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Detlev Kranz
Gestalttherapie und spirituelle Wege
Gedanken anläßlich des Buches "Und wo ist das Problem? Zen-Buddhismus und Gestalttherapie" von Bruno M. Schleeger


Aus der Gestaltkritik 1/2009

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 1/2009):

Detlev Kranz
Gestalttherapie und spirituelle Wege
Gedanken anläßlich des Buches "Und wo ist das Problem? Zen-Buddhismus und Gestalttherapie" von Bruno M. Schleeger

 

Foto: Detlev KranzDetlev Kranz

 

In unserer Zeitschrift sind folgende Beiträge von Detlev Kranz erschienen, die wir hiermit Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen möchten:

Der Herausgeber

Seit vielen Jahren frage ich mich immer wieder einmal, aus entsprechendem, jeweils aktuellen Anlass, worin dieses spezifische Interesse, ja geradezu Bedürfnis, besteht, Gestalttherapie, Meditation, spirituelle Wege o.ä. in einen engeren Zusammenhang zu bringen. Genauer gesagt: in der Gestalttherapie etwas zu suchen, das identisch ist - oder zumindest ähnlich - mit der Praxis eines spirituellen bzw. Meditations-Weges. Seit ich die Gestalttherapie in ihrer Entwicklung verfolge, also seit Ende der 1970er Jahre, tauchen beinahe zwangsläufig, in Intervallen, Arbeiten auf, die sich dieses Themas annehmen.

Ludwig Frambach stellt in seinem Artikel "Spirituelle Aspekte der Gestalttherapie", 1999, fest: "Die Gestalttherapie hat von ihren Quellen her wie auch durch zentrale Konzepte und ihr Prozeßverständnis vielfältige Beziehungen zum Bereich Spiritualität. Dieses Potential läßt sich in einer behutsamen Weise nutzen und entwickeln, um spirituelle, transpersonale Aspekte in ein umfassenderes Verständnis von Therapie miteinzubeziehen." (Frambach 1999, S. 613.)

Diese letzte Formulierung halte ich nun für frag-würdig: was ist mit umfassenderem Verständnis gemeint, und: befinden wir uns damit noch im Bereich von Psychotherapie im engeren Sinne, wo es um die Behebung von psychischem Leiden gehen sollte? Wo beginnt eine nicht mehr verantwortungsvolle Vermischung von unterschiedlichen Feldern und eine unethische Grenzüberschreitung durch den Psychotherapeuten oder die Psychotherapeutin gegenüber einem Klienten oder einer Klientin?

Frambach differenziert im folgenden und betont den Vorrang der Psychotherapie: U.a. sagt er: "Wesentliche Prinzipien der Spiritualität werden so durch den Gestalt-Ansatz in den Kontext der Psychotherapie übertragen und hier modifiziert für psychotherapeutische Belange fruchtbar gemacht, ohne damit einen spezifisch spirituellen Anspruch zu verbinden." (a.a.O. S. 621.)

Er hält es für möglich, daß man durch Theorie und Praxis der Gestalttherapie "in gewisser Weise gleichsam eingestimmt und vorbereitet (wird) auf die transformativen Prozesse der Spiritualität." (a.a.O.

S. 628.)

Aber natürlich muss das nicht so sein, und eine fortlaufende Gestalttherapie mit einer Klientin oder einem Klienten hat, meiner Meinung nach, zunächst und vor allem nichts anderes zu sein als kompetente Psychotherapie. Alles andere ist zusätzlich, und bedarf genauer Absprachen zwischen Therapeuten und Klienten.

 

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Fritz Perls selbst hat in den letzten Jahren seines Lebens, in denen er hauptsächlich im Esalen-Institut in Kalifornien arbeitete, viel dazu beigetragen, Gestalttherapie und Meditation, Zen, Spiritualität etc. in einen Zusammenhang zu bringen.

Z.B. wenn er schreibt: "Laßt mich jetzt von einem Dilemma sprechen, das nicht leicht zu verstehen ist. Es ist wie ein Koan - jene Zen-Fragen, die unlösbar scheinen. Das Koan lautet: Nichts existiert außer dem Hier-und-jetzt." (Perls 1969a, S. 49.)

