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Arnold R. Beisser:

Fritz Perls
Lehrer, Kollege, Freund

Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritk verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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 Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 2-1998):

Foto: Arnold R. Beisser
(
Arnold R. Beisser)

 

Arnold R. Beisser:

Fritz Perls
Lehrer, Kollege, Freund

 

Der folgende Beitrag ist eine Leseprobe aus Arnold Beissers Buch "Wozu brauche ich Flügel? Ein Gestalttherapeut betrachtet sein Leben als Gelähmter", das als Co-Produktion von Gestalt-Institut Köln und Peter Hammer Verlag erschienen ist.

In dieses Buch haben wir auch Arnold Beissers "Klassiker der Gestalttherapie" (so Fritz Perls) aufgenommen, nämlich seinen Artikel über "Gestalttherapie und das Paradox der Veränderung" - nebst einem Kommentar von Werner Bock.

Der Herausgeber

 

Ein Jahrzehnt lang glaubte ich, meine Behinderung sei hoffnungslos. Ich konnte sie "lieben oder ertragen", wie wir in der Grundschule sagten. Nun, ich habe sie gewiß nicht geliebt, aber ich konnte mir niemals vorstellen, was es heißt, sie "zu ertragen". Ich habe sie widerwillig angenommen und versucht, das beste daraus zu machen.

Vom Standpunkt der Außenwelt kam ich ziemlich gut damit klar. Oder wenigstens so gut, wie es zu erwarten war, wenn man bedenkt, daß ich vom Hals abwärts gelähmt war. Ich hatte wieder angefangen zu arbeiten, konnte mich selbst ernähren, hatte eine nette Frau und war der Leiter eines Ausbildungsprogramms für Psychiater.

Worüber beklagte ich mich also? Über nichts, dachte ich. So behindert, wie ich war, kam ich so gut es ging damit zurecht. Ich habe mich nicht öffentlich beklagt, denn mir war bewußt, daß ich genauso gut von der Wohlfahrt hätte leben müssen und nicht die Dinge hätte, die ich habe. Ich kannte die Schicksale einiger meiner behinderten Freunde, die auch nicht zu mehr fähig waren als ich und nie aus der Anstalt heraus gekommen sind. Ich hatte Glück.

So hielt ich den Mund, tat meine Arbeit, lebte so gut ich konnte, und das war's. Obwohl ich jedoch der Meinung war, daß ich keinen Grund zur Klage hatte, fühlte ich mich elend. Mir waren alle körperlichen Freuden versagt, die meinen Lebenssinn ausgemacht hatten. Daher lebte ich nicht das Leben, das ich wollte. Bewegung, Sport, Geschwindigkeit - das war es, was ich wollte. Stattdessen war ich in einem fremden Körper, der zu einem unbekannten Krüppel gehörte, um den ich nicht viel gab. "Das ist nicht der, der ich wirklich bin," dachte ich. Aber alles, was ich tun konnte, was es "lieben oder ertragen".

Ich machte (Psycho-)Analyse und lernte dabei ein klein wenig über mich selber. Ich mochte diese Arbeit und hatte die beiden Analytiker, mit denen ich einige Jahre arbeitete, gerne. Sie waren nett, intelligent und wohlmeinend. Trotzdem habe ich mich mit mir nicht besser gefühlt. Diese Erfahrung überzeugte mich nur noch mehr davon, daß meine Realität, die ich widerwillig zu ertragen hatte, bitter war. Noch verstand ich nicht, daß es immer eine Vielzahl von Realitäten gibt, unter denen man wählen kann.

Ein Teil des Problems bestand darin, daß gelähmt zu sein eine gute Ausrede dafür war, mich schlecht zu fühlen, so daß Menschen, egal welchen Berufs, keinen Ausweg sehen und mich nur bemitleiden konnten. Ich wollte unbedingt etwas besseres, konnte aber keinen Zugriff dazu finden. Auch meine angestellten Helfer konnten das nicht. Sie waren machtlos angesichts meiner Behinderung, genauso wie ich.

Ich hatte wirklich die Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben. Ich glaubte, daß ich mich besser mit mir fühlen würde, wenn aus mir ein kompetenter Psychiater werden würde und ich dadurch eine größere Wertschätzung von anderen erfahren könnte. Mein Ziel war sicherlich falsch gesetzt. Indem ich es verfolgte, erreichte ich etwas anderes.

