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Frank-M. Staemmler
Zum Verständnis regressiver Prozesse in der Gestalttherapie


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritk verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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 Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 1-2000):

Frank-M. Staemmler
Zum Verständnis regressiver Prozesse in der Gestalttherapie

 

Foto: Frank-M. StaemmlerFrank-M. Staemmler

Der folgende Text stellt die leicht überarbeitete Abschrift eines Vortrags (1) dar, den ich auf den "10. Münchner Gestalttagen" (13.-15. 9. 1996) (2) und auf dem Kongreß der AGPF in München (2.-5. 10. 1997) gehalten habe. Er befaßt sich mit den folgenden Fragen:

1. Was verstehe ich als Gestalttherapeut unter einem "regressiven Prozeß"?

2. Woran ist er zu erkennen?

3. Welche Funktionen kann er für die KlientInnen erfüllen?

4. Welche Interventionen sind sinnvoll, welche eher kontraindiziert?

 

1. Einleitung

Das Thema regressiver Prozesse hat mich im Laufe meiner 20-jährigen Arbeit als Gestalttherapeut und als Ausbilder immer wieder intensiv beschäftigt. Meine Beschäftigung damit war, wie ich zugeben muß, allerdings nicht immer ganz freiwillig, sondern wurde mir manchmal durch die Ereignisse während der Therapien mit bestimmten KlientInnen geradezu aufgezwungen. Manchmal haben mich solche Ereignisse fasziniert und zur genaueren Untersuchung herausgefordert, manchmal waren sie mir aber auch unangenehm und bis zu einem Gefühl der Überforderung hin lästig.

 

Meine Art, regressive Prozesse zu verstehen und mit ihnen zu arbeiten, hat sich in dieser langen Zeit immer wieder verändert. Dabei haben die erwähnten emotionalen Resonanzen, die sie in mir auslösten, natürlich auch eine wichtige Rolle gespielt. Es gab, grob gesprochen, einerseits Phasen, in denen ich solche Prozesse begrüßte oder gar mit bestimmten Methoden förderte, weil ich meinte, damit die von den KlientInnen angestrebte persönliche Veränderung unterstützen zu können. Andererseits gab es Phasen, in denen mir solche Prozesse eher als Störungen des therapeutischen Fortschritts erschienen und ich daher bemüht war, ihr Auftreten zu umgehen oder ihre Intensität einzudämmen.

 

Was sich damals in zwei unterschiedlichen Arten von persönlichen Resonanzen äußerte bzw. in zwei verschiedenen Arten, mit regressiven Prozessen umzugehen, konnte ich erst in den letzten Jahren in ein für mich stimmiges Konzept integrieren. Dafür war es allerdings nötig, einige traditionelle Vorannahmen über Regression grundsätzlich zu hinterfragen, die mir vorher so selbstverständlich waren, daß ich gar nicht auf die Idee kam, sie in Frage zu stellen. Mein heutiges Verständnis von regressiven Prozessen möchte ich Euch nun gerne erläutern. Damit das möglich ist, muß ich aber auch bei Euch vermutlich ein paar Selbstverständlichkeiten in Zweifel ziehen. Darum beginne ich mit einer kurzen Darstellung der traditionellen Vorstellung von Regression.

 

 

2. Das traditionelle Bild von Regression und

seine Implikationen

 

Im Rahmen psychoanalytischen Denkens, das heute meistens den Hintergrund darstellt, wenn von Regression die Rede ist, "... bezeichnet man mit Regression ein Zurück von einem bereits erreichten Punkt aus bis zu einem vor diesem gelegenen Punkt" (Laplanche u. Pontalis 1972, 436).

 

Dieses "Zurück" wird unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet, von denen ich die zwei erwähnen will, die für meine Überlegungen am wichtigsten sind. Diese beide Gesichtspunkte werden als der "zeitliche" und als der "formale" Aspekt von Regression bezeichnet:

 

Zeitlich gesehen setzt die Regression eine genetische (3) Reihenfolge voraus und bezeichnet die Rückkehr des Subjekts zu Etappen, die in seiner Entwicklung bereits überschritten sind ... Formal gesehen bezeichnet die Regression den Übergang zu Ausdrucksformen und Verhaltensweisen eines vom Standpunkt der Komplexität, der Strukturierung und der Differenzierung aus niedrigeren Niveaus (Laplanche u. Pontalis a.a.O.; vgl. auch S. Freud 1900/1972, 524).

Diesem Denkmodell zufolge bedeutet das "Zurück" im Rahmen einer Regression erstens, daß der betreffende Mensch in seiner Entwicklung sozusagen 'jünger' wird; er bewegt sich auf der Zeitachse vorübergehend quasi rückwärts wie in einer 'Zeitmaschine'. Zweitens bedeutet das "Zurück" eine abnehmende Komplexität und Differenzierung in den psychischen Phänomenen, die an dem betreffenden Menschen zu beobachten sind.

 

Nun sind diese beiden Aspekte im psychoanalytischen Denken (und oft auch sonst) so eng miteinander verknüpft, daß meistens an beide zugleich gedacht wird. In der Regel heißt jenes "Zurück" daher: Der Mensch begibt sich auf ein psychisches Niveau, das sowohl einem früheren, als auch einem an Komplexität und Differenzierung ärmeren Stadium seiner Entwicklung entspricht. Dabei wird meist stillschweigend angenommen, daß frühere Entwicklungsstadien auch immer weniger komplex und differenziert seien.

