des ursprünglichen Themas. Seit den frühen Tagen der Freudschen Hypnose ist eines dieser Themen das Konzept der Aufmerksamkeit - von je her eine treibende Kraft des therapeutischen Prozesses, aber gleichzeitig so alltäglich in ihrer Funktion, daß sie leicht übergangen wurde und die Anerkennung, die ihr gebührte, nicht bekam. Ich möchte hier einen bestimmten Blickwinkel anbieten, einen, der den gleichsam hypnotischen oder meditativen Charakter der Aufmerksamkeit betont, die den Patienten für neue Erfahrungen öffnet. Vor dem Hintergrund einiger historischer Überlegungen werde ich drei verschiedene Wege beschreiben, auf denen im gewöhnlichen therapeutischen Geschehen die Aufmerksamkeit erhöht und neu ausgerichtet werden kann.

Bevor ich mich der Verlagerung der Aufmerksamkeit beim Klienten zuwende, um die es in der Therapie geht, möchte ich zunächst einige theoretische Veränderungen in bezug auf die Aufmerksamkeit des Therapeuten betrachten.

Wir wissen, daß Freud am Anfang seiner psychoanalytischen Arbeit die Hypnose einsetzte, um den Fokus des Patienten durch die Induktion einzuengen und seine Aufmerksamkeit umzulenken, und zwar weg von seinem aktuellen Leidempfinden und zurück zu den frühen Erlebnissen, die der Patient von seinen Leidensgefühlen abgespalten hatte. Was Freud nicht wußte, war, daß diese Transformation des therapeutischen Fokus - vom vertrauten Stil des ärztlichen Interviews in die psychoanalytische Prägnanz - den Beginn einer Revolution darstellte. Was ihn beschäftigte war der Inhalt des Unbewußten - jener Ort, an dem die unbeachteten Erfahrungen des Patienten verborgen lagen. Freud versuchte, die gestörte Aufmerksamkeit des Patienten gegenüber seinen momentanen Erfahrungen wieder mit den abgespaltenen unbewußten Erlebnissen zu verbinden. Dabei ging es ihm um die Verlagerung der chronisch-fixierten Aufmerksamkeit (z.B. bei Zwängen und Phobien). Er glaubte, daß die Wiederherstellung der Verbindung mit unbewußten Erfahrungen dem Patienten eine größere Bandbreite an Möglichkeiten eröffnen und den Fluß seiner Aufmerksamkeit verbessern würde.

Doch obwohl Freud die Beachtung früher Erlebnisse wiederherzustellen vermochte, blieb die Hypnose für ihn unbefriedigend. Sie umging - so glaubte er - den für das Wachstum des Patienten so entscheidenden Widerstand. Doch vielleicht suchte er den Fehler an der falschen Stelle. Noch wichtiger als die Umgehung des Widerstands scheint mir der Umstand zu sein, daß Freud durch die Anwendung der klassischen Hypnoseinduktion beim Patienten eine drastische Verlagerung der Aufmerksamkeit verursachte, die diesen zu weit von seiner alltäglichen Erfahrungswelt abrücken ließ. Der Patient litt an einem Gefühl des Mißerfolgs, weil er die wiederentdeckte frühe Erfahrung nicht mit seinem aktuellen realen und komplexen Leben zusammenbringen konnte. Mit anderen Worten: die in der Hypnose zutage getretenen Erinnerungen waren vom täglichen Leben des Patienten ebenso dissoziiert wie zuvor, als sie noch im Unbewußten verborgen lagen. Doch obwohl Freud eine neuartige, auf die unmittelbare innere Erfahrung des Patienten gerichtete Aufmerksamkeit induziert hatte (was eine bedeutsame Innovation war), mangelte ihr jene Flexibilität, die für die Berücksichtigung der vielfältigen Lebenszusammenhänge eines Menschen erforderlich ist.

Die gegenwärtigen Hypnosetheorien, und insbesondere die der Ericksonschen Schule, bemühen sich hingegen um eine Verbindung zwischen einem engen Fokus und der Vielfalt des täglichen Lebens. Die Induktionen erfordern heute bei weitem nicht mehr die extreme Abspaltung wie die mehr klassischen Formen; häufig sind sie von gewöhnlicher zwischenmenschlicher Verständigung nicht einmal zu unterscheiden. Doch Freud war dafür noch nicht bereit. Statt dessen ging er zur freien Assoziation über, die m.E. ein neues Instrument der persönlichen Versenkung darstellte und sich von einer gewöhnlichen Interaktion zwar weniger, aber immer noch sehr deutlich unterschied. Nichtsdestoweniger war Freud durch die freie Assoziation einem lebenswichtigen Element der Therapie auf der Spur, nämlich der vereinfachten Aufmerksamkeit. Er vereinfachte die Aufmerksamkeit, indem er seine Patienten von den Beeinträchtigungen durch alte Bewertungen und standardisierte Ausdrucksweisen befreite. Der Patient war immer noch von seinem täglichen Leben getrennt, aber nicht mehr so sehr wie in der Hypnose. Die freie Assoziation ermöglichte dem Patienten einen unschuldigen Selbstausdruck und die Freiheit einer tiefen Konzentration auf sein inneres Erleben. Den meisten Menschen fällt es sehr schwer, einen Sinn für die Not und die gesteigerte Aufmerksamkeit zu entwickeln, die eine Abkehr von vertrauten Sprachgewohnheiten und Moralvorstellungen mit sich bringt. Dieses gesteigerte Aufmerksamkeitsniveau war zu jener Zeit etwas völlig Neues. Es war der Vorläufer der modernen hochgradig fokusorientierten Systeme wie Gestalttherapie, Hypnose, Meditation, Biofeedback, Visualisierung usw.

