Meine ersten Überlegungen zu einem Artikel über Gestaltarbeit mit Körperprozessen drehten sich meist um die Frage nach dem »Wie«. Auf welche Weise könnte ich etwas von dieser Seite der Gestaltarbeit schreiben, bei der Körperempfindungen so bedeutsam sind.
Während ich an meinem Schreibtisch sitze und noch etwas ratlos darüber nachsinne, schweifen meine Gedanken hin zu theoretischen Abhandlungen über verschiedene Körpertherapien. Die klingen für mich oft technisch, mit Anleitungen und Übungen, die richtig oder falsch ausgeführt werden können. Ich merke, wie ich mich anstrenge und Enge wahrnehme.
Nein, denke ich, bei Körperprozessen geht es mir nicht um Technik, sondern um die Konzentration auf das leibliche Wahrnehmungsfeld. Gestalttherapie ist für mich Körperarbeit, ohne »und« dazwischen. Jetzt wird es leicht. Ich brauche nicht mehr weiter zu überlegen, welchen Weg ich nehme, um Gestaltarbeit mit Körperprozessen für Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser, (be)greifbar werden zu lassen.
Das Beste ist eine Erfahrung - gestalttherapeutisch im Hier und Jetzt. Damit lade ich Sie zu einer kleinen Wahrnehmungsübung ein, die Ihnen den Raum zum Erleben von Körperempfindungen öffnen kann, statt nur darüber zu lesen.
Der nachfolgende Empfindungspfad ist durch Fragen markiert, die Sie sich selbst stellen und beantworten können. Fragen, die Sie manchmal auffordern, innezuhalten oder differenziert nachzuspüren, die Sie auf Unterschiede aufmerksam machen, oder Sie um ein Wort bitten, das Ihre Empfindungen beschreiben kann.
Erv und Miriam Polster nannten das, was Sie eben erlebt haben, eine synaptische Erfahrung. (1) Sie beschreiben: »Die Metapher der synaptischen Erfahrung richtet die Aufmerksamkeit auf die vereinigten sensorisch-motorischen Funktionen, ( ) als Bewusstheit (sensorisch) und Ausdruck (motorisch). ( ) Man kann diese Einheit fühlen, wenn man sich zum Beispiel beim Sprechen des Atmens bewusst wird, oder der Beweglichkeit des Körpers beim Gehen« (2) oder wenn man sich beim Lesen bewusst wird, wie man die Zeitschrift hält.
Eine einheitliche (synaptische) Erfahrung hängt davon ab, wie eigene Empfindungen spürbar sind. Die Metapher soll die Beziehung zwischen Empfindungen und Ausdruck (Aktion) verdeutlichen. Sie weist darauf hin, wie die Fähigkeit, grundlegende Empfindungen wahrnehmen und erkennen zu können, Auswirkungen auf die Angemessenheit unserer Handlungen hat.
Als Gestalttherapeuten sehen wir jeden Kontakt als eine einheitliche Erfahrung, ein Zusammenwirken der Sinne, der Gefühle, der Muskulatur. Er steht im Spannungsfeld zwischen dem persönlichen Lebenshintergrund eines Menschen und der jeweiligen aktuellen Situation und bekommt so eine ganz individuelle Bedeutung.
Körperphänomene mit Muskelspannung, Bewegungsimpulsen und vegetativen Reaktionen sind Teil jedes Kontaktprozesses, unabhängig davon, ob der Kontakt zwischen ICH und DU, zwischen entfremdeten Teilen des Selbst oder zwischen dem Menschen und seiner Umgebung stattfindet, wie eben in der kleinen Übung.
Ich habe es einigen glücklichen Umständen und Begegnungen zu verdanken, dass ich bald nach meinem Berufseinstieg als Physiotherapeutin mit psychotherapeutischen Ansätzen in Kontakt kam. Aus einer eher experimentellen Zusammenarbeit mit Menschen unterschiedlicher Ausbildung erhielt ich wertvolle Impulse und Orientierung für meine weitere Tätigkeit. In mir entwickelte sich ein besonderes Interesse für Körperwahrnehmung, ein Erforschungsfeld, aus dem später mein Arbeitsschwerpunkt, die Verbindung von Körper und Seele, entstehen sollte. Rückblickend betrachtet machte ich mich auf einen langen Weg.
