Als wir im letzten Jahr über die diesjährige Jahrestagung des Förderkreises Gestaltkritik sprachen und das Thema »Die gestalttherapeutische Haltung« festlegten, schoß mir der Titel meines Vortrags »Die Begegnung mit dem Bösen« einfach so heraus - ohne Nachdenken, ohne Abwägen, ohne Fragen nach Angemessenheit. Ich war überrascht und auf eine merkwürdige Weise erleichtert und befreit. Von dem »Namen« ging etwas unumstößlich Gebieterisches aus. Deshalb habe ich das Thema so genommen und mich auf eine Entdeckungsreise in das therapeutische Feld gemacht, zu erforschen, was es für mich bereit hält.
Die Tagung fand vor fünf Monaten statt. Wir waren für eineinhalb Tage zusammen in einem Prozeß von langsamer Öffnung, Mitteilung und Begegnung voller Wohlwollen, Belebung und Inspiration. Danach ging die Entdeckungsreise rasant weiter. Die Öffnung für das »Böse« hatte fruchtbare Folgen.
Beim Annähern an das Thema kamen mir Erfahrungen in den Sinn, die ich sowohl als Klientin wie auch als Therapeutin gemacht hatte. Sie hatten bei aller Unterschiedlichkeit etwas Gemeinsames, und als ich sie an mir vorüber ziehen ließ, schienen sie meinen Weg, meine Entwicklung auf besondere Weise zu verdeutlichen. Als hätte in diesem Feld der »Begegnung mit dem Bösen« mein entscheidendes Lernen stattgefunden.
Die ersten ausgiebigen psychotherapeutischen Erfahrungen machte ich in einer Einzel- und begleitenden Gruppenpsychoanalyse. Mitte der siebziger Jahre lernte ich die Gestalttherapie kennen und zutiefst schätzen: Aktionsreich, ereignisreich, erlebnisreich - und der Therapeut war mir gegenüber, sprach mit mir und zu mir, wir bezogen uns aufeinander. Das allein genügte mir schon, daß ich überzeugt war, verstanden zu haben, was mit »dialogisch« und Bubers »Ich-Du« gemeint war. Es war tief beglückend, daß sich mir jemand mit wohlwollender Aufmerksamkeit zuwandte, damit befaßt, mich zu verstehen und mein Verständnis von mir und der Welt zu erweitern. Ich fühlte mich unterstützt, gemocht und gesehen und bekam ein deutlicheres Empfinden für mich. Und ich glaube, ich war eine ziemlich pflegeleichte Klientin über weite Strecken, habe viel gearbeitet, war begeistert und habe alles in meinen verfügbaren Kräften Stehende getan, um Therapie und Ausbildung zu einem Erfolg werden zu lassen. Für mich war diese Art der Zuwendung von so grundlegender Wichtigkeit, daß ich meine »bösen« Seiten unter Verschluß hielt. Das war damals nicht für mich erkennbar, wichtig war der Nektar der Wertschätzung, und Wertschätzung gab es in meinem Weltbild für Kooperation. Hin und wieder gab es MitklientInnen, die sich den Therapeuten »böse« zumuteten. Neben entsetztem, auch überheblichem Ablehnen empfand ich manchmal einen Hauch von Neid und eine Ahnung von Freiheit, die ich nicht hatte bzw. ein leises Empfinden meiner eigenen Unfreiheit.
Eines der wesentlichen Elemente der Gestalttherapie-Auffassung der siebziger und frühen achtziger Jahre war das Konzept der »skillfull frustration«, der methodischen Frustration. Der Grundsatz damals hieß: »Tue nichts für deinen Klienten, was er selbst tun kann und frustriere alle seine Versuche, dich dazu zu bringen«. Unter diesem methodischen Deckmantel konnte sich jedoch auch das, was in der Analyse »Gegenübertragung« genannt wird - hier zeitweilig: Überheblichkeit bis hin zu zerstörerischer Schärfe ohne Gewahrsein - unangreifbar verstecken. So habe ich, wie sicher viele andere auch, schmerzliche Erfahrungen aus Arbeiten als Klientin, in denen ich mich in beschämender Weise zurückgewiesen fühlte. Ich war in diesen Situationen sicher keine erfreuliche, reife und begegnungsfähige Klientin. Doch gerade dann war das Erleben des Nichtannehmbarseins so unbegreifbar und schmerzlich, daß es mich dazu führte, diesem Ort in meiner Arbeit als Therapeutin besondere Aufmerksamkeit zu geben und so wenig faul wie möglich zu sein.
