GESTALTKRITIK: Strategieentwicklung mit dem Gestaltansatz zu verbinden - das klingt verheißungsvoll, aber auch ziemlich fremd. Also zunächst einmal: Was ist Strategieentwicklung?
HANS-PETER ARNOLD: Eine erfolgreiche Entwicklung stellt sich immer dann ein, wenn die Lösung für ein Problem - einen Engpaß - gefunden wird. Also beispielsweise: Wenn Du eine hervorragende Fachausbildung hast, sagen wir als Therapeut, und verdienst damit trotzdem kein Geld, dann ist das Problem, eben der Engpaß Deiner zukünftigen Entwicklung vielleicht, daß Du im Markt für Therapieleistungen noch unbekannt bist. Du mußt dann Deine Energien darauf konzentrieren, bekannter und attraktiver zu werden.
GK: Das klingt ja ganz plausibel. Aber wie kann ich denn - bleiben wir bei dem Beispiel - als Therapeut bekannt und attraktiv werden? Muß ich im Kleinanzeigenteil der Tageszeitung inserieren oder sogar Mailings machen? Und wenn Mailings - an wen sollte ich die schicken?
H.-P.A.: Da sind wir schon genau auf dem richtigen Punkt. Das "an wen" ist nämlich eine der wichtigsten Fragen der Strategieentwicklung. Du hast ja wahrscheinlich nicht genug Energie, um jedem ein attraktives Angebot machen zu können. Deshalb mußt Du Dich auf einen bestimmten Teil der grundsätzlich in Frage kommenden Klientel konzentrieren.
GK: Aber man könnte auch meinen, daß das gefährlich ist. Schließlich verliere ich dabei ja die anderen.
H.-P.A.: Es ist darum wichtig, die Strategieentwicklung als einen Entwicklungsprozeß zu sehen und ihn auch als Prozeß zu leben. Wenn Du schon Klienten hast, so daß Du von Deiner Arbeit gerade leben kannst, und kündigst einem Teil von ihnen, dann ist das in der Tat gefährlich. Wenn Du strategisch vorgehst, dann versuchst Du, im Kontakt mit Deinen Klienten herauszufinden, ob Deine Arbeit mit einer bestimmten Gruppe erfolgreicher verläuft als mit anderen. Diese Gruppe ist die "Zielgruppe" oder auch "Teilzielgruppe". Und auf diese Gruppe konzentrierst Du Dich dann, und zwar geistig.
GK: Das klingt ja wie Grübelei oder Hypnose!
H.-P.A.: Du bist attraktiv, wenn Du Deiner Teilzielgruppe etwas anbieten kannst, was sie braucht, aber nicht woanders bekommt. Dies kannst Du nur im Kontakt mit der Zielgruppe herausfinden. Also: Nicht Grübelei, sondern Kontakt ist angesagt! Die geistige Konzentration besteht darin, die dringenden Probleme Deiner Teilzielgruppe herauszufinden, bei deren Lösung Du helfen willst.
GK: Wenn ich aber so eine Teilzielgruppe noch nicht kenne - wie kann ich dann herausfinden, wer mein Favorit sein soll?
H.-P.A.: Mit welchen Zielgruppen Du besonders gut arbeiten und welche Probleme Du gut lösen kannst, hat etwas mit Dir selber zu tun. Wenn Du seit zehn Jahren als Therapeut arbeitest, ist es wahrscheinlich, daß Du eher psychische als beispielsweise technische oder kaufmännische Probleme lösen kannst. Oder wenn Du beispielsweise ein Elternhaus hattest, in dem es ständig Rollenkonflikte gab, dann könnte dies ein Thema für Dich sein, wenn Du gelernt hast, erfolgreich mit solchen Konflikten umzugehen. Aber es gibt auch andere Indikatoren: Welche Probleme findest Du so anregend, daß Deine geistigen und sozialen Fähigkeiten förmlich explodieren, wenn Dich jemand um Hilfe bittet? Sind es eher Männer oder Frauen, Kinder, Twens oder Rentner, Unternehmer oder Sozialhilfeempfänger, hinter deren Anliegen Du stehst? In Strategieentwicklung fügen wir solche Indikatoren zu einem Mosaik der "persönlichen Stärken" zusammen.