Oder später: "Wir tun vieles, was in Wirklichkeit Teil der Trance ist, in der wir leben. Schau, sehr wenige von uns sind erwacht, sind wach. Ich würde sagen, der Großteil der modernen Menschheit lebt in einem sprachlichen Trancezustand. Der moderne Mensch sieht nicht, er hört nicht und es braucht ganz schön lange, um aufzuwachen. Zuerst, in der Therapie - ihr habt einige kleine Erweckungen hier gesehen - ich nenne es Mini-Satori. Es ist durchaus möglich, daß man eines Tages voll erwacht ist, voll da ist, und dann hat man Satori." (a.a.O. S. 132.)

Perls, also, stellt selbst öfter Bezüge zu Zen her, indem er Zen-Begriffe aufnimmt: z.B. "koan", oder "satori", und sie mit zentralen Begriffen der Gestalttherapie verknüpft, wie "Bewußtheit" (Engl.: "awareness"; deutsche Übersetzung oft "Gewahrsein") und "Hier und Jetzt", Perls suggeriert, indem er dies tut, Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen, ohne aber diese genauer zu untersuchen und zu erläutern. Er verzichtet darauf, genauer zu zeigen, wo oder wo nicht oder in welchem Maße Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen tatsächlich existieren.

Perls geht an einer anderen Stelle sogar soweit, Religion und Therapie unter einem gemeinsamen Ziel zu vereinen "Die Aufgabe aller tiefen Religionen - vor allem des Zen-Buddhismus - oder von wirklich guter Therapie ist das Satori, das große Erwachen, das Zu-Sinnen-Kommen, Aufwachen aus seinem Traum - vor allem aus seinem Alptraum." (a.a.O. S. 156.)

In Perls' Technik des "Bewusstheitskontinuums" ist die Nähe zur Meditation unübersehbar: "Die Technik ist, ein Bewusstheitskontinuum herzustellen. (...) Dieses Bewusstheitskontinuum scheint sehr einfach zu sein, nur eben von Sekunde zu Sekunde sich dessen bewusst zu sein, was geschieht." (a.a.O. S. 59.)

Außerhalb von Therapiesituationen können wir dies als Meditation werten.

Innerhalb der Therapiesituation handelt es sich um eine effektive, psychotherapeutische Technik, die Perls direkt (als Kritik an Freud) der Freudschen "Freien Assoziation" entgegensetzt, indem er letztere als freie "DISsoziation" bezeichnet. (a.a.O. S. 59.)

In den Anfängen der Gestalttherapie, in "Das Ich, der Hunger und die Aggression" (1941/1946), geschieht diese Abgrenzung gegenüber der Freudschen ­Psychoanalyse noch unter der Bezeichnung "Konzentrationstherapie" (Perls 1946, S. 219).

 

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Beinahe gleichzeitig zu Fritz Perls' oben zitierten Äußerungen (um etwa ein Jahr herum) beschäftigt sich auch Barry Stevens, die mehrere Monate mit Fritz Perls in seiner Gestalt-Gemeinschaft am Lake Cowichan, Vancouver Island, Kanada verbracht hatte, intensiv mit möglichen Zusammenhängen von Gestalttherapie und spirituellen Wegen. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der Bewusstheit, und zwar besonders der Bewusstheit der Therapeutin bzw. des Therapeuten in ihrer Arbeit mit Klienten. (Stevens 1970)

Ihr Verständnis von Bewusstheit ist sehr vom Zen-Verständnis eines weiten, wachen, nicht-anhaftenden Geistes geprägt; einer Form von "Ich-losigkeit", Absichtslosigkeit. Sie hält eine solche Geistesverfassung auf der Seite der Therapeutin für besonders geeignet in der therapeutischen Arbeit. Eine Geistes-Haltung, die nicht an Konzepten oder Regeln anhaftet im Moment der Arbeit, sondern die sich frei bewegt mit den Bewegungen des Klienten. (Das meint nicht Orientierungslosigkeit; meint nicht, nicht zu wissen, was man tut).