 

In unserem Zusammenhang ist noch eine weitere theoretische Annahme wichtig, die den traditionellen Regressionsmodellen mehr oder weniger explizit zugrundeliegt. Es geht um die Annahme, daß sich Entwicklung in der Form bestimmter Entwicklungsphasen vollziehe, die der Mensch der Reihe nach durchläuft. Das älteste Beispiel hierfür ist Freuds (1953, 17) Theorie von der oralen, analen und phallischen Phase; weithin bekannt ist auch Margaret Mahlers et al. (1980) Phasentheorie. Wenn man die Annahme von solchen Phasen miteinbezieht, kann man das Entwicklungsmodell, das im traditionellen Regressionsbegriff enthalten ist, etwa so darstellen:

 

Klassisches psychoanalytisches Entwicklungsmodell

Die Graphik soll zeigen, wie eine Phase auf die andere folgt und die jeweils vorhergehende dabei ablöst; d. h. wenn ein Mensch in Phase II eingetreten ist, hat er, von relativ kurzfristigen Übergängen einmal abgesehen, Phase I verlassen. Wenn er Phase II hinter sich läßt, tritt er in Phase III ein usw.

 

Daraus ergibt sich dann der Begriff der Regression, wie er meist verstanden wird: Ein Mensch, der sich seinem Lebensalter entsprechend z. B. in Phase IV oder einem späteren Zeitpunkt befindet und die der Phase IV zugeordneten Erlebensweisen entwickelt hat, gilt per definitionem als regrediert, wenn in seinem Erleben zeitweilig Charakteristika dominieren, die für eine der früheren drei Phasen typisch waren. Jemand, der eine Phase gar nicht erreicht hat, die seinem kalendarischen Lebensalter zugeordnet wird, gilt damit als auf eine frühere Phase fixiert. Diese Fixierung wird dann zu einem wichtigen Kriterium für die Diagnose, wie sie innerhalb dieses Denkmodells verstanden wird. Die meisten von Euch kennen vielleicht jene grobe Unterteilung, nach der zwischen psychotischen, narzißtischen bzw. borderlineStörungen und Neurosen unterschieden wird; es gilt die Faustregel: Je früher die Störung bzw. Fixierung eingetreten ist, desto schlimmer für die betroffenen Personen, denn sie haben die folgenden Entwicklungsphasen mit deren höherem Niveau an psychischer Komplexität und Differenzierung gar nicht oder nur mangelhaft erreicht.

 

Ich möchte jetzt nicht näher auf die vielen Belege eingehen, die die moderne Entwicklungsforschung inzwischen dafür vorgelegt hat, daß eine derartig grobe Faustregel schlicht falsch ist. Wer sich dafür interessiert, kann dazu entweder das sehr populärwissenschaftlich geschriebene Buch von Ursula Nuber mit dem Titel "Der Mythos vom frühen Trauma" (1995) oder das sehr viel umfassendere und anspruchsvollere zweibändige Werk von Petzold über "Psychotherapie und Babyforschung" (1993 u. 1995 vgl. dazu Staemmler 1996) lesen.

 

Ich möchte aus Petzolds Buch nur zwei Sätze zitieren:

Die Forscher haben mit Enttäuschung feststellen müssen, daß die Vorhersagbarkeit für Verhalten von der frühen Kindheit auf spätere Jahre gering ist ... In ähnlicher Weise wurden Kliniker, die von den unauslöschlichen Wirkungen früher Erfahrungen ausgegangen waren, durch gut belegte Fälle überrascht, in denen ein größeres Defizit oder Trauma der frühen Kindheit ohne nachhaltige Wirkung blieb (Petzold 1993, 279).

 

Zu ähnlichen Zweifeln an den traditionellen Konzepten von Regression und 'früher Störung' zwingen Forschungen über die psychischen Folgen von schweren Traumatisierungen im Erwachsenenalter, wie sie z. B. durch Kriegserfahrungen, Terror, Folter oder Vergewaltigung hervorgerufen werden (vgl. Herman 1993). Sie können nämlich durchaus zu Störungsbildern führen, die die wesentlichen Charakteristika der sogenannten 'frühen' Störungen aufweisen (vgl. Staemmler 1997).

 

Die Widersprüchlichkeit dieser Konzepte zeigt sich allerdings nicht nur im Bereich gravierender psychischer Störungen, sondern auch in ganz alltäglichen Situationen. Im psychoanalytischen Denkmodell werden Verhaltens- und Erlebensweisen von Erwachsenen, z. B. das Spielen, als regressiv betrachtet, sobald sie Ähnlichkeit mit denen haben, die Kinder noch häufiger an den Tag legen, oder auch wenn sie, wie z. B. eine künstlerische Betätigung oder das Träumen, auf kognitiven Mustern beruhen, an deren Stelle bei Erwachsenen mehrheitlich andere Muster getreten sind. Welches merkwürdige Bild von Kindern und Erwachsenen sich daraus am Ende ergibt, kann man aus dem folgenden Zitat entnehmen:

Liebe, Sexualität, Freude, Spiel, Kreativität erfordern die Fähigkeit benigne regredieren zu können, einzutauchen ins Erleben, ohne sich zu verlieren, und stabil wieder aufzutauchen (Petzold 1989, 71).

 

Liebe, Sexualität, Freude, Kreativität, Eintauchen ins Erleben etc. erfordern demnach - man höre und staune - kindliche Fähigkeiten! Es gibt sicher viele Erwachsene, denen diese Möglichkeiten leider nicht zur Verfügung stehen. Das ist in meinen Augen eine bedauerliche Form des Erwachsenseins, aber deswegen doch nicht die Indikation, wieder zum Kind zu werden, auch nicht "benigne" zu regredieren.