GK: Und wenn ich dann feststellen sollte, daß ich besonders hinter den Anliegen von Sozialhilfeempfängern stehe, bin ich dann überhaupt einen Schritt weitergekommen?
H.-P.A.: Ich verstehe die Frage so, daß nicht alle Zielgruppen gleichermaßen erfolgversprechend sind, und sich z.B. mit Unternehmern mehr Geld verdienen läßt als mit Sozialhilfeempfängern.
GK: Ja, das scheint doch klar zu sein. Oder etwa nicht?
H.-P.A.: Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, und deshalb gibt es für Unternehmer ein weitaus reichhaltigeres Beratungsangebot als für Sozialhilfeempfänger. Ob eine Zielgruppe erfolgversprechend ist, hängt aber auch davon ab, ob Du mit ihr in Kontakt kommen kannst, und ob sie Dir eine Chance gibt. Aus eigener Erfahrung kann ich Dir verraten, daß es ziemlich schwierig ist, in der Gruppe der Unternehmer ein bestimmtes Problem zu isolieren, auf das Du Dich konzentrieren kannst. Das Problem von Sozialhilfeempfängern liegt da vergleichsweise klar vor Augen, und ich stelle mir vor, daß sie Dir eine Chance geben werden, wenn Du versprichst, sie finanziell beweglicher zu machen.
GK: Aber ich muß meine Leistungen doch auch bezahlt bekommen?
H.-P.A.: Genau darin könnte z.B. die Innovation liegen: Deine Leistung für diese Zielgruppe bezahlbar zu machen.
GK: Aber ich bin kein Finanzierungsexperte!
H.-P.A.: Die Innovationen, die Du anbieten mußt, um ein Problem zu beseitigen, brauchen häufig Know- how, das Du nicht hast. Dann brauchst Du Kooperationspartner.
GK: Hast Du das, was Du hier sagst, auch bei Dir selbst angewendet, oder ist das alles nur Theorie?
H.-P.A.: Ich habe vor vielen Jahren völlig unabhängig voneinander ein Fernstudium in der Strategieentwicklung nach der EKS-Methode (Engpaßkonzentrierte Strategie) und eine Gestalttherapie gemacht. Die Ergebnisse der Therapie waren, "strategisch" betrachtet, die Voraussetzung dafür, daß ich das umsetzen konnte, was ich in der Strategieentwicklung lernte: So habe ich den Mut entwickelt, mit anderen Menschen offener in Kontakt zu treten. Und ich konnte dem, was ich gut kann, gegenüber meinen Fehlern und Schwächen mehr Aufmerksamkeit schenken.
GK: Was hat sich dann wirklich verändert?
H.-P.A.: Die deutlichste Änderung war sicherlich, daß ich mich nach 13 Jahren als Angestellter sehr erfolgreich selbständig gemacht habe. Der Grund für den Erfolg schon im ersten Jahr lag darin, daß ich die im Angestelltenverhältnis erbrachten Leistungen für meinen ehemaligen Arbeitgeber fortgesetzt habe, nur eben als freier Mitarbeiter. Ich konnte meinen ehemaligen Arbeitgeber überzeugen, daß wir weiter zusammen-arbeiten anstatt uns, wie sonst allgemein üblich, zu beiderseitigem Schaden abrupt zu trennen.
GK: Das klingt doch so, als sei im Grunde alles beim alten geblieben?
H.-P.A.: Für mich war der erhebliche Unterschied, daß ich freier geworden bin, Leistungen zu entwickeln und zu erbringen, die zu mir als ganzer Person passen, und vor allem Beziehungen zu Zielgruppen auf freiwilliger Basis einzugehen und mir meine Kooperationspartner selber aussuchen zu können. Und eine gewisse Verpflichtung war auch dahinter, denn für meinen ehemaligen Arbeitgeber konnte ich nur noch für eine begrenzte Zeit arbeiten.
GK: Nach der ultimativen Strategie klingt das aber nicht!
