Inhalt
Frank-M. Staemmler / Erhard Doubrawa: Vorwort
Das Gespräch hat eine verwandelnde
Kraft.
Wo ein Gespräch gelungen ist, ist uns etwas geblieben
und ist in uns etwas geblieben, das uns verändert hat.
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Wenn man die Bücher und Artikel durchsieht, die während der letzten Jahre in Deutschland und im Ausland zu gestalttherapeutischen Themen erschienen sind, kann man feststellen, daß bei allen theoretischen Unterschieden und manchen Widersprüchen doch in einer grundsätzlichen Frage weitgehende Übereinstimmung besteht: Das Verständnis von der gestalttherapeutischen Beziehung wird von fast allen AutorInnen, die sich damit befassen, aus der dialogischen Philosophie Martin Bubers abgeleitet. Natürlich nehmen die einzelnen AutorInnen bezüglich Bubers Schriften unterschiedliche Interpretationen und Schwerpunktsetzungen vor; sie divergieren auch häufig hinsichtlich der praktischen Konsequenzen, die sie aus seinen Positionen ableiten. Es scheint aber ein prinzipieller Konsens zu existieren, daß die "Gestalttherapie als dialogische Methode" zu verstehen ist.
Unter diesem Titel wurde 1983 die Übersetzung eines Artikels von Gary Yontef in der deutschen Zeitschrift "Integrative Therapie" (herausgegeben von Hilarion Petzold) veröffentlicht, der historisch insofern von besonderer Bedeutung ist, als er nicht nur die Reflexion der Beziehungsdimension in der Gestalttherapie überhaupt, sondern eben auch speziell Bubers Gedankengut in den Vordergrund der fachlichen Diskussion rückte. Dieses Gedankengut war von Lore und Fritz Perls zwar gelegentlich und mit Wertschätzung erwähnt, aber weder differenziert theoretisch rezipiert noch systematisch auf die Praxis der Gestalttherapie angewandt worden. Wir freuen uns darum besonders, Yontefs bahnbrechenden Text in dem vorliegenden Buch nun wieder zugänglich machen zu können.
Denn Yontefs Artikel markiert den Anfang einer Buber-Rezeption, die in Amerika insbesondere von Rich Hycner und Lynne Jacobs weiter vorangetrieben wurde. Da sie in engem persönlichen Kontakt mit Yontef standen, hatten sie Zugang zu dem unveröffentlichten englischen Original seines Artikels, das erst zehn Jahre später in Amerika publiziert werden sollte. In diesem Zusammenhang spielten besonders ihre drei Artikel eine wichtige Rolle, die wir in diesen Band aufgenommen haben. Sie waren in der amerikanischen Zeitschrift "The Gestalt Journal" erschienen und von Frank-M. Staemmler im Rahmen der von ihm herausgegebenen "Gestalt-Publikationen" bzw. von Erhard Doubrawa in der "Gestalt-Kritik" der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht worden. Hycners erster Text trägt den geradezu programmatischen Titel "Für eine dialogische Gestalttherapie"; er hat ihn in seinem zweiten Artikel über "Martin Buber und die Gestalttherapie" um einige Aspekte ergänzt. Lynne Jacobs knüpft mit ihrem Beitrag "Ich und Du, hier und jetzt" ausdrücklich an Hycners ersten Text an, dessen Inhalte sie sowohl vertieft als auch konkretisiert.
Bubers dialogisches Prinzip ist aber nicht nur durch die Beiträge amerikanischer, sondern auch durch die deutscher KollegInnen für die Gestalttherapie fruchtbar gemacht worden. So ist "die Kraft der Beziehung" für Frank-M. Staemmler ein zentrales Element seiner Theoriebildung, wie auch sein Buch "Therapeutische Beziehung und Diagnose - Gestalttherapeutische Antworten" (1993) zeigt. Wir haben darum zwei seiner Artikel zu diesem Thema in den vorliegenden Sammelband aufgenommen, wovon der eine, ein auf den "Münchner Gestalttagen" 1993 gehaltener Vortrag über "Kultivierte Unsicherheit", so große Beachtung gefunden hat, daß er in mehreren gestalttherapeutischen Fachzeitschriften, darunter auch auf Englisch im "British Gestalt Journal", abgedruckt wurde.