Sie beschreibt eine Erfahrung in ihrer therapeutischen Arbeit folgendermaßen: "Als ich mich hinsetzte, kamen mir die Bilder von dem Ochsen und dem Mann in einem von Suzukis Zen-Büchern in den Sinn. Das letzte Bild ist ein leerer Kreis. Es trägt den Titel ,Der Ochse und der Mann sind verschwunden.' Patient und Therapeut waren verschwunden. Keiner war mehr da. Mann und Frau waren verschwunden. Ich war mir Dons und meiner selbst bewusst - sehr viel genauer - und gleichzeitig waren Don und ich auch ,verschwunden'. Ich war verschwunden. Es gab nur noch Ereignisse, Geschehnisse, und jedes Ereignis war - ebenso wie jeder Augenblick - einfach da, und dann nicht mehr. Nur dieser Augenblick - jetzt. Und doch war alles aufgezeichnet und mir zugänglich." (Stevens 1970, S. 27.)

Was ich bei Barry Stevens wichtig finde, ist, dass sie in ihren Äußerungen meist ausdrücklich persönlich bleibt. Sie schildert ihren eigenen Weg mit Meditationserfahrungen und Gestalttherapie, ohne zu sehr zu verallgemeinern, oder gar ein Aussage-System abzuleiten.

An Fritz Perls' Einstellung zu Zen gefällt ihr, dass er Zen nicht als schnelle Erlösung propagiert. An Perls kritischen Äußerungen über Zen in seiner Autobiographie sieht sie ihrerseits kritisch, dass Fritz ihrem Verständnis nach sich nicht intensiv genug auf Zen eingelassen hat. (a.a.O. S. 46.)

Wenn Barry Stevens über Zen, Meditation etc. und Gestalttherapie schreibt, dann geht es ihr vornehmlich um die Seite der Therapeutin. Sie fragt danach, inwieweit etwas, das man in bestimmten Meditationen lernen kann, hilfreich wird für die therapeutische Arbeit. Dabei ist Bewusstheit für sie ein Schlüssel, egal, ob Bewusstheit durch Gestaltmethoden oder -übungen erreicht wird oder durch Meditation.

Ihr Interesse geht schließlich über Gestalt-PSYCHOtherapie im engeren Sinn hinaus, und sie beschreibt Bewusstheit als heilsame, heilende Alltagserfahrung, Alltags-Geisteshaltung; und Gestalttherapie kann für sie auch die Rolle einer Lebensphilosophie übernehmen. Sie spricht dann lieber von "gestalt",

 

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Als ich zum ersten Mal Artikel von Barry Stevens las, war es gerade dieses Hinübergleiten von Therapie zu Meditation und schließlich Alltag, sozusagen als Lebens-WEG, das mich sehr faszinierte und meiner Ausbildung als Gestalttherapeut eine neue, bedeutsame Dimension hinzuzufügen schien. Und mich faszinierte besonders, wie Barry Stevens dies lebte und lebendig vermittelte.

Heute glaube ich, dass Gestalttherapie(ausbildung) nicht als Meditation(sersatz) dienen kann, sondern dass umgekehrt Meditation in der Arbeit als Therapeut hilfreich für den Therapeuten sein kann, und damit auch für den Klienten. Das hat zur Voraussetzung, dass der Therapeut selbst Meditation (aus-)übt.

Aber all dies verstehe ich unter dem Primat der Psychotherapie.

Des weiteren glaube ich heute, dass ich damals in gewisser Weise die Illusion einer Abkürzung bzw. Vereinfachung oder "Arbeitserleichterung" hatte, dass ich annahm (hoffte), dass, wenn ich ernsthaft und aufrichtig den "WEG" der Gestalttherapie gehen würde, ich gleichzeitig einen "WEG" gehen würde, der in die Verwirklichung von Zen hineinreichen könnte.