In den ersten Jahren meiner Arbeit mit Patienten in verschiedenen Kliniken bemerkte ich in gewissen Abständen ein Gefühl von Unzufriedenheit, obwohl ich den Kontakt mit den Menschen, die körperliche Arbeit und Körperarbeit sehr mochte. Als Berufsanfängerin dachte ich, dass ich meine Behandlungstechniken noch verbessern müsste, und besuchte viele Weiterbildungen. Manchmal wechselte ich auch das Arbeitsfeld, um neue Erfahrungen sammeln zu können. Im nachhinein schätze ich diese Zeit als wertvolle Lernjahre, doch mein damals unbestimmtes Unzufriedenheitsgefühl mit meiner Tätigkeit löste sich nicht auf.
Im Laufe der Ausbildung in Reichianischer Körperarbeit mit Michael Smith begann sich mein Blick auf den Menschen als Körper-Seele-Einheit zu entwickeln und stand im Kontrast zu meinem medizinischen Berufshintergrund. Westliche Medizin betrachtet die körperlichen Krankheitserscheinungen eines Menschen auf der Basis klar ableitbarer Pathophysiologien, herausgelöst aus ihrer körperlich-geistig-seelischen Ganzheit. Dieses Verständnis von Krankheit prägt als Hintergrund gleichsam Diagnose und Therapie.
Ich begann meine Arbeit kritischer zu betrachten, vor allem auch meine so genannten Behandlungserfolge. Meine Wahrnehmung veränderte sich. Ich bemerkte zum Beispiel, dass ich mich nicht mehr uneingeschränkt mit einem Patienten freute, wenn er seine Behandlung mit wieder beweglich gewordenem Schultergelenk mit den Worten beendete: »Wenn ich noch einmal solche Probleme mit der Schulter habe, komme ich damit wieder zu Ihnen«.
Neben der Freude, dass er wiederkommen wollte, spürte ich einen Widerstand bei diesem Satz, ich konnte ihn nicht ganz nehmen. Die Aussage des Patienten wirkte auf mich so, dass ich etwas zurückweisen wollte. Was war dieses Etwas? Seine Beschwerden? Die Schulter?
Zweifellos war die Schulter Bestandteil seines Körpers. Gleichzeitig hatte ich den Eindruck, sie befinde sich irgendwo zwischen dem Patienten und mir.
Die Gestalttherapie mit ihrer bewertungsfreien Haltung, der Würdigung des Menschen als gleichberechtigtes, verantwortliches Gegenüber sowie ihr prozesshaftes Kontaktverständnis halfen mir weiter.
Ich lernte, dass wir Menschen verschiedene Möglichkeiten entwickeln, den Kontakt (auch mit uns selbst) abzuschwächen und zu stören, eine davon ist die Projektion. Bei der Projektion behandeln wir einen Teil unseres Selbst so, als wäre er ein Teil der Umwelt, nicht »ICH«. So können wir auch Körperteile als Teil des Selbst projizieren. Wir drücken das in unserer Sprache aus.
In dem o.g. spontan ausgesprochenen Abschlusssatz des Patienten kommt zum Ausdruck, dass er die Schulter nicht als »Ich«, als Teil seines Selbst begreift, sondern als etwas außerhalb von sich, was ihm Schwierigkeiten bereitet. Und noch etwas anderes drückt sein Satz aus, als ob allein ich es wüsste, wie etwas mit seinem Körper wieder besser werden kann.
An dieser Stelle möchte ich Ihnen gerne ein kleines Experiment anbieten. Ich lade Sie ein, folgende Sätze auszuprobieren und deren Wirkung auf Körper und Seele zu spüren:
Sie können dieses Experiment auch verändern und für sich passender machen, indem Sie ein Körperteil Ihrer Wahl (z.B. mein Rücken) mit anderen Verben (wie z.B. verspannt, verkrampft etc.) verknüpfen.
Welche unterschiedlichen leiblichen Wirkungen haben Sie beim Ausprobieren des jeweiligen Satzes bemerkt?
Mit Gestalttherapie vervollständigte sich für mich der Prozess des Zusammenwachsens der vorher getrennten Körper-Seele-Einheit. Zunächst arbeitete ich methodisch noch parallel, dann merkte ich, wie sich meine Haltung immer mehr veränderte und ich als Beschreibung für meine Arbeit das Wort »Behandlung« verlor.