H.-P.A.: Also hier wird deutlich, daß eine praktikable Strategie nur da ansetzen kann, wo ich jetzt gerade stehe mit meinen persönlichen Fähigkeiten, Zielgruppenkontakten und Beziehungen zu Kooperationspartnern. Ich springe nicht weg von dem, womit ich bisher mein Geld verdient habe, sondern gehe Schritte in eine neue Richtung und erweitere dabei das Feld meiner Möglichkeiten. Durch meine gestaltorientierten Fortbildungen habe ich Verständnis und Geduld für diesen Prozeß gewonnen. Ich genieße auch die Spannung, die aus dem Neuen erwächst, und werde durch meine kleinen Erfolge ermutigt. Und dieses Vorgehen entspricht sowohl dem Prozeß des persönlichen Wachstums nach dem Gestalt-Ansatz wie auch den Aussagen des EKS-Ansatzes: Vor großen Sprüngen wird gewarnt!
GK: Soweit zu Deiner eigenen Entwicklung. Wie steht es denn mit Deinen Erfahrungen als Berater? Hast Du auch Deinen Mandanten und Klienten helfen können?
H.-P.A.: Ich habe in den vergangenen Jahren etliche junge Unternehmer und größere Unternehmen beraten. Ich kann sagen, daß es bis auf eine Ausnahme wesentliche Veränderungen gegeben hat. Die Art dieser Veränderungen hing dabei wesentlich von den Ausgangsbedingungen ab. In drei Fällen kamen die Klienten erst, als sie bereits in Krisen steckten, die unter betriebswirtschaftlichem Blickwinkel ausweglos schienen. Und das hatte für die Bedingungen, unter denen die Beratung stattfinden mußte, ziemlich drastische Folgen.
GK: Nun ist es ja so, daß viele sagen: "Klar, mir leuchtet es ein, daß ich strategisch vorgehen muß, um Erfolg zu haben. Aber ich kann nicht! Mir fällt nichts ein!" Diese Leute sind einfach blockiert. Da nützt es nichts, ihnen eine rationale Strategie zu empfehlen. Kann man solche Blockaden überwinden?
H.-P.A.: Ein "Blockierter" muß nicht aufgeben, sein Berater sollte die Beratung nicht abbrechen. Denn gibt es Möglichkeiten, Blockaden zu überwinden und aus ihnen die Energie für den Entwicklungsprozeß freizusetzen. Hier kommt "Gestalt" ins Spiel. Jeder Mensch lernt. Solange er jung ist, lernt er besonders viel, intensiv und nachhaltig, aber auch unselektiert. Später verändert die Lernfähigkeit ihre Qualität: Sie wird selektiver, verweigert sich aber der Menge. Einmal Gelerntes bleibt wohl für immer gespeichert. Das Gespeicherte wird zu einem Feld von Denk- und Erlebnismöglichkeiten, und dieses Feld ist die vertraute Heimat ihres Trägers. Auf diesem Feld befinden sich auch die Überlebensstrategien, die der Mensch irgendwann in seinem Leben einmal gebraucht hat. Auf diese Überlebensstrategien greift er unbewußt zurück, wenn ihm ähnliche Situationen begegnen, unabhängig davon, ob seine Reaktionen im gegenwärtigen Zusammenhang angemessen sind oder nicht.
GK: Das ist noch ziemlich allgemein…
H.-P.A.: Jetzt kommt die Anwendung auf die Blockade bei der Strategieentwicklung. Eine neue Strategie fordert von vielen Menschen Verhaltensweisen, die ihnen vorher nicht möglich waren. Über das Bewußtsein mögen solche Verhaltensweisen noch ganz gut nachvollziehbar sein. Doch das Unterbewußtsein wird aufgefordert, die vertraute Heimat zu verlassen. Was das auslöst, kannst Du am besten nachempfinden, wenn Du Dir vorstellst, Du hättest - natürlich nach ausgiebiger Vorbereitung - Deinen ersten Fallschirmabsprung aus 10.000 Metern Höhe vor Dir. Alles in Dir wehrt sich vehement, die Füße wollen da nicht runter, Du fürchtest, alles falsch zu machen und den Sprung nicht zu überleben. Für viele Menschen bedeutet der Aufbruch zur Suche nach dem Erfolg einen Sprung mit ungewissem Ausgang. Wer es gewohnt ist, sich am Arbeitsplatz, in der Familie oder im Verein in jeweils die Rolle zu fügen, die anderen gerade paßt und seine Wünsche nach Macht und Grandiosität in der Verehrung von Führerfiguren, Fußballmannschaften, Stars oder religiösen Vorbildern sublimiert, der mag schon eine bewußte Analyse der eigenen Fähigkeiten und der Wünsche für gefährlich halten: Es könnte immerhin dabei herauskommen, daß eine unüberwindliche Distanz zwischen Ideal und Realität offenbar wird.