Eine Bekräftigung erfuhr das Konzept der erhöhten Aufmerksamkeit in der Folge durch Freuds Begriff des Widerstands, der noch einen Schritt näher an eine gewöhnliche Form der Kommunikation heranführte als die freie Assoziation. Da Widerstand als mikrokosmisches Phänomen betrachtet wurde, erfuhren die Mitteilungen an den Analytiker enorme Beachtung; sie brachten eine neue Art der Intimität mit sich, sowohl auf der Symbol- als auch auf der Erfahrungsebene und verliehen der therapeutischen Beziehung enorme Bedeutung.

Freud war von dem Material, das die freie Assoziation und der Widerstand zutage förderten, so entrückt, daß er ironischerweise nicht bemerkte, welchen trance-ähnlichen Zustand er in seinen Patienten durch den neuen Rhythmus einer pointierten Fokussierung einerseits und der vielfältigen Aufmerksamkeit des täglichen Lebens andererseits hervorgerufen hatte. Als schließlich das Interesse an der Interpretation gegenüber der freien Assoziation und dem Prozeß des Widerstandes stärker wurde, verkümmerte die Fähigkeit zur Induktion konzentrierter Aufmerksamkeit mehr und mehr. Statt dessen gewann die Therapie zu häufig den Charakter eines geistigen Umherschweifens.

Eine entscheidende Gegenbewegung kam durch Fritz Perls in Gang, der die Gestalttherapie inspirierte und bekannt machte. In seinem 1947 erschienen Buch Das Ich, der Hunger und die Aggression erkannte er dieses Umherschweifen als Begleiterscheinung der freien Assoziation und betonte die Wichtigkeit der Konzentration als Gegenmaßnahme zur Vermeidung. Konzentration bedeutet, sich sehr präzise auf das Objekt seiner Aufmerksamkeit einzustellen; und Perls' Erkenntnis der Bedeutung der Konzentration für die Therapie erweiterte Seite an Seite mit der Hypnose, der freien Assoziation und dem Widerstand das Element der Aufmerksamkeit. Für ihn war Konzentration ein Mittel, das neue Erfahrungen möglich machte, weil ihre Bestimmtheit die Beeinträchtigung des gewöhnlichen Lebenszusammenhangs reduzierte - ganz ähnlich wie Hypnose oder Meditation. Ein Beispiel soll die einfache Auswirkung der Konzentration verdeutlichen. Eine Person wurde gebeten, sich auf ihre innere Erfahrung zu konzentrieren. Hier Teile der Antwort:

"Zunächst fühlte ich mein Inneres und schließlich gelang ich zu der Region um mein Rektum. Dort spürte ich eine unnötige Spannung, denn als ich genauer darauf achtete, merkte ich, daß ich keinen Drang zum Defäkieren verspürte. Aber da saß ich, den Schließmuskel ebenso angespannt, als ob ich auf der Toilette säße."

Diese Person hatte einfach nicht bemerkt, was die ganze Zeit über schon unbeachtet geschehen war. Die Verlagerung der Aufmerksamkeit war erstaunlich einfach: ein kleines, spürbares Anzeichen einer ansonsten mystischen und kaum faßbaren unbewußten Gegebenheit. Die Undurchsichtigkeit der Verbindungen zwischen Bewußtem und Unbewußtem läßt uns leicht vergessen, daß es die Verschiebung der Aufmerksamkeit ist, die die Transformation unbewußter Phänomene ins Bewußtsein zustande bringt. Der immerzu Lächelnde z.B., der eine wütende Ader in sich entdeckt, muß feststellen, daß er seinen Ärger auf chronische Weise ignoriert hat. Erst wenn er schließlich fähig oder bereit ist, ihm seine Aufmerksamkeit zu widmen, kann der Ärger zu einer klaren Erfahrung werden. Eine Frau, die sich in der Paartherapie bei ihrem Mann beschwert und erwartet, daß er ihre Beschwerde zurückweist, wird kaum hören, wenn er sagt, daß sie recht habe. Einer meiner Patienten, ein liebenswerter, intelligenter, schwungvoller Typ, betrachtet sich selbst unablässig als ungeschickt. Nichts von dem, was ich bisher gesagt oder ihm vorgeschlagen habe, hat seine Aufmerksamkeit remobilisieren können, sie steckt fest in einem Selbstbild, das vor langer Zeit in ihm entstanden sein muß.

Jeder Therapeut kennt Beispiele, die die Schlüsselrolle der Aufmerksamkeit deutlich machen, und daher suchen wir fortwährend nach neuen Möglichkeiten, die Aufmerksamkeit unserer Patienten zu leiten. Doch wir sind auf dieser Suche nicht allein, und vielleicht erweitern wir unseren Spielraum am besten dadurch, daß wir das, was wir brauchen, bei unseren Mitforschern beziehen. Ob in der Religion, der Politik, der Werbung oder der asiatischen Kampfkunst - überall versucht man, sich die Kraft der Aufmerksamkeit zunutze zu machen.

Hinsichtlich der Beeinflussung des Verhaltens und der Gefühle sind unsere nächsten Verwandten die Weltreligionen, in deren Entwicklung die gesteigerte Aufmerksamkeit zu einem zentralen Faktor wurde. Durch Gebet, Meditation, Musik und durch fein abgestimmte Rituale erzeugen sie einen sehr präzisen Fokus. Der geistliche Gesang und das körperliche Mitgehen bei den spirituellen Gesängen geleiten die Menschen in Zustände tiefer Versenkung. Außergewöhnliche Phänomene wurden von den großen Religionen mit offenen Armen empfangen, angefangen mit dem Glauben an Wunder und Unsterblichkeit über hingebungsvolle, ekstatische Erfahrungen bis hin zur göttlichen Heilung, dem Handauflegen, Zungenreden oder geführten Visionen. Auch Kultgruppen schärfen die Aufmerksamkeit dadurch, daß sie die Komplexität des Lebens durch minutiöse Regeln und strikte Lebensführung eingrenzen. Auch in unserem eigenen psychologischen Bereich, etwa in vergleichbaren fokusorientierten Gruppen wie Est, können wir diese außergewöhnliche Schärfung der Aufmerksamkeit beobachten. Hier übt die Gemeinschaft fortgeschrittene Praktiken der geistigen Beherrschung, die zu großen Inspirationen und manchmal zu sogenannten veränderten Bewußtseinszuständen führen können. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis die Psychotherapeuten ihren eigenen Weg finden, um eine solche Steigerung der Aufmerksamkeit zu erreichen. Und vielleicht haben sie Aussicht auf neue therapeutische Modelle der inspirierenden Begegnung.