Soviel zum traditionellen Konzept von Regression und seinen Implikationen. Ich komme jetzt zu meinen Gedanken für

 

 

3. Ein gestalttherapeutisches Verständnis

regressiver Prozesse

 

Ich fange mit ein paar Bemerkungen zum berühmtberüchtigten "Hier und Jetzt" an. Dem Schlagwort vom "Hier und Jetzt" liegt das von Kurt Lewin formulierte "feldtheoretische Prinzip der Gleichzeitigkeit" zugrunde:

 

Man muß sich unbedingt darüber im klaren sein, daß die psychologische Vergangenheit und die psychologische Zukunft gleichzeitige Teile des psychologischen Feldes darstellen, wie es zur gegebenen Zeit t existiert. Die Zeitperspektive wechselt fortwährend. Nach der Feldtheorie hängt jede Art von Verhalten vom gesamten Feld einschließlich der Zeitperspektive zur gegebenen Zeit ab, nicht aber darüber hinaus noch von irgendeinem vergangenen oder zukünftigen Feld oder dessen Zeitperspektive (1963, 96 - meine Hervorhebungen).

 

Meine Vergangenheit, an die ich mich bewußt erinnere, aber auch alle psychischen Konsequenzen, die meine Vergangenheit in mir hinterlassen hat, ohne daß ich mir ihrer bewußt bin - meine Vergangenheit ist immer so, wie sie sich mir hier und jetzt darstellt. Erinnerungen können sich verändern und tun es nachweislich häufig, bestimmte Dinge können irrelevant werden und in Vergessenheit und Bedeutungslosigkeit geraten, andere mögen aufgrund aktueller Bedürfnisse wichtiger werden oder einen anderen Stellenwert bekommen. Erfahrungen, die mir früher schlaflose Nächte beschert haben, lassen mich nur noch schmunzeln, wenn ich heute an sie zurückdenke usw. Und mit jeder neuen Erfahrung, die ich mache und mit der mein Erfahrungsschatz sich insgesamt erweitert, ändert sich der Kontext jeder einzelnen früheren Erfahrung, der wiederum deren heutige Bedeutung für mich modifiziert.

 

Wenn ich also im zeitlichen Sinne regrediere, mache ich keine Zeitreise in die Vergangenheit, ich werde nicht der, der ich damals war. Vielmehr bleibe ich der, der ich heute bin, und aus meiner heutigen Perspektive versetze ich mich mental in eine frühere Zeit. Das ist meine heutige mentale Aktivität, die unter meinen heutigen psychischen Vorzeichen stattfindet. Man spricht hier repräsentationstheoretisch manchmal von einer "mentalen Simulation". Abgesehen zunächst vom Element der Absicht, das bei Regressionen nicht immer gegeben ist, ist eine solche mentale Simulation in etwa zu vergleichen mit einer guten schauspielerischen Leistung, bei der es einem Schauspieler gelingt, möglichst naturgetreu eine andere Person aus einer anderen Zeit zu imitieren. Dabei mag er sich so ähnlich fühlen und so ähnlich verhalten wie diese Person, aber genau das ist seine heutige Leistung als Schauspieler. Er ist nicht die dargestellte Person, er tut so als ob er sie sei, und er tut das hier und jetzt, aus seinen heutigen Motiven als Schauspieler heraus - vielleicht um Geld zu verdienen, vielleicht aus Spaß, vielleicht für sein Image.

 

Therapeutisch wichtig ist dabei, daß die Person, die regrediert, nie nur diejenige ist, in deren Zustand sie sich vordergründig gesehen begibt. Sie ist vielmehr immer mehr als diese, nämlich auch diejenige, die diese regressive Aktivität heute und aus aktuellen Motiven heraus unternimmt, sei dies nun vorsätzlich beabsichtigt oder nicht. So gesehen, muß man konsequenterweise die Schlußfolgerung ziehen, daß es eine zeitliche Regression gar nicht geben kann. Es gibt kein Zurück in die Vergangenheit, es gibt nur unsere heutige, sich immer wieder verändernde Erinnerung an sie, die wir mit unseren heutigen Mitteln wiederbeleben können.

 

Um diese Tatsache zu verstehen, reicht das Modell nicht aus, das ich mit der Graphik 1 dargestellt hatte: Jemand, der im Rahmen dieses Modells auf eine frühkindliche Phase regrediert, hätte während dieses Vorgangs eben jene komplexeren und differenzierteren Möglichkeiten nicht mehr zur Verfügung, die er benötigt, um genau jene mentale Simulation zu vollziehen, die er gerade praktiziert. Ein Säugling kann sich, so weit man weiß, noch nicht in eine andere als die aktuelle eigene Situation hineinversetzen.

 

Wir brauchen daher ein anderes Entwicklungsmodell, wenn wir verstehen wollen, womit wir es zu tun haben. Ich übernehme dieses Modell im Prinzip, nicht in seiner konkreten Ausformung, von Daniel Stern (1992, 55). Es sieht dann so aus:

 

Entwicklungsmodell nach Stern

Der Unterschied zu Graphik 1 ist offensichtlich: In dem Modell von Stern gibt es keine Phasen, die ihre jeweiligen Vorläufer ablösen. Es gibt vielmehr psychische Bereiche, die sich zwar zeitlich nacheinander entwickeln, dann aber parallel zu den anderen Bereichen bestehen bleiben. Stern betont:

Alle Bereiche ... bleiben während der Entwicklung aktiv. ... keiner von ihnen verkümmert, wird obsolet oder fällt in der Entwicklung hinter andere zurück. Und wenn alle Bereiche einmal verfügbar sind, bedeutet dies mitnichten, daß einer von ihnen in einer bestimmten Altersphase zwangsläufig den Vorrang beanspruchen wird. (...) Wenn ein Bereich einmal ausgebildet ist, bleibt er für immer als gesonderte Form sozialen Erlebens und Selbsterlebens erhalten. Keiner geht im Erleben des Erwachsenen verloren. Es findet nur eine Weiterentwicklung statt. Dies ist der Grund, warum wir es vorziehen, von Bereichen ... statt von Phasen oder Stadien zu sprechen (a.a.O., 54f. - meine Hervorhebung).

