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Laura Perls
Ein Trialog
Im Gespräch mit Richard Kitzler und E. Mark Stern


Aus der Gestaltkritik 2/2005

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik 2-2005:

Laura Perls
Ein Trialog
Im Gespräch mit Richard Kitzler und E. Mark Stern

 

Foto: Laura PerlsLaura Perls, Foto Mitte der 1980er Jahre, © Theo Skolnik

Mit der Geschichte der Gestalttherapie wird immer noch fast ausschließlich Fritz Perls verbunden. Der Beitrag seiner Frau Laura bleibt häufig unerwähnt, obwohl sie von Anfang an maßgeblich an der Entwicklung beteiligt war.

Und nicht nur das. Laura Perls steht für einen ganz besonderen Stil: für liebevolle Aufmerksamkeit, für Wohlwollen, Einfühlungsvermögen und Unterstützung der KlientInnen in einer sehr bodenständigen Arbeit. Eben für die »mütterliche« Dimension der Gestalttherapie.

Wir freuen uns, dass wir Ihnen auch in dieser Ausgabe unserer Zeitschrift wieder ein Interview mit Laura Perls als deutsche Erstveröffentlichung zugänglich machen können.

Anlässlich ihres 100. Geburtstages erscheint der GIK-Klassiker »Der Weg zur Gestalttherapie« in einer erheblich erweiterten Ausgabe - unter dem Titel: »Meine Wildnis ist die Seele des Anderen«.

Der Herausgeber

Der Trialog

»Tue nicht irgend etwas, stehe hier.« (Buddha)

Für Laura ist das, worauf es wirklich ankommt, das Verweilen an der Grenze. Hier, an den »Kontaktgrenzen«, die der Gestalttherapie ihre Kraft und Würze geben, arbeitet sie an der Intensivierung und Vertiefung des Kontakts. Laura Perls hat über Jahre hinweg unerschütterlich an der Bedeutung der Grundkonzepte der Gestalttherapie festgehalten. Ihre These lautet, dass man sich weniger vom Neuen beeindrucken lassen, als vielmehr dem Prozess des Kauens und Verdauens dieser gestalttherapeutischen Grundkonzepte treu bleiben sollte.

Das folgende Gespräch gibt einen Einblick in Laura Perls Denkweise und ihre Visionen. Genießen Sie es, und kauen Sie gut.

E. Mark Stern

 

E. Mark Stern: Ganz zu Anfang würde ich gerne etwas über die Geschichte des New York Institute for Gestalt Therapy erfahren.

Laura Perls: Die Idee dazu stammte von Fritz. Irgendwann sagte ich zu ihm: »Wenn du ein Institut gründest, dann ist das dein Kind. Ich werde mich da heraushalten. Ich habe damit nichts zu tun.« Damals war ich ziemlich überarbeitet. Ich verbrachte einen Tag in der Woche in Philadelphia, und die restlichen fünf oder sechs Tage arbeitete ich hier in New York. Die Kinder wohnten noch zu Hause, und außerdem bekam ich auch noch ein Enkelkind, ein Mädchen. Es war einfach zu viel für mich, und das führte schließlich dazu, dass ich sehr krank wurde. Ich hatte einen Tumor und musste mich einer Totaloperation unterziehen. Das alles war 1952.

Richard Kitzler: War es nicht so, dass das Institut sich eigentlich aus einer Therapiegruppe heraus entwickelte, die du damals hier anbotst?

Laura Perls: Diese Gruppe begann 1949. Fritz war damals schon seit etwa anderthalb Jahren in Los Angeles. Wir hatten vor, nach Los Angeles zu ziehen - oder in eine andere Stadt an der Westküste. Als ich ihn dort im Sommer besuchte, war ich von der Atmosphäre in dieser Stadt ziemlich angeekelt. Ich wollte dort nicht leben, und so gingen wir beide zurück nach New York. Zu dieser Zeit wollte er das Institut gründen. In der Gruppe, die du angesprochen hast, waren ein paar Leute, die später in der Gestalttherapieszene eine bedeutende Rolle spielten, unter anderem waren das Paul Goodman, Paul Weisz, Elliott Shapiro und zwei Dokumentarfotografen. Das alles fand zwischen 1949 und 1951 statt. Die Gruppe war eine fortlaufende Gruppe.

Ich selbst war nur im Juli und August 1950 in Los Angeles gewesen. Fritz kam etwas später nach New York zurück und fing an, zusammen mit Paul Goodman an Gestalttherapie-Grundlagen zu arbeiten. Paul war derjenige, der die anderen Mitglieder der Gruppe dazu brachte, im Institut verschiedene Lehrgänge anzubieten.

Interessant finde ich, dass sie alle bei mir in Einzeltherapie waren. Nur dadurch hatte sich die Gruppe überhaupt gebildet. Die meisten meiner Klienten waren damals Künstler und Schriftsteller.

Elliott Shapiro gab einen Kurs über seine Arbeit mit Gestaltmethoden in einer Schulklasse mit schizophrenen Kindern am Kings County Hospital. 1952 startete Fritz am Institut mit Vorträgen und Workshops; es kamen vierzig Leute, so dass ich mich bereit erklärte, für die Hälfte der Teilnehmer eine fortlaufende Gruppe anzubieten.

E. Mark Stern: 1951 war das Buch Gestalttherapie (1) gerade erschienen. Führte das nicht zu einer enormen Steigerung des Interesses an Gestalttherapie?

Laura Perls: Nein, es gab nicht sehr viele neue Interessenten. Die meisten von ihnen würden wir heute als Angehörige von Randgruppen bezeichnen. Paul Goodman und Paul Weisz gehörten damals selbst in diese Szene - sie fanden keine gesellschaftliche Akzeptanz. Paul Weisz war als Biologe und Biochemiker recht bekannt, und Paul Goodman hatte eine gewisse Reputation als Schriftsteller und Lehrer, wurde aber vom Establishment ignoriert. Seine ersten Bücher wurden entweder von ganz kleinen Verlagen oder sogar privat verlegt, und der Kreis seiner Leser war ziemlich klein. Erst mit Aufwachsen im Widerspruch (1960) (2) erschien sein Name in Verbindung mit dem großen Verlagshaus Random House.

Richard Kitzler: Laura, bei deiner Ansprache anlässlich des 25jährigen Bestehens des Instituts hast du gesagt: »Ich glaube, dass es ohne Paul Goodman keine Gestalttherapie geben würde.« Könntest du diesen Satz ein wenig erläutern?

Laura Perls: Ohne ihn gäbe es keine Theorie der Gestalttherapie. Es gäbe die Gestalttherapie oder das, was die Leute dann Gestalttherapie nennen würden, aber es gäbe keine schlüssige Theorie dazu. Paul war zunächst mein Klient und später engagierte Fritz ihn als Herausgeber. Fritz arbeitete damals mit Ralph Hefferline zusammen, der mit seinen Studenten an der Columbia University einige Experimente [die Aufnahme fanden in Gestalttherapie: Praxis, Anm. der Herausgeber] durchführte. Es stimmt, Paul war maßgeblich an der theoretischen Entwicklung der Gestalttherapie beteiligt.

E. Mark Stern: Weißt du noch, wie es zu dem Namen Gestalttherapie kam?

Laura Perls: Ich war gegen die Bezeichnung Gestalttherapie, weil ich mir als Gestaltpsychologin sicher war, dass die Gestaltpsychologen etwas dagegen haben würden - was ja auch stimmte und bis heute so geblieben ist. Nebenbei bemerkt hat Dr. Michael Wertheimer [der Sohn von Max Wertheimer], mit dem ich in Frankfurt zusammen studiert habe, neulich noch einmal seine Ansicht bekräftigt, dass sich die Gestalttherapie komplett aus der Gestaltpsychologie entwickelt habe. Ich bin mir zwar nicht sicher, aber ich vermute, dass er in Kalifornien mit Gestalttherapeuten in Kontakt gekommen ist.

