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Stephen Schoen
Ent-bindung
Das spirituelle Vermächtnis von Erving und Miriam Polster


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 1-2001):

Stephen Schoen
Ent-bindung
Das spirituelle Vermächtnis von Erving und Miriam Polster

 

Foto: Erving und Miriam Polster
Erving und Miriam Polster, Foto: (c) Thomas Bader 1999

Ich könnte mir vorstellen, daß Erv und Miriam Polster erstaunt sein werden, ihre Arbeit mit dem Wort »spirituell« in Verbindung gebracht zu sehen. Immerhin deutet dieser stark mit der Kirche assoziierte Begriff die Verflechtung mit einer jenseitigen Wirklichkeit an und liegt keineswegs im Bereich ihrer therapeutischen Arbeit, die vielmehr auf den direkten und sichtbaren menschlichen Kontakt abzielt. Auch ich bewege mich in meiner Arbeit innerhalb dieses Rahmens des unmittelbar Sichtbaren, aber ich möchte auf einige Aspekte hinweisen, die ihr ganz eigenes Geheimnis in sich tragen, und die den Anspruch auf ein rein empirisches und systematisches Denken wenn nicht unmöglich, so doch zumindest heikel und diffizil erscheinen lassen. Als Bertrand Russel einmal ein Seminar in Quantenmechanik gehalten hatte, machte der amerikanische Philosoph Whitehead ihm ein Kompliment und sagte: »Russel hat die weite Dunkelheit des Themas unverhüllt gelassen.« In diesem Sinne, in dem das, was einfach und durchschaubar, ja geradezu klar und offensichtlich erscheinen mag, nicht unbeachtet bleibt, verstehe ich meine Anmerkungen zur Arbeit von Erv und Miriam Polster - als einen Hinweis auf das unverhüllt Weite und Schöne.

 

Lassen Sie mich mit einem Wort beginnen, das ich von Miriam im Zusammenhang mit Psychotherapie mehr als einmal gehört habe, das Wort »unbeschreiblich« nämlich. Wir wissen, daß es soviel bedeutet wie »nicht in Worte zu fassen«. Im Englischen weist dieses Wort [ineffable] die Besonderheit auf, daß es in der lebendigen, also gesprochenen Sprache kein Gegenteil kennt; »effable«, also »beschreiblich« ist hier eine überholte Form, was für die meisten Gegensatzpaare offensichtlich nicht zutrifft, denken wir nur an »unvereinbar«, »ungünstig« usw. Vor ein paar Monaten erzählte Miriam auf der Evolution of Psychotherapy Conference von ihrer ersten Begegnung mit einem fünfzehnjährigen Mädchen, das einige Jahre zuvor in ihre Praxis gekommen war. Miriam saß in ihrer Praxis, das Gesicht zur Tür gewandt, als das Mädchen hereinkam, an der Türschwelle stehenblieb und sagte: »Sie sind der siebte Seelenklempner, bei dem ich's versuche.« Während sie das sagte, streckte sie den Arm aus und ließ ihre Tasche zu Boden fallen. Und Miriam sagte: »Was für ein Auftritt!« Das Mädchen kam herein und ging nicht weiter auf diese Bemerkung ein. (»Sie gab sich ganz cool und schien meine Reaktion als völlig angemessen zu betrachten«, erzählte Miriam mir später.) Die beiden sahen sich mehrere Monate lang in regelmäßigen Abständen, und man kann sich leicht vorstellen, daß dieses Mädchens keinen achten Seelenklempner mehr aufsuchte.

