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Cornelia Muth
Zum Hintergrund von Martin Bubers Ich&Du


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 2-2004):

Cornelia Muth
Zum Hintergrund von Martin Bubers Ich&Du

 

Foto: Cornelia MuthCornelia Muth

 

Bitte beachten Sie auch diesen Hinweis: Während der Monate Mai und Juni 2004 zeigen wir im Foyer des Gestalt-Instituts Köln/GIK Bildungswerkstatt die Ausstellung »Who is MB?«. Diese Ausstellung des Heppenheimer Martin-Buber-Hauses stellt mit Hilfe von Fotos, Dokumenten und erklärenden Texten Person und Ideen von Martin Buber dar. Über Ihren Besuch würden wir uns freuen. Bitte nehmen Sie zur Terminabsprache telefonisch mit uns Kontakt auf: GIK, Tel. (0221) 416163. Danke.

1923 erschien Ich&Du, die zeitlose Schrift des jüdischen Sozialphilosophen Martin Buber (1878-1965). Warum diese Schrift eine zeitlose ist, begründet der Autor selbst. Er will auf ewige Wirklichkeit hinweisen: »Ich habe keine >Lehre< . Ich habe nur die Funktion, auf solche Wirklichkeiten hinzuzeigen. Wer eine Lehre von mir erwartet, die etwas anderes ist als eine Hinzeigung dieser Art, wird stets enttäuscht werden. Es will mir jedoch scheinen, daß es in unserer Weltstunde überhaupt nicht darauf ankommt, feste Lehre zu besitzen, sondern darauf, ewige Wirklichkeit zu erkennen und aus ihrer Kraft gegenwärtiger Wirklichkeit standzuhalten. Es ist in dieser Wüstennacht kein Weg zu zeigen; es ist zu helfen, mit bereiter Seele zu beharren, bis der Morgen dämmert und ein Weg sichtbar wird, wo niemand ihn ahnte.« (Buber 1978, 407f.). Diese erste Wirklichkeit ist Ich-Du, der Kontaktvollzug zwischenmenschlicher Beziehungen bzw. Kraft und Quelle von Wachstum. Dazu gehört eine zweite Daseinsform, die des Ich-Es. Beschreibt Ich-Du die wechselseitige und unmittelbare Subjekt-Subjekt-Begegnung, meint Buber mit Ich-Es ein einseitiges Subjekt-Objekt-Verhältnis oder auch die monologische Seite des Menschen, die nicht zu verurteilen oder abzuwerten, sondern lebensnotwendig ist: »Der Ich-Es-Modus kann, wie Farber... feststellt, auch im Sinne der >Ich-Funktion< verstanden werden... . Sie umfaßt Funktionen wie Urteilsvermögen, Willen, Orientierungsfähigkeit und Reflexion... . Auch Ich-Bewußtsein und das Gefühl des Begrenztseins gehören dazu... Innerhalb des Ich-Es-Modus ordnet ein Mensch sein Leben nach Raum und Zeit. Besonders wichtige Bestandteile des Ich-Es-Modus sind auch alle Gedanken und Gefühle sowie alle Versuche, sich anderen Menschen verständlich zu machen« (Jacobs 2003, 96; vgl. Gremmler-Fuhr 1999). Doch spiegelt der Autor von Ich&Du sowohl Zeitloses als auch geschichtlichen Zeitgeist wider: Buber fragte sich einerseits, wie Frieden nach dem verheerenden 1. Weltkrieg möglich ist, wenn Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg sein kann. Andererseits spürte er das spirituelle Bedürfnis der Menschen des 20. Jahrhunderts und beschreibt die »wirklichen«, d. h. essentiellen Prozesse der menschlichen Existenz. Lynne Jacobs (1978) sagt diesbezüglich in ihrer Doktorarbeit über die Ich-Du-Beziehung in Gestalttherapie: »... Buber breaks the dichotomy between spiritual experience and daily living« (54). Dialogische Kennzeichen von Ich-Du als »interpenetration of spirituality with daily living« sind für Lynne Jabobs in der Gestaltpraxis:

Inwiefern diese Begriffe in Verbindung mit Spiritualität zu bringen sind, soll im Folgenden anhand der Gedankenwege von Martin Buber zum Ich&Du gezeigt werden.1 Buber will in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts weiterhin das Religiöse in der Welt sehen. Die Anerkennung von »Religion als Gegenwart« wurde ihm deswegen nicht nur als Jude eine Leitfrage für die Vorträge mit gleichem Titel, die er von Januar bis Februar 1922 am Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main gehalten hat, sondern bildet/e zugleich das Fundament seines Büchleins Ich&Du.