Richard Kitzler: Als es mit der Gestalttherapie losging, war Wertheimer nicht mehr am Leben.

Laura Perls: Nein, er starb 1943, und 1946 kamen wir nach Amerika.

E. Mark Stern: Aber Kurt Goldstein lebte damals noch.

Laura Perls: Ja. Goldstein war sehr an unserer Entwicklung interessiert, und wir schickten ihm alles, was wir veröffentlichten.

Richard Kitzler: Du hast auch bei Adhemar Gelb studiert.

Laura Perls: Er betreute meine Dissertation. Er war ein hervorragender Lehrer, aber ein schrecklicher Doktorvater.

Richard Kitzler: Wie lautete der Titel deiner Dissertation?

Laura Perls: Es ging um Farbkontraste und Farbkonstanz, ein Thema, das zu dieser Zeit viele Forscher beschäftigte [Jaensch, David Katz und andere].

Richard Kitzler: Welchen Schwerpunkt hatte Fritz?

Laura Perls: Fritz war vor allem psychoanalytisch orientiert.

Richard Kitzler: Er arbeitete doch mit verwundeten Soldaten am Kurt-Goldstein-Institut in Frankfurt, nicht wahr?

Laura Perls: Ja, und da lernte ich ihn kennen - in einem Seminar von Adhemar Gelb. Gelb war auch derjenige, durch den ich von Jura zur Psychologie wechselte. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, beim Jugendgericht zu arbeiten. Es war die Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg, und es gab keine Juristinnen außer einer Handvoll junger Frauen, die Pionierarbeit leisteten und Jura studierten.

E. Mark Stern: Welche Rolle spielt Schilder für die Gestalttherapie?

Laura Perls: Er war bereits gestorben, bevor unsere Entwicklung überhaupt begann.

E. Mark Stern: Und Karen Horney? Sie hat euch unterstützt, nicht wahr?

Laura Perls: Karen Horney ermöglichte unsere Immigration in die Vereinigten Staaten. Bevor sie selbst emigrierte, war Fritz in Berlin bei ihr in Therapie gewesen.

E. Mark Stern: Gab es nach eurer Ankunft in Amerika zwischen euch eine anhaltende Beziehung?

Laura Perls: Nein, überhaupt nicht. Wir hatten erste Kontakte zum William Alanson White Institute, das sich von Horney distanziert hatte. Clara interessierte sich für Fritz und wollte ihn als Lehranalytiker gewinnen. Damals waren nur Mediziner mit Doktortitel zugelassen, also wollten sie ihn noch einmal zur Universität schicken, um noch einen weiteren medizinischen Abschluss zu machen. Aber Fritz war über fünfzig, und in diesem Alter geht keiner mehr zur Uni zurück.

E. Mark Stern: Doch. Otto Fenichel holte in Kalifornien seinen Medizinabschluss nach und starb während der Ausbildung.

Laura Perls: Fenichel war in Berlin mein Supervisor gewesen, aber leider habe ich dabei von ihm nichts gelernt. Man lernt von Fenichel, wenn man ihn liest. In den vielen Monaten - es war fast ein Jahr - als ich bei ihm zur Supervision ging, sagte er kein einziges Wort.

E. Mark Stern: All das bringt mich auf die Frage nach deiner Beziehung zur Psychoanalyse und der psychoanalytischen Theorie.

Laura Perls: Zunächst war ich ja Gestaltpsychologin und wandte mich erst später der Psychoanalyse zu. Fritz dagegen war bereits Analytiker, bevor er sich mit der Gestaltpsychologie befasste. Das führte manchmal zu fast unlösbaren Konflikten. Manchmal sagte ich, ich fühle mich wie ein doppelt konditionierter Pawlow'scher Hund, der mitten im Experiment einschläft. - Dann fingen wir mit dem psychoanalytischen Training an. Ich begann meine analytische Ausbildung und meine Analyse in Frankfurt, zunächst bei Clara Happel. Als Happel dann nach Hamburg zog, setzte ich meine Analyse bei Karl Landauer fort, einem hervorragenden Analytiker, der später von den Nazis umgebracht wurde. Clara Happel ging nach Detroit, starb aber kurze Zeit später an einem Hirntumor.

Richard Kitzler: Was hast du von den beiden gelernt?

Laura Perls: In der Frankfurter Zeit habe ich eine Menge gelernt, vor allem durch meine eigene Analyse, die vergleichsweise offen und ungezwungen verlief. Landauer war mit Sandor Ferenczi und Georg Groddeck befreundet, die damals einem eher avantgardistischen Kreis angehörten. Gemeinsam mit Frieda Fromm-Reichmann und Karl Meng gründete Landauer das Frankfurter Institut für Psychoanalyse. Ich bin Fromm-Reichmann später noch ein paarmal begegnet und war erstaunt, dass sie sich noch so deutlich an mich erinnerte, denn damals war ich Studentin und habe selbst kaum den Mund aufgemacht.

E. Mark Stern: Und als ihr nach Südafrika ausgewandert seid, habt ihr dort ein Psychoanalytisches Institut gegründet?

Laura Perls: Ja, das taten wir, wurden aber dann von jemandem sabotiert, der uns geholfen hatte, überhaupt dorthin zu gehen. Er

schien ein bisschen paranoid zu sein und sorgte schließlich dafür, dass sowohl wir als auch das neu gegründete Institut abgelehnt wurden.

E. Mark Stern: Aber es gibt noch andere Wurzeln der Gestalttherapie, etwa aus dem phänomenologischen Bereich, nicht wahr?

Laura Perls: Ganz genau. In den Seminaren bei Kurt Goldstein lasen wir Heidegger und Scheler. Scheler sollte sogar als Philosophieprofessor nach Frankfurt kommen und hatte seine Antrittsvorlesung bereits vor den Ferien gehalten; kurz darauf starb er. Für ihn kam dann Paul Tillich, bei dem ich zwei Jahre studierte. Tillich und Martin Buber, der ebenfalls zu meinen Frankfurter Lehrern gehörte, haben mich stärker beeinflusst als sämtliche Psychologen und Analytiker. Ihre respektvolle Haltung gegenüber anderen Menschen machte einen tiefen Eindruck auf mich.

E. Mark Stern: Es ist sehr spannend, deine unterschiedlichen Wurzeln kennen zu lernen, und mir scheint, dass du ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Hochachtung vor den Menschen und dem gesunden Respekt vor ihrer psychologischen Dynamik zu erhalten versuchst. Aber wie wird deine psychoanalytische Fundierung in deiner praktischen Anwendung der Gestalttherapie aufgenommen?

Laura Perls: Sie wird so aufgenommen, indem ich sie irgendwie transzendiert habe.

E. Mark Stern: Das klingt sehr bedeutungsschwer.

Richard Kitzler: Für Paul Goodman war die Psychoanalyse ein fruchtbarer Boden, auf dem man stehen und wachsen konnte. Als Architekt einer Theorie der Gestalttherapie setzte er diesen Gedanken um, ging dann von der Psychoanalyse weiter zu Reich und schließlich über Reich hinaus und kam zur Gestalt. Aus seiner Sicht entwickelt sich die Gestalttherapie von Charcot über Freud und Reich bis zu uns.

Laura Perls: Die erste Abweichung von der Freudschen Theorie findet sich in Das Ich, der Hunger und die Aggression (1947) (3), das Fritz eigentlich als »Revision der Psychoanalyse« geschrieben hatte. Als wir nach Amerika kamen, nannten wir uns immer noch Psychoanalytiker.

Richard Kitzler: Du hast nicht nur das Kapitel über den Schnullerkomplex geschrieben, sondern auch den Anstoß für die Theorie der dentalen Aggression gegeben. Nach meinem Verständnis gehört diese Theorie zu den absoluten Grundlagen der Gestalttherapie. Ich nehme an, sie entstand aus deinen Beobachtungen in der Kinderpflege.