Unmittelbar nach meiner eigenen Ausbildung war ich Ausbildungsleiter geworden und hatte somit noch viel zu lernen. Bei der Entwicklung der Lehrprogramme plante ich Projekte ein, die nicht nur der Ausbildung der Krankenhausärzte zugute kam, sondern mich auch selber voranbrachten. Der Rahmen, den ich für diese Ausbildung setzte, machte es möglich, daß die weltberühmtesten Fachleute aus der Psychiatrie und aus verwandten Forschungsgebieten an unser Krankenhaus kamen, um dort ein oder zwei Tage oder sogar mehrere Wochen zu arbeiten und zu lehren. So lernte ich die bekanntesten Leute auf diesem Gebiet kennen.

Rita und ich bewohnten ein Haus auf dem Krankenhausgelände. Ich lud diese Männer und Frauen zu uns nach Hause ein, so daß ich nicht nur tagsüber an ihren Lehrveranstaltungen teilnehmen konnte, sondern sie auch abends für mich hatte. Ich tat alles, um von ihnen zu lernen. Obwohl es mir nicht bewußt war, glaube ich, daß ich insgeheim nach einer Möglichkeit für meine eigene Heilung gesucht habe.

So oft es möglich war, habe ich selber bei ihnen Therapie gemacht unter dem Vorwand, meine Kenntnisse und Fertigkeiten durch ihr unterschiedliches Arbeiten zu erweitern. Dabei machte ich verblüffende Erfahrungen, bei denen sich ihr Ruf manchmal bestätigt fand, manchmal aber überhaupt nicht. Ich erinnere mich an einen berühmten Analytiker, dessen Schriften ich sehr geschätzt habe. In der Praxis jedoch erwies er sich als Scharlatan. Aber solche Erfahrungen waren ungewöhnlich.

Um das Ansehen der Ausbildung zu erhöhen und die herausragende Position zu festigen, die ich anstrebte, kamen für mich nur die besten Lehrer infrage. Ich hatte kein Interesse an nicht anerkannten Neuerern. Als Fritz Perls, von dem ich noch nie etwas gehört hatte, an mich herantrat mit der Anfrage, im Rahmen unserer Ausbildung lehren zu können, erteilte ich ihm eine Absage. Dann hörte ich von einem anderen Ausbilungsleiter, daß Fritz Perls sein bisher herausragendster Lehrer gewesen sei, und so rief ich ihn zurück.

Als wir uns sahen, waren seine ersten Worte: "Was ist denn mit Ihnen passiert?" Er sagte das mit solch kindlicher Unschuld und Verwunderung, daß ich es ihm nicht übel nahm. Er schien ganz einfach an dem Offensichtlichen, das einen starken Gegensatz zu dem Üblichen darstellt, interessiert zu sein. Die meisten Menschen wissen nicht, wie sie auf einen Schwerbehinderten reagieren sollen. Sie platzen tölpelhaft mit irgendetwas Unpassendem heraus, machen ihr Unbehagen deutlich oder ignorieren das ganze einfach. Dann muß ich sie beruhigen oder auch in diese steife Vermeidungshaltung fallen. Seine erfrischend freimütige Reaktion zeigte wirklich nur echtes Interesse. Das war erleichternd.

Pritz Perls war ein Einzelgänger, ein in Berlin ausgebildeter Psychoanalytiker, der gegen jene Lehrer rebellierte, deren Autorität er bewunderte. Er sah etwas heruntergekommen aus wie ein ältlicher Hippie in einem zerknitterten Anzug. Zusätzlich zu seiner freudianischen Richtung hatte er auch in Frankfurt am Main bei den Anfängen der Gestaltpsychologie mitgearbeiter. Daraus hat er seine eigene Richtung entwickelt. Er verband Wissens- und Erfahrungsfragmente, ohne sich an deren Quellen erinnern zu können. Obwohl er es niemals erwähnte - und ich kannte ihn schon mehrere Monate, bevor ich es herausfand -, bezeichnete er sein Konzept als "Gestalttherapie". Aber seine wirkliche Kraft bestand in seiner Fähigkeit, direkten Kontakt mit dem Wesentlichen der Menschen und ihrer Situationen herstellen zu können.