 

Religion als Gegenwart

Erst vor gut 30 Jahren entdeckte Rivka Horwitz (1978) die Manuskripte der genannten Vorträge im Martin-Buber-Archiv der Hebräischen Universität in Jerusalem. Bis dahin war in der Buber-Forschung relativ unbekannt, dass vier der acht Vorträge eine Grundlage von Ich&Du bilden. Die Vorträge I, II, III und VII beinhalten Bubers philosophische Grundlagen, die anderen Elemente von Ich&Du. Die Begriffe Ich-Du und Ich-Es hat der Autor erst kurz vor Manuskriptabschluss hinzugefügt. Zuerst sollte der Titel »Das Gegenüber und das Dazwischen« lauten. Insgesamt zeigen die Vorträge Bubers Weg, aus seiner Enttäuschung mit der Mystik eine neue Verortung von Religion zu entwickeln. Für ihn lag die Wahrheit nicht mehr in der mystischen Einheit, sondern nun und nur allein in der Begegnung. Mit Ich&Du entzieht sich Buber darüber hinaus dem Interesse an fernöstlichen Religionen. Von da an beziehen sich seine Gedanken und sein ganzes Leben auf den biblischen Gott.

In seinem ersten Vortrag legt Buber seine Wahrnehmung von Religion dar. Religion ist für ihn gelebte und absolute Gegenwart. Diese kann nie Vergangenheit werden, weil Religion sich immer gegenwärtig offenbart. Zudem kann eine solche absolute Wirklichkeit nicht von einer anderen funktionalisiert werden.

Ein Synonym für Religion ist in Bubers Gedanken auch Geist, dessen Absolutes sich »allzeitlich und allräumlich« zeigt und sich nach den Erfordernissen des Lebens »entspinnt«. Religion spricht zum Leben und umfasst es. Sie steht nicht am Rande. Als Kraft spricht sie zur Kultur, und gleichzeitig kann ihr keine wissenschaftliche Kategorie übergestülpt werden.

In anderen Publikationen setzt Buber Ich-Du mit Geist gleich. Damit betont er, wie jede echte Begegnung ihren einzigartigen Verlauf finden kann, und die Quelle nicht allein die beteiligten Menschen sind, sondern eine Kraft, die größer wirkt als jeder Mensch für sich allein.

Im zweiten Vortrag setzt Buber seine Beschreibung von Religion fort. Für ihn ist Religion keine Weltanschauung. Ideologische Konzeptionen sind seines Erachtens nicht wirklich mit dem Leben verbunden. In dieser Hinsicht bleibt Religion einerseits selbständig und andererseits mit allen Sphären des Lebens verbunden. Deswegen steht der Mensch in einem »unerschütterlichen Grund«, und Gott trägt dieses Leben als Schöpfer. Daraus folgen für den religiösen Menschen weder Gesetz noch Moral, was die Lebenssinnsuche betrifft. Der Lebenssinn offenbart sich vielmehr in Entscheidungen, die sich wiederum in den elementaren Tiefen der Seele vollziehen und weder durch Reflexion noch durch Analyse erreicht werden können. Solche Entscheidungen betreffen das Gerechte und Ungerechte. Sie drücken sich im Gerichteten und Ungerichteten als Entscheidungskraft aus.

In den menschlichen Entscheidungen zeigen sich das unbegrenzte Leben einerseits und andererseits die Verantwortung des Menschen, sich ewiglich entscheiden zu müssen. Menschen meinen fälschlicherweise, durch Religion Richtlinien für diese Entscheidungszwänge bzw. Lebensrichtungen, Orientierung, zu bekommen. Doch dem Bösen kann der Mensch durch die Wahl von so genannten guten Religionen nicht entgehen. Auch die Wissenschaft kann diesbezüglich nicht helfen, denn sie ist ebensowenig ein »Seinssystem«. Der Mensch kann das Böse nur geistvoll akzeptieren, d. h. im Religiösen als Gegenwart empfangen. Infolgedessen ist die Sphäre des Du frei von Ideologien und Zuschreibungen jeder Art und bestätigt dadurch das echte Sein.