Laura Perls: Fritz baute auf meinen Forschungen, mit denen ich bereits in Berlin begonnen hatte, auf und schrieb einen Aufsatz über oralen Widerstand, der wiederum als Grundlage für die Kapitel über den mentalen Stoffwechsel in Das Ich, der Hunger und die Aggression diente.

Richard Kitzler: All das geht im Trubel der Human-Potential-Bewegung allzuleicht unter. Du hast ja schon oft gesagt, dass die Theorie der dentalen Aggression in der Aussage zusammengefasst werden kann: Die Dinge brauchen Zeit. Kauen braucht Zeit. Therapie braucht Zeit.

Laura Perls: Sie brauchen Zeit - und Handeln mit Gewahrsein.

E. Mark Stern: Würdest du sagen, dass die in den späten fünfziger und sechziger Jahren aufblühende Human-Potential-Bewegung eine notwendige und/oder destruktive Abweichung von den Grundlagen der Gestalttherapie darstellte?

Laura Perls: In einem großen Maße destruktiv, glaube ich. In den sechziger Jahren war Fritz sehr intensiv mit den Entwicklungen an der Westküste beschäftigt. Es war eine anti-intellektuelle »Alles-ist-möglich« und »Laissez-faire-Atmosphäre«. In gewisser Weise passte das zu Fritz, denn er war eigentlich kein Wissenschaftler, sondern ein Mensch von intuitiven Einsichten. Er war weder ein Gelehrter noch ein echter Theoretiker.

Richard Kitzler: In dieser Hinsicht war er ziemlich eitel. Er sagte mir einmal, dass er keinerlei abrufbares Wissen besäße. Er sagte das auf eine prahlerische Art, aber ich hatte den Eindruck, dass sich dahinter auch das nagende Gefühl verbarg, eigentlich eine breitere intellektuelle Grundlage haben zu müssen. Er war das genaue Gegenstück zu Goodman. Paul Goodman steuerte die philosophische Grundlage für diese Revolution bei, und er stellte eine Form für die Öffentlichkeit zur Verfügung. Soviel ich weiß, hat Paul kein einziges Wort an den theoretischen Grundlagen der Gestalttherapie geändert, während Fritz völlig darauf verzichtete.

Laura Perls: Vor allem hat er sie nie ganz verstanden.

Richard Kitzler: Er nannte das seine eigene orale Unterentwicklung.

Laura Perls: Während seines vorletzten Besuchs hier, dem, bevor er dann krank hierher zurückkehrte, sagte Fritz zu mir: »Weißt du, ich wünschte, ich hätte Goldstein besser verstanden.«

Richard Kitzler: Wie hast du diesen Satz aufgefasst?

Laura Perls: Ich habe ihn so aufgefasst, dass er die organismische Theorie, auf der die Gestalttherapie aufbaut, nicht wirklich verstanden hatte. Diese Theorie ist eine wesentliche Grundlage für die Anwendung der Gestalttherapie. Fritz hatte nicht den philosophischen Hintergrund, um sie zu verstehen. Zufällig war Goldstein ein Vetter von Ernest Cassirer.

Richard Kitzler: Fritz behauptete, Cassirers Buch habe ihn beeinflusst, aber ich weiß nicht, ob er ihn je wirklich verstanden hat.

Laura Perls: Fritz war immer sehr schnell von etwas Neuem beeindruckt; und wenn er dann die Kernaussage verstanden hatte, wollte er sich nicht mit den Details herumplagen.

E. Mark Stern: Hattest du den Eindruck, dass die Human-Potential-Bewegung ein bedauerlicher Umweg war, der zu einem Verlust bereits errungener intellektueller Erkenntnisse führte?

Richard Kitzler: In New York versuchten wir daran festzuhalten. Wir kauerten hier - mit einer Bastion draußen in Cleveland - und wehrten uns gegen jeden Versuch, die Gestalttherapie auf einen Kult zu reduzieren.

Laura Perls: Ich glaube, es ist sehr unglücklich, dass Fritz' Buch Gestalttherapie in Aktion (1969) (4) so viele Leute überzeugt hat. Es wurde in viele Sprachen übersetzt. Aber es ist nichts anderes als eine Sammlung von Workshoptranskripten, die auf sehr beeindruckende Weise einen bestimmten psychodramatischen Ansatz wiedergeben, der kongenial und für Fritz in seinen letzten Jahren sehr passend war. Er konnte sich einfach nicht an ein klares Bezugssystem halten. Und doch betrachten viele dieses Buch als die Bibel der Gestalttherapie.

Richard Kitzler: Weil es sehr einfach ist. Man braucht nicht zu kauen!

E. Mark Stern: Um noch einmal auf die unterschiedlichen Wurzeln zurückzukommen: Ich erinnere mich, dass Fritz in einem Gespräch mit Ted Aidman und mir einmal erwähnte, wie er LSD als die einzige Therapie entdeckt hatte, die ihm in der damaligen Zeit zusagte. Das war ein paar Jahre vor seinem Tod.

Richard Kitzler: Dasselbe erzählte er mir in Cleveland auch: wie er zum ersten Mal LSD nahm und seinen ersten »Trip« hatte. Er sagte: »Ich glaube, am Ende habe ich mich mit meinem Vater versöhnt.« Damals war er 63.

Laura Perls: Später nahm er häufig LSD, einige Jahre lang sogar regelmäßig, und eine Zeit lang wurde er dabei völlig verrückt.

Richard Kitzler: 1955/56, als der Psychiater Allison Montague bei ihm in Therapie war, kamen Thorazin und ähnliche Drogen auf den Markt. Monty erzählte Fritz davon, und Fritz soll geantwortet haben: »Ah, du hast etwas Neues. Ist es gut?«, und Monty gab ihm ein Rezept. Das hat auf eine befremdliche Weise auch etwas Interessantes, Bezauberndes und Inspirierendes.

Laura Perls: Fritz war sehr ungeduldig und suchte ständig nach Abkürzungen.

E. Mark Stern: Ich frage mich, ob Abkürzungen nicht auch dazu beigetragen haben, dass die Gestalttherapie in dem Ruf steht, der persönlichen Biografie des einzelnen weniger Aufmerksamkeit zu schenken.

Laura Perls: Aus gestalttherapeutischer Sicht ist die Geschichte eines Menschen im gegenwärtigen Augenblick sichtbar, hörbar und fühlbar. Dort setzen wir an. Wenn man mit den bestehenden Symptomen arbeitet, kommt die Geschichte natürlich hoch. Aber es geht nicht darum, in diesen Symptomen zu graben, um sie dann biografisch zu interpretieren. Darin besteht der Unterschied zur psychoanalytischen Methode.

Richard Kitzler: Aber ich verstehe, was Mark meint. Es gibt Leute, die das, was sie gelernt haben, nicht vollständig integrieren, und sie neigen dazu, das Verhalten mit einem »Hier-und-Jetzt-Etikett« zu versehen, um ihren eigenen Mangel an diagnostischem und therapeutischem Wissen zu verbergen. Auf diese Weise umgehen sie eine Menge schwieriger Arbeit. Die Vorstellung vom Hier-und-Jetzt hat mit einem wissenschaftlichen Gestaltkonzept zu tun, wie Laura sagt.

Laura Perls: Das Hier-und-Jetzt ist die Integration alles Disintegrierten der ganzen früheren Geschichte.

E. Mark Stern: Aufgrund meiner Erfahrungen scheint mir, dass das mit einer amerikanischen Eigenart zu tun hat, die sowohl etwas für als auch gegen sich hat, nämlich dem Wunsch, die Vorstellung einer persönlichen Geschichte zu verleugnen. »Ich bin wo ich bin, und hier fange ich an.« Schließlich ist die Gestalttherapie auf amerikanischem Boden gewachsen.