Doch im Augenblick sind die in den exotischsten Farben blühenden und für die Masse konzipierten Methoden, einen konzentrierten Fokus zu erreichen für die therapeutische Praxis gänzlich inakzeptabel. Was wir statt dessen anbieten, ist eine verschärfte Aufmerksamkeit sowohl gegenüber der auftauchenden Erfahrung selbst, als auch gegenüber den Implikationen, die mit der Erfahrung einhergehen und sich klärend und mobilisierend auswirken. Vielleicht bedeutet dies eine Reduzierung, aber ich erinnere mich an die Verzauberung, die ich verspürte, als mein Psychoanalytiker mir Sitzung für Sitzung intensiv zuhörte. Den Beweis seiner ungeteilten Aufmerksamkeit fand ich in seinen Antworten und Kommentaren, die exakt zu dem paßten, was ich gerade erzählte. Uns Therapeuten erscheint es einfach logisch, daß wir unseren Klienten aufmerksam zuhören, aber für mich als naiven Patienten war es eine faszinierende, fesselnde Erfahrung, und während ich in seinem Sprechzimmer saß, zählte nichts mehr als das. Diese erhöhte Aufmerksamkeit und Aufnahme ermöglichte es mir, Dinge zu sagen, die ich ansonsten niemals zu sagen geträumt hätte.

Obwohl wir als Therapeuten häufig unbeabsichtigt aufmerksamkeitssteigernde Techniken anwenden, sind wir - aufs Ganze gesehen - doch sehr vorsichtig mit engen Induktionsprozessen, die in einigen bewußtseinsverändernden Methoden Anwendung finden und zu denen u.a. die Religion und die Hypnose zählen.

Das wird leicht verständlich, wenn man bedenkt, daß die Einengung der Aufmerksamkeitsgrenzen oft die ganze Person einschränkt - manchmal zu ihrem Vorteil und manchmal zu ihrem Nachteil; und wird sie gar falsch oder mißbräuchlich angewandt, kann sie dem Menschen den Zugang zu seiner Individualität und seinen sozialen Interessen verschließen. Doch es steht für mich auch außer Frage, daß wir uns bereits mitten in diesem Feld bewegen, und wir können - ungeachtet doktrinärer Gefahren - die bewußtseinsöffnenden Möglichkeiten der gesteigerten Aufmerksamkeit vorsichtig nutzen und sie auf eine Weise anwenden, die unserem individualisierten therapeutischen Verständnis mehr entspricht.

Wie also kann die Aufmerksamkeit in der Therapie ganz konkret gesteigert werden und eine Richtung erfahren? Ist es möglich, die flüchtige Aufmerksamkeit in der Begegnung zweier Menschen mit einer hochgradig fokussierten Aufmerksamkeit zu koordinieren, so daß wir ihren Nutzen davontragen, gleichzeitig aber die Risiken und Anforderungen minimieren, die i.d.R. den Mönchen unter uns vorbehalten sind? Wie können wir die Lücke schließen zwischen einer stechenden Aufmerksamkeit, die fixierte Standpunkte zerbricht oder auflöst, und einer eher diffusen, durch nichtssagende Reaktionen und stereotype Positionen neutralisierten Aufmerksamkeit? Wenn der therapeutische Auftrag zu abstrakt oder zu locker gesehen wird, dann bietet er keine ausreichende Basis für die konzentrierte und ungeteilte Aufmerksamkeit, die wir in der Trance, der religiösen oder der Meditationserfahrung oder bei der Gehirnwäsche beobachten können. Die Frage ist, ob es einen Mittelgrund gibt, in den wir die Erkenntnisse der hochgradig fokussierenden Systeme einordnen und dann in gewöhnlichen therapeutischen Situationen anwenden können. Vor dem Hintergrund dieser Fragen möchte ich drei Faktoren benennen, die innerhalb der Parameter therapeutischer Interaktion zur Steigerung der Aufmerksamkeit beitragen. Dies sind: 1. Die Annäherung therapeutischer Sequenzen, 2. Die Entfaltung der Geschichte und 3. Die Zusammenführung des Selbst.

1.

Einander angenäherte oder verdichtete therapeutische Sequenzen sind jene Erfahrungen (Bemerkungen, Handlungen oder Gefühle), welche die in ihnen angedeuteten Konsequenzen unmittelbar nach sich ziehen. Das Hervorbringen dichter (unmittelbarer) therapeutischer Sequenzen erfordert die Wiederherstellung einer Ordnung der Folgerichtigkeit, in der die Erfahrung sich fließend von einem Moment zum jeweils als natürlich empfundenen nächsten bewegt. Ich denke, daß diese Bewegung immer mehr zu einem Fluß heranwächst, der den Menschen freier macht, sich dem zuzuwenden, was auf natürliche Weise als das Nächste empfunden wird. Daraus resultiert eine gesteigerte Vertiefung (ähnlich der Trance-Erfahrung) die es ermöglicht, sich über die Ablenkungen zu erheben, die ein Leben voller miteinander konkurrierender Erfahrungen mit sich bringt.

