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Erhard Doubrawa & Stefan Blankertz
"EINEINHALB PAARE"
Erzählte Gestalttherapie: Dem Gestalttherapeuten Erhard Doubrawa über die Schulter geschaut


Aus der Gestaltkritik 1/2011:

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus Gestaltkritik 1/2011:

Erhard Doubrawa & Stefan Blankertz
"EINEINHALB PAARE"
Erzählte Gestalttherapie: Dem Gestalttherapeuten Erhard Doubrawa über die Schulter geschaut

Foto: Doubrawa und Blankertz (rechts)
Erhard Doubrawa & Stefan Blankertz (rechts), Foto: Hagen Willsch 2000

Reisen ist doch unser Hobby

Vor fast 10 Jahren leitete ich ein Gestalttherapie-Wochenende für Paare. Dort nahm ein Paar teil, das ich vorher nicht kannte, und das ich auch danach nicht wiedergesehen habe. Die beiden waren mehr als 25 Jahre verheiratet. Doch seit einigen Monaten kriselte ihre Beziehung. Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau, aber ich glaube, sie hatte an einer Weiterbildung für Kindergärtnerinnen teilgenommen. Im Rahmen dieser Weiterbildung kam sie zum ersten Mal mit therapeutischer Gruppenarbeit in Berührung. Seitdem war sie recht unzufrieden mit ihrer Ehe. Sie beschwerte sich vor allem darüber, dass ihr Mann kein Interesse an ihr habe.

Ich fragte genauer nach, was sie denn darunter verstehe, »Interesse an ihr zu haben«. Sie antwortete, dass er keine Fragen an sie richte. Also ermutigte ich ihn in der Gruppe, ihr Fragen zu stellen. Aber ihm fiel überhaupt keine einzige Frage ein, die er ihr hätte stellen können. Als Gestalttherapeut gehe ich davon aus, dass ein Verhalten, das uns heute behindert, früher einmal überlebenswichtig gewesen ist. In diesem Falle hieße das: Es muss für den Mann ehedem hilfreich gewesen sein, keine Fragen zu stellen. Ich sagte ihm das, und er entspannte sich merklich.

Nun begann ich, ihn zu befragen und zwar darüber, wie er seine jetzige Frau kennengelernt habe. Langsam begann er zu erzählen. Sie habe in derselben Firma gearbeitet wie er. Sie hätten sich häufiger im Flur und im Treppenhaus des Bürogebäudes getroffen. Sich immer freundlich gegrüßt. Später hätten sie einmal gemeinsam auf den Aufzug gewartet. Dabei waren sie zum ersten Mal ins Gespräch gekommen. Das eine kam zum anderen. Und irgendwann lud er sie zu einem Fest ein. Seitdem waren sie zusammen. Mehr als ein Vierteljahrhundert.

Ich fragte nach, was er von seiner Frau aus der Zeit wusste, bevor sie ihn traf. Das war nicht sehr viel – außer, dass sie verlobt gewesen war. Er zuckte zusammen, als er das aussprach. »Wie lange?« wollte ich wissen. Er wusste es nicht genau. Ich ermutigte ihn, seiner Frau eine der heißersehnten Fragen zu stellen. Zaghaft fragte er nach. Blickte sie dabei nur ganz kurz an. War ganz scheu. Sie antwortete ihm bereitwillig. Sie sei vier Jahre verlobt gewesen. Die Verlobung sei ein gutes halbes Jahr vor ihrer ersten Begegnung aufgelöst worden.

»Vier Jahre?!« entglitt es ihm.

»Ja«, sagte sie, »dies ist eine wirklich lange und wichtige Beziehung für mich gewesen.«

Er schwieg. Fragte nicht weiter. Ich war erstaunt. Ich bat ihn erneut, eine Frage zu formulieren. Er fragte, was an dieser Beziehung so wichtig gewesen sei. Sie antwortete wieder bereitwillig, dass ihr Verlobter und sie viel gereist seien, dass er ihr »die Welt« eröffnet habe.

»Aber Reisen ist doch unser Hobby«, sagte er dann.

