GESTALT-KRITIK IN DER PRAXIS

Sechs Gestalttherapeuten diskutieren das Transkript einer Sitzung

Initiator: Frank-M. Staemmler; Kommentatoren: Klaus Bessel, Bernd Bocian, Hans Peter Dreitzel, Klaus Lumma, Helmut Pauls

Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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 Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Zeitschrift Gestaltkritik (Heft 2-1997):

 

GESTALT-KRITIK IN DER PRAXIS

Sechs Gestalttherapeuten diskutieren das Transkript einer Sitzung

Initiator: Frank-M. Staemmler; Kommentatoren: Klaus Bessel, Bernd Bocian, Hans Peter Dreitzel, Klaus Lumma, Helmut Pauls

Im Anschluß:
Leserbriefe von Antje Abram und Hilarion Petzold

 

1. Vorwort (Frank-M. Staemmler)

Seit sich die Gestalttherapie Anfang der 50er Jahre etablierte, haben sich innerhalb dieser neuen Therapieform viele, zum Teil recht unterschiedliche Strömungen entwickelt. Neben manchen produktiven Diskussionen zwischen den VertreterInnen der verschiedenen Richtungen gab und gibt es auch immer wieder weniger fruchtbare Auseinandersetzungen, die meines Erachtens hauptsächlich unter zweierlei Krankheiten leiden:

Erstens gibt es oft einen nur mangelhaften Bezug zur therapeutischen Praxis. Theorien auf sehr abstraktem Niveau werden vertreten und kritisiert, verteidigt und revidiert, ohne daß anhand von Beispielen aus der alltäglichen Arbeit von TherapeutInnen in Beratungsstellen, Kliniken oder Praxen verdeutlicht und verständlich gemacht wird, worin die praktischen Vor- und Nachteile der jeweiligen Konzepte bestehen. Und zweitens ist der Stil der fachlichen Debatten nach meinem Eindruck häufig nicht primär von dem gemeinsamen Interesse der Beteiligten daran geprägt herauszufinden, was für den therapeutischen Fortschritt ihrer aller KlientInnen vorteilhaft ist, sondern mehr davon, was der Bedeutung des eigene Ego, dem Einfluß der eigenen Schulrichtung oder dem Image des eigenen Instituts zu dienen scheint.

Beide Faktoren wirken gelegentlich auch zusammen und führen dazu, daß die Diskussionen über wichtige Fragen der gestalttherapeutischen Theorie und Praxis nicht die Früchte hervorbringen, die sich die daran Teilnehmenden vermutlich - neben aller Konkurrenz und anderen Animositäten - auch von ihr erhoffen. Ich selbst war von dieser Situation immer wieder frustriert und habe mir daher überlegt, welchen Impuls ich in die Debatte einbringen könnte, um zu einer Verbesserung der Situation beizutragen. Daraus erwuchs die Idee zu diesem Artikel, die ich im folgenden kurz skizzieren möchte:

Um die Praxisbezogenheit der Diskussion zu fördern, so war mein Ausgangspunkt, müßte ein Austausch stattfinden, der sich auf ein konkretes Beispiel aus der therapeutischen Praxis bezieht. Da ich meine eigenen therapeutischen Sitzungen immer wieder auf Tonband aufnehme und (für mich selbst oder für die TeilnehmerInnen unseres Ausbildungsprogramms) transkribiere, dachte ich daran, ein solches Transkript zur Diskussion zu stellen. Mir wurde dann jedoch klar, daß im Zusammenhang mit der zweiten oben erwähnten Schwierigkeit im kollegialen Diskurs die Bekanntheit meines Namens und der damit assoziierten theoretischen Positionen dazu beitragen könnte, eben jene der Qualität der Diskussion abträglichen Motive zu aktivieren, die ich gerne in den Hintergrund rücken wollte.

Daraus ergab sich der Gedanke, meinen Namen zunächst aus dem Spiel zu lassen. Damit die Idee sich unter dieser Bedingung überhaupt verwirklichen ließ, brauchte ich jemanden, der mit mir in dieser Sache zusammenarbeiten wollte. Ich suchte und fand ihn in Erhard Doubrawa, dem Herausgeber der "Gestalt-Kritik", der sich für mein Projekt begeisterte und es in allen seinen Phasen tatkräftig unterstützte. Ihm möchte ich dafür an dieser Stelle meine Anerkennung und meinen Dank aussprechen. Erhard und ich verfaßten also einen Brief, mit dem wir Gestalt-KollegInnen fragten, ob sie bereit seien, einen Kommentar zu einer Sitzung zu verfassen, deren Autor zunächst anonym bleiben sollte. Wir wählten KollegInnen aus, von denen wir wußten, daß sie sowohl als AusbilderInnen als auch, zumindest gelegentlich, als SchreiberInnen tätig sind.

Wie zu erwarten war, erhielten wir unterschiedliche Reaktionen. Acht der angeschriebenen KollegInnen antworteten gar nicht (eine übrigens auch in anderen Kontexten relativ verbreitete Verhaltensweise von GestalttherapeutInnen); fünf sagten ab; sechs sagten zu, darunter leider keine der angeschriebenen Frauen; eine der Zusagen wurde später wieder zurückgenommen. Ein Teil der Ab- und Zusagen enthielt keinen weiteren Kommentar; ein anderer Teil enthielt inhaltliche Stellungnahmen zu unserer Idee. Neben positiven Resonanzen gab es auch kritische. Die KollegInnen wiesen auf die Grenzen der von uns gewählten Methode hin, u. a. darauf, daß ein Transkript in viel zu geringem Umfang die nonverbalen Anteile der Kommunikation wiedergeben könne, oder darauf, daß eine Sitzung aus einer längeren Therapie einen viel zu kleinen Ausschnitt darstelle, um gültige Aussagen machen zu können, oder darauf, daß die von uns gewählte Methode keine gründliche Auseinandersetzung mit der Qualität der therapeutischen Beziehung ermögliche, die doch so wesentlich für die Beurteilung einer Therapie sei. Diese Einwände nahmen manche als Grund abzusagen, manche sagten dennoch zu.