Die Kunst des Therapeuten besteht darin, sich auf diesen natürlichen Rhythmus einzustimmen. Jede Aussage des Klienten enthält eine ganze Reihe von Andeutungen oder Richtungshinweisen, die jeweils auf ein Nächstes hindeuten. Eine Klientin z.B., die erzählt, wie in ihrer Familie musiziert wird, mag ihrer Erzählung vielleicht die eine oder andere Stichelei gegen ihre Familie hinzufügen. Ob man also dem Hinweis folgt, der durch das gemeinsame Musizieren gegeben wird oder sich dem zuwendet, was durch Sticheleien angedeutet wird, ist eine Entscheidung, die getroffen werden muß und die den weiteren Verlauf der Therapie beeinflussen wird. Genauso verhält es sich mit der nächsten Entscheidung und der darauffolgenden usw.

Ist die Klientin in der Lage, diesen Weg Schritt für Schritt zu gehen, dann wird dieser Fluß aufeinanderfolgender Ereignisse in ihr ein Gefühl der Selbstverständlichkeit wachrufen, das sie die Entfaltung ihrer Erfahrung als "natürlich" empfinden läßt. Ganz ähnliches geschieht, wenn jemand eine Zahlenreihe aufzählt, also z.B. 9, 8, 7, 6 - Pause; unwillkürlich denkt man: 5. Dieser Impuls der Kontinuität führt zu einer Art der unschuldigen Faszination und einer geistigen Haltung des: "Ja, selbstverständlich ..." Durch die Wiederbelebung der Kontinuität führen wir den Klienten zu einer spontanen Empfänglichkeit, wie sie ihm als Kind noch zur Verfügung stand. Damit verbunden ist die Hoffnung, daß die Konsequenzen diesmal erfreulicher sind als die hemmenden Introjekte seiner Kindheit, die den Klienten zur Therapie geführt haben.

Um den Vorgang der Verdichtung von Sequenzen zu verdeutlichen, möchte ich eine kurze Therapiesitzung beschreiben, die anläßlich einer Psychotherapiekonferenz zu Demonstrationszwecken stattfand. Denise, eine junge, dynamische, afro-amerikanische Psychologiestudentin, begann die Sitzung damit, daß sie auf sehr lebhafte und abstrakte Weise von ihrer Unzufriedenheit mit ihrer beruflichen Entwicklung berichtete. Noch bevor ich auf das eingehen konnte, worauf ihre Ausführungen hindeuteten, war sie schon dazu übergegangen, mir zu erzählen, daß sie sich schuldig fühlt, weil sie von der Ausbeutung vieler Menschen auf der ganzen Welt profitiert. Mir wurde sehr bald klar, daß sie in diesem erregten und abstrakten Stil lange weitererzählen würde, ohne zu erwarten, daß ihre achtbaren Gefühle irgendwelche Auswirkungen haben könnten. Eine Erfahrung der Ausweglosigkeit, die jeder Therapeut kennt.

In dem Bemühen, die vernachlässigte Erwartung der Wirksamkeit ihrer Bemerkungen zu würdigen und wiederherzustellen, würden verschiedene Therapeuten wahrscheinlich unterschiedliche Hinweise verfolgen. Der eine könnte sie ermutigen, bei ihrer Schuld zu bleiben, ein anderer, ihre berufliche Entwicklung genauer zu beschreiben, wieder ein anderer könnte ihrem Enthusiasmus folgen oder etwa ihren Mut ansprechen. Wahrscheinlich würde nichts von all dem unmittelbaren Nutzen bringen, da ihre Platte sozusagen einen Kratzer hat. Was mir besonders auffiel, war ihre ungeheure Energie, die im Widerstreit mit ihrer Hilflosigkeit lag. In ihrem stürmischen Eifer hatte sie wenig Gespür für die Diskrepanz zwischen ihrer Begeisterungsfähigkeit und ihrer Hilflosigkeit und die daraus resultierende Einschränkung. Mein Weg, die Sequenzen einander anzunähern bestand darin, zu bemerken, daß sie sich eine große Aufgabe gestellt hatte. Ich verglich diese Aufgabe mit der Arbeit eines Hochseilakrobaten und schlug ihr vor, mit einigen Bodenübungen zu beginnen. Dieses Angebot einer realisierbaren und dienlichen Möglichkeit erzeugte eine Folgerichtigkeit; wir werden später sehen, wie sich diese Andeutung auswirkte. In diesem Moment jedenfalls schien sie überrascht, vielleicht deshalb, weil ich ihr Bestreben ernst genug nahm, um seine Erfolgsaussichten zu verbessern. - Ein Moment der Berührung, doch sofort nahm sie den Faden wieder auf - als ob ich nichts gesagt hätte - angetrieben von ihrer großen Sache, aber immer noch beeinträchtigt durch ihre Hilflosigkeit. Da also die Hilflosigkeit nun mein neuer Pfeil und Richtungsanzeiger war, fragte ich sie sachlich, auf welchen Aspekt ihrer Hilflosigkeit wir uns konzentrieren könnten. Sie erzählte mir, wie hilflos sie sich angesichts der Situation in Mosambique fühlte, wo die südafrikanische Armee Menschen quälte und tötete. Doch noch immer gab sie mir lediglich einen verschwommenen Eindruck von dem Problem, das sie lösen wollte. Sie schien eher in der aufgebrachten Ohnmacht all dessen gefangen zu sein und Reden halten zu wollen als sich um die eigentliche Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu kümmern. Ihr offensichtliches Mitgefühl für die Menschen in Mosambique war von ihrer Wut überlagert und mir schien, daß dieses Mitgefühl eine Tiefe hatte, die den mechanischen Charakter ihrer Wut mildern könnte. Ich sagte ihr also, für wie wichtig ich ihr Mitgefühl hielt, und das beruhigte sie ein wenig. Sie gab daraufhin ihrem Mitgefühl eine etwas andere Richtung und erzählte, daß sie ihren Ärger gegenüber Leuten, die den Problemen der Welt keine Beachtung schenken, für unangemessen hielt. Dies machte ihr bewußt, daß sie tatsächlich mehr Einfluß auf diese Menschen ausüben wollte; es führte sie auch aus ihrem Selbstgespräch heraus und erhöhte die Chancen für die Befriedigung ihres Bedürfnisses. An diesem Punkt entwickelte sie ein Gefühl von Kontinuität, das von einer Aussage zur nächsten überleitete. Und da es ihr um Wirksamkeit ging, sagte sie: "Sagen wir, daß mich hier auf dieser Konferenz ärgert, daß in diesem Beruf Fragen der Ungleichheit nicht aufgegriffen werden ... Ich möchte, daß du und alle anderen diese Fragen mit einbezieht, so daß ich daraus lernen kann und sehe, daß wir in unserem Beruf etwas tun."