Mit diesen Erfahrungen und guten Vorsätzen ausgerüstet hatte ich mit Hoffnung und Zuversicht begonnen, meinen therapeutischen Beistand zu leisten, und ich war mir mit einigen Weggenossen einig, daß wir nicht zur Fraktion der Hardcore-Frustrierer gehören wollten. Damit schien das zu beackernde Feld von aktuellen Verletzungen frei gehalten werden zu können - wenn ich als Therapeutin nur achtsam genug wäre. Nicht nur, daß es mir nicht gelang, daß nie jemand sich durch mich verletzt gefühlt hätte - groß war auch meine Überraschung, als ich - nunmehr in der Rolle der Therapeutin - derselben Qualität begegnete, die ich zuvor als Klientin als so zerstörerisch erfahren hatte.
Mir kommt die erste Situation, die mir dazu einfällt auf eine Weise nah, wie ich es oft erlebe, wenn etwas Wichtiges mich erreicht. Ich erlebe Szenen dann manchmal wie in Zeitlupe. Bemerkenswerterweise handelt die Szene nicht von einem großen Angriff oder einem gewaltigen Ausbruch. Zwei Mitglieder einer Fortbildungsgruppe, die ich im Auftrag einer Institution durchführte, hielten sich nach anfänglich guter Verbindung eines Nachmittags zu Beginn der Sitzung mit Biergläsern bestückt vor dem Fenster des Gruppenraums auf und klopften frohe Sprüche - ihnen war nach Freizeit zumute. Nun ist das an sich nichts, was mich zutiefst bestürzt, ich hatte einige Erfahrung in herzhaftem Umgang. Ich forderte die beiden auf, in den Raum zu kommen und an der gemeinsamen Arbeit weiter teilzunehmen. Das taten sie , und als wir beieinander saßen und die Situation untersuchten, merkte ich, wie aus allertiefster Tiefe Tränen bei mir aufstiegen. Jetzt kommt die Zeitlupe: ich habe zwei Möglichkeiten - ich könnte die Arbeit für eine kurze Pause unterbrechen, um die Fassung wiederzugewinnen oder mit meinen Tränen in der Situation bleiben.
Ich habe damals die Entscheidung getroffen, zu bleiben und blitzschnell mein Konzept von »Fassung« zu erweitern und meine Tränen als Wirkung destruktiver Begegnung in den Rahmen meines Therapieverständnisses gehörend zu verstehen. Das Bild, das mich seitdem in Situationen wie dieser begleitet, ist das Hervorspringen oder auch Rinnen einer Quelle aus großer Tiefe, das Wasser quillt aus Steinbrocken hervor. Und tief innen ist eine Erschütterung spürbar, ein Beben. Im weiteren Austausch wurde mir deutlich, daß die Qualität des Abschneidens und Abwendens dieser Beiden in Verbindung mit meiner Erschütterung stand. Als ich sehr genau beschrieb, wie ich das Verhalten der Beiden wahrgenommen hatte, wurde die Gruppe plötzlich hellhörig. Es waren Professionelle, die beratend mit einem Klientel arbeiteten, das zwangsweise zu ihnen kam. Diese Art der Abspaltung, der Weigerung, in den Kontakt zu kommen, das kannten sie aus ihrer Arbeit mit diesem Klientel. Unbemerkt war ihnen bisher die Stärke der Wirkung gewesen, für die nun bei einigen eine Bewußtheit entstand und damit ein geöffnetes Untersuchungsfeld.