Mein medizinisches, anatomisches Wissen auch über muskuläre Spannungsmuster sowie meine Erfahrungen mit östlicher Medizin bleiben mir wertvoller Hintergrund. Gleichzeitig erlebe ich die in der westlichen Medizin üblichen Modelle und Typologien über
Krankheitsentstehung und -erscheinung häufig als starr und bewertend. Sie engen meinen »Blick« ein und stören in der phänomenologischen Erforschungsarbeit. Die »Einklammerung« (3) solcher Vorannahmen ist für mich der immer neue Versuch, den Raum so weit wie möglich für das Erleben des Klienten zu öffnen.
Meine Wahrnehmungsfähigkeit auch von Körperempfindungen ist das Handwerkszeug meiner Arbeit, das sich durch Selbsterforschung entwickelte und das ich bemüht bin, immer weiter zu differenzieren.
In der dialogisch gestalttherapeutischen Haltung versuche ich, Menschen in ihrer Selbstwahrnehmung zu unterstützen. Darin, ihre Empfindsamkeit (wieder) zu entdecken, zu erweitern und zu differenzieren. Der Prozess des Erkennens von Körperwahrnehmungen schließt für den Klienten bisweilen ein, stimmige Worte für seine Empfindungen zu suchen und zu finden, sie zu beschreiben und zu unterscheiden.
Ich biete keine Analysen und keine Techniken an, sondern meine therapeutische - auch körperliche - Präsenz, um ganzheitliche Wahrnehmungen in ihrem Lebenszusammenhang zu erforschen. Der Klient selbst ist es dann, der Heilung im Erleben vollziehen kann.
Als GestalttherapeutInnen betrachten wir den Leib als Teil eines Organismus in einem Feld, der nicht nur durch seine Haut begrenzt ist. Mit dieser ganzheitlichen Sichtweise des Lebens, als einer Welt, die fließt und sich wandelt, interessieren wir uns, wie der Körper als Teil des gesamten Organismus sich wechselseitig mit seiner Umwelt beeinflusst. Der Austausch an der Grenze zwischen Organismus und Umwelt kann alle Lebensfunktionen umfassen, wie z.B. Nahrungssuche und Essen, Atmung, Lernen, Austausch von Aufmerksamkeit und Unterstützung. Dieser Austausch - auch Kontakt genannt - wird durch eine schöpferische und kreative Aktivität des Selbst und entsprechende Umweltbedingungen gestaltet.
Bei anhaltend schwierigen Umweltbedingungen und/oder bei unterbrochener Hinwendung des Menschen zur Umwelt wird der Austausch eingeschränkt, und der Kontakt bleibt unvollendet. Der Organismus bekommt nicht genug, um sich zu erhalten, sich weiter zu entwickeln und zu wachsen.
Die chronische Unterbrechung des vollen Kontaktes (Erlebens) geht in der Regel einher mit einem Verzicht auf die körperlichen Aspekte der Kontaktfunktionen. Der Geist hört nicht mehr auf die Mitteilungen des Körpers, die leiblichen Teile des Selbst werden entfremdet.
Diese Anpassungsleistungen an unsere Lebensgeschichte und unsere Erfahrungen sind gewissermaßen in unserer erworbenen (im Unterschied zu unserer angeborenen biologischen) Körperstruktur geronnen. Sie wird in Muskelspannung, Haltung und Bewegung sichtbar und kann von den unvollendeten Kontaktprozessen unseres Lebens erzählen. Sie beinhaltet zurückgenommene Empfindsamkeit, angehaltene Bewegungen, gehemmten muskulären Selbstausdruck und die Trennung des »Ich« von Körperempfindungen.
In meine gestalttherapeutische Praxis kommen häufig Menschen, die - neben den Themen, sie sie erforschen möchten - auch unter körperlichen Symptomen leiden. Ich bemühe mich darum, diese Symptome nicht zu interpretieren, noch sie mit den vorhandenen psychischen Themen der/s Klientin/en zu verknüpfen. Statt dessen versuche ich immer wieder, den Raum für die individuellen Phänomene und ihre ganz eigenen Verknüpfungen offen zu halten, wie im folgenden Beispiel einer körperorientierten Gestaltarbeit.