 

Das heißt: Auch was zuerst entstanden ist, hat man nicht hinter sich gelassen und durch etwas anderes ersetzt. Es hat sich vielmehr erstens weiterentwickelt und ist zweitens um vieles andere ergänzt worden. Es besteht also unter der heutigen Zeitperspektive fort. Kein Mensch muß daher eine phantastische Zeitreise unternehmen, wenn er sich bestimmte psychische Möglichkeiten zugänglich machen möchte, nur weil sie in früher Kindheit entstanden sind, denn diese sind ja bis heute existent. Was erforderlich ist - und jetzt kommen wir auf einen zentralen gestaltpsychologischen und gestalttherapeutischen Begriff -: Der oder die Betreffende muß diese heute vorhandenen Möglichkeiten in den Vordergrund bringen können, also in der Lage sein, nach Bedarf einen Vordergrund-Hintergrund-Wechsel zwischen den verschiedenen Bereichen zu vollziehen.

 

Bevor ich dazu komme, aus meinen bisherigen Gedanken mein Verständnis regressiver Prozesse in der Gestalttherapie abzuleiten, möchte ich von einem Beispiel berichten, das ich in einer meiner Therapiegruppen erlebt habe:

Eine Teilnehmerin hatte mit offensichtlich starker Anteilnahme die emotional intensive Arbeit eines anderen Gruppenmitglieds verfolgt. Noch bevor dieser Prozeß abgeschlossen war, platzte sie damit heraus, wie sehr das Gesehene sie bewegt und an eigene, nicht genau faßbare Erfahrungen erinnert habe. Sie wisse nicht, was sie mit den vielen Gefühlen anfangen solle, die in ihr aufgebrochen seien, sie könne auch nicht sagen, womit diese eigentlich in Verbindung stünden, sie fühle sich nur völlig aufgelöst und hilflos.

 

Die Dringlichkeit, mit der sie sprach, wirkte auf die meisten TeilnehmerInnen und auch auf mich übertrieben. Ihr innerer Aufruhr war zwar offensichtlich, dennoch strahlte sie etwas Unstimmiges aus, das zunächst allgemein Irritation und Zögern auslöste. Als sie bemerkte, daß sie nicht sofort die erhoffte Reaktion bekam, geriet sie in helle Panik, brach in Tränen aus, appellierte mit dramatischen Worten und Gesten an die Anwesenden, ihr doch endlich die dringend nötige Hilfe zu gewähren, und fragte mit hilflosen Blicken in die Runde, ob sie denn keiner hier verstehen könne.

 

Dies alles nahm nur wenige Minuten in Anspruch. Doch die kurze Zeit hatte genügt, die Situation, in der sich die Klientin auf der einen Seite und die anderen TeilnehmerInnen auf der anderen Seite befanden, beträchtlich zuzuspitzen. Sie war in eine nicht zu übersehende innere Not geraten, in der ihr offenbar nur noch ihre Panik und dramatische Appelle zur Verfügung standen. Beides machte jedoch einen nach wie vor unstimmigen Eindruck und löste unter den Gruppenmitgliedern eine Art Lähmung aus, aus der auch diese sich nicht leicht befreien zu können schienen. Dadurch wiederum verstärkte sich die Notlage der Klientin zusätzlich.

 

Ich ging zu ihr, setzte mich neben sie und berührte sie mit der Hand an der Schulter. Ich sagte ihr in freundlichem Ton, daß ihre Not bei mir ankäme und ich gerne verstehen würde, warum ich mich zugleich aber von der Art, wie sie sie zum Ausdruck brachte, auf eine unbestimmte Weise unangenehm unter Druck gesetzt fühlte, so daß es mir im ersten Moment schwer gefallen sei, auf sie einzugehen.

 

Ihre erste Reaktion darauf war zwiespältig: Ich hatte den Eindruck, daß sie sich etwas entspannte, und meinte zugleich, einen argwöhnischen Blick in ihren Augen zu sehen. Dann fragte sie mich mit einer Mischung aus Skepsis und Zutrauen, ob ich sie etwa beruhigen wolle. Ich brauchte nur fragend das Wort "... beruhigen?" aufzugreifen, und ein Prozeß kam in Gang, in dessen Verlauf sich der Hintergrund für ihr Verhalten klärte. Sie hatte die Erfahrung gemacht, daß ihre Gefühle, auch und gerade wenn sie für sie wichtig waren, beschwichtigt und gedämpft worden waren, und die Konsequenz daraus gezogen, ihnen in Notsituationen auf möglichst nachdrückliche Weise Ausdruck zu geben. So hoffte sie, doch noch gehört zu werden. Wenn das nicht gleich erfolgreich war, meinte sie, sozusagen 'noch einen drauflegen' zu müssen.

 

Die Folge war jener Eindruck von Übertreibung bei den anderen Anwesenden, der diese veranlaßte, sich innerlich eher zu distanzieren, was wiederum für die Klientin Anlaß war, ihrerseits zu eskalieren.