Im Laufe der Jahre habe ich allmählich begriffen, was in dieser Situation passiert war, was meine Entscheidung, mit den Tränen zu bleiben, bedeutete und welche konzeptionellen Möglichkeiten sie eröffnete. Ich glaube, ich fing damals an, mich der zweiten Hälfte des therapeutischen Raumes, meines eigenen Innenraumes und des Lebens überhaupt zuzuwenden und zu öffnen. Mir wurde immer wichtiger, daß die unangenehmen, scheinbar unannehmbaren Seiten, die Schattenseiten, einen Raum bekamen, erfahrbar zu werden. Ich begriff, daß es meine Aufgabe war, den Raum in mir dafür zu öffnen, damit ich mit Bewußtheit berührbar sein konnte für das, was als unschön, ungut, böse galt. Die erste Hälfte, die ich kannte, galt der Unterstützung an der »Opferseite«, jetzt kam die einverständliche Begegnung mit dem Verletzenden, Destruktiven, Bösen hinzu. So richtig gewachsen fühlte ich mich dieser Arbeit zunächst nicht, und ich muß deutlich sagen, ich habe mir diese Sichtweise auch nicht ausgesucht.
Ich habe eher den Eindruck, daß dieser Teil der Arbeit mich aus- und aufgesucht hat. Ich mußte und muß lange und viel kauen und arbeiten, damit diese Arbeit fruchtbar wird.
Zugleich übte und lernte ich in langen Jahren etwas von der Haltung des Öffnens, des Schauens, der Präsenz und des Haltens: von der Haltung, die heute das Herzstück meiner Arbeit ist. Diese Entwicklung in Ausbildungs- und in Eigenarbeit war nie geplant und nie in ihrer zentralen Bedeutung auch nur geahnt. Natürlich war der Begriff der Haltung von Anfang an ein bekannter und ganz wesentlicher. Das Verständnis von Haltung jedoch hat sich allmählich immer mehr geöffnet: ich kann tiefer hineinschauen, und was ich erblicke, wird dichter und zugleich in seiner Tiefe transparenter. So als würden sich Bilder immer mehr in Farben, Formen, Worte und Töne auflösen, und als würde aus dem Aufgelösten alles gleichwohl neu entstehen. Das war wohl eine Beschreibung, wie ich Öffnen erlebe. Es scheint, als wären die Inhalte dabei nicht so wichtig, als hätte diese Bewegung alle Kostbarkeit schon in sich.
Wenn ich mich so auf den Begriff »Haltung« zu bewege, entsteht in mir ein Bild: Ich bewege mich in meinem Körper, der aussieht, wie die Innenansicht einer Backform meines Körpers, höhlenartig, in schummriges goldbraunes Licht getaucht, sehr innenerdig. Ich bewege mich als kleiner Wicht in dieser Form, als würde ich in der Luft schwimmen. In der oberen Hälfte gibt es an der Rückseite einen kleinen Vorsprung, und das ist genau der richtige Platz zum Niederlassen, um zu schauen. So wie ich hier sitze, bin ich die »Instanz des Schauens«, ich bin das Schauen, und es gibt nicht mal eine Flohbeinsbreite Platz zum positiven oder negativen Lesen dessen, was ich schaue (1).
Hier sitze ich warm, trocken und geschützt. Ich bin wach und munter und sehr aufmerksam und auf eine seltsame Weise nicht interessiert an dem, was ich schaue. Ich bin nicht dabei, dazwischen, im Sinne von »interesse«, sondern es ist, als wären das, was ich schaue und ich in einem Element, das ein guter Leiter ist, und dieses Element ist auch in uns. Diese Haltung des Schauens mit der Bereitschaft, dem Aufkommenden zu begegnen, es gemeinsam zu erforschen, ist es, was ich mit Grundhaltung meine - Dasein (Präsenz) und Wachsein (Gewahrsein).