Das Publikum applaudierte kräftig, doch sie war schon im Begriff, weiter zu gehen, als ob nichts geschehen wäre, und eine neue ohnmachterzeugende Rede zu halten, wortgewandt, aber wirkungslos, als ob sie in einer Tretmühle steckte. Als ich sie unterbrach, um zu fragen, ob sie den Applaus gehört hätte, antwortete sie etwas konsterniert, als ob ich von der wichtigen Botschaft der bevorstehenden Rede ablenken wollte: "Ja, ich habe ein paar Leute gehört." Dann begann sie, deren Interesse an Verschiedenheit zu bezweifeln. Ich folgte dem Pfeil, der in Richtung einer Verbindung zwischen ihr und dem Publikum wies und bat sie, sich diese Leute als eine Gruppe vorzustellen und sie darauf anzusprechen. Sie ließ sich ohne Schwierigkeiten auf dieses Experiment mit dem leeren Stuhl ein und fragte nicht nur, warum sie das Thema der Ungleichheit nicht angesprochen hätten, sondern teilte ihnen auch mit, daß sie sich allein und isoliert fühlte.

Paradoxerweise war sie zum erstenmal nicht mehr einsam in ihrem Anliegen, weil sie die anderen implizit aufforderte, sich ihr anzuschließen. Kann sie ihnen das erlauben? Während wir ein immer klareres Gefühl für Kontinuität entwickelten, wandte sie sich dieser Möglichkeit zu. Sie begann, ihre eigenen Schritte einander anzunähern und ein neues Interesse an wirklichen Menschen zu entwickeln. Ich bat sie, das applaudierende Publikum zu spielen und ihr zu antworten. In dieser Rolle sagte sie: "Ich habe über viele dieser Dinge selbst schon nachgedacht (wie sie selbst), aber ich hatte einfach nicht den Mut, nach vorne zu gehen und das zu fragen. Das war nicht vorrangig." Darauf antwortete Denise für sich selbst sprechend: "Wie kannst du das nicht als vorrangig empfinden." - Soweit ein guter Verlauf, doch dann versuchte sie, die neu entstandene Faszination wieder aufzulösen, indem sie zu ihrer Angewohnheit zurückkehrte und anfing, einen Vortrag über Demographie zu halten. Ich unterbrach sie und sagte ihr, daß sie im Begriff sei, den Fluß des Gesprächs um des Vortrags willen zu verlieren. Kann sie den anderen erlauben, die Frage, wie sie diese Vorrangigkeit nicht empfinden können, zu beantworten? Sie stimmte mir zu und sagte: "Oh, ich verstehe. O.K., ich verstehe." Ein Moment, in dem sie sich bewußt würde, wie ihre Angewohnheit, Vorträge zu halten, ihren eigene Prozeß unterbricht. Sie bestätigte, daß sie wirklich einen Vortrag halten wollte, und als ich ihr sagte, daß Vorträge an ihrem Platz wirklich in Ordnung seien, strahlte sie und wir lachten zusammen. Sie fühlte sich wohlwollend ertappt. Ich sagte ihr, daß mir ihr Strahlen gefiele, phantastisch, wie ein Weihnachtsbaum - unsere gemeinsame Kontinuität anerkennend.

Nachdem der sanfte Fluß ihrer Erfahrung von Moment zu Moment in einigen weiteren Schritten vertieft worden war, stellte sie eine konkret ansprechende Frage. Warum beschäftigt sich die Konferenz nicht mit soziologischen Themen wie etwa den Frauenrechten und der Anwesenheit Farbiger? Das führte sie dazu, darüber zu sprechen, wie sie herausfinden könnte, welche der Teilnehmer der Ansicht seien, daß diese Konferenz zukünftig das Thema Ungleichheit bzw. Verschiedenheit einbeziehen sollte. Wir beendeten die Sitzung, als sie erfreut ankündigte, daß sie eine Liste herumgeben würde, in die sich die Teilnehmer eintragen könnten. Ausgehend von einem Idealog hatte sie in vorsichtigen Schritten ihre Aussichtslosigkeit umgewandelt und die Fähigkeit entwickelt, unmittelbar auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse zuzugehen.

In welchem Verhältnis steht diese Sitzung nun zu anderen Verfahren der Aufmerksamkeitssteigerung, wie etwa der Mantra-Meditation oder der klassischen Hypnose? Letztlich wird hier wohl jeder Therapeut eine vertraute Therapiesituation wiederentdecken: man arbeitet Schritt für Schritt, folgt den Spuren und hat ein klares Ziel, nämlich sich vom Problem zur Lösung hin zu bewegen. Im Gegensatz zur Mantra-Meditation und zur klassischen Hypnose sehen wir außerdem eine vertraute Vielfalt an Ideen und Wahrnehmungen: Mosambique, Hilflosigkeit, Ehrgeiz, Ungleichheit, Interaktion und Kommunikation, unterschiedliche Auffassungen über die Richtung, in die man geht. Und doch liegt, im Unterschied zur klassischen Hypnose oder zur Meditation, in diesem einfachen Austausch ein kaum wahrnehmbares Gespür für das natürlich Folgende, und dieses Gespür hilft Denise von ihren diffusen Abstraktionen wegzukommen und sich intensiv dem Fluß ihrer tatsächlichen Erfahrung zuzuwenden. Sicherlich ist diese Methode nicht geeignet, um jemanden zu befähigen, ein Auto hochzuheben oder transzendentale Erfahrungen der Einheit mit dem Universum zu machen; dennoch können wir feststellen, daß durch die Verdichtung der Sequenzen und ihre Annäherung aneinander eine Steigerung der Aufmerksamkeit stattfand, die es Denise ermöglichte, ihre Gewohnheiten zu übersteigen und etwas zu tun, was vorher unmöglich oder unerreichbar zu sein schien.