 

Miriam erzählte diese Episode als Beispiel dafür, wie sie das Offensichtliche auf einfache Weise anspricht, aber es gibt ein paar Dinge, die wir dem, was sie erst einfach und offensichtlich werden ließ, hinzufügen können. Durch diesen theatralischen Auftritt des Mädchens versetzte Miriam sich in die Rolle einer Theaterregisseurin, bei der jemand für eine Rolle vorspricht und die wohlwollend, humorvoll und die Wirkung anerkennend reagiert. In dieser Szene gibt es ein »Willkommen«, so etwas wie: »Das muß man der Kleinen lassen! Sie weiß, wie man einen tollen Auftritt hinlegt!« Das wurde deutlich als Miriam uns die Geschichte während der Konferenz erzählte. Und natürlich könnten diese Worte - »Was für ein Auftritt!« - auf sehr unterschiedliche Art und Weise ausgesprochen werden. Sarkastisch: »Was für eine Simulantin!« Oder abschätzig: »Hör schon auf damit!« Oder indem man die Wirkung entweder übertreibt und schweigend applaudiert, oder unterbewertet und darauf wartet, daß das Mädchen hereinkommt, sich hinsetzt und mit der Sitzung anfängt, während man sich den Kommentar für eine spätere Stelle aufhebt, an der er vielleicht passender erscheint.

 

Ich erzähle das alles, um etwas deutlich zu machen, was sich kaum in Worte fassen läßt. Verstehen Sie, was ich meine? Die positiven Worte, wie »Einfachheit«, »Akzeptanz« oder »Einladung«, die ich gebraucht habe, sind alle treffend; sie treffen vor allem deshalb, weil sie nicht ausgesprochen werden - und wenn man noch tiefer geht vor allem auch deshalb, weil sie unaussprechlich sind. Es verhält sich damit ähnlich wie mit der Definition von »unbeschreiblich« als »nicht in Worte zu fassen«. Beides sind Worte oder verbale Ausdrücke, und als solche ungeeignet, das Gemeinte zu transportieren. Was das Mädchen betrifft, sieht es so aus, als hätte Miriam auf einer »blue guitar« gespielt. Kennen Sie die Zeile aus einem Gedicht von Wallace Stevens?

 

»Things as they are - Are changed upon a blue guitar.«

 

Ich habe dieses Beispiel einer Anfangssituation aus Miriams Praxis gewählt, um meiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, daß es entscheidend auf den Beginn einer Sitzung ankommt. Wie bei allen Generalisierungen gibt es natürlich auch hier Ausnahmen. Im Laufe einer Sitzung kann manches passieren, womit wir nicht gerechnet haben: unerwartete Gefühlsäußerungen des Klienten oder neue Begebenheiten, körperliche Krankheit des Klienten oder des Therapeuten oder völlig veränderte Ansichten darüber, was beide über den jeweils anderen denken. Ich denke an ein Buch über Psychotherapie, das sich vor einigen Jahren großer Beliebtheit erfreute. Es hieß: Was sagen Sie, nachdem Sie Guten Tag gesagt haben? Diesen Titel

hätte ich gerne umgeschrieben in: Was tun Sie, bevor Sie

Guten Tag sagen? Denn in diesen ersten, entscheidenden Augenblicken, deren weitreichende Bedeutung erst sehr viel später deutlich wird, sind Prägung und Ziel der gemeinsamen Arbeit und ein Großteil der Wirklichkeit von Klient und Therapeut bereits enthalten. Der neue Klient spürt das durch die bloße körperliche Anwesenheit des Therapeuten: bei Miriam durch ihre würdevolle und aufgeschlossene, gleichermaßen starke und empfindsame Art.

Diese erste Begegnung enthält eine überwölbende Gestalt, an der beide - Therapeut und Klient - teilhaben. Lassen Sie mich versuchen zu erläutern, was ich damit meine.