Gestalttherapie ist phänomenologisches Erforschen in der Begegnung. Der Mensch ist ein bezogenes Wesen, und wir arbeiten mit dem tiefen Wollen des Einzelnen, sich zu beziehen, anzugehören. »Kontakt findet an der Grenze statt« war einer der ersten Sätze, die ich über Gestalt hörte, aber lange nicht begriff. Zur Grenze gehört beides: Berührung und Abgrenzung. Und beides brauchen wir: Abgrenzung ohne Berührung ist keine Begegnung, Berührung ohne Abgrenzung ist nur in bestimmten Verschmelzungssituation gut für uns (gesunde Konfluenz). Und damit beides gelingt, damit die Bezogenheit ge- und erlebt wird, braucht der Mensch ein Gegenüber, ein »Du«.
In einem Aufsatz von Peter Petersen, einem Analytiker, habe ich dazu ein Gedicht von Wolfgang Schütz gefunden:
»Indem wir durch den Nächsten gleichsam
wie durch Luft hindurchschreiten,
stürzen wir in den leeren Raum der Illusion.
Der Nächste steht uns in Wirklichkeit nicht im Wege,
sondern er steht am Rand des Abgrunds
als Schutzengel, der uns hindert,
aus den Realitäten des Lebens hinaus in die
Illusion zu gleiten.« (2)
Die Grundhaltung ist eine Haltung der Bezogenheit, mit Verbindung zur eigenen Ganzheit. Damit gibt der Therapeut Raum für die Ganzheit des Klienten.
Ganzheit ist zunächst einmal ein Mengenbegriff und meint »alles«, das Ganze. »Alles«, was zum Menschen gehört, kann jedoch auf sehr unterschiedliche Weise zusammen wirken und so die Ganzheit ausmachen. Das Figur-Grund-Konzept beschreibt aus gestalttherapeutischer Sichtweise einen Aspekt dieses Zusammenwirkens, den fortlaufenden Fluß unseres Hineinwirkens in die Welt, der Art, wie wir Welt in uns aufnehmen und zu unserem machen. Figur und Grund gehören zusammen, die Figur hat ihre Bedeutung nur auf dem jeweiligen Hintergrund, und es ist für den vollen Figurbildungsprozeß von entscheidender Bedeutung, wie viel vom Hintergrund für die Figurbildung zur Verfügung steht. Hintergrund ist alles, was den Menschen ausmacht, dort ist seine Lebensgeschichte auch mit Menschheitsgeschichte beisammen, unsere gesamte Quelle und damit auch unsere Kraft, unsere Lebensaufgaben im weitesten Sinne zu erfüllen.
Offensichtlich sind wir Menschen nicht mit einem konkreten Rezept für Lebensgestaltung ausgestattet, die jeweilige Lebensgeschichte schreibt das Kochbuch der einzelnen, und so gibt es von Kannibalismus bis Fastfood, von Hausmannskost bis kochkünstlerischer Hochkultur alle nur denkbaren Varianten in der Verwendung unserer Lebenskraft zur Gestaltung unserer Lebensaufgaben. Zur Erfüllung dieser Aufgaben benötigen wir ebenso wie die Fähigkeit zur liebevollen Öffnung und zum Aufbau auch die Fähigkeit der Zerstörung, der Zerkleinerung, die Fähigkeit des Herangehens, der Aggression. Und es bedarf wohl eines langen Kultivierungsprozesses, um aus lustvoll beißenden Kleinkindern, aus tierquälenden Schulkindern (Ausreißen von Fliegen- und Froschbeinen) und nervtötenden Pubertierenden Menschen werden zu lassen, deren Einsatz aggressiver Kräfte immer offensichtlicher der Unterstützung von Leben dient. Bis aus dem rohen Umgang mit den Grundzutaten schöpferische Fähigkeiten werden, die Aufgaben und Konflikte des Lebens zu meistern und zu lösen. Daß dieser Weg nicht in allen Fällen gegangen wird, ist offensichtlich. Viele bleiben »auf der Strecke«, bleiben hängen in vorschnellen scheinbaren Erfüllungen und Lösungen, kommen nicht in Berührung mit weiteren Wegstrecken.