Richard Kitzler: Ich glaube, das gehört der Vergangenheit an. Heute müssen wir uns eher mit dem Konflikt zwischen Erfahrung und Struktur auseinandersetzen. Das zeigt sich gelegentlich in einem bürokratischen Kampf, der in allen dynamischen Organisationen stattfindet, einschließlich der American Academy of Psychotherapists und dem New York Institute for Gestalt Therapy.

E. Mark Stern: Kannst du das ein bisschen näher erläutern?

Richard Kitzler: In jeder Organisation kommt der beflügelnde, charismatische Geist des Anfangs im Laufe der Zeit zum Erlahmen. Ein integraler Bestandteil dieses Prozesses ist die Bürokratie, durch die das System sein Ansehen korrumpiert. Jeder will dazugehören. Aber wozu eigentlich? Die Grenze liegt genau im Bereich der Angst und des Zitterns, des Glaubens und der Abweichung. Entweder wir drängen zum nächsten Widerstand vor, oder wir verfallen wieder in die Sehnsucht nach einer sicherheitgebenden Autorität, wollen gut sein und nehmen lieber das Brot als die Freiheit. Ausschüsse werden gegründet, Scheindemokratie wird zur strengen Norm, und das Leben, das die Organisation einmal mit Wärme durchzog, erlischt. Das ist faschistisch, und - davon bin ich überzeugt - gewollt. Ich bekomme diese Pseudodebatte im Augenblick in der American Academy of Psychotherapists mit; und es kommt mir vor wie eine Letzte Ölung. Im New York Institute for Gestalt Therapy sind wir bereits am Grab angekommen. Es gibt kein Wachstum ohne Zerstörung und Dekonstruktion des Neuen im Kontaktprozess, der immer hier und jetzt stattfindet und es möglich macht, dass Unterschiede und Überraschungen wertgeschätzt werden können. Aber dieser Prozess erfordert Aggression. Paul Goodman sah keine Notwendigkeit für die Bürokratisierung des Prophetischen; was erforderlich ist, ist einzig das Vertrauen in die Aggression, in die Tat. Allerdings glaube ich, dass der Preis zu hoch ist: Einsamkeit, dauernde Angriffe und Missbilligung, politische Machtkämpfe, unangenehme Gerüchte, wiederholte Missverständnisse. Vor allem aber die sublime Gleichgültigkeit gegenüber den Belästigungen und der Schöntuerei der Schmeichler. Ich glaube, dass hier eine gesunde Portion Missachtung gegenüber der Menschheit angebracht ist. Wir haben die Wahl zwischen Missachtung und dem »Schierlinkstrank«.

Aus der für die Gestalttherapie charakteristischen Betonung des Experimentellen ergibt sich, dass wenn die Struktur einer Organisation zu komplex wird, man anfangen muss, sich zu bewegen und Geschichte im Hier-und-Jetzt zu restrukturieren. Genau das beobachten wir auch in einem vereinenden Konzept von Kontakt. Deshalb haben sich beispielsweise Homosexuelle, Künstler und andere am Rand der Gesellschaft immer besonders für uns interessiert.

Diese Gruppen außer Acht zu lassen, schafft einen Rückschritt zu dem, was sich die Menschen von einer Autorität wünschen, und damit ein erneutes Feststecken. Und das führt zu einem Versagen der Aggression in vorderster Linie der Organisation, denn eine Gruppe von Leuten, die auf eigenen Beinen steht und sich dem Unbekannten stellt, löst Angst und Schrecken aus. Was sagt das aber nun über die Bedeutung von Geschichte? Schlicht soviel, dass du - so wie du jetzt gerade bist - alles integriert hast, was du bisher gelernt hast. Und genau das manifestiert sich in der Art und Weise, wie Laura mit einem Klienten arbeitet, der erst nachdem er eine Erfahrung gemacht hat, sie später theoretisch aufarbeitet.

Wir haben unsere Klienten schon routinemäßig so weit gefördert, so dass sie schließlich zu Lernenden werden. Je stärker eine Person oder Organisation - gerade am Anfang - nach rigiden Strukturen oder einer strukturierten Geschichte verlangt, desto deutlicher wird sich zeigen, dass sie an einem Mangel an gesunder Aggression leidet.

Ich vermute, ihr wollt ein bisschen mehr darüber erfahren, wie es im New York Institute for Gestalt Therapy läuft. Es ist eine nicht auf Gewinn ausgerichtete Organisation, der es darum geht, ein professionelles Engagement zu fördern, das sämtliche Aspekte der Gestalttherapie umfasst. Das Institut vergibt keinerlei Zertifikate oder Anerkennungen. Workshops, Seminare und Praktika werden vom Institut genehmigt und von den Kursleitern eigenständig durchgeführt. Zugangsvoraussetzungen und Gebühren richten sich nach dem Ermessen des Kursleiters. Doch interessanterweise haben wir eine sinkende Zahl neuer Teilnehmer zu verzeichnen.

E. Mark Stern: Entweder gibt es immer mehr Ausbildungseinrichtungen, oder aber die Psychotherapie wird als Ausbildungsberuf immer uninteressanter.

Richard Kitzler: Der Markt ist inzwischen ziemlich gesättigt. Wir hatten gehofft, dass da, wo die Psychotherapie an ihre Grenzen stößt, der Bildungsbereich ansetzen würde. Aber das ist natürlich völlig aussichtslos.

E. Mark Stern: Laura, was sind aus deiner Sicht die Ziele der Gestalttherapie?

Laura Perls: Kontinuierliche Gestaltbildung. Damit meine ich, dass alles, was für den einzelnen, für Gruppen, Paare, Familien oder soziale Bewegungen wichtig und interessant ist, in den Vordergrund tritt, wo es klar und deutlich erfahren und bearbeitet werden kann. Sind diese Interessen dann befriedigt oder erfüllt, können sie wieder in den Hintergrund treten und den Vordergrund frei machen für die nächste Herausforderung - für die nächste Gestalt.

E. Mark Stern: Wenn wir das nun einem Studenten klarmachen wollten, wie würden wir das am besten ausdrücken?

Laura Perls: Zunächst einmal würde ich erklären, was der Begriff »Gestalt« bedeutet. Gestalt ist eigentlich ein philosophisch-ästhetisches Konzept. In Deutschland gibt es Kunsthochschulen, die sich Hochschule für Gestaltung nennen, und da der Begriff Gestaltung keine einzelne, fixierte Gestalt beschreibt, sondern einen Prozess, wäre »Gestaltungstherapie« eigentlich treffender als Gestalttherapie. Denn fixierte Gestalten sind ja genau das, was wir in der Therapie oder der Theorie nicht anstreben.

E. Mark Stern: Es geht dir um ein konstantes, offenes Feld, das Hinweise auf ein fehlendes Element enthält, das zu einem Gefühl von Geschlossenheit führen könnte. Was die Gestalttherapie aber auch deutlich macht, ist, dass es so etwas wie absolute Vollständigkeit oder Geschlossenheit nicht unbedingt geben kann.

Laura Perls: Geschlossenheit gibt es immer nur vorübergehend. Wenn ich eine absolute Geschlossenheit anstrebe, dann ist diese Geschlossenheit in der Regel übereilt und äußerst eng.

E. Mark Stern: Aber die Aussicht auf Schließung erzeugt Hoffnung. Ich nehme an, dass es diese Art von Hoffnung ist, worauf es in der Therapie wirklich ankommt.

Laura Perls: Die Aussicht auf Offenheit erzeugt Hoffnung.

Richard Kitzler: Oder die Schließung erzeugt Offenheit. Ich verstehe Laura so, dass Kontakt zu einer Abstraktion führt - dass man sieht, was im Hinblick auf das eigene Wachstum zur Verfügung steht und sich dann dem nächst dringenden Bedürfnis zuwendet.

Laura Perls: Wir haben die Verpflichtung, dass die Gestalttherapie nicht selbst zu einer fixierten Gestalt wird.