Ute (4) eine 35 jährige Frau, die seit vielen Jahren unter Migräne leidet berichtet zu Beginn unserer heutigen Therapiestunde von ihrer Anstrengung und Erschöpfung. Außerdem habe sie seit einigen Tagen eine akute Muskelverspannung im Rücken. (5)
Sie selbst leitet ihre Erschöpfung aus ihrer derzeitigen Lebenssituation ab eine Wochenendbeziehung. In den Jahren als »Single« habe sie immer das Wochenende zu ihrer Erholung nutzen können. Jetzt habe sie keine Ruhezeiten mehr.
Ihre Tage seien immer sehr ausgefüllt. Das wäre auch früher schon so gewesen. Generell arbeite sie erst alles weg und dann ruhe sie aus. Jetzt allerdings seien die freien Tage durch den Freund belegt, mit dem sie etwas »machen müsse«, wie z.B. ihm Aufmerksamkeit schenken ein neuer Arbeitstag sei entstanden.
Während Ute mir ihr Erleben erzählt und beschreibt, fällt mir ihre angespannte Körperhaltung auf, die im Kontrast zu einer stärkeren Augenbewegung steht. Als ich ihr meine Wahrnehmung nach einer Weile mitteile und sie daraufhin ihre Aufmerksamkeit auf Haltung und Augen lenkt, bemerkt sie: »Viel Bewegung im Kopf und Spannung im Körper«.
Ich frage Ute, wie sie sich dabei fühle. Sie fühle nichts, antwortet sie, nur diese Körperempfindung, die sich oben im Kopf als Aktivität in den Augen präsentiert und im Körper als Spannung bis Starre in den Muskeln und den Gelenken. Die Grenze dieser unterschiedlichen Empfindungen liege in ihrem Nacken, beschreibt sie und zeigt mir die Stelle direkt unterhalb der Schädelbasis.
Ich frage sie, ob sie ein Experiment machen wolle, um dieses Körpererleben zu erforschen. (Wir arbeiten schon ein dreiviertel Jahr zusammen und sie hat die phänomenologische Erforschungsarbeit bei mir bereits kennen gelernt). Sie entscheidet sich dafür und möchte ausprobieren:
Ute sitzt auf einem hochlehnigen Stuhl. Sie lehnt den Kopf an. Ich schlage ihr vor, ihren Nacken leicht zu bewegen - nach vorne, nach hinten, zu den Seiten und drehend - indem sie ihr Kinn bewegt. Ich bitte sie, die Bewegungen sehr klein, sehr langsam und aufmerksam auszuführen, um so für sie die Möglichkeit zu schaffen, deren Wirkung an der Grenze ihrer unterschiedlichen Körperempfindungen zu erforschen.
Nach einer Weile beginnt Ute, den Kiefer anzuspannen und den Atem anzuhalten. Sie führt diese Wahrnehmung erklärend auf die große momentane Konzentration auf ihren Körper zurück, die sie anstrenge.
Ich gebe ihr eine weiche Jacke als Rolle und Unterstützung für den Nacken, und sie fährt mit der kleinen Bewegung fort. Dabei beginnt sie, ihren Nacken etwas gegen die Rolle sinken zu lassen ...... Sie bemerkt, dass es ihr jetzt unangenehm ist, dass ich dabei bin - zuschaue - Scham taucht auf........Ich selbst erlebe mich mit ihr wie an einer Schwelle stehend.......sie hält inne.......und versichert sich der Haltung, mit der ich achtsam, respektvoll und mit Wertschätzung für ihr Erleben am Erforschungsprozess teilnehme.
Daraufhin fährt Ute mit den kleinen Kopfbewegungen fort Die Atmung wird tiefer. Ute lässt den Kiefer etwas hängen und Angst taucht auf: »Ich werde so formlos. So könnte ich niemals arbeiten!«
Ich selbst beteilige mich an diesem Prozess mit Aufmerksamkeit und mit Gewahrsein für Ute und für mich selbst. Etwa zeitgleich zu Utes Aussage nehme ich bei mir selbst ein Körperempfinden im Übergang vom Kopf zum Nacken wahr. Ein Gefühl der Entspannung, als ob sich tief im Nacken etwas »öffnet«. In der Folge empfinde ich ein »Fliessen«, als würde Energie vom Kopf in den Körper und weiter in Arme und Beine strömen. Deshalb frage ich Ute, ob »formlos« das stimmige Wort für ihr Körpererleben ist.