Eines der Liebingsspielchen, die die Krankenhausärzte mit ihren Lehrern trieben, um sie zu testen, ist es, ihnen die extremsten und widerspenstigsten Fälle zu präsentieren. In einer großen Psychiatrie gibt es einige unmöglich bizarre Patienten. Diese Patienten sind therapie-resistent. Fritz, der jeden vorgeführt haben wollte, erreichte bei einigen dieser therapeutisch unzugänglichen Fällen erstaunliche Ergebnisse. Im Kontakt mit ihm kamen diese Patienten in ihre beste Verfassung, so daß sie während der Gespräche mit Fritz ganz anders waren, als wir sie vorher kannten. Zum ersten Mal erschien ihr ganzes merkwürdiges Verhalten und ihr furchterregendes Sprachmuster klar verständlich. Er hatte Kontakt zu ihrer Stärke gefunden.

Genau das passierte auch bei mir. Obwohl er das so nie gesagt hätte, machte er mir klar, daß ich der Architekt dessen bin, wie ich meine Welt sehe, und nicht das hilflose Opfer. Ich fühlte mich durch ihn gestärkt und verstanden. Er hörte mir genau zu. Indem er meine Worte geringfügig interpretierend widergab, spiegelte er mir, was ich wirklich gesagt hatte. Damit wurden meine Worte in den Vordergrund gestellt und ich konnte sogar sehen, daß es Alternativen gab, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte.

Er war ein freier Mensch, der mir die Grundlage seiner Freiheit erklärte - daß er im Hier-und-Jetzt lebe, im einzigen Augenblick, in welchem man weder in seinen eigenen Glaubenssätzen gefangen ist, noch in den Mustern der Vergangenheit. Er zeigte mir, daß die Wahlmöglichkeiten sich vermehrten, sobald ich mich im Hier-und-Jetzt befand. Ich lernte zu leben, indem ich die Energie aus dem Hier-und-Jetzt nutzte. Andererseits lernte ich auch, daß ich eine wesentliche Rolle dabei spielte, mir die Zukunft zu gestalten, die ich mir wünschte. Vom intellektuellen Standpunkt aus gesehen erscheint Ihnen dieses ziemlich klar zu sein, genauso wie mir. Es aber zu verinnerlichen und in der Lage zu sein, es anzuwenden, war für mich neu.

Unsere Beziehung unterschied sich von den unpersönlichen Beziehungen, die ich vorher in der Analyse kennen gelernt hatte. Bei Fritz war alles absolut persönlich, und es gab keine Möglichkeit, dem, was real war, auszuweichen. Ich konnte ihn in verschiedenen Situationen beobachten und er war immer ein und derselbe. Da er in unserem Haus lebte, sah ich ihn beim Abendessen, bei der Arbeit, beim Aufwachen und wenn er sich zurückzog. Er liebte alles im Leben in gleicher Weise - jeder Mensch war für ihn einzigartig und doch gleich. Er lebte, was er glaubte.

Nach dem Abendessen saßen wir und unterhielten uns. Ich gab vor, lernen zu wollen, wie er arbeitete und dachte. Im Rückblick jedoch erkenne ich, daß ich über das Verbessern meiner Arbeit hinaus danach suchte, ob es in jenem, was er wußte und tat, für mich eine Hoffnung geben könnte. Er bot mir an, mich mit ihm zu unterhalten oder ihn als Therapeuten in Anspruch zu nehmen. Ich wendete ein, daß die Struktur unserer Beziehung sich mit guter Therapie nicht vertragen würde, die sich nur mit einem objektiven Therapeuten entwickelt. Geduldig erwog er mit mit jeden meiner Einwände.

Ich hatte eine ziemlich lange Liste konkreter Befürchtungen hinsichtlich seiner Arbeit und seiner Person, diesem unkonventionellen Einzelgänger. Ich war konventionell und vorsichtig zugleich. Sobald er aber seine Arbeit mit mir begann, erkannte ich zum ersten Mal, daß es noch andere Wege gab, als meine Behinderung als schrecklichen Fluch zu betrachten.

Ich hatte nicht die Absicht, viel von ihm zu übernehmen. Aber er hatte keine Angst vor meiner Zerbrechlichkeit und ich dann auch nicht. Ich stellte ihm intellektuelle Fragen, die oft darauf abzielten, meinen geschwächten Glauben an mich selbst zu verstärken. Er konterte dann mit entwaffnend sanfter Direktheit und fragte mich, ob ich nur darüber reden oder etwas tun wolle, um mein Elend zu ändern.