Die Möglichkeit dieser Klientin, auf sich aufmerksam zu machen, bestand zunächst offenbar nur in einem Verhalten und Erleben, das man "Dramatisierung" nennen könnte. Man könnte annehmen, daß diese Verhaltensweise bis in eine frühkindliche Zeit zurückreichte, in der es durchaus sinnvoll und die vielleicht einzige Chance war, möglichst laut zu schreien, um die gewünschte Hilfe herbeizurufen - eine Zeit vielleicht, in der die Klientin sich noch nicht selbst bewegen konnte, geschweige denn in der Lage war, mit klaren Worten ihren Wünschen Ausdruck zu geben. So betrachtet, könnte man ihr Verhalten als eine zeitliche Regression verstehen. Dabei würde man meines Erachtens aber weder ihr als ganzer Person noch der Gesamtsituation gerecht. Denn sie ist offensichtlich kein Baby mehr, gerade diese Tatsache führt in ihrer Umgebung zu jener Irritation, durch die ihr dann erst einmal vorenthalten bleibt, was sie möchte. Bei einem Baby wäre es außerdem merkwürdig, therapeutisch zu intervenieren; man würde wohl lieber versuchen herauszufinden, was ihm fehlt, und es ihm dann geben. Man würde sein Verhalten vermutlich als angemessen empfinden.

 

Bei einer erwachsenen Frau wirkt es aber im Gegenteil merkwürdig, wenn sie sich verhält wie ein kleines Kind, eben weil sie es schon lange nicht mehr ist und mit einem solchen Verhalten hinter ihre sonstigen Möglichkeiten zurückfällt. Genau darin besteht ja auch ihr Problem: Sie kann Möglichkeiten, die ihr ansonsten durchaus zur Verfügung stehen, nicht realisieren. Anders gesagt, ihr Verhaltensrepertoire reduziert sich, wird weniger komplex und weniger differenziert. Wenn ihre Strategie nicht funktioniert, tut sie mehr desselben, anstatt andere Möglichkeiten in den Vordergrund zu holen und umzusetzen. Im oben genannten formalen Sinne könnte man ihr Verhalten daher durchaus als regressiv bezeichnen.

 

Ich komme damit zu meiner Definition von einem regressiven Prozeß: Ich verstehe darunter eine (vorübergehende oder länger andauernde) Einschränkung in der aktuellen Möglichkeit eines Menschen, alle bereits einmal erworbenen Kompetenzen seinem Wunsch entsprechend zu realisieren. Solche Einschränkungen können sowohl früher wie auch später erworbene Kompetenzen betreffen.

 

Ich würde darum auch von einem regressiven Prozeß sprechen, wenn es einem Menschen nicht gelingt, sein schlaues Geschwätz zu beenden und auf eine andere Art in Kontakt zu treten, obwohl dies eigentlich seinen Bedürfnissen entspräche. Andererseits würde ich viele Vorgänge nicht als regressive Prozesse verstehen, in denen Menschen eine Reihe ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen nicht nutzen, einfach weil es ihren Bedürfnissen und/oder der Situation, in der sie sich gerade befinden, nicht gerecht werden würde. In solchen Situationen werden bestimmte Kompetenzen zwar nicht realisiert, aber dies entspricht auch dem Willen bzw. den Bedürfnissen der betreffenden Person. Wenn ich z. B. auf dem Fest heute abend tanze, werde ich voraussichtlich darauf verzichten, meine Fähigkeit zum theoretischen Denken über Regression zu aktivieren. Das betrachte ich dann nicht als regressiv.

 

Damit verwende ich den Regressionsbegriff ganz anders als es im psychoanalytischen Kontext üblich ist. Ich spreche darum im gestalttherapeutischen Kontext der Klarheit halber von einem "regressiven Prozeß", nicht von einer "Regression".

 

Ich hoffe, daß damit die ersten beiden Fragen beantwortet sind, die ich anfangs formuliert hatte - nämlich die Frage, was unter einem regressiven Prozeß zu verstehen ist, und die Frage, woran ein regressiver Prozeß zu erkennen ist. Im Zusammenhang mit der zweiten Frage scheint mir aber noch eine wichtige Ergänzung angebracht: Da es sich bei einem regressiven Prozeß um etwas handelt, das sich zu einem großen Teil im subjektiven Erleben der KlientInnen abspielt, kann eine Therapeutin aufgrund ihrer Eindrücke vom Klienten immer nur die Vermutung aufstellen, daß es sich um einen regressiven Prozeß handelt (vgl. Staemmler 1994). Ohne entsprechende Auskünfte des Klienten über seine interne Erfahrung läßt sich eine solche Diagnose nie mit Sicherheit stellen. In anderen Worten: Unabhängig davon, ob Therapeutin und Klient nun das Wort "regressiv" benutzen oder nicht, sie können immer nur gemeinsam, im Rahmen ihres Dialogs erkennen, ob es sich inhaltlich um einen regressiven Prozeß handelt. Damit komme ich nun zu den letzten beiden Fragen:

4. Funktionen regressiver Prozesse und therapeutische Interventionen

 

Zu diesem Zweck möchte ich nochmal auf das Beispiel von der vorhin erwähnten Klientin zurückgreifen, die in für sie schwierigen Situationen zu Dramatisierungen neigte. Wir hatten schon festgestellt, daß sie durch ihr Verhalten auf der unmittelbaren Realitätsebene - damit meine ich die Ebene ihrer Interaktion mit den anderen GruppenteilnehmerInnen - zunächst nicht zu dem kam, was sie wollte. Ihre Verhaltens- und Erlebensmöglichkeiten waren so reduziert, daß ihr bestimmte Fähigkeiten nicht mehr zur Verfügung standen, die sie ansonsten durchaus in ihrem Repertoire hatte. Auf einer anderen Ebene der Realität, die darin bestand, daß sich all das in einer Therapiegruppe abspielte, hatte ihr Verhalten aber durchaus einen Sinn: Sie zeigte damit einen Bereich ihrer Person, in dem sie Schwierigkeiten hatte. Dadurch schaffte sie eine Voraussetzung dafür, daß ihre Probleme bearbeitet werden konnten. Eine Therapiegruppe ist dafür ja auch durchaus der passende Ort.