Zwei Fliegen mit einer Klappe, sozusagen …

Denn sowohl Gestalttherapie als auch Zen (und davor bereits Tai Chi) waren zu außerordentlich wichtigen Grundlagen meines Lebens geworden; und beides sozusagen in einem (= Gestalttherapie) aus-üben zu können, fühlte sich hervorragend an.

Das war in dieser Form ein Irrtum, dennoch existiert die Nähe zur Meditation in der Gestalttherapie über die Bedeutung der Bewusstheit.

Aufrichtig den WEG der Zen-Meditation zu gehen, kann hilfreich in die Ausübung von Gestalttherapie hineinreichen.

 

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Marc Joslyn befasst sich 1975 in seinem Artikel "Figure/Ground: Gestalt/Zen" zunächst mit dem Figur/Grund-Geschehen und dem Feld-Konzept der Gestalttherapie, und bemerkt, dass in der gestalttherapeutischen Arbeit die Figur meist mehr Beachtung findet als der Grund; während im Zen neben der Unterscheidung (Figur) die Einheit des Feldes gleichermaßen in der aufmerksamen Wahrnehmung liegt, - und das wechselseitige Ineinander-Übergehen von "Form" und "Leerheit", Joslyn beschreibt im Artikel, wie psychotherapeutische/gestalttherapeutische Probleme und Fragestellungen aus der Sicht des Zen-Buddhismus erscheinen, und umgekehrt.

Aber dann geht er ein paar Schritte weiter, und fragt nach dem, was im Anschluss an die Therapie kommt, und formuliert: "Werden wir nicht mit derselben Frage nach dem Selbst konfrontiert - wenn auch besser vorbereitet -, die wir vor der Therapie hatten?" (Joslyn 1975, S. 240; meine Übersetzung, D.K.) Und er ergänzt kritisch: "Zen und Gestalt zu vergleichen heißt, beide auf Therapiesysteme zu verengen. Da wir selbst viel mehr sind als ein therapeutisches System, ist auch Zen, und Gestalt mehr." (a.a.O. S. 244.)

Und schließlich macht Joslyn etwas, so wie ich ihn verstehe, was ich sehr problematisch finde: er vereinnahmt im Ausblick doch Gestalttherapie unter die Praxis und Lehre, und auch unter die Aufgabe und Wirkungsrichtung, von Zen, und lässt Gestalttherapie zu einer Lehre der Verwirklichung des Menschen in dieser schwierigen Welt werden, die sich von Zen kaum noch oder nicht mehr unterscheidet.

So löst sich bei ihm Gestalttherapie letztendlich im Zen auf, und die Unterschiede zwischen einem GestaltPSYCHOtherapeuten und einem Zen-Meister werden verwischt.

Das geht in dieser Form zu weit, ist zu schnell, kurzschlüssig, und weit davon entfernt, gründlich durchgearbeitet zu sein.

Bleiben wir statt dessen lieber auf sicherem Grund: Gestalttherapie ist Gestalttherapie. Und Zen ist Zen.

Wo wir ebenfalls bei Gestalttherapie auf sicherem Grund stehen, ist dies: mit Gestalttherapie haben wir eine kompetente und hervorragend ausgearbeitete, fundierte Theorie und Praxis für die Behandlung psychischer Leiden. Und genau an dieser Stelle, der Linderung und Beseitigung von menschlichem Leid, können wir uns spirituellen Wegen als sehr nah erleben.

 

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Der Artikel von Joslyn erscheint in einem Buch, das Barry Stevens' Sohn, John O. "Steve" Stevens 1975 herausgibt; und in dem er - neben anderen - einen Artikel des existentialistischen Psychotherapeuten Wilson Van Dusen von 1958 wiederveröffentlicht. Der Artikel träg den Titel "Wu Wei, No-mind, and the Fertile Void" (ursprünglich in: Psychologia, 1958, S. 253 - 256). Wilson Van Dusen hatte Fritz Perls 1959 an das Mendocino State Hospital, Kalifornien, geholt.