Sie stimmt zu. Ergänzte aber, dass sie diejenige gewesen sei, die dies in ihre gemeinsame Beziehung eingeführt habe.

Er nickte. Wirkte dabei abwesend und unruhig. Fast erschrocken. Wieder schwieg er.

Wieder ermutigte ich ihn zu einer Frage.

Wohin sie denn gereist seien, fragte er seine Frau.

Vor allem zu zwei Orten, nach X und Y.

Er wurde leichenblass. War wie erschüttert.

»Aber,« sagte er, »das sind doch unsere gemeinsamen Lieblingsferienorte.«

»Ja,« antwortete sie, »natürlich, und die hat mir mein früherer Verlobter gezeigt.«

Er schwieg. Blickte auf den Boden. Biss die Zähne zusammen.

Dann sagte sie, dass sie in der Tat mehrmals vorher dort gewesen sei. Doch – und das war ihr wichtig zu betonen – sie hätten nie in dem Hotel übernachtet, wo sie vorher mit ihrem Verlobten Urlaub gemacht hatte.

Ihm stiegen die Tränen in die Augen. Dankbar sah er sie an.

Sie sagte, dass ihr Mann immer sehr eifersüchtig gewesen sei. Aber er habe sie nie nach ihrem Verlobten gefragt. Sie habe dies respektiert. Sie habe gespürt, dass sie ihn irgendwie habe schützen müssen. Es sei ihr richtig erschienen, wieder zu ­ihrem Lieblingsort zu fahren und gleichzeitig habe sie mit ihrem Mann ein »eigenes«, ein »neues« Hotel suchen wollen, das dann ihr gemeinsamer Platz werden sollte. Genauso war es geschehen.

Gerührt dankte er ihr.

Gestalttherapeutischer Schluss: Schwierigkeiten waren einmal Lösungen. Wenn Lösungen allerdings im Laufe der Zeit Schwierigkeiten werden, müssen wir neue Lösungen finden – ohne den alten Lösungen »Vorwürfe« zu machen.

Die Schwierigkeit dieses Paares hat sich als »Kleinigkeit« herausgestellt. Wäre sie jedoch nicht gelöst worden, hätten sich die beiden zunehmend voneinander entfremdet.

Bei der Auflösung von derartigen Schwierigkeiten ist zu beachten, gegenüber der Vergangenheit nicht den anklagenden Zeigefinger zu heben. Etwa von der Frau aus gesehen: »Du hättest mich doch schon damals fragen können.« Nein, das wäre nicht gut gewesen, weil zu schmerzhaft. Oder vom Mann aus gesehen: »Du hättest mir gleich sagen sollen, dass du unsere Ferienorte bereits mit deinem Ex-Verlobten besucht hattest.« Nein, dann hätten die beiden vielleicht niemals ihre Orte gefunden.

Nicht die Vergangenheit ist in Unordnung, wenn in der Gegen­wart etwas nicht funktioniert, sondern die Gegenwart. Wer die unveränderbare Vergangenheit meint verändern zu müssen, um die Gegenwart zu heilen, der scheitert. Heilung finden wir ausschließlich in der Gegenwart, damit es eine gute Zukunft wird.

 

Das Sakrament der Ehe

Gitte war zuerst in ein oder zwei gestalttherapeutischen Jahresgruppen, die ich zusammen mit einer Kollegin Ende der 1980er Jahre leitete. Dann begann sie mit Einzelsitzungen bei mir. Häufig wiederkehrendes Thema waren ihre sehr unglücklich verlaufenden und endenden Männerbeziehungen sowie ihr deswegen schwin­dendes Selbstwert­gefühl. Als wir die gemeinsame Arbeit dann beendeten, hatte sie ihren ­neuen Freund Bernd kennengelernt. Ich hörte hin und wieder noch etwas von ihr oder über sie. Vornehmlich, dass es ihr mit Bernd wirklich gut ginge. Schließlich verlor ich den Kontakt. (Das ist für einen Therapeuten auch gut so.)