Worauf ich mich heute beziehe, ist die Erforschung der Wirkung von Situationen im therapeutischen Rahmen, die mich zu dem Wort »Böses« hat kommen lassen. Die Wirkung war jeweils eine Erschütterung in der Tiefe, ein Getroffensein mit Wucht, der immer auch eine Quelle von Tränen entsprang. Und gleichzeitig nahm ich bei aller Erschütterung auch Ruhe, Wachheit und Sammlung wahr, als sei ich am Ende angekommen, als ginge es hier nicht weiter. Ich konnte nichts tun, als hier zu bleiben. Meine Wahrnehmung war deutlich und ich konnte die Wirkung auf mich in diesem Bleiben erforschen. Wenn ich mir die verschiedenen Situationen mit KlientInnen vor Augen führe, in denen ich diese spezielle Erschütterung erlebte, so wird deutlich, daß es sich nie um offene, bewußte Zerstörung handelt. Dem Gegenüber ist offensichtlich nicht bewußt, daß und wie er/sie verletzend ist. Die innere Verbindung besteht zu einer Not, zu einem Schmerz, zu etwas, worunter er/sie momentan scheinbar leidet, und dieser Teil wird unter Verschluß gehalten. Es besteht keine wahrnehmende Verbindung nach außen, keine
Wahrnehmung des Gegenübers, sei es des Therapeuten oder eines anderen Gruppenmitgliedes. Oftmals sind es Nebenbemerkungen, kleine Reaktionen, die jedoch die gleich starke Wirkung auslösen. Und meine Vermutung ist, daß Verbindungslosigkeit, Abspaltung, zerstörerisch auf eine »böse« Weise werden läßt.
Bei genauerem Hinschauen wird deutlich, daß diese »böse« Qualität einfließt in Reaktionen auf ein Geschehen: Vorwürfe, Attacken, giftige und abfällige Kommentare, schneidendes Zurückweisen, die das zuvor Geschehene herabmindern, verzerren, auslöschen, zerstören. Und deutlich wird noch etwas: diese Reaktionen kommen aus einer Verschlossenheit, die nur kurz für den Abschuß geöffnet wird. Die Verbindung zum Hintergrund dieser Figur ist nicht offen. Ein Aufgewühltsein, eine Erregung ist oft wahrnehmbar, es besteht aber keine Bereitschaft, etwas aufzunehmen. Das zuvor Geschehene hat etwas berührt, was nicht geöffnet werden soll, dessen Verschluß jedoch bedroht zu sein scheint. Die Dynamik alter, ungelöster Konflikte ist es (Perls: »unfinished business«), die der Gleichzeitigkeit von Sehnsucht nach Öffnung und Notwendigkeit von Verschluß, die bei Berührung eine sofortige Erhöhung der Spannung, eine Gefährdung des Gleichgewichts mit sich bringt. Es gilt , die Bedrohung der bisherigen »Einstellung« abzuwehren, den »Angreifer« entweder lahm zu legen oder in die Flucht zu jagen oder das Berührende außer Kraft zu setzen.
Für die Untersuchung der Entstehung dieser Konflikte ohne Lösungserlaubnis, die wie Minen in uns lagern, ist jetzt leider kein Platz - heute beschäftigen mich ihre Wirkung, ihr Auftauchen und die mögliche Antwort auf sie. Es scheint so zu sein, daß wir um lebensgeschichtlich entstandene Abspaltung genau so wenig herumkommen, wie um ein menschheitsgeschichtliches Erbe in diesem Bereich. Abspaltung und Integration scheinen wesentliche Themen auf dem Weg jedes Einzelnen zu sein. Bei der Bewältigung der Lebensaufgaben - Wachstum, Selbstbehauptung, Vermehrung, Aufgaben in Familie, Kindergarten, Schule und Beruf, beim Kinder großziehen, Familie ernähren, Reifung usw. - zeigt sich, wie verfügbar die uns dafür mitgegebene Kraft ist, wie günstig die erlernte innere Organisation und die Art der Bezogenheit ist, und wie offen der Prozeß der ständig notwendigen Integration läuft.