GK: Also muß ich mir nur in den Arsch treten und springen! Das ist alles?
H.-P.A.: So würde ich das nicht ausdrücken. Denn Blockaden sind willkommen. Um beim Beispiel vom ersten Absprung mit dem Fallschirm zu bleiben: Wer wollte leugnen, daß unser Unterbewußtsein hier nicht nach Kräften versuchte, uns vor einer tödlichen Dummheit zu bewahren? Denn unter Wertung der bisherigen Erfahrungen kann das Unternehmen ja wirklich nur mit dem Tod enden. Blockaden zeigen uns an, wo die Grenzen unserer Erfahrungen und Möglichkeiten liegen, wo wir negative Konsequenzen befürchten, wo objektive Risiken liegen, wo wir überfordert sind, wo eine Vorgehensweise nicht mit unseren Werten in Einklang steht, wo wir Tabus verletzen. Sie schützen uns vor halsbrecherischen Aktionen und der Verletzung von Rechten anderer. Und sie zeigen uns, ob wir eine bestimmte Vorgehensweise befolgen können, ober ob wir nach einer besseren, das heißt für uns passenderen Lösung suchen müssen.
GK: Sind Blockaden also soetwas wie die Neurosen - Problemlösungen, die sich überlebt haben?
H.-P.A.: Ja. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Wenn Du Deinem siebenjährigen Sohn im November ein Paar Winterstiefel gekauft hast, waren diese eine gute Problemlösung. Probierst Du die Stiefel ein Jahr später wieder an, stellst du fest, daß sie zu eng geworden sind!
GK: Wie also geht man mit Blockaden um?
H.-P.A.: Aus deinen Blockaden mußt Du lernen: beispielsweise, daß wir bei der Definition unserer Stärken mehr am Idealbild unserer Person als an der Wirklichkeit orientiert waren. Daß es dafür andere Stärken gibt (zum Beispiel die Sensibilität für Interessen und Rechte anderer) oder daß wir für bestimmte Schritte unserer Strategieumsetzung einen Kooperationspartner brauchen. Blockaden sind willkommen! Wir sollten sie nicht bekämpfen!
GK: Nicht bekämpfen - was aber dann?
H.-P.A.: Kreativ nutzen! Wie schafft der Fallschirmspringer seinen ersten Sprung? Vielleicht dadurch, daß er sich seiner Ausrüstung und seiner Kenntnisse im Umgang damit vergewissert und sich so davon überzeugt, daß seine innere Blockade unter diesen Umständen unberechtigt ist. Und daß die Aussicht auf das Glücksgefühl beim Fliegen die Selbstüberwindung rechtfertigt. Allerdings hat der Fallschirmspringer gegenüber dem blockierten Strategieentwickler einen entscheidenden Vorteil: Er steht in einer sehr konkreten Situation; das Bedrohliche seines Vorhabens wie auch die Belohnung für die Selbstüberwindung sind ihm bildlich vor Augen. Bei der Strategieentwicklung stehen wir dagegen oft in einem Wald von Ideen, Vermutungen und Fakten und haben keine Bilder davon, was uns einerseits attraktiv vorkommt und was uns andererseits behindert. Der erste Schritt zur Überwindung der Blockaden liegt darin, sich sowohl das Ziel als auch das Hindernis zu verdeutlichen. Das setzt voraus, daß Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Blockade besteht: Versuchen wir, sie beiseite zu wischen, werden wir nie damit fertig. Kannst Du "Willkommen, Blockade!" sagen?
GK: Na gut, ich sage: "Willkommen, Blockade!" Und was sage ich dann?
H.-P.A.: Dann stellst Du Dir Fragen wie: Welche Erfahrungen habe ich gemacht, die mir meine (wirklichen) persönlichen Fähigkeiten so unattraktiv, das Geschäftsfeld so gefährlich, die Zielgruppe so schwer ansprechbar erscheinen lassen?
Welche Umstände lagen bei diesen Erfahrungen vor? Wie waren damals meine Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen? Welche Einstellung hatte ich zu der Situation, und welche Einstellungen hatten die anderen? Welche Stärken zeigten sich in der damals gewählten Problemlösung?