Der vor zwei Jahren verstorbene Heik Portele war ebenfalls einer jener deutschen GestalttherapeutInnen, denen es am Herzen liegt, "Martin Buber für Gestalttherapeuten" zu einer wesentlichen Quelle ihres Denkens und Handelns zu machen. Während die Reihenfolge der Beiträge in diesem Buch ansonsten der Chronologie ihrer Erstveröffentlichung folgt, haben wir Porteles Text an den Anfang des vorliegenden Buches gestellt, weil er einen anschaulichen ersten Überblick über Bubers Leben und Werk gibt. Wir wünschen uns, mit der Wiederveröffentlichung dieses zuerst in der deutschen Zeitschrift "Gestalttherapie" erschienenen Artikels nicht nur zur weiteren Verbreitung von Porteles Denken, sondern auch zum Gedenken an seine Person beitragen zu können.
Die letzten drei Beiträge wurden erst in jüngster Zeit geschrieben. Sie repräsentieren einen neueren Trend innerhalb der gestalttherapeutischen Beschäftigung mit der dialogischen Philosophie, der sich zwar einerseits auf Buber beruft, andererseits der bisherigen Buber-Rezeption aber sowohl neue Stilmittel als auch inhaltliche Ergänzungen hinzufügt bzw. neue Schwerpunkte setzt. So ist Stephen Schoens Text "Der Vogel singt wieder" ein Extrakt aus seinem demnächst erscheinenden Roman "Greenacres" und enthält einen von dessen Höhepunkten - die Erinnerung eines hospitalisierten Patienten an das Gespräch mit einem seiner Psychiater. Schoen versucht darin, den Geist einer dialogischen Begegnung mit literarischen Mitteln darzustellen.
Renate Beckers Beitrag über "Die Wiederverzauberung der Welt" läßt sich ebenfalls nicht dem üblichen Genre eines Fachartikels zuordnen; ihr Stil ist wohl eher essay-istisch zu nennen. Sie stellt das dialogische Denken in einen kulturhistorischen Rahmen und beruft sich nicht nur auf Buber, sondern auch auf Emmanuel Lévinas, einen französischen Philosophen, der wie Buber osteuropäisch-jüdischer Abstammung ist. Obwohl Lévinas sich "gegen den lächerlichen Anspruch, Buber 'verbessern' zu wollen", verwahrt, setzt seine Philosophie andere Akzente und betont insbesondere die absolute Andersartigkeit des anderen Menschen.
Das Buch schließt mit einem Text von Erhard Doubrawa, der hier erstmals publiziert wird. Er geht darin seinem Anliegen nach, Martin Buber als den politischen Denker darzustellen, der er auch war. Erstaunlicherweise ist dieser Aspekt in der gestalttherapeutischen Buber-Rezeption bislang weitgehend unbeachtet geblieben, verdient jedoch wegen seiner Aktualität und seiner Nähe zu sozialkritischen Strömungen in der Tradition der Gestalttherapie durchaus Beachtung.
Die Beiträge in diesem Buch geben einen Überblick über 15 Jahre gestalttherapeutischer Theorieentwicklung zu Fragen der therapeutischen Beziehung, wie sie sich aus der Beschäftigung mit Bubers dialogischem Existentialismus ergeben hat. Wir hoffen als Herausgeber, durch die zusammenfassende Veröffentlichung in dem vorliegenden Band sowohl die Geschichte dieser Theorieentwicklung zu dokumentieren als auch der weiteren Diskussion unter GestalttherapeutInnen auf leicht zugängliche Weise ein Material zur Verfügung zu stellen, das wir für grundlegend halten.
Würzburg und Köln, im August 1998
Frank-M. Staemmler und Erhard Doubrawa
Anmerkung
(1) Gadamer, H.-G. (1990): Wahrheit und Methode-Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Band II, Tübingen (Mohr), S. 211