Wie ist nun für mich der Weg der »Begegnung mit dem Bösen« in der Therapie verlaufen? Über lange Zeit konnte ich meinem Gegenüber meine Auskunft über die Erschütterung als Wirkung seiner/ihrer Äußerung zur Verfügung stellen, mein Mitschwingen durch Zulassen der Berührung. Ich habe gänzlich unterschiedliche Qualitäten erfahren in der Begegnung mit Destruktivität: Manchmal löste etwas Dünnes, Spitzes einen scharfen Schmerz aus, der sich blitzartig im Körper ausbreitete, mal erfaßte mich eine Druckwelle - es gab viele unterschiedliche Erfahrungen - und stets gab es korrespondierendes Erleben beim jeweiligen Gegenüber. Immer wenn ich so konkret und genau wie möglich mein Erleben wahrnahm und dann auch benannte, schien dies für meine KlientInnen hilfreich zu sein, sich zu öffnen und sich im Gewahrwerden den eigenen Schatten zuzuwenden.
In der Durcharbeitung einer sehr heftigen und scheinbar völlig unlösbaren Situation aus meiner Arbeit hat sich mir eine für mich neue Qualität oder Kraft eröffnet, nämlich die des Hüters. Es dauerte einige Zeit, bis ich fand, worauf sich diese Kraft bezieht: nämlich auf ein tiefes Empfinden für die Kostbarkeit von Öffnung und Verbindung, von Begegnung. Damit hatte ich neuen Boden unter den Füßen, Verbindung zu einem weiteren, sehr wesentlichen Teil meines Hintergrundes - eine neue Klarheit, Kraft und Festigkeit an meiner Grenze, ein tiefes Gehaltensein und damit Halt.
In Folge hat sich die Art der Arbeit mit dem »Bösen« verändert (es ist wirklich so, daß diese Veränderungen von selbst passieren als wären sie aus der Arbeit an anderer Stelle erwachsen - es sind dann Entdeckungen, keine Planungen):
Ich bin mir der Gleichzeitigkeit von Hintergrund und Vordergrund (Figur) gewahr. Hintergrund ist die Bereitschaft zur Begegnung, die aus der Liebe zur Begegnung erwächst, und figürlich wird in der Begegnung mit dem »Bösen« ein Verschließen, ein Abwenden, verbunden mit einer klaren, freundlichen Unerbittlichkeit und Entschlossenheit. Dieses Gleichzeitige trifft offensichtlich auf eine Gleichzeitigkeit beim Klienten. Meine Antwort besteht nicht nur aus der Gestalt, die in meinen Vordergrund kommt (Verschließen, Abwenden) als Antwort auf den zerstörerischen Angriff des Klienten, sondern damit verbunden ist offen und in Verbindung die Zuwendung als Hintergrund. Das Halten der Spannung, die in dem Bezug von Figur und Grund besteht, öffnet offensichtlich auf fruchtbare Weise ein Feld, in dem der Klient auch den Teil von sich erforschen kann, der bisher im Schatten lag. Das »Böse« kann heimkommen und in Verbindung und Gewahrsein zu der schöpferischen Kraft werden, die für die Erfüllung unserer Lebensaufgaben unverzichtbar ist.
Wenn ich an die Verletzungen denke, die ich während Therapie und Ausbildung erfahren habe, so wird mir jetzt klar, daß mir genau dieser Hintergrund, nämlich die Zuwendung, in Verbindung mit der jeweiligen Gestalt gefehlt hat. Es war das Aufeinandertreffen von zwei »Figuren«. Ich hatte mit Sicherheit keine Verbindung zu meinem Hintergrund, und die meines Gegenübers war zumindest nicht für mich erfahrbar. So gab es keinen Halt, kein sich öffnendes Feld für mich, sondern eine Zuspitzung, von der ich mich aufgespießt fühlte.