Fast 10 Jahre später meldete sich Gitte zu einem meiner offenen Gestalt-Wochenenden an. Ich freute mich, sie wiederzusehen. Doch ich erschrak, als sie den Raum betrat: Unverhältnismäßig ­gealtert, blass, mit starren Bewegungen, dunklen Ringen unter den Augen, tiefen Furchen im Gesicht. Ohne das Leuchten ihrer Augen, das mir vertraut war.

Was war geschehen? Gitte war schwanger geworden. Und kurze Zeit später hatten sie und Bernd das Aufgebot bestellt. Sie wollten bald heiraten. Aber Bernd hatte einen tragischen Autounfall. Aus dem anschließenden Koma ist er nicht mehr erwacht. Die schwangere Gitte saß tagelang an seiner Seite, bis er starb. Das Schicksal hatte seinen Lauf genommen.

Bernds Eltern mochten Gitte nie. So haben sie sie dann verstoßen. Bei der Beerdigung verhinderten sie, dass Gitte in der Friedhofskapelle in der ersten Reihe saß. Sie wurde weggedrängt. Auch am offenen Grab.

Voll Schrecken, Trauer und Schmerz brachte sie einige Monate später ihr Kind, einen gesunden Sohn, zur Welt. Sie nannte ihn Lars, wie es Bernds und ihr Wunsch gewesen war. Bernds Eltern, ­also Lars Großeltern, vermieden auch weiterhin den Kontakt. Ihr größter Schmerz war es, dass sie nicht einmal mehr vorher hatten heiraten können.

Im Zuge der Arbeit mit Gitte erzählte ich ihr, dass ich lange Zeit katholische Theologie studiert habe. Mir erschiene – gerade in ihrer Situa­tion – das katholische Sakramentenverständnis hilfreich. Ein Sakrament sei das äußere Zeichen für die unsichtbar wirkende Gnade Gottes. So sei die Trauung nur der sichtbare Teil eines wichtigeren Unsichtbaren.

Wir arbeiteten dann gemeinsam heraus, dass sie innerlich schon längst verheiratet waren. Sie bekam den wunderschönen Winterstrauß, der den Gruppenraum zierte, als den Brautstrauß, den sie nie bekommen hatte.

Sie nahm ihn mit nach Hause. Brautsträuße haben schon etwas besonderes. Wenn es nicht der eigene war, den man fängt, dann soll er ja die Wirkung haben, einen Mann fürs Leben zu finden. Gitte fand ihn einige Jahre später.

Gestalttherapeutischer Schluss: Heilung der Wunden, die Trauer oder Verletzungen in der unveränderbaren Vergangenheit gerissen haben, geschieht weder durch ­Verdrängung noch durch ein Nachholen der Aggression, sondern durch die Versöhnung. Ein wohlwollendes Ab­schließen mit der Vergangenheit macht frei für die gute Zukunft.

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Foto: Doubrawa und Blankertz (rechts)
Erhard Doubrawa & Stefan Blankertz (rechts), Foto: Hagen Willsch 2000

Erhard Doubrawa (www.doubrawa.de) arbeitet seit vielen Jahren als Gestalttherapeut. Er ist Gründer und Leiter des »Gestalt-Instituts Köln (GIK)« (www.gestalt.de), wo er auch als Ausbilder tätig ist. Außerdem gibt er seit 1992 die Gestalttherapie-Zeitschrift »Gestaltkritik« heraus. Alle Texte daraus sind unter www.gestaltkritik.de zugänglich.

Stefan Blankertz ist Sozialwissenschaftler, Schriftsteller und Theorietrainer am »Gestalt-Institut Köln (GIK)« (www.stefanblankertz.de). In enger Zusammenarbeit mit dem GIK hat er das computergestützte gestalttherapeutische Diagnoseinstrument »Gestalttypen-Indikator GTI« (www.gti-coaching.de) entwickelt.

Gemeinsam haben sie das »Lexikon der Gestalttherapie« und die »Einladung zur Gestalttherapie: Eine Einführung mit Beispielen« (in der der obige Beitrag zuerst erschienen ist) verfasst, die im Peter Hammer Verlag veröffentlicht wurden.

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