Richard Kitzler: Das ist sie schon. Um Gestalttherapie zu erklären, müsste man über die Sprache hinausgehen und Aspekte wie Körpersprache oder Haltung mit einbeziehen. Aus der Art, wie jemand steht und sich Boden verschafft, lässt sich manches ersehen. Es geht darum, das, was Laura in Worte fasst, auch zu erfahren.

E. Mark Stern: Ob man sich mit der Körperhaltung oder den Vorstellungen eines Menschen befasst, man sollte sich bewusst sein, dass es darum geht, Fixierungen zu vermeiden. In deiner Sprache bedeutet »sich Boden verschaffen«, durch das, was man assimiliert hat, Unterstützung zu erfahren. Das erzeugt Offenheit.

Richard Kitzler: Andernfalls stecken wir auf ewig in dem, was wir Objektkonflikt nennen.

Laura Perls: Bedeutung entsteht aus der Beziehung zwischen Figur und Grund.

E. Mark Stern: Mit all dem neuerdings wieder auflebenden Interesse an der psychoanalytischen Objekt-Beziehungs-Theorie kann man im Rahmen dieser Theorie feststellen, dass sich das Selbst im Auftauchen und/oder Verschwinden von Objekten erst konstituiert, während es aus gestalttheoretischer Sicht ein Gegebenes ist, das sich in vielen Ganzheiten widerspiegelt.

Richard Kitzler: Die Objekt-Beziehungs-Theoretiker haben versucht, die Spaltung zwischen Geist und Körper zu überbrücken, ohne es zu schaffen. Und nun endet man mit allerlei Verdrehungen, einer Geheimsprache und abgehobenen Aussagen. Die Gestalttherapie schließt eine solche Spaltung von vornherein aus und befasst sich statt dessen mit der Interaktion und dem Kontakt an der Grenze zwischen Organismus und Umwelt.

E. Mark Stern: Mir ist aufgefallen, dass Ernest Becker in einer seiner späteren Arbeiten auf deine Arbeit aufmerksam geworden ist: »Wie Laura Perls so lebendig formuliert, schwankt der Mensch zwischen diesen beiden Polen. Der eine Pol gibt ihm das Gefühl von überwältigender Wichtigkeit und der andere das von Angst und Frustration.« Das Originalzitat stammt aus Gestalt Therapy Now (1971). (5)

Laura Perls: Um es noch deutlicher zu machen: Der Neurotiker ist jemand, der Angst hat, sich mit dem Prozess des Sterbens auseinander zu setzen, und deshalb kann er nicht leben. Sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst zu sein, ist in der Tat ein Anreiz zu leben. Mir wurde das mit ungefähr 24 Jahren bewusst, bei der Beerdigung eines Freundes, der mit 26 an einer Infektion gestorben war. Es gab damals keine Antibiotika. Das war ein sehr schockierendes Erlebnis für mich; als ich den Friedhof jedoch verließ, erschien mir die Welt plötzlich sehr hell und heiter, und ich fühlte mich voller Energie. Ich konnte mir das nicht erklären und erzählte es am nächsten Tag meinem Analytiker. Ich hatte das Gefühl, dass wenn wir uns der Tatsache, dass wir eines Tages sterben werden, nicht bewusst wären, sich unser Leben von dem eines Tieres kaum unterscheiden würde - dass die Lebenslust und der Drang zum Leben beim Menschen mit dem Bewusstsein des Sterbens einhergehen. Die Antwort meines Analytikers war: »Jetzt ist deine Analyse beendet.«

E. Mark Stern: Laura, wie geht es dir angesichts der Verbindung von Gestalttherapie und anderen therapeutischen Richtungen wie etwa der Transaktionsanalyse oder der Psychoanalyse?

Laura Perls: Im Rahmen von Gestalt ist jedes Verfahren anwendbar, so lange es existentiell und erfahrungsorientiert ist - und experimentell in dem Maße, wie Unterstützung für das Experiment mobilisiert werden kann.

E. Mark Stern: Aber die Transaktionsanalyse lässt sich kaum als existentieller Ansatz verstehen, sondern nähert sich dem Menschen auf äußerst mechanische Weise.

Laura Perls: Die Lebensskripte, von denen die Transaktionsanalyse spricht, sind nichts anderes als fixierte Gestalten, und wenn man ein neues Skript schreibt, ist das wiederum eine fixierte Gestalt.

Richard Kitzler: Du hast einmal gesagt, dass ein Anhänger einer bestimmten Denkschule, der seinen Ansatz mit seiner Erfahrung in Einklang gebracht hat, sich einer ganzen Reihe von technischen Herangehensweisen bedienen kann.

Laura Perls: Ich würde lieber von Stilen als von Techniken sprechen. Einen persönlichen Stil entwickelt man aus dem eigenen Hintergrund und der eigenen Erfahrung heraus.

E. Mark Stern: So, dass der Stil sich wirklich auf den einzelnen bezieht, während eine Technik sich auf ein Schema oder eine fixierte Gestalt bezieht.

Laura Perls: Und Stil ist umfassender.

E. Mark Stern: Mir scheint, dass wir gerade ein Verständnis dafür entwickeln, wie die Gestalttherapie mit dem Phänomen der Übertragung umzugehen beginnt.

Laura Perls: Was übertragen wird, ist nicht die Vater-Mutter-Kind-Beziehung, sondern bestimmte fixierte Verhaltensweisen, die zur Zeit ihrer Entstehung keinen Widerstand darstellten, sondern hilfreich waren. Es sind Entwicklungsaspekte, die sich verselbständigt und automatisiert haben. Das heißt, es handelt sich um eine fixierte Gestalt, deren man sich nicht bewusst ist. Was wir in der Gestalttherapie tun ist, diese fixierten Gestalten zu ent-automatisieren und dadurch dem Klienten bewusst zu machen, dass er hiermit über Energieressourcen verfügt, die eine neue Handlungsbasis darstellen können.

Richard Kitzler: Exakt. Der Therapeut ist nicht Vater oder Mutter, sondern in der Tat jemand Neues, der es dem Klienten ermöglicht zu experimentieren. Und wenn du als Therapeut zu deinem Klienten sagst: »Du behandelst mich wie deinen Vater«, sagst du eigentlich, dass er die Möglichkeit eines gereiften Experimentes verfälscht. Aber das erfordert sowohl Vertrauen als auch die Fähigkeit, genau am Punkt zu bleiben. Im Übrigen ist es wichtig, die Schwierigkeiten »durchzukauen«, damit man nicht gleich wieder in die rigiden Strukturen zurückfällt. Rigidität im Sinne einer Fixierung - unabhängig davon, ob jemand »normal« ist oder rigide Ziele verfolgt - führt zu äußerlichem Vergleichen, und das schmälert das Selbst und wertet es ab.

Laura Perls: Das erinnert mich an Paul Goodmans Definition

von Vertrauen: »Wenn Vertrauen da ist, ist ein nächster Schritt möglich.«

Richard Kitzler: Ein »törichter« Optimismus.

E. Mark Stern: Du meinst, wenn man sich einen törichten Optimismus zu Eigen macht, ist ein nächster Schritt möglich. - Laura, ich erinnere mich, dass du auf der Jahrestagung der American Academy of Psycotherapists 1980 mit mir über deine Vorstellung von Transzendenz gesprochen hast.

Laura Perls: Dieses Thema ist schwer in Worte zu fassen.

Richard Kitzler: Aber hängt das nicht unmittelbar mit deiner Erfahrung zusammen, als du von der Beerdigung deines jungen Freundes kamst? Plötzlich im Kontakt, ist man eins mit dem Universum.

Laura Perls: Jeder Entwicklungsschritt ist eine Transzendenz des Vorausgegangenen. Ich glaube, indem man etwas transzendiert, gibt man auch etwas auf.