Im dritten Vortrag nennt Buber den Ort, welchen Seele und Gefühle in seiner Sicht von Religion haben. Die Seele ist Voraussetzung des Religiösen und kann nicht, wie es z. B. die Psychologie vollzieht, isoliert betrachtet werden. Für Buber ist die Seele die Beziehung des Menschen zur Welt. Gefühle sind für ihn eine andere Sphäre als die Seele. Zudem können Gefühle nicht mit dem Religiösen verbunden werden, weil erstere polar sind und nicht auseinandergerissen werden können. Gefühle geschehen im Menschen, das Religiöse jedoch am Mensch und mit den Menschen in einer Wirklichkeit. Religion umfasst dabei alle Elemente des Lebens, sie ist aber nicht daraus gebaut. Für Buber ist das Religiöse »große, lebendige, sichtbare, gelebte Gegenwart«. Es hat den »Charakter von Vitalität, Wirklichkeit und Unaufgebbarkeit« (ebd., 81).

Im vierten Vortrag nennt Buber das erste Mal die Worte Ich&Du. Es wird noch einmal deutlich, dass er damit einen Weg aufzeigen will, der keinen Weg von Erfahrungen abbildet, auch wenn damit ein »Befahren der Dinge« gemeint ist: »Man erfährt die Dinge und holt sich aus ihnen, indem man sie erfährt, Erfahrung heraus, man bekommt ein Wissen von den Dingen sozusagen aus den Dingen heraus und dieses Wissen hat eben die Dinge zum Gegenstand. Man erfährt, was die Dinge sind, was an den Dingen ist. Immer also handelt es sich um ein Etwas, das erfahren wird. Man bekommt die Beschaffenheit der Dinge zu wissen, also ein Wißbares und Aussagbares zu fassen« (ebd., 83). Dazu gehören für Buber gleichfalls die menschlichen Erfahrungen mit der Innenwelt, mit den so genannten inneren Vorgängen. Diese Selbsterfahrungen sind von Ich-Du-Beziehungen zu unterscheiden. Erst aus letzteren entwickelt sich das wirkliche Ich des Menschen, der sich dann als Subjekt der Welt gegenüberstellen kann. Das Du, die Du-Beziehung ist in jedem Menschen eingeboren und entfaltet sich in den Du-Beziehungen. Sie werden im fünften Vortrag genauer beschrieben. Buber gibt in diesem vier Beispiele für Beziehungen zu einem Du:

1. Die Beziehung zu einem geliebten Menschen
2. Die Beziehung zur Natur
3. Die Beziehung zum künstlerischen Werk
4. Die Beziehung zur Entscheidung

Insbesondere in der Tat zeigt sich die Entscheidung. In ihr tritt dem Menschen etwas Gegenüber. Wenn der Mensch vor das Angesicht des Du getreten ist, machen Entscheidungen frei. Bei Entscheidungen zum Du besteht keine Polarität, sie hört dann auf. Ein solches Du ist zudem nicht objektivierbar.

Abschließend spricht Buber vom absoluten Du, das immer vorhanden und geistige, bewusste Verbindung mit dem Leben in der Gegenwart ist. Dieses »absolute Du, das Seiende, das Unbedingte als Du ansprechend« ist immer gegenwärtig. Der Mensch kann es nicht suchen, er entdeckt es, wenn er dafür eine empfangende Haltung einnimmt.

Im sechsten setzt Buber die Beschreibungen von Gott mit dem absoluten Du, mit der absoluten Gegenwart und mit dem unendlichen bzw. ewigen Du gleich. Gott, die Schöpfung kann in dieser Hinsicht wohl angesprochen, aber nicht »ausgesagt« werden. D. h. dieses Du ist unendlich und kann nicht zum Ding gemacht werden. Dadurch dass der Mensch »Du absolutes Du« sagen kann, ergibt sich ein Zusammenhang mit den anderen Du-Momenten und darüber hinaus, dass Du-Beziehungen nicht im Menschen, sondern »zwischen dem Menschen und einem seienden Du« sind. Diese Art des menschlichen Seins erschließt sich nur in den jeweiligen Beziehungen, die »wesenhaft« verschieden sind von »abgespalteten Tätigkeiten«: »Das ist die Tätigkeit des ganz gewordenen Menschen, die man in einzelnen Religionen das Nichttun genannt hat, wo sich nichts Einzelnes mehr, nichts Teilhaftes mehr am Menschen rührt, also auch nichts von Menschen in die Welt eingreift, sondern der ganze, in sich geschlossene, ruhende Mensch wirkt, ausgeht, wo der Mensch eine wirkende, eine ausgehende Ganzheit geworden ist« (ebd., 113). Eine wirkende Ganzheit wird der Mensch durch die Annahme der unmittelbaren Gegenwart, die sich in »Sich-in-Beziehung-setzen« ausdrückt. D. h. auch, dass Verantwortung »im Jetzt und Jetzt« als ein Sich-in-Beziehung-setzen« passiert. Und diese Verantwortung ist die eigene Tätigkeit. Jedes Ich, das in die Du-Beziehung tritt, erschließt die zu verantwortende Welt. Dabei bilden Ich&Du keine Einheit, sondern eine Zweiheit. Es gibt keine Vereinigung, nur Verbindung. In der Anerkennung der Andernheit, der/des anderen Du, liegt die Verbindung. Die Vielfalt der Du-Beziehungen bilden das Lebendige, das Leben.