Die Wirkung dieser Arbeiten auf die Gruppe ist beträchtlich: Erleichterung, Durchatmen, als gäbe es mehr und frischere Luft, und als wäre ein bestimmtes Luftanhalten nicht mehr nötig. Auch die Arbeit in der Begegnung von Gruppenmitgliedern wird leichter, als ob das »Böse« nicht mehr auf die Schultern oder auf die Seele des einzelnen gehört, sondern in das »Zwischen«, in das geöffnete Feld zwischen den Betroffenen. Ein sehr gruppenerfahrener Supervisand von mir atmete auf, als ich ihm von meinen Erfahrungen erzählte und meinte, er hätte die Freundlichkeit in Gruppen oft als sehr »klebrig« empfunden und die Aggressivität als sehr scharf, als hätte es eine Spaltung zwischen beiden gegeben. Mein Eindruck ist, daß mit dieser Haltung, die natürlich immer wieder emsiger Sortierprozesse bedarf, ein Raum geöffnet wird, dessen Vorhandensein eine Bewegung bei den KlientInnen begünstigt, als gäbe es in diesem Raum etwas, dessen Anziehung die Notwendigkeit des Verschließens, des Einschließens übersteigt.
Beim Herumstöbern habe ich zwei Bücher in die Hand genommen, die aus einem sehr anregenden Blickwinkel schauen.
Wolfgang Giegerich schreibt in seinem Buch »Drachenkampf oder Initiation ins Nuklearzeitalter« über die Atombombe: »Ja, ihr ausdrückliches Wesen als koaguliertes Ding ist es, die Verbergung und Einbehaltung des in sie hineingestopften konzentrierten Feuers ... zu sein«, die er als Einsperrung des Weltgeistes sieht mit dem Ruf »Laß mich heraus!« Über den Umgang sagt er:
»Das wahre ‚Laß mich heraus!' kann sich nur ereignen als unser Hinein. Erleuchtung kann nur als Verwundung sein ... Die Überbietung der Explosion oder die Explosion der Explosion geschieht allein dadurch, daß das Menschenwesen sich der Gefahr der Explosion rückhaltlos öffnet, sich ihr unerbittlich aussetzt ... Die Atombombe braucht uns. Sie braucht unser Zugewendetsein, um sich öffnen zu können. Nur durch uns hindurch kann ihre Stimme für uns hörbar werden ... Was sie sagt, will in uns zur Schwingung kommen. Und umgekehrt brauchen wir die Atombombe, weil sie der Ort unserer Wahrheit, unserer Seele, unseres Lichts ist.