2.

Die zweite Möglichkeit, die Aufmerksamkeit zu steigern basiert auf der persönlichen Geschichte bzw. den Geschichten des Klienten. Dabei geht es mir um zwei miteinander verbundene Aspekte. Den einen Aspekt bilden die tatsächlichen persönlichen Geschichten und ihre anregende und ordnende Funktion im Leben eines Menschen. Der andere Aspekt besteht in der Gesamtheit der Geschichten, die seinen Lebensweg kennzeichnen und sich zu erfahrbaren Themen heranbilden. Diese beiden Aspekte der Geschichte des Klienten sind Schlüsselelemente der Erneuerung und Steigerung der Aufmerksamkeit gegenüber Ereignissen, die im Unklaren geblieben sind.

Schon immer haben Geschichten die Aufmerksamkeit angezogen. Man braucht nur daran zu denken, mit welcher Verzauberung Kinder auf Geschichten reagieren. Geschichten üben eine große Faszination auf die Psyche der Menschen aus, weil sie Ereignisse des Lebens darstellen, ausmalen und organisieren. Sie verdeutlichen Erfahrung und dienen als Marksteine der menschlichen Existenz. Durch ihre Spannungselemente, ihr "und dann ... und dann ... und dann..." richten sie unseren Blick in die Zukunft. Sie lassen Handlungen und Personen lebendig werden und erschließen den Menschen eine neue Anteilnahme an ihrem Leben.

Denise z.B. hatte diesen Erzählfluß dadurch geschwächt, daß sie immer wieder auf einem abstrakten Niveau über die Probleme von Frauen und Schwarzen in der Gesellschaft sprach und dabei die Ereignisse, die den Erzählfluß eigentlich ausmachen, außer acht ließ. In dieser kurzen Sitzung bekam sie es mit wirklichen und phantasierten Menschen zu tun. Sie kam mit der lebendigen Spannung einer echten Absicht in Berührung, mit den damit verbundenen Schwierigkeiten, und erlebte einen Höhepunkt, der durch den Zusammenstoß verschiedener Kräfte in ihrem Inneren und der Welt, in der sie lebt ausgelöst wurde. Das Zulassen der Beziehung zwischen ihr und den Menschen im Publikum als potentiellen Mitstreitern half ihr, ihre Ideen lebendig werden zu lassen und sich auf andere einzulassen. Um die Aufmerksamkeit zu verstärken, müssen die Elemente der Erzählung, also Akteure, Handlung und Konflikte wieder zugänglich gemacht werden.

Die therapeutische Praxis ist ein Gewächshaus für die Erinnerung der persönlichen Geschichte. Ein gutes Beispiel dafür ist eine achtzehnjährige Studentin. Sie erzählte mir beiläufig, daß sie nach unserer Sitzung zur Fahrschule gehen würde. Neugierig, wie ich bin, wenn es um Geschichten geht, und obwohl sie im Begriff war, zu einem anderen Thema überzugehen, fragte ich sie, was passiert sei. Sie erzählte, daß sie einen Strafzettel bekommen hatte, als sie mitten in der Nacht mit ein paar Freunden zu einem Schnellrestaurant gefahren war. Was uns an dieser ansonsten eher nebensächlich erscheinenden Geschichte auffiel, war, daß sie, die früher Alkoholprobleme gehabt hatte, als einzige nüchtern gewesen war. Sie wäre über diesen erfreulichen Fortschritt einfach hinweggegangen, ohne ihm die Beachtung zu schenken, die eine verstärkte Achtsamkeit mit sich bringt. Diese Belebung ihrer Aufmerksamkeit rief in ihr die Erinnerung an ein früheres traumatisches Erlebnis wach, von dem sie dann erzählte, und das half ihr, ein klares Gespür dafür zu bekommen, wer sie wirklich ist, anstatt nur ihrer blassen Art der Vermeidung zu fröhnen.

Man muß sich darüber im klaren sein, daß sich die Aufmerksamkeit durch das Erfinden und Erzählen von Geschichten nicht zwangsläufig steigert, denn die Klienten sind ihren eigenen Geschichten gegenüber häufig relativ unempfindlich. Entweder haben sie ihre Geschichten wieder und wieder erzählt, ohne sich selbst davon ansprechen zu lassen, oder sie lassen wichtige Details aus, die ihrem Denken eine neue Richtung geben könnten. So lassen sie ihre Ressourcen ungenutzt und die Geschichten werden zu blassen Relikten ihres Lebens. Diese Ereignisse müssen wiederbelebt werden, und die therapeutischen Techniken können dem Klienten helfen, die zwanghafte Darstellung seiner ausweglosen Existenz in eine echte Erfahrung seines gelebten Lebens umzuwandeln.

Der therapeutische Beitrag zu dieser Erneuerung beinhaltet neben anderen Fähigkeiten eine Kombination aus Konzentration, Faszination und Neugier. Diese Eigenschaften erfordern eine Betonung der Ereignisse, die die Geschichte ausmachen, eine Sensibilität für den Wert der Geschichte und einen deutlichen Wunsch, mehr über das Leben des Klienten zu erfahren. Der Therapeut trägt so dazu bei, den gestörten Erzählfluß wiederherzustellen.