Welche Rolle das einzelne Individuum im Religiösen spielt, damit beginnt Buber seinen siebten Vortrag. Folgendes erläutert er zur religiösen Wirklichkeit: Sie geht für ihn immer vom Ich aus, erst dann kommt das Wir. Der Weg zum werdenden Ich besteht aus Krisen, deren Form »in die nackte, freie Beziehung, in die Freiheit und Einsamkeit der Gestaltlosigkeit, das heißt der Wortlosigkeit, des Schweigens, des Harrens, der Bereitschaft« geht (ebd., 134). Für Buber ist jede Krise eine neue und wiederholt sich nicht. In solchen Zeiten dürfen Menschen bekennen, was sie sind und was sie haben. Sinn liegt dann in der reinen Beziehung. Das Tun und Können (nicht das Sollen und Müssen) aus der Beziehung ist Bewährung des Sinns: »Jeder muß es (das Tun - CM) bewähren mit seiner Kraft, nach seiner Art, in seinen Grenzen, in seiner Sprache, in seinem Leben, an dem Ort, wo er steht und in dem Augenblick, in dem er steht, in der Einzigkeit seines Lebens« (ebd., 135). Der Mensch empfängt dann wahrhaft seinen Anruf. Dafür gibt es keine Formel. Durch sein Tun offenbart sich der Mensch. Gleichzeitig empfängt er Gegenwart und Kraft in der Offenbarung.

Der letzte Vortrag behandelt die so genannten Offenbarungsreligionen, die das Urphänomen des »Jetzt und Hier« charakterisiert, was wiederum die Offenbarung selbst ist und sich im Ich-Du ausdrückt: »Und der Mensch, der jeweilig aus der reinen Beziehung hervortritt, hat in seinem Wesen, in seinem Leben, in seiner Person ein Mehr, ein Hinzugetretenes, das er zuvor nicht hatte, von dem er zuvor nicht wußte und dessen Ursprung er nicht zu bezeichnen vermag« (ebd., 139). Dies ist der Offenbarungsprozess der reinen Beziehung: »Die Wahrheit und Wichtigkeit des Vorgangs ist, es geschieht uns etwas, wir empfangen etwas, was wir zuvor nicht hatten, und wir empfangen es so, daß wir zuinnerst wissen, es ist uns etwas gegeben worden« (ebd.). Der Sinn dieser Gegenwart kann nicht direkt erkannt werden. Vielmehr empfängt der Mensch in der Gegenwart eine Kraft, die die ganze Fülle der Gegenseitigkeit, d. h. »das Nichtmehr-Abgetrennt-, Nicht-mehr-Aufsichangewiesen, Nicht-mehr-Preisgegebensein« (ebd., 140).

Diesbezüglich stellt Buber hervor, dass Menschen einen Kontinuitätsdurst, ein Verlangen nach Du-Beziehungskontinuität haben, hinter der seines Erachtens die Weltangst liegt. Doch die echte Ich-Du-Beziehung kann nicht festgehalten, nur »bewährt..., erfüllt, verwirklicht, bestätigt werden« (ebd., 143). Buber betont, dass jedem Menschen diese Form von Offenbarung frei zur Verfügung steht, und jedeR die »Aussendung dorthin« erleben kann. Sie liegt nicht darin, sich Gott zuzuwenden, sondern, »... diese Sendung dahin, ins Bewähren, in die Tat, in die Menschheit, in die Welt, in das Wir, an den Ort der Verwirklichung, das ist die Kraft, das ist es, was die Offenbarung gibt« (ebd., 145). Oft unterliegt der Mensch jedoch seiner Selbstbezogenheit: Er biegt sich in seiner Offenbarung zurück und macht sich selbst zum Gegenstand. Jedoch kann der Mensch mit sich selbst nicht In-Beziehung-treten. Buber nennt diesen Vorgang »Rückbiegung«, wenn der Mensch die Notwendigkeit der Beziehung zum anderen Menschen und die immer währende Möglichkeit der allgegenwärtigen Offenbarung nicht anerkennt. Offenbarung ist hierbei ein Hören, Empfangen der Anrede Gottes. Im Tun vergegenwärtigen wir uns dessen: »Und immer wieder führt die Offenbarung zu Gestalt« (ebd., 151). Eine offenbarte Gestalt löst dabei die nächste ab, jeder Anfang ist ein Ende, jedes Ende ein Anfang. Was passiert, wissen wir nicht: »Wir stehen und bleiben im Geheimnis« (ebd., 152).