 

Im gegebenen therapeutischen Rahmen hatte der regressive Prozeß für die Klientin von daher die nützliche Funktion, dem Therapeuten und der Gruppe zu zeigen, in welchem Bereich sie Schwierigkeiten hatte, die bearbeitet werden mußten. Sie tat das allerdings nicht vorsätzlich oder freiwillig; es 'passierte' ihr sozusagen; sie konnte in der gegebenen Situation gar nicht mehr anders. Darum handelte es sich um einen regressiven Prozeß nach meiner Definition. Es war sozusagen eine nicht beabsichtigte und teilweise auch nicht bewußte Inszenierung ihrer Problematik. Daraus ergaben sich dann auch die Irritationen für die anderen Anwesenden.

 

Etwas ganz anderes wäre es gewesen, wenn sie in dieser Situation auch ihre anderen Kompetenzen noch hätte mobilisieren können. Dann hätte sie sich vielleicht erst zu Wort gemeldet, nachdem die Arbeit des anderen Gruppenmitglieds vollständig abgeschlossen war, und verbal mitgeteilt, was sie dabei erlebt hatte und wie sie in innere Not gekommen war. Sie hätte dann vielleicht den Wunsch geäußert, diesen Gefühlen weiter auf den Grund zu gehen. Anders gesagt, sie wäre auf diese (oder andere Art) sich selbst und der Gesamtsituation gerechter geworden. Ihre Tendenz zur Dramatisierung wäre dann als ein Aspekt ihrer Person in Erscheinung getreten, für dessen genauere Betrachtung sie sich entschieden hätte, während ihre anderen Fähigkeiten nach wie vor für sie erreichbar gewesen wären.

 

Um die vorhin genannten Begriffe zu gebrauchen: In diesem Falle hätte es sich nicht um einen regressiven Prozeß gehandelt, sondern um einen Vordergrund-Hintergrund-Wechsel. Die Klientin hätte für sich und die anderen etwas in den Vordergrund gebracht, was ihr wichtig war; zugleich wären ihre anderen Kompetenzen im Hintergrund verfügbar und als Möglichkeiten der Selbstunterstützung aktivierbar geblieben. Diesen Vorgang möchte ich einen Figurbildungsprozeß nennen.

 

Ich unterscheide also zwischen einem regressiven Prozeß, in dem die betreffende Person auf einen bestimmten Bereich ihrer Möglichkeiten festgelegt ist, und einem Figurbildungsprozeß, bei dem ein gegebenes VordergrundHintergrund-Verhältnis bei Bedarf jederzeit reversibel ist. Diejenigen von Euch, die gestalttherapeutische Prozesse erlebt bzw. miterlebt haben, kennen einen solchen flexiblen Wechsel aus eigener Erfahrung: Ein Klient kann sich z. B. auf ein intensives emotionales Erleben einlassen, das ihn zeitweilig völlig erfaßt, und dennoch in der Lage sein, seiner Therapeutin auf Anfrage mitzuteilen, was er gerade empfindet, welche Erinnerungen oder Bilder er vor seinem inneren Auge hat etc. Während er eine derartige Mitteilung macht, tritt das emotionale Erleben vorübergehend in den Hintergrund, ist aber, etwa nach einer entsprechenden Intervention der Therapeutin, vom Klienten relativ leicht wieder in den Vordergrund zu bringen.

 

Auf diese Weise wird ein ganzheitliches Bearbeiten der jeweiligen Problematik möglich und - was besonders wichtig ist: - der Kontakt des Klienten zur Therapeutin bleibt in vollem Umfang bestehen! Der Klient hat somit nicht nur seine eigene Selbstunterstützung zur Verfügung, sondern kann auch die Unterstützung der Therapeutin wirklich für sich nutzen.

Man kann von daher sagen, daß ein regressiver Prozeß zwar einerseits die nützliche Funktion besitzt, ein zur Bearbeitung anstehendes Problem zu inszenieren. Zugleich bringt er andererseits aber auch gravierende Einschränkungen mit sich, die eine tatsächliche erfolgreiche Bearbeitung des Problems unwahrscheinlich oder gar unmöglich machen. Denn um ein Problem erfolgreich zu verarbeiten, benötigt der Klient sowohl seine eigenen Ressourcen als auch die Unterstützung durch den Kontakt mit der Therapeutin.

 

Es gibt für mich darum keinen Grund, regressive Prozesse durch irgendwelche Techniken oder Strategien zu induzieren. Wozu sollte es gut sein, die psychischen Möglichkeiten des Klienten durch therapeutische Maßnahmen zu reduzieren? Gerät ein Klient von sich aus in einen regressiven Prozeß, kann das darum nach meiner Ansicht auch nur einen Einstieg in die eigentliche therapeutische Arbeit darstellen. Damit die Problematik, die sich mit dem regressiven Prozeß zeigt, bearbeitet werden kann, muß der regressive Prozeß zuerst unterbrochen und anschließend durch einen Figurbildungsprozeß ersetzt werden, bei dem die Möglichkeit des Vordergrund-Hintergrund-Wechsels im Klienten bestehen bleibt. Daraus ergibt sich eine grundsätzliche Strategie für die Therapie regressiver Prozesse:

 

regressiver Prozeß

 

 

Unterbrechung

 

 

Figurbildungsprozeß

 

 

weitere Bearbeitung

 

Was ich in diesem Schema "Unterbrechung" genannt habe, erfordert ein paar wichtige Erläuterungen, denn dieses Wort darf nicht in dem Sinne mißverstanden werden, als ginge es darum, dem Klienten auf irgendeine Art zu verbieten, die Problematik, die er im Verlauf eines regressiven Prozesses inszeniert, deutlich zu machen. Im Gegenteil, im therapeutischen Rahmen ist genau das, wie schon gesagt, sinnvoll und daher auch wünschenswert. Was unterbrochen werden muß, ist die Ausschließlichkeit, mit der der Klient sich subjektiv nur noch in dem einen jeweiligen Bereich seiner selbst erlebt. Diese Ausschließlichkeit ist therapeutisch unproduktiv und wird im übrigen von vielen Klienten und Klientinnen - zumindest im Nachhinein - als entwürdigend und beschämend erlebt.