In seiner Autobiographie schreibt Perls dazu: "Er (Van Dusen; D.K.) machte mir den Vorschlag, an die Westküste zu kommen und am Mendocino State Hospital zu arbeiten. Ich begrüßte seinen Vorschlag. Ich wollte von Miami weg. (...) Anfangs fühlte ich mich Wilson nahe. Wir respektierten einander. (...) Während meiner Arbeit in der Klinik lernte ich LSD kennen und ging ziemlich häufig auf Trips ohne zu merken, dass ich allmählich recht paranoid und reizbar wurde. Jedenfalls wurden Wilson und ich einander ziemlich fremd und ich zog bald nach Los Angeles. Vor kurzem sah ich ihn wieder und nach einigen Tagen taute er auf und wir hatten wieder ein gutes und warmes Gefühl füreinander." (Perls 1969b, S. 149f.)

In seinem Artikel beschäftigt sich Van Dusen mit "Löchern", die er in der Erlebniswelt seiner schizophrenen Patienten erkennt; von denen er aber bald sagt: "Aber genauere Untersuchung zeigte, dass diese Löcher in mehr oder weniger großem Ausmaß in allen Menschen vorkommen. (...) Diese leeren Löcher wurden zum Schlüssel von beidem: der Psychopathologie und der psychotherapeutischen Veränderung. Obwohl meine Kenntnisse des Taoismus und des Zen-Buddhismus gering sind (großmütterlich, könnte ein Zen-Mönch sagen) waren es diese beiden, die mir den Weg hinein und hinaus aus den Löchern zeigten und ihre Bedeutung." (Van Dusen 1958, S. 88; meine Übersetzung, D.K.)

Van Dusen untersucht weiter die Vorstellung/Erfahrung von Leere im Taoismus und im Zen und bezieht dies auf seine therapeutische Arbeit; im Bewusstsein einer grundsätzlichen Schwierigkeit: "Ich entschuldige mich bei den alten Lehrern für eine magere Über-Vereinfachung ihrer Arbeit. Aber es muss getan werden. Irgendwo ist es notwendig zu zeigen, dass diese Lehren nicht nur praktischen Wert in der Psychotherapie haben, sondern dass ihre Relevanz allgegenwärtig ist." (a.a.O. S. 93.)

Beinahe gleichzeitig mit dem Erscheinen von Van Dusens Artikel, nämlich ein Jahr früher, 1957, beschäftigen sich auch Psychoanalytiker mit möglichen Verbindungen zwischen Zen und Psychoanalyse; und zwar auf einer Konferenz in Cuernavaca, Mexiko; bei der als Hauptredner D.T. Suzuki, Erich Fromm und Richard de Martino auftreten.

1960 werden die Ergebnisse in einem Buch veröffentlicht: "Zen-Buddhismus und Psychoanalyse". Die Autoren sind die obengenannten Redner.

Zu den Themen gehören erkenntnistheoretische Fragen bei der Art und Weise der Erkenntnisgewinnung im "Osten" und "Westen", die Frage nach dem Unbewussten und dem Bewussten, der Intuition und der Ich-losigkeit.

Erich Fromm macht an einer Stelle eine interessante Aussage, die beinahe wie der spätere Fritz Perls klingt: "Gesundheit bedeutet, ganz geboren zu sein, und das zu werden, was man seinen Anlagen nach sein kann; sie bedeutet, Freude und Traurigkeit unbeeinträchtigt empfinden zu können oder, noch anders ausgedrückt, aus dem Halbschlaf zu erwachen, in dem der Durchschnittsmensch sein Leben führt, und hellwach zu sein." (Fromm/Suzuki/de Martino 1960, S. 118.)

Fromm macht auch deutlich, dass bereits früher Psychoanalytiker sich mit Zen beschäftigt haben. Er nennt C.G. Jung, und Karen Horney in ihren letzten Lebensjahren. (a.a.O. S. 222.)