Richard Kitzler: Ich glaube, Mark kocht hier sein eigenes Süppchen - aufgrund seines persönlichen religiösen Interesses.

E. Mark Stern: Nicht unbedingt. Andras Angyal spricht über die Tatsache, dass der einzelne, der eine höhere Gestalt sieht oder Teil eines überindividuellen Konstruktes wird, auch Teil einer größeren oder erweiternden Gestalt wird, die sich aus ihm und einer oder mehreren anderen Personen zusammensetzt. Das heißt, indem man sich selbst verschenkt, erlebt man sich im anderen, im »Du«. Was daraus folgt, ist die lebendige Beziehung mit einer größeren Gemeinschaft oder dem Kosmos. Das ist Angyals Verständnis von Überindividualität.

Richard Kitzler: Für mich hat das etwas mit Glauben zu tun, und nicht mit Religion.

Laura Perls: Vielleicht hast du Vorbehalte gegen religiöse Konzepte. Du solltest Religion nicht mit Kirche gleichsetzen. Religion kann auch als ganzheitliches Konzept verstanden werden.

E. Mark Stern: Das erinnert mich an unser Gespräch. Du sprachst davon, dass Gestalt auch transpersonale Konsequenzen hätte.

Laura Perls: Das geschieht fortwährend. Der Gestaltbildungsprozess ist genau das: das Transzendieren eines Zustandes und der Übergang zum nächsten. Wenn ich in den Wald gehe, oder in den Park, und sehe dort einen Baum stehen, der vielleicht schon hundert Jahre alt ist und der wahrscheinlich noch da sein wird, wenn ich nicht mehr da bin, dann weiß ich, dass ich durch mein Betrachten ein Teil dieses Baumes bin.

Richard Kitzler: Die Kehrseite dessen in einer anderen Person wäre die Wut, diesen Baum zu zerstören.

E. Mark Stern: Ich pflanze Bäume auf unserem Grundstück, und ich fälle Bäume, um Brennholz daraus zu machen. Ich liebe es, Holz für unseren Kamin zu hacken, aber ich liebe es genauso, neue Bäume zu pflanzen. Für mich ist Wut etwas, das hilft, eine Form des Lebens in eine andere zu verwandeln - Setzlinge werden zu Bäumen, und totes Holz wird zu lebendigem Feuer, das unser Haus wärmt.

Richard Kitzler: Laura, siehst du einen Unterschied zwischen Wut und Zerstörung?

Laura Perls: Zerstören bedeutet nicht Zunichtemachen, sondern ist eher ein Prozess des De-strukturierens oder De-automatisierens alter Strukturen.

E. Mark Stern: Aus gestalttherapeutischer Sicht würde ich sagen, dass es ohne Destrukturierung kein Feld geben könnte. Es würde keine neue Gestaltbildung geben.

Laura Perls: Meine Erfahrungen mit dem Transzendieren von Gestalten waren zumeist Folgen von sehr schockierenden oder kräftezehrenden Ereignissen. Oder von Krankheit. Wenn es mir gut geht, bin ich wahrscheinlich zu gut organisiert und strukturiert. Ein Beispiel: Als ich einmal mit hohem Fieber im Bett lag, schrieb ich ein Gedicht, das mir unsinnig vorkam. Aber nachdem ich mich wieder erholt hatte, konnte ich sehr viel damit anfangen. Als ich es jedoch schrieb, war mir nicht klar, dass es Ausdruck eines transzendierenden Schrittes war. Bei einer anderen Gelegenheit, kurz nach meinem Eintreffen in Südafrika, machte ich eine Wanderung auf einen Hügel und musste an einer Rinderherde vorbei. Ich trug eine rote Jacke und hatte Angst, wie die Tiere darauf reagieren könnten. Aber ich setzte meine Wanderung fort, und zwar in einem Zustand, den ich vielleicht als »außer mir sein« bezeichnen würde. Bald darauf kam ich in den Wald, wo ich eine kurze Rast machte. Ich merkte, dass ich einen großen Umweg gemacht hatte, um den Rindern auszuweichen, und nun saß ich hier im Wald auf einem Baumstamm und atmete die stille Waldluft. Ich weiß wirklich nicht, wie ich wieder herunterkam, aber ziemlich bald wurde mir klar, dass ich geradewegs durch die Herde gelaufen sein musste, als ob ich selbst eine Kuh wäre. Ich kann die Essenz dieser Erfahrung kaum wirklich beschreiben.

Richard Kitzler: Du hast sie sehr gut beschrieben. Und während du dich erinnertest, schienst du es noch einmal zu erleben. In einem ähnlichen Zusammenhang sprachst du einmal über den Umgang mit Verlegenheit. Wenn ich mich recht erinnere, ging es um eine Situation, wo du so verlegen warst, dass dir nichts anderes übrig blieb, als mitten rein zu springen und mit dieser Situation zu wachsen. Erinnerst du dich?

Laura Perls: Nicht genau. Aber ich habe ziemlich früh verstanden, dass Verlegenheit der Grenzbereich par excellence ist, und diese Erkenntnis ist ein wesentlicher Bestandteil meines Ansatzes in der Therapie ebenso wie in der Therapieausbildung. Du stehst mit einem Fuß auf bekanntem, und mit dem anderen auf unbekanntem Gebiet. Wenn es dir gelingt, deine Verlegenheit zu akzeptieren, dann fängst du an, in Kontakt mit dem »Unbekannten«, dem »anderen« zu gehen. Und wenn du die Erfahrung zulässt, erweitert sich deine Grenze. Wenn du jedoch versuchst, deine Verlegenheit nicht zuzulassen, sondern zu vermeiden und eine gut strukturierte Fassade aufrecht zu erhalten, dann bleibst du innerhalb deiner selbstgesetzten Grenzen, und das erzeugt ein Gefühl von Sicherheit. Aber um welchen Preis!

Richard Kitzler: Siehst du, ich frage Laura nach ihrer Verlegenheit, und sie erzählt mir etwas über meine eigene.

Laura Perls: Im Augenblick fühle ich mich nicht verlegen.

E. Mark Stern: Zum Thema Krankheit: Ich habe gerade eine ziemlich schwere Divertikulitis [a.d.Ü.: entzündliche Veränderung des Dickdarms] überstanden, die alles andere als angenehm war. Aber durch deine Bemerkungen über Destrukturierung kann ich den quälenden Schmerzen einen neuen Stellenwert geben. Was ich in meinem Verdauungsapparat spüre, ist manchmal das Bedürfnis zu de-strukturieren. Die psychosomatische Medizin täte gut daran, Destrukturierungsprozesse als Bedürfnis nach Selbsterneuerung zu betrachten. Deshalb ist Krankheit in diesem Kontext nicht einfach das Pendant zu einem ungelösten Konflikt, sondern kann ebenso gut Ausdruck eines Bedürfnisses sein, zu de-strukturieren, um neue Grenzen zu finden. Nach einer Phase körperlicher Krankheit fühle ich mich immer sehr verändert. Dieser Prozess ähnelt dem von Schwangerschaft und Geburt.

Laura Perls: Die Erfahrung von Krankheit ist Teil des Lebenstriebes und sollte nicht mit dem Todestrieb verwechselt werden.

Richard Kitzler: Du sprichst von einer neuen Integration auf einer höheren bzw. tiefergehenden Ebene.

Laura Perls: Das meine ich, wenn ich sage, dass man immer etwas aufgeben muss, um die nächste Ebene zu erreichen.

Richard Kitzler: Es ist dieselbe Erfahrung wie zu wissen, dass die schwangere Frau stirbt, und doch neues Leben in sich trägt. Ist das etwas Neues für dich?

E. Mark Stern: Neu in dem Sinne, als es mir hilft, meine heutige Situation zu akzeptieren, in der ich nicht mehr ganz so »manisch« bin. Mir gefällt die Vorstellung, dass die Gestalttherapie die Bedeutung durchgängig betont. Wie Laura vorhin sagte, ist die Interpretation letztlich Sache des Klienten, aber um wirksam zu sein, muss sie Bedeutung haben. So als ob der Klient die Interpretation an der Grenze macht.