 

Das therapeutische Mittel zur Unterbrechung des regressiven Prozesses ist daher eine Einladung an den Klienten, sich seiner anderen Bereiche und Ressourcen wieder bewußt zu werden und diese in die anstehende Arbeit miteinzubeziehen. Es geht dabei um eine Unterstützung für den Klienten, die es ihm erleichtert, seine Problematik zur "Figur" zu machen, also in den Vordergrund zu bringen, während ihm seine anderen Bereiche im Hintergrund zur Verfügung stehen und bei Bedarf vorübergehend in den Vordergrund gerückt werden können.

 

Die Unterbrechung der Ausschließlichkeit eines regressiven Prozesses bedeutet also, sich der im Klienten stattfindenden Verarmung seiner Person in den Weg zu stellen, indem die Therapeutin ihn als ganze Person anspricht. Wenn die Unterbrechung mit dieser positiven Intention und auf die entsprechende Art und Weise stattfindet, kann der Klient sich nicht nur mit der von ihm inszenierten Problematik, sondern auch mit dem, was er sonst noch ist, gesehen und verstanden fühlen.

 

Dieser Effekt tritt oft allerdings nicht auf Anhieb ein, sondern trifft häufig durchaus erst einmal auf Widerstand in der Form, daß der Klient sich gewissermaßen versteift und versucht, seinen regressiven Prozeß aufrechtzuerhalten. Das ist verständlich, wenn man sich klar macht, daß die erwähnte nützliche Funktion des regressiven Prozesses darin besteht, der Therapeutin eine bestimmte Problematik vor Augen zu führen. Diese Funktion hängt in der Regel mit einem mehr oder weniger dringenden Bedürfnis des Klienten zusammen, von der Therapeutin mit dieser Problematik verstanden zu werden. Wenn die Therapeutin nun nicht nur auf den regressiven Prozeß eingeht, sondern auch noch auf einer anderen Ebene reagiert, wird das bisweilen vom Klienten zunächst als eine Art Verweigerung ihres Verständnisses gedeutet. Dies kann ihn geradezu dazu veranlassen, die Intensität und Ausschließlichkeit seines regressiven Prozesses zu verstärken.

 

Damit wäre natürlich exakt das Gegenteil davon erreicht, was die Therapeutin beabsichtigt hatte. Um diesem paradoxen Effekt vorzubeugen bzw. ihn so weit wie möglich einzudämmen, ist es von entscheidender Bedeutung, daß die Therapeutin durch ihre Art zu intervenieren zwei Botschaften vermittelt, die eng zusammenhängen:

 

1. "Ich bleibe bei dir, ich lasse dich nicht allein."

2. "Ich möchte dich mit deinem Problem verstehen."

Wenn diese beiden Botschaften vermittelt werden können, ist der Klient in aller Regel auch bereit, sich auf die dritte Botschaft einzulassen, die die Therapeutin zum Zwecke der Unterbrechung des regressiven Prozesses sendet:

3. "Ich möchte mit dir als möglichst ganzer Person zu tun haben und dein Problem umfassend und differenziert mit dir betrachten."

 

Wenn ich diese drei Botschaften hier in der Form von wörtlicher Rede darstelle, heißt das natürlich keineswegs, daß sie immer verbal vermittelt werden müssen. Das mag passend sein, reicht aber oft nicht aus. Vielmehr sind zusätzlich oft auch szenische und/oder non-verbale Mitteilungen erforderlich. Ihr erinnert Euch vielleicht daran, was ich in dem Beispiel vorhin über mein Verhalten gegenüber der Klientin gesagt habe; ich wiederhole es noch einmal kurz:

Ich ging zu ihr, setzte mich neben sie und berührte sie mit der Hand an der Schulter. Ich sagte ihr in freundlichem Ton, daß ihre Not bei mir ankäme und ich gerne verstehen würde, warum ich mich zugleich aber von der Art, wie sie sie zum Ausdruck brachte, auf eine unbestimmte Weise unangenehm unter Druck gesetzt fühlte, so daß es mir im ersten Moment schwer gefallen sei, auf sie einzugehen.

 

Wie man die drei Botschaften auch immer vermittelt, es ist nicht zu übersehen, daß sie zu einem wesentlichen Teil Beziehungsbotschaften sind, mit denen die Therapeutin direkt ihr Engagement und ihr Interesse für den Klienten zum Ausdruck bringt und ihm mitteilt, daß sie ihn und sein Anliegen ernst nimmt. Auf einer Metaebene wird aber noch etwas anderes kommuniziert, das in vieler Hinsicht wichtig ist: Die Therapeutin zeigt sich dem Klienten nicht nur als zugewandtes, sondern auch als unabhängiges und partnerschaftliches Gegenüber. Sie läßt sich weder von seinem regressiven Prozeß mitreißen oder hinwegtragen noch läßt sie sich dazu verleiten, dem Klienten im Moment seiner regressiven Reduziertheit als allmächtige Retterin gegenüberzutreten und ihn zu bemuttern, anstatt ihn weiterhin therapeutisch zu begleiten.