Was unterscheidet die Situation von damals von der Situation jetzt? Was habe ich dazugelernt, und was ist mit den anderen? Sind sie noch dieselben?
Welche "Ausrüstungsgegenstände" fehlen mir noch? Brauche ich noch klarere Ziele, muß ich mich aus bremsenden Strukturen befreien, fehlen mir Anreize, muß ich mehr über meine Zielgruppe wissen, brauche ich Kooperationspartner? Wie könnte ich bekommen, was mir fehlt?
Wie stelle ich mir meine persönliche Lage vor, wenn ich das Hindernis bereits überwunden habe? In welchen Schritten wäre es zu dieser neuen Lage gekommen?
GK: Was erreiche ich mit diesen Fragen?
H.-P.A.: Die zunächst undeutliche, nebulöse Blockade verdichtet sich zu einem Bild, zu einer "Gestalt". Diese wird dann untersucht, um die Frage zu beantworten, ob sie unter den jetzt möglicherweise anderen Umständen noch weiterhin das Recht haben soll, unser Verhalten zu beeinflussen. Und wenn sie ihre Daseinsberechtigung noch hat, müssen wir uns fragen, was wir an den Umständen ändern müßten, damit sie überflüssig wird. Alternativ können wir fragen: Was sagt uns das alles über unsere Fähigkeiten, und sollten wir damit nicht besser andere Ziele ansteuern? Und außerdem: Welche persönlichen Ressourcen schlummern in uns, die eine Veränderung der Lage ermöglichen würden, wenn wir ihnen einmal freien Lauf ließen?
GK: Kannst du das an einem konkreten Fall erläutern?
H.-P.A.: Ja, an einem überforderten Jungunternehmer, nennen wir ihn Gerhard Weigel. Er hatte vor etwa zehn Jahren mit drei Partnern einen Produktions- und Handelsbetrieb gegründet, um außergewöhnliche Kunstgewerbeartikel herzustellen und zu verkaufen. Nachdem der erhoffte finanzielle Erfolg ausblieb, hatten ihn seine Partner nach und nach verlassen. Weigel war schließlich Alleingeschäftsführer, beschäftigte drei Mitarbeiter, arbeitete rund 60 Stunden in der Woche, hatte seit acht Jahren keinen Urlaub mehr gemacht und wirkte stets müde und abgespannt. Wie sich schnell herausstellte, war Weigels kreatives Potential sehr klein geworden. An eine systematische Strategieentwicklung war gar nicht zu denken. Seine eigenen Stärken sah er mehr im künstlerischen Bereich, die aktuell zu lösenden Engpässe lagen aber darin, für die Bereiche Vertrieb und Verwaltung qualifizierte Unterstützung zu finden, Energie für die Entwicklung von Innovationen freizusetzen, einen neuen Verkaufskatalog zu erstellen, Kontakte zur Zielgruppe zu halten, EDV-Probleme zu lösen und so weiter… und das alles bei einem mehr als engen finanziellen Spielraum.
Weigel wurde eingeladen, bei jeder Sitzung über genau das Problem zu sprechen, das ihn zur Zeit am meisten drückte. Dann wurden Lösungen entwickelt, die ihm mit dem wenigen Rest seiner Energie noch umsetzbar erschienen. Bald kristallisierte sich heraus, daß Weigel eine Begabung dafür hatte, außergewöhnlich gut andere Menschen aus seinem Umfeld zu akzeptablen Konditionen für eine Mitarbeit zu motivieren. Er hatte es beispielsweise anläßlich einer Verkaufsmesse geschafft, gleich vier Vertreter zu gewinnen, die seine Produkte mochten und ohne Fixum bereit waren, sich dafür zu engagieren.