Die vorangegangene Darlegung hat den Entstehungsprozess und die existentielle Tiefe von Ich&Du aufgezeigt. Doch nicht nur diese Vorlesungen, sondern auch Bubers langjährige Auseinandersetzung mit dem Chassidismus, einer jüdischen Sekte des Ostjudentums im 18. Jahrhundert können als Hintergrund von Ich&Du betrachtet werden (vgl. Portele ebd., 13ff.).

 

Buber und der Chassidismus

Der Chassidismus ist Bubers Lebenshaltung, was sich im Vorwort des dritten Werkbandes »Schriften zum Chassidismus« (1963) deutlich zeigt: »Seit ich die Arbeit am chassidischen Schrifttum begonnen habe, ist es mir um die Lehre und den Weg zu tun. Aber damals meinte ich, das sei etwas, was man auch bloß betrachten könne und dürfe; seither habe ich erfahren, daß die Lehre zum Lernen und der Weg zum Gehen da ist« (ebd., 7). Weiterhin gibt es für Buber eine Kernaussage der chassidischen Lehre, deren grundsätzliches Anliegen das Heiligen der Welt und der Menschen ist. Heiligen bedeutet hier, den göttlichen Funken entdecken, was sich konkret darin ausdrückt, das Hier und Jetzt zu verantworten und mit ganzer Hingabe lebendig zu sein. Wenn Buber diesbezüglich vom Göttlichen spricht, werden im Folgenden Elemente der im vorhergehenden Abschnitt dargestellten »Religion als Gegenwart« deutlich:

Die Kernaussage lautet: »Der Mensch kann dem Göttlichen nicht nahekommen, indem er über das Menschliche hinauslangt; er kann ihm nahekommen, indem er der Mensch wird, der zu werden er, dieser einzelne Mensch da, erschaffen ist« (Buber 1963, 947). Diese Beschreibung erinnert an Beissers (1997) These zur Paradoxie der Veränderung und an seinen Erkenntnis- bzw. Integrationsprozess, der in engem Zusammenhang mit seiner Krankheitsgeschichte steht (vgl. ebd.). Hier beschreibt Beisser detailliert seine sich verändernde Beziehung zur Wirklichkeit. Ähnlich, fast gleich deutet Buber die chassidische Lehre, was die Erneuerung der Wirklichkeit betrifft: >Erneuert< bedeutet hier zwar einen Gegensatz zu >alt<, denn es ist ein eitles Bemühen, dergleichen von früheren Zuständen aus bewirken zu wollen, statt von dem aus, in dem man sich befindet, und man kann das Heil für eine geschichtliche Stunde nur von ihren eigenen, vorher nicht vorhanden gewesenen Voraussetzungen aus suchen; aber es bedeutet auch etwas ganz anderes als >neu<, denn die zur Herstellung des Heilsmittels erforderlichen Stoffe selber lassen sich nicht herstellen, sie müssen bereit sein. Worauf es ankommt, ist die Wiederverknüpfung mit dem Gewesenen und der Umschwung in einem; der Wiedereintritt in die Überlieferung, aber eine Überlieferung, die umgestaltet worden ist« (ebd., 786f.). Infolgedessen geschieht Heilung nicht aus der Absicht heraus, sondern zeigt sich als »... das Erzeugnis eines persönlichen Daseins, in dem das Heil, die erneuerte Beziehung zur Wirklichkeit sich verkörpert. Das Dasein ist nicht auf diese Wirkung gerichtet, es ist nur eben, wie es ist, und darum wirkt es, was es wirkt« (ebd. - Hervorhebung im O).