Fromms Interesse gilt letztendlich der Befreiung des Menschen; die Befreiung durch Aufhebung der Verdrängung ins Bewusstsein in der Psychoanalyse, und die Befreiung des Erwachens im Zen, so wie er Zen versteht. (a.a.O. S. 155ff) Er führt aus: ",Sich des Unbewussten bewusst werden' heißt, die Verdrängungen und Entfremdung von mir, und damit von dem Fremden, zu überwinden. Es bedeutet aufzuwachen, Illusionen, Fiktionen und Lügen abzuschütteln und die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist. Der Mensch, der erwacht, ist der befreite Mensch, der Mensch, dessen Freiheit weder von ihm noch von anderen eingeschränkt werden kann. Der Vorgang, dass man sich dessen bewusst wird, wessen man sich nicht bewusst war, bildet die innere Revolution des Menschen. Es ist das wahre Erwachen, das an der Wurzel sowohl des schöpferischen intellektuellen Denkens als auch des intuitiven, unmittelbaren Erfassens liegt." (a.a.O. S. 165.)

Genau dies ist Gestalttherapie, Psychoanalyse und Zen gemeinsam zu eigen: die Perspektive und das Potential der Befreiung des Menschen, der Befreiung aus Leiden.

 

*****

 

Wir können in dieser schlaglichtartigen Betrachtung verschiedener Autoren zwei unterschiedliche Sichtweisen von Gestalttherapie und spirituellen Wegen unterscheiden.

Die eine sieht im spirituellen Weg, in Meditation etc. eine zusätzliche Unterstützung in der psychotherapeutischen Arbeit, - die eigene Meditation etc. auf Seiten der Therapeutin, und (stark verkürzt ausgedrückt) die Übernahme meditativer Elemente und Konzepte in die psychotherapeutische Arbeit, werden als befruchtend und unterstützend erlebt; - die andere Sichtweise sucht, entdeckt oder behauptet in der Gestalttherapie (Theorie und Praxis) aus unterschiedlichen Motiven etwas, was auch Teil von spirituellen Wegen und Praxen ist.

Nach meiner Kenntnis wird allerdings häufig zu schnell und zu oft von Gleichheit oder Ähnlichkeit gesprochen, und eine durchgearbeitete Überprüfung findet nicht statt.

Die Tatsache, dass Bewusstheit eine zentrale Rolle in der Theorie und Praxis der Gestalttherapie spielt, ist verführerisch, allein schon vom Wort her, Gestalt-Bewusstheit und z.B. die wache, weite, nicht-anhaftende Geistes-Haltung im Zen gleichzusetzen.

Aber inwieweit ist das statthaft? Die Übung der Verwirklichung des "Zen-Geistes" erfolgt nun mal in einem völlig anderen Kontext. Würde ein Zen-Schüler, der zum ersten Mal in eine Gestalttherapiesitzung kommt, sich dort von der "Bewusstheit" her, sofort heimisch fühlen?

Zu den Motiven: mir scheint bei der Suche von "Spirituellem" (meist "östliche" Formen) in der Gestalttherapie oder in anderen Therapien u.a. auch das Bedürfnis hervorzutreten, Teil von etwas Größerem, Umfassenderen zu sein.

Oft verbunden mit dem Interesse, gegebene Isolierungen, Spaltungen in Richtung von etwas Allumfassenden zu überwinden. Schon auf der genannten Konferenz über Zen-Buddhismus und Psychoanalyse, 1957, geht es auch um die Frage, wie der "Westen" vom "Osten" etwas aufnehmen kann, was ihm, dem "Westen", fehlt.

Unter diesem Aspekt hätten wir es hier mit einer Form der Suche nach Heil, nach Heilung, im Wieder-Ganz-Sein zu tun. Eine Suche nach Ganzheit, die durch die konkrete Psychotherapieform hindurch wirkt.

Aber die Vereinnahmung, die Vereinheitlichung des Verschiedenen unter das Ganze birgt Gefahren, wie Anne Harrington in ihrer Geschichte der Ganzheitslehren in Deutschland zeigt (s. Harrington 1996). Der Weg von der Ganzheit zum unterdrückenden Totalitarismus ist nicht weit.