Sie ist eine Weile still, nach innen gekehrt und lauscht der eigenen Körperempfindung. »Ich werde weicher«, sagt sie und auch ihre Stimme klingt weicher. Während sie das ausspricht, findet Ute Kontakt zu ihren Gefühlen. Sie ist berührt und weint. Die vorige Trennung zwischen Kopf und Körper hat im Moment eine Verbindung gefunden.
Sie nimmt sich noch Zeit, dieses Erleben nachklingen zu lassen, den Nacken zu spüren und dem gerade erlebten, entspannten Körpergefühl Raum zu geben.
Später erzählt sie, dass sie an ihren Arbeitstagen gar keine Pausen mache. Da sei sie mehr »ergebnisorientiert« und »erst müsse alles fertig sein«. Nach 2-3 Tagen, wenn sie Erschöpfung - als erstes Anzeichen einer notwendigen Pause spüre - dann müsse sie sich »schon richtig hinlegen«.......Hier wird Ute still und nachdenklich: »und wenn es ganz schlimm ist, habe ich Migräne. Dann muss ich gleich zwei Tage liegen«.
Ihre überraschend ausgesprochene Erkenntnis veranlasst mich zu sagen: »Dann hast Du ja selbst deine »Medizin« für die Migräne gefunden«.
Sie ist im Moment ganz erstaunt Nach einer Weile bemerkt sie, wie wichtig die zwei Tage Liegen mit Migräne für sie sind - in denen sie sich erholen muss, um nicht noch tiefer in die Erschöpfung zu geraten. Die Migräne, ein hilfreicher, doch schmerzhafter Weg als »Medizin« für die Erschöpfung.
Im Nachklang überlegt sie, ob es neue »weichere« Wege für sie im Alltag geben kann. Sie denkt darüber nach, wie sie mit ihrem Körper im Kontakt bleiben kann: z.B. am Arbeitsplatz mal den Nacken spüren und leicht bewegen, oder die Schulter kreisen, oder sich einfach im Stuhl zurücklehnen und den Rücken spüren. Kleine Gewahrseinsübungen, die ihre strenge Strukturierung und Trennung in Arbeit und Pause lockern und eine Verbindung zwischen Kopf und Körper schaffen. Sie nennt es, »Momente zu schaffen, bei sich zu sein«.
Am Tag nach dieser Stunde war die Rückenverspannung verschwunden.
Mit sich weiter entwickelndem Verstehen des Menschen als Körper-Seele-Einheit wurde mir das Fehlen einer integrativen therapeutischen Haltung und Methode in meiner damaligen Arbeit bewusst. Ich suchte und fand mit Gestalttherapie diesen ganzheitlichen Ansatz, der nicht nur Psyche sondern auch Physis umfasst. Der darüber hinaus jedes Ereignis in einem noch weiteren Raum, einem Organismus/Umwelt-Feld betrachtet, in dem soziale, kulturelle, sinnliche, psychische und physische Faktoren interagieren.
Diese Wechselbeziehung zwischen Organismus und Umwelt findet an der Kontaktgrenze statt, an der der Organismus Neues aufnehmen kann. Diese Grenze ist nicht an einem festen Platz zu verorten und sie kann auch ganz innerhalb des Körpers liegen. Sie ist Berührungsstelle zwischen Organismus und Umwelt und wird von beiden gebildet - jede Kontaktaufnahme ist eine beiderseitige Berührung. Das, was diese Berührung vermittelt, nennen wir das Selbst.
Das Selbst ist gleichzeitig Kontaktgrenze und ein System in Bewegung. Es fügt die differenzierten Wahrnehmungen zu einer Einheit zusammen. Ohne klare Eigenwahrnehmung und Wahrnehmung der Umwelt kann sich kein deutliches Interesse zeigen, das sich zu einer erregenden Figur entwickelt und in eine kraftvoll anmutige Bewegung mündet, die als Erfahrung einverleibt werden kann.
Wie differenziert kann Körperwahrnehmung sein? Was kann gespürt werden?
Mit Hilfe unserer Tiefensensibilität (6) registrieren wir, in welcher Position sich zum Beispiel der Kopf, die Wirbelsäule, Arme und Beine und alle Gelenke befinden. Sinneszellen im Bereich von Gelenken, Muskel und Sehnen, aber auch in der Haut und im Ohr sammeln diese Lageinformationen fortlaufend und geben sie an das Nervensystem weiter.
Wir können uns dieses Lageempfindens in jeder Körperhaltung bewusst werden.