 

Der Klient kommt so nicht in die Situation, die vom traditionellen Regressionsmodell leicht suggeriert wird, nämlich der falschen Alternative, entweder Erwachsener oder Kind, entweder autonom oder abhängig sein zu müssen. Er bekommt vielmehr die Chance, ganz zu sein, also hilfsbedürftig und kompetent, und sowohl die Unterstützung der Therapeutin als auch seine schon vorhandenen Ressourcen der Selbstunterstützung bei der Überwindung seiner Schwierigkeiten zu nutzen.

 

Ich hoffe, ich konnte Euch mit meinen Gedanken eine Idee davon vermitteln, wie sich regressive Prozesse in der Gestalttherapie auf eine Art bearbeiten lassen, die für die KlientInnen hilfreich ist und für die TherapeutInnen überschaubar bleibt.

 

 

Anmerkungen

 

(1) Dieser Vortrag basiert auf einem wesentlich ausführlicheren Text mit dem Titel "Zur Theorie regressiver Prozesse in der Gestalttherapie - Über Zeitperspektive, Entwicklungsmodell und die Sehnsucht nach Verständnis", der 1995 in den von mir herausgegebenen "Gestalt-Publikationen", 1997 ins Amerikanische übersetzt im "Gestalt Journal" und 1999 ins Französische übersetzt in den "Cahiers de Gestaltthérapie" erschien sowie im Frühjahr 2000 in einem von Bernd Bocian und mir herausgegebenen Buch über "Gestalttherapie und Psychoanalyse" (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht) veröffentlicht werden wird. Weitergehend interessierte LeserInnen seien darauf verwiesen.

 

(2) vgl. in: Billich et al. 1997, 141ff.; ich danke den damaligen Organisatoren der "Münchner Gestalttage", Manfred Billich und Heiner Koch, für ihre freundliche Unterstützung.

(3) Das Wort "genetisch" verweist hier auf die persönliche Geschichte eines Menschen, nicht etwa auf seine erbliche Ausstattung.

 

 

Literatur

 

Billich, M.; Koch, H.; Merten, R. (Hg.) (1997): Dokumentation der 10. Münchner Gestalttage 1996 - Prozeß und Diagnose - Gestalttherapie und Gestaltpädagogik in Praxis, Theorie und Wissenschaft, Eurasburg (GFE)

 

Freud, S. (1953): Abriß der Psychoanalyse, Frankfurt/M./Hamburg (Fischer)

 

Freud, S. (1900/1972): Die Traumdeutung, in: Freud, S.: Studienausgabe Bd. II, Frankfurt/M. (S. Fischer)

 

Herman, J. L. (1993): Die Narben der Gewalt - traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden, München (Kindler)

 

Laplanche, J.; Pontalis, J.-B. (1972): Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M. (Suhrkamp)

 

Mahler, M. S.; Pine, F.; Bergmann; A. (1980): Die psychische Geburt des Menschen - Symbiose und Individuation, Frankfurt/M. (Fischer)

 

Nuber, U. (1995): Der Mythos vom frühen Trauma - Über Macht und Einfluß der Kind-heit, Frankfurt/M. (S. Fischer)

 

Petzold, H. (1989): Die vier Wege der Heilung in der Integrativen Therapie - Teil II: Praxeologische Grundkonzepte, dargestellt an Beispielen aus der Integrativen Bewegungstherapie, in: Integrative Therapie 15/1, 42-96

 

Petzold, H. (Hg.) (1993): Psychotherapie und Babyforschung (Bd. I) - Frühe Schädigungen - späte Folgen? - Die Herausforderung der Längsschnittforschung, Paderborn (Junfermann)

 

Petzold, H. (Hg.) (1995): Psychotherapie und Babyforschung (Bd. II) - Die Kraft liebe-voller Blicke - Säuglingsbeobachtungen revolutionieren die Psychotherapie, Paderborn (Junfermann)

 

Staemmler, F.-M. (1994): Kultivierte Unsicherheit - Gedanken zu einer gestalttherapeuti-schen Haltung, in: Integrative Therapie 20/3, 272-288; auch in: Gestaltkritik 1995/1, 12-23; auch in: Gestalt-Publikationen 17 (Zentrum für Gestalttherapie, Würzburg)

 

Staemmler, F.-M. (1995): Zur Theorie regressiver Prozesse in der Gestalttherapie - Über Zeitperspektive, Entwicklungsmodell und die Sehnsucht nach Verständnis, in: Gestalt-Publikationen 21, Würzburg (Zentrum für Gestalttherapie)

 

Staemmler, F.-M. (1996): Buchbesprechung von Hilarion Petzold (Hg.): "Psychotherapie und Babyforschung", in: Integrative Therapie 22/1, 106-109

 

Staemmler, F.-M. (1997): Der schiefe Turm von Pisa - oder: Das unstimmige Konzept der "frühen Störung", in: Gestalt-Publikationen 28, Würzburg (Zentrum für Gestaltthe-rapie)

 

Stern, D. S. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart (Klett-Cotta)

 

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Zur Person:

Frank M. Staemmler

geb. 1951, Mitbegründer des Zentrums für Gestalttherapie in Würzburg, ist dort seit 1976 als Gestalttherapeut, Ausbilder und Supervisor tätig. Er ist Autor zahlreicher Artikel und mehrerer Bücher zu gestalttherapeutischen Themen sowie Mitherausgeber des kürzlich erschienenen Buches über "Heilende Beziehung - Dialogische Gestalttherapie" (mit Erhard Doubrawa) und des im kommenden Frühjahr erscheinenden Buches über "Gestalttherapie und Psychoanalyse" (mit Bernd Bocian). Derzeit arbeitet er u. a. an einem ausführlichen Text über Gestalttherapie als hermeneutische Methode.

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