Vielleicht liegt dem Bedürfnis, Gestalttherapie auf Verbindungen zu spirituellen Wegen zu untersuchen ja auch die Faszination zugrunde, bisher unbekannte, verborgene Zusammenhänge zu entdecken; oder unter Umständen sogar der Wunsch, dem eigenen Tun, den eigenen Erkenntnissen, eine besondere, zusätzliche und "tiefere" Bedeutung und Legitimierung zu verschaffen. Das ist allerdings völlig unnötig. Die Gestalttherapie kann ganz aus sich heraus bestehen, und besteht auch - eine fundierte, gut ausgearbeitete Psychotherapie, die nicht leicht zu erlernen ist.

Jedenfalls möchte ich nach all dem Gesagten, dafür plädieren, im Zweifelsfalle die Vielfalt und die Differenz, das Sich-Unterscheiden, ausreichend zu schätzen; und diese nicht frühzeitig über Bord zu werfen, um fragwürdiger Befriedigungen willen. Schließlich ist Bewusstheit ja auch unterscheidender Geist, der klare Orientierung im Feld ermöglicht; - und uns so davor bewahrt, in diffuser Konfluenz verloren zu gehen.

 

*****

 

Meine Kritik an verschiedenen Autoren, dass sie vorschnell Schlüsse ziehen und auf schmaler Wissens- und Erfahrungsgrundlage "Ergebnisse" formulieren, trifft auf Bruno M. Schleeger nicht zu. Sein Buch ",..und wo ist das Problem? Zen-Buddhismus und Gestalttherapie" ist hervorragend durchgearbeitet, mit beeindruckender Gründlichkeit und kritischer Reflexion. Das alles ist Teil der ausgezeichneten Qualität seiner Arbeit.

"Dies soll weder ein Lehrbuch über Gestalttherapie, noch eins über Zen-Buddhismus werden." (Schleeger 2008, S. 12.) - so lautet eine Zielvorgabe Schleegers für sein Buch, und auch hierin liegt ein Teil seiner Qualität. Auf diese Weise entgeht er der Gefahr, in eine dogmatisierende und starre Darstellung zu verfallen.

Schleeger geht es darum, Parallelen und Unterschiede aufzuzeigen, und keine voreiligen Gleichsetzungen vorzunehmen. "Zen-Buddhismus ist keine Form der Therapie. Gestalttherapie ist kein Weg zur Erleuchtung. Beide können sich ergänzen, nicht aber ersetzen." (a.a.O. S. 23.) Er unterscheidet zwei Kategorien von Klienten (diese Unterscheidung ist NICHT wertend gemeint): 1. Klienten, die sich um die Verbesserung ihrer Lebensqualität bemühen, deren Leben aber im großen und ganzen "in Ordnung" ist, und 2. Klienten, "die ohne therapeutische Hilfe zumindest für einen begrenzten Zeitraum kaum (über-)lebensfähig wären.

Könnte man bei der ersten Kategorie die beiden Wege noch in etwa gleichsetzen, so wäre dies im zweiten Fall völlig falsch! Meditation ist keine Therapie und auch kein Therapieersatz. Umgekehrt gilt das gleiche!" (a.a.O. S. 27.)

Das Buch wird zu einer spannenden Entdeckungsreise. Schleeger betrachtet beide, Gestalt-/Psychotherapeuten und buddhistische Lehrer und ihren Umgang mit psychischen Problemen, und zwar

so, dass er auf BEIDE einen kritischen Blick wirft. Er zeigt "Unterschiede zwischen beiden Wegen und Schwierigkeiten in der Verständigung miteinander." (a.a.O. S. 26.)

Der andere Blickwinkel kommt ebenso hinzu: grundsätzlichere Ähnlichkeiten. Z.B. "Sowohl im Zen als auch in der Gestalttherapie werden wir immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen, denn mehr haben wir letztlich nicht.", und: "In der Gestalttherapie und im Zen-Buddhismus geschieht Veränderung immer dann, wenn ich aufhöre jemand anders sein zu wollen. Je mehr ich der sein kann, der ich bin, desto eher kann ich zu dem werden, der ich gerne wäre." (a.a.O. S. 80/81.)