 

Das Beispiel, auf das ich mich hier beziehe, betrifft Ervs Arbeit mit mir vor 26 Jahren. (Ich möchte gerne anfügen, daß ich ihn seither mit vielen Menschen habe arbeiten sehen und in äußerst unterschiedlichen Situationen dieselbe Art von Präsenz wahrgenommen habe.) Damals suchte ich Hilfe wegen eines sehr wichtigen und zentralen Beziehungsproblems. Ich fühlte mich sehr zu einer Frau hingezogen und machte mir einige Hoffnungen, doch gleichzeitig hatte ich Angst, mich zu sehr auf sie einzulassen. Ich hatte bereits zwei Ehen hinter mir, die beide jeweils zehn Jahre gehalten hatten, und die Scheidung der zweiten Ehe lag gerade mal zwei Jahre zurück. Es sah so aus, als ob ich dabei war, das Thema Ehe in meinem Leben total zu vermasseln. Ich erzählte Erv, daß ich während meiner früheren Ehen wichtige emotionale Schwierigkeiten von Anfang an ignoriert hatte. Jetzt, da ich älter und etwas reifer geworden war, sah ich die möglichen Gefahren von Frust und Enttäuschung mit dieser Frau noch bevor ich mich entschloß, mit ihr zusammenzuleben. So fühlte ich mich in meinem größer gewordenen Gewahrsein im wahrsten Sinne des Wortes gefangen.

 

Erv hörte mir und meiner etwas trostlosen Geschichte aufmerksam zu. Ich kannte ihn nicht. Ein paar Kollegen hatten ihn für einen Wochenend-Workshop nach San Franzisko geholt, und ich sah in ihm einen kräftigen Mann in seinen besten Jahren - für mich der Prototyp eines professionellen Basketballtrainers. Er hörte mir also aufmerksam zu und strahlte eine Art von Mitgefühl aus, die etwas Verspieltes hatte und irgendwie befreiend auf mich wirkte, obwohl ich nicht sagen konnte, warum das so war. Und obwohl wir nicht darüber sprachen, schien er zu spüren, daß ich für neue Ideen offen, und bereit war, etwas Neues auszuprobieren.

 

Dann stellte er mir eine einfache Frage: »Angenommen, Steve, es wäre dein Karma, in diesem Leben sechs mal verheiratet zu sein. Aus welchem Grund solltest du den Lauf der Dinge unterbrechen?«

 

Kaum daß diese Frage ausgesprochen war, entfaltete sie einen unglaublichen Reiz. Es war witzig. Das war eine Überraschung (und eine, von der ich weiß, daß sie Milton Erickson, den ich später kennenlernte, sehr gefallen hätte). Das war eine Herausforderung. Erv hatte nichts gesagt, um in mir den Gedanken zu stärken, daß ich im Begriff sein könnte, eine gute Ehe zu führen. Seine Sprache war genauso negativ wie meine eigene, ja fast noch negativer, weil er nicht nur die Möglichkeit in Betracht zog, sondern mein Recht bestärkte, noch eine schlechte Ehe zu führen.

 

Aber was weiß man schon? Was er sagte, wirkte befreiend. Ich fühlte mich aus der Falle befreit. Der karmische Gedanke von »sechs Ehen« war für ihn nicht weniger spekulativ als für mich. Und jetzt, da ich in meiner dritten Ehe über 25 Jahre glücklich verheiratet bin, habe ich das Gefühl, überhaupt nichts aufgehalten zu haben. Tatsächlich habe ich aus meinen beiden ersten Ehen einiges darüber gelernt, was ich in dieser besser machen kann.

 