Weil er jedoch viele der gemeinsam erarbeiteten Lösungen nicht oder viel zu inkonsequent umsetzte, wurde eines Tages eine Sitzung vereinbart, in der die Beratungsergebnisse ausgewertet werden sollten. Überraschenderweise war Weigels Fazit überaus positiv: Er habe in dem abgelaufenen Jahr gelernt, was er hätte tun müssen, um das Unternehmen wieder rentabel zu machen. Ihm sei dabei klar geworden, daß er dies unmöglich allein tun könne, manches davon auch gar nicht tun wolle. Deshalb habe er mit einem Konkurrenten Kontakt aufgenommen, damit dieser einen Teil des Betriebes übernehmen solle. Gemeinsam wurde nun daran gearbeitet, einen fairen Preis für die immateriellen Werte des Betriebes zu ermitteln. Wäre man nach den üblichen Bewertungsmethoden vorgegangen, hätte der Erlös nicht einmal ausgereicht, um die Verbindlichkeiten zu tilgen. Weigel verkaufte die Mehrheit seiner Anteile zu seinen Wunschkonditionen und hatte nun seinen "Traumjob" gefunden: Er war in seinem Unternehmen als Art Direktor tätig, während seine neuen Partner Marketing, Organisation und Verwaltung übernahmen. Wenige Monate später war Weigel wie ausgewechselt: Er steckte voller Energie, hatte seinen alten Humor wiedergefunden und plante seinen "ersten" Urlaub.
GK: Wie kann man diese Entwicklung interpretieren?
H.-P.A.: Weigel hatte sich durch ständige Wiederholung eines "bewährten" Lösungsmusters - nämlich Arbeit ohne Ende als Krisenbewältigungsrezept - in den Burn-out und damit in eine (fast) sichere Blockade hineinmanövriert, deren wirtschaftliche Folgen schon absehbar waren. Über kurz oder lang hätte Weigel tatsächlich alles allein machen müssen. Die einzige Chance bestand darin, ihm in alle Winkel seines Desasters zu folgen, denn für eine andere Sichtweise war keine Energie mehr vorhanden. Eines Tages entdeckte Weigel dann seine Fähigkeit, andere Menschen für seine Ziele zu motivieren. Das machte ihm Mut, in diesem Rahmen nach einer Lösung zu suchen, die er dann auch fand und zielstrebig umsetzte.
GK: Kannst Du für unsere Leser bitte zum Schluß noch einmal zusammenfassen, welche kreativen Kräfte in der Bearbeitung von Blockaden liegen?
H.-P.A.: Die Blockade zeigt die Grenzen der bisherigen Möglichkeiten auf. Sie ist deshalb so etwas wie eine Leitplanke, die die gegenwärtig aktiven persönlichen Stärken markiert. Das eröffnet die Chance, die Strategie passender zu machen.
Die Blockade veranlaßt dazu, sich bewußt zwischen Bewahrung und Erweiterung der Werte, Kenntnisse und Fähigkeiten zu entscheiden. Das stärkt das Selbstbewußtsein und läßt Dich überzeugender erscheinen, gleichgültig, welche Entscheidung Du triffst.
Jenseits der "Leitplanken" liegen weitere Möglichkeiten, von denen die Blockade abschirmt. Man hat die Möglichkeit, seine innere Landkarte zu verändern, indem man neue Wege geht!
Darum ist erfahrungsgemäß zu erwarten, daß Du nach Bearbeitung der "Blockade" Deine Strategie besonders kreativ und konstruktiv weiterentwickelst. Wenn wir - wie im Rahmen einer Strategieentwicklung - neue Wege ausprobieren, gestalten wir unsere innere Landkarte neu. Und das heißt, daß einige Leitplanken beseitigt werden müssen. Um diese Aufgabe zu meistern, müssen wir uns so eingehend mit unseren Blockaden befassen, daß sie uns bewußt werden und damit einer Prüfung unterzogen werden können.
GK: Vielen Dank für dieses Gespräch.
Hans-Peter Arnold
Jahrgang 1957, Diplom-Kaufmann und Wirtschaftsprüfer, Gestalt-Organisationsberater und -Coach in eigener Praxis in Essen und Erkrath bei Düsseldorf.
Ausbildung in Gestalt-Organisationsberatung bei Edwin C. Nevis, Jonno Hanafin und Claire Stratford (Gestalt Institute of Cleveland). Weiterbildung bei Gerhard Fatzer und Wolfgang Looss.
Fortbildung in Gestalttherapie bei Erhard Doubrawa, Daniel Rosenblatt und Erving und Miriam Polster.
Absolvent des Strategielehrgangs "EKS Engpaßkonzentrierte Strategie" beim Informationsdienst der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Hans-Peter Arnold bietet im Gestalt-Institut Köln / GIK Bildungswerkstatt folgenden Workshop für TherapeutInnen, BeraterInnnen etc. an: "Strategien für das berufliche Coaching" (4. - 5. 5. 2001; hier finden Sie weitere Informationen zum Workshop).