Er wurde vom Krankenhaus für seine Lehrtätigkeit bezahlt. Es schien ihm egal zu sein, ob ich ihn für meine Einzeltherapie bezahlen würde oder nicht. Weil ich jedoch der Meinung war, daß die Therapie eines festen Rahmens bedürfe, bezahlte ich ihn. Für ihn spielte das keine Rolle. Ich trauerte um den Verlust meiner physischen Fähigkeiten, ich ärgerte mich über ihn wegen aller möglichen Dinge und tatsächlich liebte ich ihn auch (Gefühle, die ich mir in der früheren Analyse und Therapie nicht zugestanden habe). Der unkonventionelle Rahmen der Therapie war wegen meiner körperlichen Grenzen ideal für mich, denn ich mußte nicht wegfahren. Das wäre für mich eine Zumutung gewesen wäre. Er war zuverlässig, fürsorglich, direkt - manchmal unbequem. Wenn er abwesend war, schrieb er mir interessante Briefe (es waren nicht wenige) über seine Reisen.

Am Anfang verbrachte er eine Woche am Krankenhaus. Seine Demonstrationen an Patienten waren so eindrucksvoll, daß wir ihn baten, wiederzukommen, so oft es ihm möglich sei. Danach kam er mehrere Jahre alle zwei Wochen. In einer Woche hatte ich bei ihm vier bis fünf Einzelstunden und zwei oder drei Stunden in seinen Gruppen mit den Krankenhausärzten und dem Personal. Nach und nach bezog er mich als Ko-Therapeut ein und tatsächlich leitete ich dann selber Gruppen, wenn auch zunächst widerwillig. Darüber hinaus demonstrierte er Arbeiten mit ausgewählten Patienten. So konnte ich eine Menge Erfahrungen mit ihm sammeln.

Fritz war Ende 60 und wußte wo er stand. Er unterschied sich gar nicht so sehr von anderen sehr guten Therapeuten und Analytikern außer was seine persönlichen Bindungen betraf. Seine Konsequenz war für andere Lebensbereiche problematisch. Sie machte ihn zu einem untreuen Ehemann und einem unsteten Vater. Als Therapeut jedoch war er ein Genie.

Alle, die mit Fritz zusammentrafen, und viele Menschen, die ihn nicht kennengelernt hatten, hatten dezidierte Haltungen ihm gegenüber in der Bandbreite zwischen Liebe und Haß. Sein Einfluß war von persönlicher Art. Diejenigen, die ihn kannten oder zumindest Menschen kennen gelernt hatten, die tief beeindruckt von ihm waren, waren fast immer positiv gestimmt. Sein Ruf wurde von einigen herabgemindert, die nur seine Bücher gelesen haben oder lediglich eine oberflächliche Geste von ihm übernahmen und dann meinten, das sei alles.

Heute erkennen viele Menschen seine Wirkung nicht und tun ihn einfach ab. Es gibt aber auch viele, die sein Werk weiterleben lassen, obwohl ihre Kompetenz leichtfertig als "ungelöste positive Übertagung" oder noch Schlimmeres verleugnet wird. Die Kritiker haben allerdings selber den damit verbundenen Verlust zu tragen. Sein Einfluß ist weit größer als offiziell anerkannt.

Sein Vermächtnis wird durch einige Dinge geschmälert, nämlich durch seine unkonventionelle Art zu leben, durch seine Respektlosigkeit vor Autorität und vor allem durch einen seiner festen Glaubenssätze. Sein Anliegen war es, die individuelle Freiheit und die Wahl bei jedem, den er traf, zu fördern und zu stützen. So brachte er seinen Schülern bei, nur sich selbst gegenüber gehorsam zu sein. Diese Gehorsamspflicht übertraf die Loyalität ihm gegenüber. Eingefleischte Individualisten schaffen sich keine große Anhängerschaft. Fritz bestand auf Autonomie. Als Folge davon würdigten ihn viele seiner Studenten nicht. Stattdessen entwickelten sie ihre eigenen Konzepte und schafften sich ihre eigene Anhängerschaft. Viele, die von Zugehörigkeit abhängig waren, kehrten in ihre alten Gruppen zurück. Trotzdem sind sie nicht dieselben, denn auch sie sind gewachsen.

Andere psychotherapeutischen Schulen haben seine Sichtweisen allmählich angenommen und assimiliert, ihn als Gründer jedoch nicht gewürdigt. Er beeinflußte die Weiterentwicklung der gesamten Psychotherapie, obwohl man sich manchmal seines Namens nicht erinnert. Da Fritz an Fakten glaubte - nicht an Namen - hätte er sich vielleicht gefreut. Wie dem auch sei, es ist eine gerechte Ironie, daß ein Mensch, der (wie Fritz selbst) seine Lehrer vergißt, genauso behandelt wird.