Bemerkenswert ist u.a., dass Schleeger auch auf die möglichen Gefahren von Meditation für Klienten mit ernsthaften psychischen Störungen hinweist; genauso, wie er umgekehrt sagt, dass ein durch Psychotherapie "Gestählter" möglicherweise nun Schwierigkeiten auf seinem Medita­tionsweg bekommen kann. (a.a.O. S. 34; 38.)

Ein frischer, kritischer Windhauch durchweht das ganze Buch; so, als wolle Schleeger uns immer wieder darauf hinweisen: "Geht nicht denen auf den Leim, die aus der aufblühenden Befreiung neue Ketten schmieden wollen - Ihr selbst miteingeschlossen.", und: "Denkt selbst nach, denkt differenziert, schaut die Dinge von den verschiedenen Seiten an." Das ist es jedenfalls, was er selbst in seinen Betrachtungen beispielhaft praktiziert.

Dieses Buch ist bedeutsam; es ist vor allen Dingen reich, reichhaltig; und für den interessierten Leser bietet es einen fruchtbaren, übervollen Garten. Darüber hinaus ist es klug und einfühlsam geschrieben. Wer als nächstes über das Thema Gestalttherapie und Zen, oder Psychotherapie und Spiritualität schreiben will, kann einer Auseinandersetzung mit Schleeger kaum entgehen.

 

LITERATUR

Frambach, L. (1999): Spirituelle Aspekte der Gestalttherapie, in: Fuhr/Sreckovic/ Gremmler-Fuhr (Hrsg.): Handbuch der Gestalttherapie, Göttingen/Bern/Toronto/Seattle 1999, S. 613 - 632.

Fromm, E./Suzuki, D.T./de Martino, R. (1960): Zen-Buddhismus und Psychoanalyse, Frankfurt/M. (6)1977.

Harrington, A. (1996): Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung. New Jersey; Reinbek bei Hamburg 2002.

Joslyn, M. (1975): Figure/Ground: Gestalt/Zen, in: J. O. Stevens (Hrsg.): gestalt is, Moab/Utah 1975, S. 229 - 246, deutsch: Zen und Gestalttherapie, in: Petzold, H. (Hrsg.): Psychotherapie, Meditation, Gestalt, Paderborn 1983, S. 147 - 182.

Perls, F.S. (1946): Das Ich, der Hunger und die Aggression, Stuttgart 1978.

Ders. (1969a): Gestalt-Therapie in Aktion, Stuttgart 1976.

Ders.: (1969b): Gestalt-Wahrnehmung. Verworfenes und Wiedergefundenes aus meiner Mülltonne, Frankfurt 1981.

Schleeger, B.M. (2008/1992): "… und wo ist das Problem?" Zen-Buddhismus und Gestalttherapie, Köln 2008; (völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Neuausgabe des erstmals 1992 erschienenen Buches).

Stevens, B. (1970): Don't Push the River. Gestalttherapie an ihren Wurzeln, Wuppertal 2000.

Van Dusen, W. (1958): Wu Wei, No-mind, and the Fertile Void, in: J. O. Stevens (Hrsg.): gestalt is, Moab/Utah 1975, S. 87 - 93, ursprünglich in: Psychologia, 1958, S. 253 - 256; deutsch: Wu Wei: Nicht-Geist und die fruchtbare Leere, in: Petzold, H. (Hrsg.): Psychotherapie, Meditation, Gestalt, Paderborn 1983, S. 245 - 251.

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 

Foto: Detlev KranzDetlev Kranz

Detlev Kranz

Lehrer für Gymnasien; Studium in Münster; lebt in Hamburg; Gestalttherapieausbildung bei Gerhard Selter (Münster) und Jerry Kogan, Marianne Fry, Michael Smith u.a. (Frankfurt, GENI); Arbeit u.a. als Wissenschaftlicher Angestellter in der Hamburger Schulbehörde und als Lehrer und Betreuer in Projekten für arbeitslose Jugendliche.

Homepage des Autors: http://www.detlev-kranz.privat.t-online.de

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