Begonnen habe ich dieses Beispiel aus Ervs Arbeit - und das gilt ebenso für Miriams Arbeit - mit einer Bemerkung über die »überwölbende Gestalt, an der beide - Therapeut und Klient - teilhaben.« Was ist das, das sich über all die »offenen Gestalten« wölbt, über die Gefühle, die Eltern, Partnern, Freunden und sich selbst gegenüber nie ausgesprochen wurden, die unabgeschlossenen Projekte von Ausbildung, Karriere und kreativer Arbeit - all das, zu dessen Abschluß wir als Therapeuten beitragen wollen - während es doch auch etwas gibt, das darüber zu liegen scheint. Was ist das? Es ist die Bereitschaft, das abzuschließen, was wir abschließen können. Auch wenn uns nicht alles gelingen mag, es geht darum, da, wo sich uns die kleinste Chance bietet, bereit zu sein, über uns selbst hinauszuwachsen. Es ist die Bereitschaft, nicht nur abzuschließen, sondern uns jeder Gestalt anzunehmen, die sich uns darbietet. Wer weiß, was wir - wenn überhaupt - finden werden? Als Kolumbus nach Westen segelte, um Indien zu entdecken, wußte er es nicht. Anstelle von Indien fand er Amerika. Was Ervs Herausforderung vor einem Viertel Jahrhundert - abgesehen von seiner erfrischenden und belebenden Art - für mich so hilfreich machte, war die Betonung des Abenteuers. Und so neu und unausgereift die Vorstellung für mich damals auch gewesen sein mag, dieser Sinn für das Abenteuer scheint mir für den Menschen Erv Polster selbst charakteristisch zu sein. In meinem eigenen Buch zitiere ich eine Geschichte, die ich sehr mag. Sie ist von Karen Blixen, und sie handelt von einem französischen Offizier, der an Springturnieren teilnahm. Der Offizier sagte: »Sie müssen zuerst Ihr Herz über das Hindernis werfen, dann folgt das Pferd von ganz alleine.« Zeigt das nicht, daß es sich hier um eine gleichermaßen tiefe und heitere Erfahrung handelt, die uns mit allem verbindet, was uns umgibt, mit Erde, Luft und Sternen? Wenn Erv also in seiner Arbeit den Leuten manchmal vorschlägt, mit diesen kosmischen Dingen zu sprechen und ihnen ihre Stimme zu leihen, damit sie etwas erwidern können, dann ist das mehr als eine »Gestalt-Technik«. Vielmehr zeigt sich darin sein eigener Abenteuersinn. Und es lädt ein zu einer echten Gemeinschaft mit diesen Dingen als Teil jener umfassenden und doch offenen Gestalt all unserer Lebensabenteuer.

Wenn ich solche Beobachtungen anstelle, fällt mir auf, wie sehr sie mit der buddhistischen Vorstellung der Befreiung vom Ego übereinstimmen. Die Buddhisten weisen häufig darauf hin, wie sehr die westliche Psychologie die Stärke des Ego betont, während sie ihrerseits von einer radikalen Befreiung vom Ego sprechen. Vielleicht trifft diese Unterscheidung für viele westliche Therapeuten mit einem relativ engen Begriff von Selbstbestimmung zu. Doch als Erv mich aufforderte, die Möglichkeit des Karmas von sechs Ehen in Betracht zu ziehen, während ich mich schon gegen die dritte wehrte, tat er damit meinem Ego keinen Gefallen. Besser gesagt, das Abenteuer in seinem Ansatz führte gleichzeitig sowohl zu einer Stärkung als auch zu einer Reduzierung meines Ego. Ich mußte bescheiden, aber entschlossen weitergehen, ohne zu wissen, was kommen würde, nur auf mein Gefühl vertrauend, und mich an dem orientieren, was wirklich geschah. Dieser Ansatz ist durchaus buddhistisch und in diesem Sinne könnte man Erv, auch angesichts seiner Wachheit, seines Mitgefühls und seines Gespürs für die Verbindung der Dinge, als ehrenamtlichen Buddhisten betrachten.