Obwohl er sich in den Schmeicheleien seiner Anhänger sonnte, hatte er jedem gegenüber ambivalente Gefühle, der in seinem Sinne arbeitete. Obwohl es an vielen Orten der Welt Gestalttherapie-Institute gibt, wo sein Werk fortgeführt wird, gab es wenig oder keine Unterstützung von ihm. Er lebte, wie er glaubte, in diesem nicht festzuhaltenden Moment, als sei er ewig.

Mit Ende 70 starb er nach einer Operation. Seine letzen Worte waren an eine Krankenschwester gerichtet und zeigten seinen Glauben an individuelle Autonomie. Sie hatte ihn angewiesen, wieder ins Bett zu gehen. Aus der Überzeugung seines ganzen Lebens antwortete er fest: "Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe." Dann starb er.

Seine letzten Worte erfuhr ich nach seinem Tod. Merkwürdigerweise las ich sie in seiner Autobiographie "In and Out of the Garbage Pail", ein Buch, in welchem er seine ziemlich eigenwillige Kunst und Dichtung zum Ausdruck bringt. Ein Referat, das ich geschrieben und ihm geschickt hatte, kommentiert er: "Ich kenne Arnie schon so lange. Hallo, Arnie. Ich fühle mich wohl in deiner Gegenwart, selbst wenn es nur in meiner Phantasie ist. Ich weiß, wir mögen uns und trotzdem sind wir meist befangen, wenn wir uns treffen. Du siehst so zerbrechlich aus in deinem Stuhl. Ich habe dich nie gefragt, was es für dich bedeutet, nicht in der Lage zu sein, frei deine Arme auszustrecken, wenn du jemanden umarmen willst. Wieviel Mut bedeutet es, dieses Leben zu akzeptieren, nachdem du, einmal aktiv im Sport engagiert, an Kinderlähmung erkranktest und beinahe nicht überlebt hättest.

Wie steht es mit deinem Ausbildungs-Zentrum? Wie geht es Rita? Ich möchte Dir sagen, daß ich deinen Aufsatz ausgezeichnet fand. Es gibt so wenig Menschen, die das Paradoxon der Veränderung begreifen."

Nun, da ich phantasieren kann: "Hallo Fritz, ich hoffe, Du hast Frieden gefunden, wo auch immer Du sein magst. Rita geht es gut, obwohl sie gesundheitlich schwere Zeiten durchmacht. Danke, Fritz, für alles, was Du für mich getan hast. Du bist ein Freund, der gerade zum rechten Zeitpunkt in mein Leben kam. Ich habe so viel von Dir gelernt. Obowohl Du mir zu meinem Referat gratulierst, habe ich es nur als Resulat meiner Arbeit mit Dir betrachten können. Du hast mir geholfen, einen Sinn in meiner Behinderung zu finden. Du hast mir Vertrauen in die Zukunft gegeben und das Verständnis, daß ich, egal was geschieht, immer Wahlmöglichkeit habe."

Fritz Perls wird heute von einigen als Guru oder als Gott in Erinnerung gehalten. Andere sehen in ihm die Verkörperung des Teufels. Er war eine der einflußreichsten Personen der 60er Jahre und ein Mitbegründer der Human-Potential-Bewegung. Mit Sicherheit hat er einen wesentlichen Einfluß auf alle Richtungen der psychotherapeutischen Praxis.

Für mich war er ein Freund, immer ehrlich, freundlich und großzügig. Die Grenzen unserer Freundschaft waren durch mich gesetzt. Eine solche Grenze war besonders mein Bestehen auf einen festen Rahmen, als ich begann, mit ihm zu arbeiten. Ich habe selten die Grenzen unserer Freundschaft ausgereizt. Aber wenn ich es tat, hat er mich nie zurück gewiesen. Als Rita und ich ihn bei sich in Bug Sur besuchten, bot er uns sein einziges Bett und sein Schlafzimmer an. Als ich ihn um körperliche Hilfe bat, leistete er sie gerne. (Ich habe ihn nur selten darum gebeten.)