Die Heilosigkeit der Welt ist laut dem Chassidismus durch den menschlichen Widerstand bedingt, das Heilige ins gelebte Leben zu integrieren bzw. »die Erkrankung des Kontaktes mit den Dingen und Wesen« (ebd., 945 - Hervorhebung von CM). Wie dieser Kontakt erneuert wird, dafür gibt es kein »allgültiges Wissen des Seins und Sollens, nur um das Jetzt und Hier der menschlichen Person, den ewigneuen Schoß der ewigen Wahrheit, zu tun« (ebd., 804 - Hervorhebung von CM). Darüber hinaus sind es das »Licht für das schauende Auge, Kraft für die wirkende Hand... im unendlichen Ethos des Augenblicks« (ebd., 804f.), die das Lebendige verwirklichen.

Entscheidend ist jedoch auf dem Weg der Erneuerung der »wahre Umgang« mit den Dingen und Wesen, der darin besteht, dass der Mensch alles »mit seinem ganzen Wesen«, d. h. geistig-leiblichen tut. Mit dieser »geeinten Kraft soll der Mensch tun, was er tut« (ebd., 800). Übertragen auf die Perspektive des Gestaltansatzes könnte hier der Bezug zu Figur und Hintergrund und zu einem 'gelungenen' Kontaktprozess gemacht werden. Dazu gehört die Präsenz des Augenblicks. Wichtig ist, »womit man sich gerade abgibt« (ebd., 842). Dahin führen keine Methode und kein Wissen. Der Mensch begegnet dem, was kommt im Dienst des Lebendigen: »... er (der Mensch -CM) hat immer wieder den unvorhergesehenen, unvorhersehbaren Augenblick zu bestehen, immer wieder im anflutenden Augenblick einem begegnenden Ding oder Wesen Erlösung, Erfüllung zu reichen« (ebd., 842). Ein solcher Integrationsprozess braucht nichtsdestoweniger die Ehrfurcht vor dem Worte bzw. das ernst genommene Wort in der einzigartigen Situation: »Nicht das Wort für sich wirkt auf die Wirklichkeit zu, nur das in eine ganz menschliche Existenz gefügte, aus der ganzen erscheinende, die ganze begleitende Wort« (ebd., 834). D. h. der Mensch braucht wirklich Kontakt zu seiner Sprache und damit auch zu seinen Gefühlen und Leib. Dazu gehört die Integration von Projektionen und Introjekten etc. Der Chassidismus bezeichnet diese 'desintegrierenden' Kontaktfunktionen des Menschen mit »fremden Gedanken« und dem »bösen Trieb« (ebd., 795ff.). Doch auch diese Bereiche sind gottgewollt und somit nicht zu verdammende Elemente der Wirklichkeit, denen der Mensch insofern dienen kann, in dem er sie heiligt und die »böse Kleidung« entfernt und den göttlichen Funken befreit. »Die Sünde ist das Irregreifen der Kraft, aber die irregreifende Kraft selber ist von Gott« (ebd., 797), und deswegen gibt es die Möglichkeit, den Funken zu entdecken. Dies geschieht durch Umkehr: Der Mensch erkennt die richtungslose, blinde Kraft, »die in der Begierde ausbricht« und gibt ihr »Richtung auf die Wahrheit« hin (ebd., 798).

Übertragen auf die Gestaltpraxis könnten hier Bezüge zur Authentizität und Implosion der alten Schichten hergeleitet werden. Für die professionelle Beziehungspraxis seien abschließend noch drei Elemente der chassidischen Lehre genannt: Verantwortung, Gegenseitigkeit und die Akzeptanz der Anderheit. Letztere drückt den radikalen Respekt vor der Ganzheit des Menschen, der nicht nur »besteht« oder »erlebt«, sondern »Entgegenkommendes und Herzuwirkendes« ist (ebd., 839). Für diese Anderheit haben die Professionellen im Dienste der Heilung und Erlösung bzw. der Integration vorübergehende Verantwortung; d. h. auch, dass TherapeutInnen, PädagogInnen den Funken der Selbst-Verantwortung beim Klienten, bei den Lernenden wecken bzw. enthüllen müssen, damit selbige nicht »erlöschen« (ebd., 771). Schließlich und endlich ist dieser Prozess nur als gegenseitige Beziehung möglich. Eine Lern-Heil-Bindung braucht Wechselwirkung zur Entfaltung der heiligen Macht des Lebens (vgl. ebd., 825).