 

Ich sage all das mit einer gewissen Heiterkeit, weil es weder Erv noch Miriam Polster darum geht, in dieser oder jener Gruppierung - Buddhismus oder Gestalt - Anerkennung um ihrer selbst willen zu finden. Und diese Tatsache führt mich zum letzten Punkt, den ich über ihr Vermächtnis ausführen möchte, nämlich ihren Verzicht auf diagnostische Kategorien. Einmal hörte ich Miriam während einer Konferenz auf eine Frage antworten: »Ich arbeite nicht mit Diagnosen.« Sie erläuterte, wie sie statt dessen auf den

Prozeß achtet, der zwischen ihr und ihrem Klienten stattfindet bzw. auf den beobachtbaren Prozeß innerhalb des Klienten. Das könnte natürlich heißen, daß sie die Diagnose den Äußerungen des Klienten entnimmt, ebenso wie ein Arzt eine Blinddarmentzündung erkennt, wenn er eine bestimmte Art von Bauchschmerzen oder Unwohlsein feststellt. Aber beobachten wir einmal, was hier geschieht. Ich zitiere eine kurze Passage aus einem Gespräch, das Erv auf derselben Konferenz während einer Demonstration mit einem jungen Mann führte. (Ich habe hier eine Aufzeichnung von Erv; aber diese Art von prozeßorientiertem Gespräch ist ein typisches Beispiel für die Arbeit sowohl von Erv als auch von Miriam.)

 

Mann: Ich weiß genau, woran ich arbeiten will.

 

Erv: Gut.

 

Mann: Irgend etwas trifft mich, wenn ich einer Frau nahe sein will.

 

Erv: Was passiert?

 

Mann: Es ist eine Erwartung. Daß sie mich nicht mögen wird.

 

Erv: Warum?

 

Mann: Vielleicht bin ich nicht rücksichtsvoll genug.

 

Erv: Vielleicht nicht.

 

Mann: Es ist leicht, mich getroffen zu fühlen. Und schwierig, das Übel anzugehen.

Erv: Du klingst, als ob du eine gewisse Tadellosigkeit fühlst. (Pause.) Und du siehst untadelig aus.

 

Mann: Ich fühle mich angerührt.

Erv: Auf welche Weise?

 

Mann: Du sagst etwas Positives.

 

Erv: Ja.

 

Mann: Und es tut weh.

 

Erv: Kann sein, daß Tadellosigkeit nicht immer erfolgreich ist.

(Pause.) Erzähl mir etwas Gutes, das du gerne tust.

 

Mann: Als Kind habe ich meinen kleinen Bruder beschützt, als mein Vater ihn ungerechtfertigt verprügeln wollte.

 

Erv: Wie fühlst du dich jetzt?

 

Mann: Durcheinander. Erleichtert. Also, dankbar. Das ist alles ungewohnt.

 

Erv: Bleib dabei.

 

Mann: Ich bin an einer Stelle, die ich nicht erwartet habe.

 

Erv: Kannst du zu mir sagen: »Ich bin dir dankbar, daß ich an einer Stelle bin, die ich nicht erwartet habe«?

 

Mann: Es stimmt. Ich bin dir dankbar, daß ich an einer Stelle bin, die ich nicht erwartet habe.

 

Erv: Deine Worte treffen mein Herz.

Mann: Es tut gut, das zu hören. Ich spüre Tränen.

 

Erv: Die Tränen könnten dir übers Gesicht laufen.

(Der Mann weint ein wenig.)

 

Erv: Ja, du bist mit einem Teil von dir in Berührung, der lange Zeit verloren war.

 

Mann: Das ist wahr.

 

Erv: Jetzt bin ich sehr dankbar.

(Sie geben sich die Hand.)

 