Richard Kitzler: Als Gestalttherapeuten würden wir sagen, dass der Klient neue Figuren bildet und diese zu seinem Hintergrund in Beziehung setzt.

Laura Perls: Wie T.S. Eliot in den Four Quarters sagt: »Anything less than the emergence of new beings … Costing not less than everything.«

Richard Kitzler: Laura, du hast einmal gesagt, die Gestalttherapie hätte ihren Namen transzendiert. Ich habe den Eindruck, dass du Teil dieses Transzendierens bist.

Laura Perls: Es scheint, dass ich viele Therapeuten beeinflusst habe, die früher vor allem unter Fritz Einfluss standen - und da gibt es einen grundsätzlichen Unterschied. Meine Art der soliden Umsetzung von Gestalttheorie in Gestalttherapie wird inzwischen ernst genommen; und ich habe eine wachsende Klientel in Europa.

Richard Kitzler: Würdest du sagen, dass dieser Einfluss deine Fähigkeit widerspiegelt, »Fritz« wieder als »Dr. Perls« zu reinterpretieren? Ich meine damit das, worum es Fritz wirklich ging - abgesehen von all dem Unfug, den er auch geredet hat. Außerdem denke ich, dass du deine eigenen Erkenntnisse immer weiter vertiefst. Ergibt das Sinn?

Laura Perls: Meine Entwicklung geht dahin, mich immer mehr zurückzuziehen. Ich bin jetzt 76.

Richard Kitzler: Das heißt?

Laura Perls: Als Fritz starb, war er 76 und ein sehr alter Mann. Er sah aus, als wäre er über 80.

Richard Kitzler: Laura, damit kommst du nicht durch. Wohin willst du dich zurückziehen? Ich nehme an, du sprichst von einer neuen Integration, und nicht von einem Rückzug.

Laura Perls: Im Augenblick bin ich wieder an der Grenze. Vor ein paar Tagen erschien in der New York Times ein Artikel über den Unterschied zwischen älter sein und alt sein. Ehrlich, bis vor ungefähr einem Jahr habe ich mich als Frau im mittleren Alter gefühlt. Aber jetzt geht es ziemlich schnell. Mir fällt auf, dass ich in vielen Dingen sehr langsam werde. Ich kann nichts Neues mehr lernen, außer in kurzen Momenten besonderer Klarheit. Und wenn ich es nicht sofort aufschreibe oder jemandem erzähle, vergesse ich es wieder.

E. Mark Stern: Vor zwei Minuten hast du noch erzählt, du hättest eine wachsende Klientel in Europa.

Laura Perls: Ich war gebeten worden, einen Workshop in Frankfurt zu machen und hatte mit 30 bis 40 Teilnehmern gerechnet. Zu meiner Überraschung waren es aber fünf oder sechshundert Teilnehmer, so dass wir in einem großen Hörsaal ausweichen mussten. Und in letzter Zeit werde ich von Universitäten eingeladen, Vorträge zu halten und Workshops zu machen.

Richard Kitzler: Aber heißt das in deiner Situation nicht, dass das, was dir im Augenblick nicht einfällt, es nicht wert ist, dir einzufallen? Ich würde mich entspannen und mich an dem erfreuen, was mein Gehirn zu bieten hat.

Laura Perls: Die früheren Erlebnisse sind mir in sehr viel lebhafterer Erinnerung als die späteren. Heute vergesse ich manches von einem auf den anderen Augenblick. Außerdem würde ich gerne weniger reisen. Die Dinge werden so normal, dass sie schon fast vulgär erscheinen.

Richard Kitzler: Du versuchst nicht, mit Fritz gleichzuziehen, oder?

Laura Perls: Nein. Ich habe mir ein eigenes Renommee erarbeitet, und zwar auf eine Weise, die ich für seriöser halte als seine Art. Fritz hat seinen Ruf aufgrund seiner phantastischen Show, die er machte. Seine Organisatoren sprachen davon, dass Fritz eine Bühne brauche. Mir hat diese Art der Darbietung nie gelegen.

Richard Kitzler: Um noch einmal auf dein nachlassendes Gedächtnis zurückzukommen, findest du nicht, dass deine Erinnerung nur an den Stellen versagt, wo es sich ohnehin nicht lohnen würde, dich zu erinnern?

Laura Perls: Das stimmt.

Richard Kitzler: Ist es dann nicht eher die Freiheit einer neuen Haltung und weniger eine Einschränkung.

Laura Perls: Ja, schon, aber im Augenblick gerate ich auch in Schwierigkeiten mit meiner Tochter. Weißt du, die jungen Leute können die Vergesslichkeit älterer Menschen nicht wirklich nachvollziehen. Ein anderes Beispiel ist meine Enkeltochter, die mich im letzten Jahr für drei Monate besucht hat. Sie sprach mit mir, als wäre ich ein absoluter Volltrottel.

E. Mark Stern: Ich finde es faszinierend, dass du nach Deutschland zurückgehst, und dass du dich so darüber freust, dort ernst genommen zu werden, nachdem du damals vor den Nazis ins Exil geflüchtet bist. Gehst du vielleicht auch zurück, um damit etwas abzuschließen oder einzulösen?

Richard Kitzler: Laura, du hast dich nie wirklich wie eine Exilierte gefühlt. Sie - die Deutschen - waren doch eigentlich diejenigen, die im Exil lebten - bis sie schließlich wieder zur Vernunft kamen.

Laura Perls: Also, in den dreißig Jahren nach dem Krieg haben die Deutschen alles verloren. Erst in den letzten zehn, zwölf Jahren haben sie angefangen, wieder aufzuholen.

Richard Kitzler: Was Mark sagen will ist, dass du zu deinen Wurzeln zurückkehrst, obwohl du Deutschland nie wirklich

verlassen hast. Das zeigt sich an dieser zunehmenden Akzeptanz. Und du genießt es, dort zu sein, in den Bergen zu wandern ...

Laura Perls: Ich akzeptiere das mehr und mehr. Und ich habe immer noch ein paar alte Freunde in meiner Heimatstadt Pforzheim; das liegt am nördlichen Rand des Schwarzwaldes. Es ist sehr schön dort, und ich habe ein paar alte Freunde, die keine Ahnung haben, was ich hier mache und welche Bedeutung das hat, aber wir haben gemeinsame Wurzeln im künstlerischen und literarischen Bereich.

Richard Kitzler: Und du kannst die Momente des Alleinseins dort tiefer empfinden als hier?

Laura Perls: Ja, und ich kann dort all den Dingen nachgehen, für die ich hier so wenig Zeit habe. Diesen Sommer lese ich in Pforzheim zum Beispiel die Gedichte von Auden oder den Zauberberg von Thomas Mann.

Richard Kitzler: Bist du Auden je persönlich begegnet?

Laura Perls: Ja, ich habe ihn zwar nicht gut gekannt, aber wir haben uns ein paarmal getroffen. In Los Angeles bin ich Christopher Isherwood begegnet.

E. Mark Stern: Auden kehrte auch zu seinen Wurzeln zurück.

Laura Perls: Er hatte ein Anwesen in Bayern, ging aber zurück nach Oxford.

Richard Kitzler: Du hast ihn also durch Isherwood kennen gelernt. Wie ist es mit Stephen Spender?

Laura Perls: Ich habe Auden durch Daniel Rosenblatt kennen gelernt. Die beiden kannten sich.

Stephen Spender habe ich kennen gelernt, weil ich eines seiner Gedichte übersetzt habe. Nach einer Lesung, die er an der »Young Men's Hewbrew Association« gehalten hatte, zeigte ich ihm meine Übersetzung des Gedichts, und er fand sie hervorragend. Ich sagte zu ihm: »Wenn man Sie übersetzt, kommt immer ein Rilke dabei heraus.« Er stand so sehr unter dem Einfluss Rilkes, dass die deutsche Übersetzung sehr stark an Rilke erinnert.