 

Der geistig-seelische Hintergrund der persönlichen Struktur Martin Bubers oder gibt es dialogische Introjekte?

Da fast alles zum Introjekt für Menschen gemacht bzw. 'geschluckt' werden kann, ist Ich&Du auch nicht davor geschützt. Einiges an ungewollten aber doch existierenden Gestaltverhaltensnormen ist insbesondere an die Person von Fritz Perls geknüpft. Dieses Phänomen ist allen Schulen geläufig, wenn SchülerInnen ihre MeisterInnen imitieren. So ist Ich&Du auf dem Hintergrund der persönlichen Struktur Martin Bubers kritisch zu betrachten. Einerseits scheint der frühe Mutterverlust Buber in seine Sehnsucht nach dem Du geprägt zu haben, andererseits ist die jüdische Kulturpraxis eine ausgesprochene auf Gemeinschaft ausgeprägte (vgl. Muth 1998). Dennoch ist ein geistig-seelischer Hintergrundtypus in seinen autobiographischen Fragmenten erkennbar (vgl. Reifarth 1997). Buber leitet seine Autobiographie (1986) damit ein, dass hier nicht von seinem persönlichen Leben zu berichten sei, sondern von den Momenten, die sein Denken beeinflusst haben. Im Weiteren berichtet er, wie wichtig Worte und Sprache für ihn grundsätzlich sind. Gefühle spielen dagegen in Bubers Denken überhaupt keine Rolle. Worte wie Helfen, Fürsorge und Mitgefühl gehören ebenfalls nicht zum dialogischen Kanon. Vielmehr geht es um Rückhaltlosigkeit, Wagnis, um Sich-in-Beziehung-setzen, um die unverwechselbare Anderheit und um Selbstverantwortung. Hier scheinen die Seiten in den Vordergrund zu kommen, die bei ihm gehemmt waren (vgl. Blankertz 2004): Der Kontakt zu Menschen, zum grundsätzlichen Handeln, die Wahrnehmung des Leibes, Gegenwärtigkeit, Präsenz der Ich-Persönlichkeit, Gewahrsein für Überraschung und Geheimnis. Die polare Seite dazu könnte bei Buber folgende gewesen sein und damit sein Ausgangspunkt, von der er im »Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre« (2003) spricht: Selbstbesinnung. Buber wusste wahrscheinlich nur zu gut, wie sein distanziertes Beobachterssein, sein interaktioneller Geiz und seine intellektuelle Arroganz Dialoge verhindert haben (vgl. Reifarth 1997, 134). Ebenso gehören dazu sein übertriebener Freiheitswille bzw. Wunsch nach Autonomie und Ungebundenheit bei gleichzeitiger Weltangst und Weltrückzug. Mag für Buber Beobachtung und Denken eine Seite seines Lebens gewesen sein, weswegen Rückhaltlosigkeit und Beziehung für ihn heilsame Attribute sind, so ist doch für jede unverwechselbare Anderheit die Du-Entscheidung immer wieder aufgrund eigener Selbstbesinnung zu treffen. Andere Menschen mögen genau entgegengesetzt ihr Leben gestalten: Dynamisches, spontanes Auftreten und Abhängigkeit in Gruppen leben. Diesen Menschen wiederum könnte Rückhaltlosigkeit eine Richtung geben, die nicht ihre, sondern die Bubers ist. Insofern ist die chassidische Frage am Anfang jeder Transformation und der Entdeckung dialogischen Lebens zu stellen, woher der/die Einzelne kommt und vor wem er/sie sich zu verantworten hat (vgl. Muth 1998, 53).

Die vorangegangenen Darstellungen versuchten, Aufschluss über den Hintergrund von Ich&Du zu geben. Mögen Sie keine negativen Eindrücke beim Verstehen hinterlassen und zum Lesen von Ich&Du motivieren!

 

Literatur

Beisser, A. R.(1997): Wozu brauche ich Flügel?, Köln/Wuppertal: Peter Hammer Verlag/GIK.

Blankertz, Stefan (2004): Gestalttherapeutische Diagnostik in Beratung, Therapie und Coaching. Gestaltkritik 13/1, 62-74.

Buber, Martin (1963): WERKE. Dritter Band: Schriften zum Chassidismus. München/Heidelberg: Kösel Verlag/Verlag Lambert Schneider.

Buber, Martin (1978): Nachwort. In: Zwischen Zeit und Ewigkeit GOG UND MAGOG. Heidelberg: Lambert Schneider, 399-408.