Was passiert hier? Etwas anderes als bei der Diagnose eines entzündeten Blinddarms - obwohl wir auch hier einiges an diagnostischen Hinweisen haben: Passivität und narzißtische Kränkung (»Etwas trifft mich, wenn ich einer Frau nahe sein will«) oder unterdrückte Aggression (»Vielleicht bin ich nicht rücksichtsvoll genug«). Und wenn dieser Mann uns von Anfang an eine schriftliche Beschreibung seines Problems gegeben hätte, dann hätten wir ihn im DSM IV oder ICD 10 ziemlich genau wiederfinden können. Aber trotz seiner sehr klaren anfänglichen Feststellung: »Ich weiß genau, woran ich arbeiten will«, bringt ihn das Gespräch mit Erv sehr schnell in den Bereich des Unerwarteten und Ungewohnten, und wir bekommen eine Ahnung, daß das »Genau-Wissen« vom Anfang ein falscher Gott sein könnte, daß es hier auf die Entstehung des Unerwarteten und Ungewohnten ankommt. Und wie kommen wir darauf? Durch etwas, das Erv in sich selbst unerwartet vorfindet, während er sich in der Gegenwart bewegt: sein eigenes Gefühl, das er mitteilt, und das auch in seinem Gegenüber ein Gefühl entfacht. »Du wirkst tadellos auf mich.« »Kannst du mir sagen, daß du dankbar bist?« »Jetzt bin ich dankbar.«

Um den Anhängern von diagnostischen Kategorien und Therapieplänen gerecht zu werden, können Sie Ervs positive, wamherzig-väterliche und egostärkenden Bemerkungen angesichts eines (in diesem Falle deutlich) passiv-aggressiven Charakters als genau die richtige Behandlungsstrategie betrachten. Im übrigen wird kein guter Kliniker behaupten, daß es für die unterschiedlichsten Störungen nur jeweils einen richtigen Ansatz gäbe, sei das ein kognitiver, ein affektiver oder ein anderer Ansatz. Aber was Erv uns hier gezeigt hat - und was er auch als Lehrer immer wieder deutlich macht - ist, daß der Zusammenhang des Problems, mit dem jemand zu uns kommt und der Prozeß, gut damit zu arbeiten, nicht voneinander zu trennen sind: in diesem Fall schmilzt die Unfähigkeit des jungen Mannes, sich selbst in seinem Wunsch nach Nähe zu einer Frau zu unterstützen, dadurch, daß Erv ihn ermutigt, auf ihn einzugehen. Und dann bestärkt er diese Unterstützung durch die Offenheit seiner eigenen Antwort: »Jetzt bin ich dankbar.« Es zeigt sich auch, daß indem er seinem eigenen Konzept »dichter therapeutischer Sequenzen« folgt, er sehr schnell eine emotionale Tiefe erreicht. Seine Schritte sind folgerichtig und ohne Brüche, angefangen mit »Ich sehe deine Tadellosigkeit« über »Erzähl mir etwas Gutes (Tadelloses) aus deinem Leben« und »Sag mir, daß du mir für dieses unerwartete Gefühl dankbar bist« oder »Deine Worte treffen mein Herz« und »Erlaube dir zu weinen« bis hin zu »Du bist mit einem Teil deiner selbst in Berührung, der lange Zeit verloren war, und das macht auch mich dankbar.« Diese Reaktionen auf sein Gegenüber folgen einander so flüssig wie das Wasser eines Wasserfalls.

Natürlich umfaßt diese kurze Demonstration nicht sämtliche Facetten des Problems. Im Anschluß an das Gespräch bemerkte Erv, daß man die Schwierigkeit des jungen Mannes, seine Aggression zu akzeptieren, im Auge behalten müsse und daß diese Aggression schließlich - Erv fand eine sehr charmante Formulierung - »in seine Tadellosigkeit integriert werden müsse.«

 

Lassen Sie mich wiederholen: in einer wirkungsvollen Therapie ist es wichtig, diagnostische Hinweise wie Passivität und Aggression zu erkennen, und wenn Miriam sagt »Ich arbeite nicht mit Diagnosen«, dann spricht sie von Diagnosen, die den Zusammenhang außer acht lassen, was aus ihrer Sicht keinen Sinn macht. Auch Shakespeare, der uns - wie üblich - 400 Jahre voraus ist, spricht von einem schmerzhaften emotionalen Prozeß, dem »stuffed bosom«. Und dann gebraucht er genau dieses Wort »stuff«, um den schmerzlichen Zusammenhang darzustellen. Vielleicht erinnern Sie sich. Macbeth fragt den Arzt, ob er das fertigbringe:

 

»Cleanse the stuffed bosom of that perilous stuff

Which weighs upon the hart?«

[Die Brust entled'gen jener gift'gen Last,

Die schwer das Herz bedrückt?]