Unsere Sinneswahrnehmung erfasst auch Gelenkbewegungen. Bei Bewegungsbeginn können wir uns bewusst werden, in welcher Gelenkposition oder Körperhaltung wir uns befinden und welche Veränderungen im Verlauf der Bewegung stattfinden. Wenn wir uns dabei auf ein Gelenk und dessen Umgebung konzentrieren, wird auch die Muskeltätigkeit spürbar und lokalisierbar, die die Bewegung ermöglicht.
Sie können ausgehend von der vorigen Haltungswahrnehmung weiter forschen:
Ich lade Sie ein, mit den Schultern eine Bewegung auszuführen und beide Schultern nach vorne zu ziehen.
Die Wahrnehmung der Wirkung auf andere Gelenke und Muskeln, bis hin zum Entstehen einer neuen Körperhaltung, kann die räumliche und zeitliche Dimension einer Bewegung deutlich werden lassen.
Unsere Muskulatur befindet sich ständig in unterschiedlichen, schwächeren und stärkeren Spannungszuständen, je nachdem, ob wir uns in Ruhe oder Bewegung befinden, oder in Positionen, die nur mit einem aufeinander abgestimmten Muskeltonus aufrechterhalten werden können. Das »Muskelgefühl« wird uns auch durch Sinneszellen vermittelt. Sie befinden sich im Bereich der Muskulatur.
Muskeltätigkeit steht in enger Verbindung mit Haltungs- und Bewegungswahrnehmung. Muskeln können agonistisch oder antagonistisch wirken - als einzelne Muskeln oder als Muskelgruppe zusammen oder entgegengesetzt arbeiten. Im Sinne ihrer Halte- und Bewegungsfunktion sind sie so aufeinander abgestimmt.
Bei sich verändernden Muskelaktivitäten während eines Kontaktprozesses kann eine Bewegung oder eine Haltung dann manchmal fließend, zusammenhängend und stimmig oder unterbrochen, angehalten oder scheinbar gegenläufig erscheinen.
Feine Tastsinneszellen und Rezeptoren vermitteln uns Empfindsamkeit, körperlich in der Haut und mit allen Sinnesorganen in verschiedenen Körperbereichen - innerlich und äußerlich.
Wir können durch eigene Berührung unsere Körperform, Hautsensibilität und die Beschaffenheit unserer Gewebe wahrnehmen, uns dabei gleichzeitig aktiv und passiv erfahren.
Im Wahrnehmen der »Tastfunktion« unserer Sinnesorgane erleben wir, wie wir die Umwelt berühren und von ihr berührt werden.
Dieser Ausschnitt aus der Vielfalt des Körpererlebens will Ihnen Einblick und Anregung geben.
Alle körperlichen Empfindungswahrnehmungen können Ausgangspunkt phänomenologischer Forschungsarbeit werden, wie ich das weiter oben in einigen Fragestellungen angedeutet habe. In der gestalttherapeutischen Arbeit können sie weiter eröffnet und differenziert werden.
Körperarbeit im Sinne der Gestalttherapie ist am Kontaktprozess orientiert - aus dem schöpferischen Zusammenfügen von Differenziertem entsteht die einheitliche Erfahrung, die im Erlebnis des Kontaktes ein absichtsloses Zusammenwirken von Wahrnehmung und gefühlvoller Bewegung ist.
Eine isolierte Betrachtung von (Körper)-Phänomenen würde dieses Zusammenwirken stören.
Die Selbsterforschung des körperlichen Seins ist die Basis, um sich der Arbeit mit Körperprozessen zu nähern. Im Entdecken empfindlicher und unempfindlicher Körperbereiche, im Erspüren von Bewegung, muskulärer Spannung, Körperhaltung und vegetativer Funktionen folgen Sie den Spuren des Lebens im Körper. Indem sie Anatomie sinnlich erfahren, erkennen Sie Körperstrukturen, sie werden sichtbar im Betrachten ohne Bewertung.
Die phänomenologische Erforschung eines Kontaktprozesses, der Körperlichkeit beinhaltet, bewegt sich entlang des individuellen Empfindungspfades (siehe auch Übung am Beginn dieses Artikels).