3.

Die dritte Quelle der gesteigerten Aufmerksamkeit entstammt dem Konzept des Selbst und seiner besonderen Auffassung, die ich in meinem letzten Buch, A Population of Selves, vorgestellt habe und deren Kernaussagen ich hier kurz zusammenfassen möchte. Es gibt Betrachtungsweisen, die sich auf vage Klassifizierungen eines einheitlichen Selbst beschränken und vom wirklichen Selbst, vom wahren Selbst, vom falschen Selbst oder vom eigentlichen Selbst sprechen oder andere vorbestimmte Kategorien vorsehen, wie etwa das grandiose Selbst, das Kern-Selbst oder das narzißtische Selbst. Im Unterschied dazu habe ich betont, wie maßgeschneidert diese verschiedenen Selbste bei jedem einzelnen ausfallen und wie sie die Fülle der Erfahrungen, die jeder Mensch im Laufe seines Lebens macht, beleben. Was ich hervorhebe ist, daß das Selbst eine Personifizierung von Eigenschaften und Erfahrungen ist, die sich in der Weise personaler Ganzheiten formieren. Jedes Selbst hat einen eigenen Namen und innerhalb der Gesamtfunktion des Individuums eine bestimmte Rolle zu spielen. So könnte man etwa sagen, daß jemand, der in seinem Freundes- und Familienkreis typischerweise zu allem und jedem seinen Kommentar abgibt, ein Kommentator-Selbst in sich hat. Wenn der Therapeut ihn darauf aufmerksam macht, daß er sich ziemlich häufig über das Verhalten anderer auszulassen scheint, dann ist diese Beobachtung an sich häufig schon ausreichend. Um aber diese Beobachtung zu beleben, kann der Therapeut sich statt dessen auf das Kommentator-Selbst beziehen. Richtig ausgewählt, kann diese Bezeichnung einer Gruppe von Erfahrungen als Selbst den Klienten darin unterstützen, seine Erfahrung als wirklich zu empfinden und ihr nachzuspüren.

Ist diese Transformation von Erfahrungen oder Eigenschaften in ein Selbst nun nichts weiter als Sprachkosmetik, die sich eine Interpretation zurechtmacht, um Aufmerksamkeit zu forcieren, wo der Klient ansonsten ausweichten würde?

Was den Unterschied zu sprachlicher Kosmetik ausmacht, ist die Kongruenz mit zwei menschlichen Reflexen, nämlich der Konfiguration und dem Anthropomorphismus.

Erstens: Der Konfigurationsreflex, mit Hilfe dessen wir Erfahrungen zueinander in Beziehung setzen, gehört zu den Grundlagen der Gestaltbildung. Ohne diese integrierende Kraft, deren wir uns normalerweise nicht bewußt sind, würde nichts im Leben wirklich Sinn ergeben. Das Benennen des Selbst dient der Hervorhebung und Vereinfachung dieses komplexen Vorgangs der Konfigurierung, die als Zusammenfassung einer ganz erstaunlichen Vielfalt von persönlichen Erfahrungen verstanden werden kann. In dieser grundlegenden und häufig überlasteten Funktion liegt vielleicht der Grund dafür, daß viele Menschen ein so drängendes Verlangen danach spüren, herauszufinden wer sie sind und eine zuverlässige Identität zu erlangen. Wie können sie all ihr Handeln und Fühlen zusammenbringen, so daß diese endlose Vielfalt an Erfahrungen eine gute Form gewinnt? Sie bemühen sich sehr, sich selbst zu entdecken und zu verteidigen und tragen zu diesem Zweck die härtesten Kämpfe aus. Dies um so mehr in einer Zeit, in der die Erfahrung an Komplexität und der Erfahrungsfluß an Geschwindigkeit zunimmt und die Zusammenfassung der eigenen Natur immer wichtiger wird. Kann die immense Herausforderung der Konfigurierung nicht bewältigt werden, dann hat dieses Scheitern die Isolation von Erfahrungen auf allen Ebenen zur Folge; bestimmte Eigenschaften werden abgespalten und können nicht in die Gesamtheit des Selbsterlebens integriert werden. Für ein Kind, das sich selbst für großzügig hält, kann es schwierig sein, seine Kleinlichkeit mit diesem Bild zu vereinbaren. Das kann zur Abspaltung entweder seiner Großzügigkeit oder seiner Kleinlichkeit führen. Dieser Kampf um die Bestimmung der eigenen Natur ist so bedeutsam für die strukturelle Integrität, daß Selbstbestimmung in der Regel eine Konzentration der Aufmerksamkeit nach sich zieht.

Ein Beispiel hierfür bietet eine Klientin, deren Vater, ein Immigrant, sie unaufhörlich anspornte, erfolgreich zu sein. Anstatt ihr seine tiefempfundene Liebe zu zeigen, tadelte er sie für jede kleinste Unvollkommenheit, als ob er sie dadurch zur Perfektion anregen könnte. Sie kochte vor Wut und zischte ihn an, ging aber auf seine Forderungen ein und war in allem, was sie anpackte sehr erfolgreich. Gleichzeitig wurde sie extrem empfindlich gegenüber jeder Art von Kritik und wurde sehr wütend, wenn ihr Freund z.B. auch nur andeutete, daß er mit etwas, das sie betraf nicht einverstanden sei oder sie zu etwas drängte. Daneben hatte sie viele andere Selbste und wunderbare Seiten, sie war tüchtig, großzügig, ausdrucksstark, liebenswürdig, doch all diese Seiten waren aufs Schärfste bedroht sobald sie mit Schwächen konfrontiert war; sie trennte sich von diesen Eigenschaften, wenn ihre Empfindlichkeit und ihre Wut ins Spiel kamen. Dieser innere Kampf entwickelt eine Dramatik, die fast einem Überlebenskampf gleichkam. Wenn es ihr gelingt, die Widersprüche ihrer verschiedenen Selbste neu zu betrachten, dann wird diese Achtsamkeit ihr helfen, der bedrohlichen Auflösung des Selbst zuvorzukommen und die Herausforderung des inneren Konfliktes und der Koordination anzunehmen.