 

Wenn dieser Prozeß voranschreitet - was Macbeth und seiner Frau nicht gelang -, verschwindet die »gift'ge Last«. Angesichts der Verwobenheit von Inhalt und Prozeß kann man sagen, daß der pathologische Inhalt sich als ebenso vielfältig und facettenreich erweist wie der therapeutische Prozeß. DSM IV und ICD 10 sind nicht annähernd groß genug um dieses Spektrum zu umfassen; und letztlich wird durch den psychotherapeutischen Prozeß das Pathologische in den elementaren Lebensprozeß umgewandelt. Anders ausgedrückt - und dies gilt zweifelsfrei für die Arbeit von Erv und Miriam Polster: Das Ziel der Therapie besteht darin, die Diagnose aufzuheben.

 

Ich möchte noch ein paar Worte zu ihrer menschlichen Eigenart sagen, zu ihrer Offenheit, Wärme, ihrem Humor und der Fähigkeit, sich mit der Lebendigkeit ihres Gegenübers zu verbinden, was dazu führt, daß der andere die durch Fixierungen und Abwehrmechanismen gekennzeichnete Rolle des »Klienten« mehr und mehr verläßt und als

Mensch mit der ihm eigenen, unergründlichen Würde

sichtbar wird. Natürlich bedarf es zur therapeutischen Wirksamkeit auch einer konzeptuellen Orientierung und technischer Fähigkeiten, aber meines Erachtens ist hier nichts so entscheidend wie die Persönlichkeit des Therapeuten, der deutlich macht, was es heißt, in der Therapie

einem suchenden Gegenüber als Mensch zu begegnen und seinem oder ihrem Leben eine neue Bestimmung zu geben. Erv und Miriam Polster rufen in ihren Klienten ein großes Maß an Selbstakzeptanz hervor, und dies vor allem indem sie diese Selbstakzeptanz sich selbst entgegenbringen. Der irische Dichter William Butler Yeats hat einmal gesagt: »Man beginnt erst zu leben, wenn man gelernt hat, das Leben als Tragödie zu verstehen.« Man spürt, daß Erv und Miriam Polster die Bedeutung dieses Satzes erfassen, ohne jedoch dadurch gefesselt oder gebunden zu sein. Sie sind wie Bergführer, die ihre Klienten durch das Unterholz und die engen, verwachsenen Stellen ihres Lebens führen, durch rauhe Wetterlagen, in denen es nicht mehr weitergeht, durch steile Gegenden, wo man sehr langsam gehen muß, und währenddessen halten sie immer wieder nach neuen Wegen und Pfaden Ausschau, nach neuen und weiteren Räumen und Möglichkeiten. Oder, um es mit Miriams eigenen Worten zu sagen (das war vor einigen Jahren auf einer Gestalt-Konferenz in Boston): »Ich achte die dunklen und trostlosen Orte, aus denen heraus Menschen sprechen, die in schrecklichen und unerbittlichen Depressionen gefangen sind. Ich empfinde Mitgefühl für sie, und ich kann mich auf das, was sie mit mir teilen wollen, einlassen. Aber ...«, sie machte eine Pause, »... ich lebe nicht dort.« Da ist es: ihre Anerkennung, ihre Akzeptanz dieses tragischen Verlorenseins in der Depression, und gleichzeitig dieser einnehmende, fast kokette Teil, den sie unausgesprochen läßt: »Rate mal, wo ich lebe.«

 

Vielleicht stellt der eine oder andere unter Ihnen jetzt die Frage: Warum sollte man das, was Erv und Miriam Polster in ihrer Arbeit anbieten, dieses Gespür für einen nicht beschreibbaren Prozeß, für eine Wirklichkeit, die sich nicht klassifizieren läßt, für etwas, das sowohl konkret als auch grenzenlos ist - warum sollte man das als »spirituell« bezeichnen wollen? Wenn die Polsters selbst das schon in Frage stellen, können wir das ebenso. Ist dieses Wort, das den Anklang einer nur Eingeweihten vorbehaltenen Verzückung andeutet, heute nicht abgedroschen?