Es geht nicht um unser Überleben, weil das Bestehen auf dem Überleben die Abwehr des Wandlungsgeschehens bedeuten würde: Das sich auf unser bisheriges Sein und unsere Identität mit uns selbst Versteifen; das Festhalten an der »Definition« des Menschen als eines Wesens, das die Welt wesenhaft außer sich hat, dafür aber auch unter der Sinn- und Seelenlosigkeit des Seins leidet. Was die Atombombe als stets drohende Gefahr uns vermitteln kann, ist ein Sinn dafür, daß das Menschenwesen von der Welt, von dem Neuen Sein der technischen Wirklichkeit gebraucht wird - nicht zufällig einmal, sondern in seinem Wesen und kraft seines Seins. Menschsein heißt Gebrauchtsein ... Das wahre Lebensfeuer liegt nie einfach wirklich vor, sondern will durch den initiatischen (hineingehenden) Eingriff des Menschen in das bloß gegebene Sein oder den immer schon von sich aus dahinfließenden Strom des Geschehens errungen und entbunden werden ... Obwohl wir a priori in unserem innersten Wesen in die Welt hineingehören, will unser Hineingehören in die Welt, d.h. das Psychisch-Sein des Seins, gleichwohl immer erst neu errungen werden durch unser Hineingehen in die Gefahr, hinein in die jeweilige Form, in der sich der Schrecken des Seins zeigt. Die wesenhafte und ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Menschenwesen und Wesen der Welt im Sinne eines wechselseitigen Gebrauchtseins füreinander ist überhaupt nicht etwas Vorhandenes und Vorliegendes, sondern etwas Ereignishaftes, das so auch nur von jedem Menschentum stets neu zu leistenden (bzw. zu erfahrenden, erleidenden) initiatischen Ur-sprung in den Drachenschlund ersprungen wird. Wir bringen unser ursprüngliches Wesen nicht einfach mit uns, wir müssen unser Erstes, das uns immer voraus ist, durch ein Zweites, einen Akt in unseren Lebensvollzug , erst einholen.« (4)
Und Joseph Campbell schreibt in seinem »Der Heros in tausend Gestalten« in seinem Kapitel über den Krieger:
»Denn der Held der Mythen ist der Vorkämpfer nicht der gewordenen Dinge, sondern der werdenden. Der Drache, den er zu töten hat, ist nichts anderes als das Ungetüm des status quo: Haltefest, der die Vergangenheit festhält. Der Held kommt aus der Finsternis (Nichtwissen), aber der Feind ist mächtig und sichtbar auf dem Sitz der Macht ... Haltefest ist er nicht, weil er die Vergangenheit festhält, sondern weil er festhält.« (5)
Im Festhalten am Abgespaltensein können wir mächtig werden - ohnmächtig manipulierend oder gezielt unterdrückend - dem Leben auf schöpferische Weise voller »Feuer« dienen, das können wir so nicht, weil es im Mächtig- oder Ohnmächtigsein eingesperrt ist. Dem »Haltefest« und seinen Schrecken zu begegnen und das »Feuer« befreien: Ich ahne, daß es noch viel zu entdecken gibt.
Anmerkungen
(1) Heidegger-Zitat: »Die Wendung in das Offene ist der Verzicht darauf, das, was ist, negativ zu lesen.« Zit. nach: Wolfgang Giegerich: Die Atombombe als seelische Wirklichkeit, Freiburg 1988, S. 6
(2) Zit. nach: Peter Petersen: Übertragung und Begegnung im therapeutischen Dialog. In: Hilarion Petzold (Hg.): Die Rolle des Therapeuten und die therapeutische Beziehung, Paderborn 1980, S. 32
(3) Wolfgang Giegerich: Drachenkampf oder Initiation ins Nuklearzeitalter, Zürich, 1989, S. 236ff.
(4) Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt/Main 1978, S. 321f.
Heidi Schoeller
Jahrgang 1943. Studium der Politikwissenschaften, Psychologie und Pädagogik. Als Gestalttherapeutin seit mehr als 20 Jahren in freier Praxis in den Feldern Psychotherapie, Supervision und Aus- und Fortbildung (in Uffenheim-Weigenheim in der Nähe von Würzburg) tätig. Sie ist außerdem Lehrtherapeutin und Gestalttherapie-Ausbilderin am Gestalt-Institut Köln / GIK Bildungswerkstatt. Gelernt hat sie bei Korbinian Höchstetter, Almut Ladisich-Raine, Ulrich Schurrmann und Hans-Jörg Süß. Weiterbildung bei Erving und Miriam Polster, bei Gerald Kogan und schließlich bei Hunter Beaumont.
Zentrales Interesse: Die Gleichwertigkeit von Unvollkommenheit und Vollkommenheit als Grundbedingung für Entwicklung.
Der hier zuerst veröffentlichte Beitrag ist die überarbeitete und erweiterte Fassung ihres Vortrags auf der Jahrestagung des Förderkreises Gestaltkritik im Gestalt-Institut Köln am 13. 5. 2000, die im Jahr 2000 unter dem Titel »Die gestalttherapeutische Haltung« stand.