Zweitens: Das Benennen der Selbste befriedigt darüber hinaus auch den anthropomorphen Reflex, indem Eigenschaften in personale Ganzheiten transformiert werden. Wir tun das unentwegt, und es ist ebenso selbstverständlich wie das Atmen. Unseren Vorfahren galten ihre menschenähnlichen Götter Amor, Mars und Venus als Manifestationen von Liebe, Krieg und Schönheit. Etwas alltäglicher ist die Erfahrung, daß wir eine Büromaschine, die nicht so will wie wir, für "dumm" halten. Eine ähnliche Belebung entsteht durch die Konstruktion von Selbsten aus der Erfahrungskonfiguration eines Menschen. Diese anthropomorphe Bestimmung bewirkt häufig ein tieferes Verständnis für und Einfühlung in die Gesamtheit der eigenen Erfahrungen und Eigenschaften. Wir betonen die Eigenart des Kommentierens oder jemandes Empfindlichkeit, Großzügigkeit oder Leichtgläubigkeit, indem wir diese direkt beschreibbaren Charakteristika in eine greifbare Sprache von inneren Charakteren übersetzen. Die Konflikte, Veränderungen und Absichten dieser inneren Charaktere erhöhen die Erkenntnis dessen, was nicht-personifizierte Eigenschaften weniger deutlich erkennen lassen.

Die Kriterien für eine befriedigende Ableitung von Selbsten haben eine gewisse Ähnlichkeiten mit den Anforderungen guter Literatur. Die Bilder, die man erfindet, müssen dem Material entsprechen, das sie lebendig werden lassen sollen. Das bedeutet, daß die Benennung der Selbste den Klienten tatsächlich widerspiegeln muß. Wie bei allen menschlichen Übersetzungen ist dabei die Übereinstimmung von größter Bedeutung. Man kann das Selbstverständnis eines Menschen entweder steigern, indem man die Selbste präzise benennt, oder es durch fehlerhaftes Verstehen beeinträchtigen. Richtig umgesetzt, kann die Erkenntnis dieser Selbste dem Klienten zu persönlicher Identität verhelfen und eine Vertiefung ermöglichen, die an einen Leser erinnert, der sich mit den Figuren eines Romans identifiziert. Diese Einfühlung hat eine erwärmende Qualität und erhöht die Akzeptierbarkeit eines veränderlichen Selbstverständnisses.

Die drei therapeutischen Instrumente, die ich beschrieben habe, Annäherung therapeutischer Sequenzen, Entfaltung der Geschichte und Zusammenführung des Selbst, dienen als Hinweise auf die Möglichkeiten, die in der Therapie jederzeit zur Verfügung stehen, um Aufmerksamkeit zu wecken und neu auszurichten. Sie ermöglichen, den einzelnen so deutlich auf seine unmittelbare Erfahrung aufmerksam zu machen, daß er sich von einem chronisch hemmenden Hintergrund mehr oder weniger stark lösen kann. Wir kennen alle Situationen, in denen Probleme verschwinden, weil wir ganz in etwas anderem aufgehen, etwa wenn wir einen sehr interessanten Freund treffen oder ein wichtiges Sportereignis verfolgen etc. Diese Aussicht trägt nicht nur zur Unterhaltung bei, sondern lenkt leider häufig auch von dem ab, was nicht ignoriert werden kann.

Doch die Ebene der Konzentration, von der ich spreche, stellt eine zuverlässigere und anregendere Kraft dar, weil sie den Klienten befähigt, sich für seine Erfahrungen zu öffnen anstatt sie zu vermeiden. Wir können die Kraft der Aufmerksamkeit in den uns vertrauten therapeutischen Stil integrieren und dazu benutzen, den Fokus auf die Erfahrung zu verschärfen, die dem Klienten durch die reduzierte oder geteilte Aufmerksamkeit, die jede Neurose mit sich bringt, ansonsten möglicherweise entgehen würde.

Auch wenn der Fokus nicht so extrem scharf ist wie in der klassischen Hypnose oder Meditation, so ist er doch wirkungsvoll genug, um eine vergleichbare Vertiefung in der alltäglichen Welt der vielfältigen Reize zu erzielen.

 

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 Zum Autor:

Dr. Erving Polster

Seit seiner "Lehre" in den frühen 50er Jahren bei Fritz und Lore Perls, Paul Goodman, Paul Weisz und Isadore From hat Erving Polster einen eigenständigen und bedeutenden Beitrag zur Weiterentwicklung und Verbreitung der Gestalttherapie geleistet. Er ist Mitbegründer und ehemaliger Leiter des "Gestalt Institute of Cleveland", Mitverfasser des Klassikers "Gestalttherapie. Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie" (zusammen mit seiner Ehefrau Miriam) und Autor zahlreicher weiterer Publikationen. Gegenwärtig ist Erving Polster Co-Leiter des "Gestalt Training Center, San Diego" und lehrt klinische Psychologie in der "School of Medicine at the University of California, San Diego".

In deutscher Sprache erschien außerdem sein Buch "Jedes Menschen Leben ist einen Roman wert" (EHP).

Der vorliegende Essay ist zuerst erschienen in: "The Evolution of Psychotherapy: The Third Conference", herausgegeben von Jeffrey K. Zeig, New York 1996, Brunner/Mazel.

© 1996 by Milton H. Erickson Foundation.

Wir danken dem Herausgeber, dem Verlag und der Stiftung für die Genehmigung der deutschen Erstübersetzung und der Veröffentlichung auf dieser Page.

Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg.

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