 

Welche beschreibenden Begriffe bieten sich uns also an? »Humanistisch«? Auch dieses Wort erscheint mir unscharf; es hat etwas mit Güte und Wohlwollen zu tun, klingt aber nicht sehr klar und kraftvoll. »Existentiell«? »Phänomenologisch«? Diese Begriffe klingen eher schwerfällig und wissenschaftlich hochgestochen. Vielleicht einfach »Gestalt«? Dieses Wort wird von so vielen Therapeuten benutzt, von denen nicht wenige die Technik in einer Weise betonen, die den Polsters fremd sein muß. Nehmen wir den Titel meines Vortrags. Das Wort »Entbindung« entstammt einem Buch über indische Weisheit und Spiritualität von dem modernen hinduistischen Lehrer Nisargadatta. Auf die Frage: »Was ist Sünde?« antwortete er einmal: »Alles, was uns bindet.« Dieses Wort »Entbindung« gehört glücklicherweise zu keiner bestimmten Schule, oder vielleicht gehört es zu all den unterschiedlichen Schulen in ihren gemeinschaftlichen Erfolgen. Und bedenken Sie noch einmal, daß es hier nicht bloß darum geht, sich von engen Sichtweisen, von kleingeistigem Denken und einer Armut des Fühlens zu entbinden. Im wesentlichen geht es nicht um das Ziel, »am Ende entbunden zu sein«, sondern um den »gesamten Prozeß der Entbindung«, der möglicherweise und hoffentlich bereits mit dem Beginn der Therapie anfängt und sich über eine langen Zeitraum erstrecken kann, in dem man all die Panzer und Rüstungen entdeckt, die man loswerden will. Erv und Miriam Polster leben und arbeiten aus einer Haltung von Klarheit, Lebendigkeit und Entbindung heraus. Und in diesem nüchternen Verständnis von »Spiritualität« möchte ich ihnen meine Hochachtung aussprechen - in ihrem eigenen Leben und in dem, das durch sie in den Herzen anderer Menschen weiterleben wird.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Foto: Stephen Schoen

Dr. Stephen Schoen

Psychiater und Gestalttheapeut in freier Praxis in San Rafael/Kalifornien. Langjährige internationale Lehrtätigkeit. Regelmäßiger Gasttrainer im -»Gestalt-Institut Köln / GIK Bildungswerkstatt« - besonders im Rahmen unserer Gestalttherapie-Ausbildung nach dem Kölner Modell.

Zu seinen Lehrern gehörten Fritz Perls, Harry Stuck Sullivan, Milton Erickson und Gregory Bateson, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband. Sein Buch »Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten. Gestalttherapie als spirituelle Suche« erschien in der Edition des Gestalt-Instituts Köln im Peter Hammer Verlag (vgl. Anzeige auf S. 13 in diesem Heft).

Außerdem veröffentlichten wir seinen Vortrag »Ich-Du und die Übertragung. Gestalttherapie und Spiritualität« auf einer GIK-Audiocassette.

Der nebenstehende Beitrag von Stephen Schoen ist die Erstveröffentlichung seines Vortrags auf der diesjährigen Konferrenz der amerikanischen Zeitschrift für Gestalttherapie »The Gestalt Journal« in Montreal/Kanada.

Wir danken Joe Wysong vom »Gestalt Journal« für seine freundliche Genehmigung der Veröffentlichung.

Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg.

 

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