Buber, Martin (1986): Begegnung: Autobiographische Fragmente. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider.

Buber, Martin (1995): Ich&Du. Stuttgart: Reclam.

Buber, Martin (2003): Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre. Gütersloh. Gütersloher Verlagshaus.

Doubrawa, Erhard/Staemmler, Frank-M. (Hg.) 2003: Heilende Beziehung: Dialogische Gestalttherapie. Köln/Wuppertal: Peter Hammer Verlag/GIK.

Frambach, Ludwig (1994): Identität und Befreiung in Gestalttherapie, Zen und christlicher Spiritualität. Petersberg: Verlag Via Nova.

Gremmler-Fuhr, Martina (1999): Dialogische Beziehung in der Gestalttherapie. In: Fuhr, Reinhard/Sreckovic, Milan/Gremmler-Fuhr, Martina (Hg.): Handbuch der Gestalttherapie. Göttingen: Hogrefe, 393-416.

Horwitz, Rivka (1978): BUBER'S WAY TO I AND THOU. An Historical Analysis and the First Publication of Martin Buber's Lectures »Religion als Gegenwart«. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider.

Jacobs, Lynne Margaret (1978): I-Thou Relation in Gestalt Therapy. A dissertation submitted in partial satisfaction of the requirements for the degree Doctor of Philosophy in Psychology, California School of Professional Psychology, Los Angeles.

Jacobs, Lynne (2003): Ich&Du, hier und jetzt: Zur Theorie und Praxis des Dialogs in der Gestalttherapie. In: Doubrawa/Staemmler, 95-124.

Muth, Cornelia (2001): Der Andere ist der Weg: Martin Buber. Gütersloh: Kiefel.

Muth, Cornelia (2001): Zwischen Gut und Böse: Mit Martin Bubers sechs Schritten nach der chassidischen Lehre das eigene Leben gestalten. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Muth, Cornelia (1998): Erwachsenenbildung als transkulturelle Dialogik. Schwalbach/Ts.: WOCHENSCHAU Verlag.

Portele, Heik (2003): Martin Buber für Gestalttherapeuten: Fritz und Laura Perls und Buber. In: Doubrawa/Staemmler, 11-26.

Reifarth, Wilfried (1997): Das Enneagramm: Idee - Dynamik - Dimensionen. Frankfurt/M.: Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge.

Schoen, Stephen (1997): Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten. Gestalttherapie als spirituelle Suche. Wuppertal: Peter Hammer Verlag.

 

Anmerkung

1 Auf die spirituelle Unbewusstheit oder Ablehnung des Religiösen in der Gestaltpraxis haben schon Heik Portele (2003) und Stephen Schoen (1997) hingewiesen. Ludwig Frambach (1994) hat die Nähe und Überschneidung zwischen Zen, christlicher Spiritualität und Gestalt untersucht.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Foto: Cornelia MuthCornelia Muth

Dr. Cornelia Muth

Jahrgang 1961, Diplom-Pädagogin/Erwachsenenbildung, Gestaltpädagogin (IGG Berlin), Systemische Coachin (BIF). Seit 2001 Professorin für Erziehungswissenschaft an der Fachhochschule Bielefeld für den Fachbereich Sozialwesen.Veröffentlichungen zum Dialogischen Prinzip Martin Bubers, Transkulturalität, Frauenbildung und Hochschuldidaktik

1995 wurde sie ausgezeichnet mit dem Schader-Migrationspreis für das Projekt Interkulturelle Hochschulbildung, 2002 als Mitglied eines Team-Teaching zu Global Social Work mit dem Synergiepreis für beispielhafte Interdisziplinarität der Fachhochschule Bielefeld und 2004 mit gleichem Preis für Duo-Teaching zur Dialogischen Diagnostik

Mitglied in der Martin-Buber-Gesellschaft, dort arbeitet sie in der pädagogischen Sektion mit.

Wichtigste Lehre/LehrerInnen: Abgeschiedenheit und Menschen, die zuhören bzw. schweigen können.

In unserer Edition gikPRESS ist bereits ein weiteres Buch von ihr erschienen: »Das Zwischen!? Eine dialog-phänomenologische Perspektive«.

Bitte beachten Sie auch Cornelia Muths Veröffentlichung zum Thema: »Willst Du mit mir gehen, Licht und Schatten verstehen? Eine Studie zu Martin Bubers Ich und Du«, ibidem-Verlag, Stuttgart.

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