Jeder hat einen Gott und eine Teufel in sich. Ich konnte aber nie seinen schlechten Teil entdecken. Man warf ihm viele böse Dinge vor. Oft konfrontierte ich ihn damit, wenn ich Gerüchte hörte. Manchmal bestanden sie aus Verdrehungen seiner Ansichten durch Anhänger und manchmal durch Menschen, die ihm seine Offenheit und Intuition übel genommen hatten. Ich habe nie beobachtet, daß er irgendetwas in böser Absicht getan hatte. Niemals konnte ich eine Anklage, er sei unethisch gewesen, bestätigen, obwohl manche, die ihn als Guru verehrten, selber unethisch handelten. Das einzige Mal, daß ich ihn in schlechter Verfassung sah, war, als Eric Berne, ein anderer bekannter Neuerer, ihn besuchte. Die beiden verhielten sich wie eifersüchtige Kinder. Jeder wollte den anderen übertrumpfen.

Er war nicht nur mein Therapeut, sondern mein erster spiritueller Führer (obwohl er dieses Wort niemals gebraucht hätte). Er suchte nach der Liebe, der Wahrheit und der Schönheit, die unterhalb von allem Weltlichen und Schattenhaften verborgen war. Einmal, als Rita und ich von einem Ausflug nach Yosemite zurück kamen, erzählte ich ihm von dem ehrfurchtgebieteten, griesigen Redwood-Baum, den man "Grizzly Giant Sequoia" nennt. Ich berichtete ihm, wie ich mich bei dem ersten Anblick durch die Erhabenheit des Baumes verwandelt fühlte. Alle umgebenden Bäume sahen wie Zwerge aus und es schien mir, daß sie dort knieten und seine Vornehmheit anbeteten. Obwohl es spät in der Nacht war, als ich Fritz davon erzählte - er war alt und müde -, stand er auf, um hunderte Meilen zu fahren und sich den Baum selber anzusehen.

Als junger deutscher Arzt hatte er die Schrecken des Ersten Weltkrieges in Schützengräben miterlebt. Seine ganze Familie wurde während des Holocaust getötet. Es wurde ihm zur Besessenheit, die Wahrheit und Schönheit der Welt zu entdecken. Seine größte Freude war es, wenn in der Arbeit mit seinen Patienten Liebe zum Vorschein kam, die von Haß und Angst zurückgehalten worden war. Er hatte den Glauben, daß das Gute im Menschen auftauchen könne, sobald das Negative gesühnt sei.

In der Lebensmitte gibt es eine Zeit, in welcher es einem wichtig ist, ein Mittel zu finden, denjenigen, der man als Jugendlicher war, mit demjenigen, der man wirklich ist, in Übereinstimmung zu bringen. Die meisten von uns brauchen dafür einen Helfer, einen Lehrer, der diesen Weg vorher schon gegangen ist. Fritz war mein Lehrer und half mir dabei, noch weitere Lehrer zu finden. Er war liebevoll, ohne besitzergreifend zu sein, und er war auf eine Art weise, wie ich es brauchte.

Das ist die Beschreibung eines lieben Freundes, so wie ich ihn kennen gelernt habe. Er mag anderen gegenüber anders gewesen sein. Darüber kann ich nichts sagen. Ich erkenne immer mehr, daß es mit einem Freund nie so ist, daß er "er" ist und ich "ich" bin. Denn zwei sind dann einer. Die Reaktionen sind dann nicht die von getrennten Individuen, sondern das, was man zusammen geworden ist. Echte Freundschaft läßt einen das Beste von sich selbst mit dem anderen teilen.

(Aus dem Amerikanischen von Isabell Blankertz)

 

Dieser Text ist soeben in unserem neuen Buch erschienen:

Arnold R. Beisser: Wozu brauche ich Flügel? Ein Gestalttherapeut betrachtet sein Leben als Gelähmter (siehe auch unten) 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 Der Autor und sein Buch:

Dr. Arnold R. Beisser, 1925-1991. Der amerikanische Psychiater und Gestalttherapeut Arnold Beisser war klinischer Professor für Psychiatrie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles und gehörte zu Fritz Perls' frühen Schülern der Gestalttherapie.

"Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist." Arnold R. Beisser, der diesen Satz in einem Beitrag zur Gestalttherapie schrieb, hatte an der Stanford Universität Medizin studiert und gerade die nationalen Tennismeisterschaften gewonnen, als er im Alter von 25 Jahren an Kinderlähmung erkrankte und fast vollständig gelähmt wurde. In seinem Buch "Wozu brauche ich Flügel? Ein Gestalttherapeut betrachtet sein Leben als Gelähmter" schildert Beisser eindrucksvoll seine Versuche, mit diesem radikalen Einschnitt in sein Leben fertig zu werden.

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