Richard Kitzler: Wie wunderbar formale Psychologie und Therapie doch in den Hintergrund treten.

Laura Perls: Ich muss dich daran erinnern, dass ich, lange bevor ich irgend etwas anderes wurde, Musikerin und Schriftstellerin war.

Richard Kitzler: Warum hast du dich von diesen Dingen abgewandt?

Laura Perls: Nach dem Ersten Weltkrieg wurden wir Sozialisten. Ich war ungefähr fünfzehn und wollte etwas sozial Sinnvolles tun. Also hatte ich vor, in die Jugendgerichtsarbeit einzusteigen; das war damals ein ziemlich neues Gebiet. Und es gab nur sehr wenige Frauen, die einen juristischen Beruf ausübten. Zu dieser Zeit hatte ein beachtlicher Teil der deutschen Gesellschaft bereits ein soziales Bewusstsein entwickelt, das hier in den Vereinigten Staaten erst in den fünfziger und sechziger Jahren entstand.

Richard Kitzler: Die Frauen kämpfen immer noch um eine echte Anerkennung. In der Gestalttherapieszene haben die Frauen sicherlich von Anfang an eine bedeutende Rolle gespielt.

Laura Perls: Ich habe jetzt - zum ersten Mal in meiner beruflichen Laufbahn - eine reine Frauengruppe. Das ist mir noch nie passiert. Normalerweise hatte ich immer Männergruppen. Und in Südafrika waren die meisten meiner Klienten ebenfalls Männer. Die Frauen gingen zu Fritz, und die Männer kamen zu mir.

Richard Kitzler: Wie denkst du heute über Fritz?

Laura Perls: Mir fällt auf, dass ich Fritz heute mehr so sehe, wie er als jüngerer Mann war.

Richard Kitzler: Mir fällt es immer noch schwer, ihn mir mit dem Bart vorzustellen, den er die letzten Jahre trug.

Laura Perls: Doch, ich kann ihn so sehen, aber das ist nicht der Fritz, mit dem ich zusammen war. In den letzten Jahren haben

wir nicht mehr zusammengelebt; wir haben uns nur ab und zu besucht.

Richard Kitzler: Als ich dich fragte, wie du Fritz siehst, dachte ich eher an Träume und Visionen, weißt du, diese Augenblicke der Klarheit, die sich in einem Gefühl von Gegenwärtigkeit ausdrücken.

Laura Perls: Fritz hatte Augenblicke der Klarheit, die man nur als phantastisch bezeichnen kann. Unglücklicherweise dämpfte er diese Klarheit mit einer Menge Unsinn, bis es ihm schließlich selber reichte. Am Ende war er sehr schweigsam geworden. Dadurch, dass er zum Schluss fast nur noch mit Träumen arbeitete, konnte er sich aus der persönlichen Beziehung zum Klienten oder Trainee weitgehend heraushalten. In der Tat kehrte er damit zu seinem frühen Wunsch zurück, ans Theater zu gehen und Regisseur zu werden.

E. Mark Stern: Es ist interessant zu beobachten, was Fritz für ein Mensch war, und ihn einem anderen großen Mann gegenüberzustellen: Jacob Moreno, dem Vater des Psychodramas. Eine von Morenos ersten Phantasien war es, ein Gott zu sein. Im ersten Band von Psychodrama (der zweite Band wurde nie veröffentlicht) spricht Moreno davon, Gott zu spielen. Er sah sich selbst als auf dem Weg zum Superregisseur eines Weltdramas.

Laura Perls: Er war noch grandioser als Fritz; Fritz wollte nur Theaterdirektor werden.

Richard Kitzler: Laura, deine eigene Entwicklung hängt sicher auch damit zusammen, wie und wer du in deiner Beziehung mit Fritz warst.

Laura Perls: Ich entwickle mich immer noch, so wie ich es auch in den letzten zwölf Jahren getan habe - seit ich allein lebe. Es macht mich traurig, wenn ich heute an Fritz denke und sehe, wie er sich entwickelt hat - oder auch nicht. Es ist schade, dass Fritz überhaupt keine Kritik vertragen konnte.

Richard Kitzler: Ich erinnere mich an ein Treffen in deiner Wohnung. Fritz sagte zu dir: »Laura, du bist der einzige Mensch, der mich dazu bringen kann, mich zu erklären.« Das kommt mir vor wie eine Zusammenfassung der verschiedenen Gründe für eure Trennung. Er konnte das einfach nicht annehmen.

Laura Perls: Fritz hatte Angst vor mir. Er hielt es mit mir nicht aus, weil ich mich unabhängig gemacht hatte. Als ich ihn kennen lernte, war ich 21, unerfahren, ein kleines Mädchen aus einer Kleinstadt, eine unwissende Studentin. Er war 33, hatte seinen Doktor gemacht, war wirklich brillant, machte aber nichts aus seinen Fähigkeiten. Er tat das, was man in Deutschland »Geistscheißen« nennt, und was er selbst später als elephant shit bezeichnete. Aber er war sehr beeindruckend. Er war im Krieg gewesen und hatte dort viel Schreckliches erlebt, und als ich ihn traf, war er ein verzweifelter Zyniker, der aber schließlich doch ein Mensch wurde.

 

Anmerkungen:

(1) Perls, Frederick S. / Hefferline, Ralph / Goodman, Paul: Gestalt Therapy. New York 1951. Deutsch in 2 Bänden: Gestalttherapie, [Band 1:] Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung (Taschenbuchausgabe: Gestalttherapie - Grundlagen); [Band 2:] Wiederbelebung des Selbst (Taschenbuchausgabe: Gestalttherapie - Praxis). Stuttgart 1979 (Taschenbuchausgabe: München 1991).

(2) Goodman, Paul (1960): Aufwachsen im Widerspruch. Darmstadt o.J. (Original: Growing Up Absurd. New York 1960.)

(3) Perls, Frederick S. (1947): Das Ich, der Hunger und die Aggression. Die Anfänge der Gestalttherapie. München 1989.

(4) Perls, Frederick S. (1969). Gestalttherapie in Aktion. Stuttgart 1975.

(5) Fagan, Joen und Shepherd, Irma Lee: Gestalt Therapy Now. New York 1971.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen 

Foto: Laura PerlsLaura Perls, Foto Mitte der 1980er Jahre, © Theo Skolnik

Laura Perls
(1905 - 1990)

Mitbegründerin der Gestalttherapie - gemeinsam mit Ihrem Ehemann Fritz Perls und dem amerikanischen Sozialpsychologen und Schriftsteller Paul Goodman.

Der nebenstehende »Trialog« erschien zuerst in: Voices - 1982, 18. 2. Wir danken E. Mark Stern für die freundliche Genehmigung der deutschen Erstveröffentlichung. Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg

Cover: Meine Wildnis ist die Seele des Anderen

Anlässlich des 100. Geburtstages von Laura Perls erscheint nun der Klassiker »Der Weg zur Gestalttherapie« in einer erheblich erweiterten Ausgabe: Die Basis bilden die Gespräche des amerikanischen Gestalttherapeuten Daniel Rosenblatt mit Laura Perls. Hinzugekommen sind weitere Interviews, besonders zum Selbstverständnis der Therapeutin, und zahlreiche Würdigungen der Persönlichkeit und der Arbeit Laura Perls durch Kollegen und Schüler. Mit zahlreichen seltenen Bilddokumenten.

Besonders aufwändig gestaltete Liebhaberausgabe: gebunden und mit Lesebändchen. 248 Seiten, 21,90 €.

Bestellanschrift: GIK Bildungswerkstatt, Fax: 0221 - 447652, eMail: gik-gestalttherapie@gmx.de

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