Die Aufmerksamkeit richtet sich darauf, was und wie gespürt wird. Wie Empfindungen mit anderen Wahrnehmungen in einem bestimmten Umweltfeld verknüpft werden, was ausgelassen oder hinzugefügt wird, und wie sich Energie im Körper bewegt. So werden Störungen des Erlebenszyklus auch körperlich erfahrbar in Veränderung der Haltung, in angehaltener, zurückgewendeter oder übermäßiger Bewegung, in Abwendbewegungen, in der Anpassung des Muskeltonus und im unterschiedlichen Erleben von Sensibilität.
Das therapeutische Feld wird so um die körperliche Präsenz ergänzt. Eine auch körperlich gewordene Wahrnehmungsfähigkeit erweitert den Raum zum Schöpfen von Interventionen und macht leibliche Antworten möglich, die die prozessuale Diagnostik in der Gestalttherapie unterstützen können.
Jetzt am Ende meines Artikels bemerke ich, dass ich doch etwas ins theoretische Beschreiben gekommen bin. Gleichzeitig bleibt die Gewissheit, dass letztlich nur eigenes Erleben zu einer Erfahrung führt und damit lade ich Sie ganz herzlich ein, für sich selbst zu entdecken und zu finden, wie die Seele im Körper wohnt.
1 Synapse (griech. synapsis = Verbindung) Eine Synapse ist die Stelle, an der physiologisch die Reizübertragung im Nervensystem stattfindet - eine elektrisch-chemische Erregungsübertragung mit Hilfe von Überträgersubstanzen (Neurotransmitter). Die Übertragung kann von einer Nerven- oder Sinneszelle auf eine andere Nervenzelle oder auch auf die Muskulatur erfolgen, um z.B. die Meldung einer Sinneszelle an das Zentralnervensystem zu schicken, oder um eine Muskelkontraktion anzuregen. Die Wirkung an der Synapse kann erregend oder inhibierend (hemmend) sein. Mit »synaptischer Erfahrung« meinen Erv und Miriam Polster die Einheit von Bewusstheit und Ausdruck. Eine Verbindung von Sinneswahrnehmung und Bewegungsreaktion. (Vgl. Erving und Miriam Polster, Gestalttherapie, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2001, S. 204-205)
2 Erving und Miriam Polster, Gestalttherapie, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2001, S. 204-205
3 Gary M. Yontef, Awareness, Dialog, Prozess, Edition Humanistische Psychologie, Köln 1999, Seite 13f.
4 Der Name und die persönlichen Daten dieser Klientin wurden zu ihrem Schutz verändert. Ich bedanke mich an dieser Stelle ganz herzlich bei ihr für ihr Einverständnis zur Veröffentlichung dieser Arbeitssequenz.
5 Es ist möglich, dass dieses Körpersymptom in Verbindung mit Erschöpfung und Stress steht. Wir vereinbaren, dass sie ihre körperlichen Symptome auch mit ihrer Hausärztin bespricht.
6 Als Tiefensensibilität wird in der Medizin die durch Propriozeptoren ermöglichte Wahrnehmung der Lage des Körpers im Raum bezeichnet. In diesem Sinne wird der Begriff hier verwendet.
Hanelore Bauer
geb. 1956, Gestalttherapeutin, Heilpraktikerin und Erwachsenenbildnerin, arbeitet freiberuflich in privater Praxis in Köln.
Im Erstberuf als Physiotherapeutin war sie in verschiedenen Kliniken und selbständig in eigener Praxis tätig. In dieser Zeit entwickelte sich ihr Interesse für Körperwahrnehmung, das zur Grundlage für ihren heutigen Arbeitsschwerpunkt wurde.
Gestaltausbildung u.a. bei Hans Jörg Süss, Gisela Hayo-Mortensen und Hunter Beaumont. Langjährige Supervision bei Erhard Doubrawa und Sigrid Unshelm.
Ausbildung in Reichianischer Körperarbeit bei Michael Smith, sowie Weiterbildungen in Atemtherapie, Shiatsu und Feldenkrais.
Ihr Anliegen ist die spürbare und fühlbare Verbundenheit von Körper und Seele, das sie auch in ihrer Lehrtätigkeit weiter zu geben sucht.
Umfangreiche Lehrtätigkeit in der Erwachsenenbildung zu Themen ganzheitlicher Gesundheitsbildung sowie Lehrtätigkeit in der Ausbildung von Heilpraktikern. Sie entwickelte eine gestalttherapeutische Prüfungsvorbereitung für Heilpraktiker.
Lehrtherapeutin am Gestalt-Institut Köln (GIK)