Natürlich sind diese Einwände durchaus berechtigt: Das schriftliche Transkript einer gestalttherapeutischen Arbeit verhält sich zur tatsächlich stattgefundenen Sitzung wie eine Speisekarte zu dem tatsächlichen Genuß des Menüs. Aus meiner Sicht wäre es aber bedauerlich gewesen, das Experiment allein aus dem Grunde zu unterlassen, daß es begrenzte Aussagekraft hat. Ich finde es fruchtbarer, es im Bewußtsein von den Grenzen seiner methodischen Leistungsfähigkeit durchzuführen, seine Ergebnisse in diesem Bewußtsein zu untersuchen und dann vorurteilsfrei zu entscheiden, ob seine Resultate dennoch einen Wert für die Beteiligten sowie für die interessierten LeserInnen haben. Dazu lade ich nun ein:

 

2. Die Sitzung (Frank-M. Staemmler)

2.1. Inhaltliche und formale Vorbemerkungen

Diese Sitzung war die 26. mit meinem Klienten, der sich ursprünglich wegen einer Ehekrise an mich wandte. Es stellte sich bald heraus, daß er in der Beziehung immer den 'Schwarzen Peter' in der Hand hat. Er gilt - bei seiner Frau und bei sich selbst - als Versager und Schwächling, der u. a. auch am miserablen Zustand der Ehe schuld ist. Eine fruchtbare Auseinandersetzung zwischen den Partnern scheint nicht möglich: Sie macht ihm Vorwürfe, daß er 'es' (und das ist alles Mögliche einschließlich der sexuellen Ebene) nicht bringt, er verteidigt sich kurz und halbherzig, bevor er kollabiert und ihr recht gibt. Eine Trennung wird ernsthaft erwogen, da die beiden kaum noch miteinander reden, seit Jahren nicht mehr miteinander schlafen und einander nur noch auf den Nerv gehen. Der zehnjährige Sohn ist angeblich der einzige 'Grund' dafür, daß sie sich noch nicht voneinander getrennt haben. Das Selbstwertgefühl des Klienten ist auf dem Nullpunkt, als er sich an mich wendet. - Die naheliegende Idee, seine Frau im Rahmen einer Partnertherapie in die Arbeit einzubeziehen, erweist sich als unrealistisch, da sie nicht bereit ist, sich zu beteiligen.

Um den zeitlichen Verlauf und das Tempo der Arbeit zu verdeutlichen und um Bezugnahmen der Kommentatoren zu erleichtern, habe ich meine Interventionen mit Angaben zum Zeitpunkt ihres Stattfindens versehen. Erläuternde Anmerkungen sind kursiv gesetzt. - Ich danke dem Klienten für seine Zustimmung zur Veröffentlichung des Transkripts.

2.2. Das Transkript

Th. (= Therapeut) (0'00"): Grüß Dich. - Wie ist Dir denn unsere Sitzung bekommen in der letzten Woche? (Wir hatten uns mit seinem extrem destruktiven und unerbittlichen Topdog beschäftigt.)

Kl. (= Klient): Das ist mir gut bekommen - trotz allem; ja, das ist mir gut bekommen. Ich habe das auch an verschiedenen Dingen gemerkt, und zwar ... Das ist jetzt nur ein Beispiel: Letzten Samstag war ich bei einem Konzert, das wurde veranstaltet von einem Verein, in dem ist so die bessere Gesellschaft von (Heimatort) drin, die Honoratioren und so. Ich hatte mich gut angezogen und mich auf diese Weise unterstützt; und ich hatte mich etwas verspätet. Und dann bin ich ganz bewußt durch den Saal gegangen zu meinem Platz. Dabei habe ich bemerkt, daß das ganz anders war als ich das schon früher erlebt habe. Daran habe ich gesehen, daß mir die letzte Stunde nicht geschadet hat, so hart sie auch war. Ich sehe da schon einen kleinen Fortschritt. Ich habe mir die Sitzung auch nochmal angehört (Der Kl. nimmt alle Sitzungen auf Tonband auf, um sie sich zuhause ins Gedächtnis zurückzurufen, nachdem in einer der ersten Stunden deutlich geworden war, daß er an die vorangegangenen Sitzungen nur sehr flüchtige Erinnerungen hatte.), und ich bin schon wirklich ... ich bin erschüttert. Dann denke ich, ich kann doch eigentlich gar nicht so brutal sein. Auf der anderen Seite ist mir klar, daß das stimmt.

Th. (2'30"): Aber aus der Distanz, wenn du's dir hinterher anhörst, bist du schockiert, wie brutal du zu dir bist?

Kl.: Ja, das ist so, daß es mich immer wieder ..., daß es mich auch ergreift und ich den Schmerz spür'. (Der Schmerz ist das, was der brutal behandelte Underdog in der letzten Stunde erlebte.) (Pause) Und dann erleb' ich's wieder wie 'n Schock... Und jetzt will ich weiterschauen.

Th. (3'45"): Es war dir ja auch ganz wichtig, so bald wie möglich wieder einen Termin zu bekommen.

Kl.: Ja, weil ich nicht so viel Zeit verstreichen lassen will, jetzt, wo ich spüre, ich bin ganz am Punkt, am wesentlichen Punkt. - Und das letzte Mal war vor allem auch so, wie ich das wollte, wie ich das ... Ich hab' mir das ja vorher nicht konkret vorgestellt, aber ich merk' genau, das ist absolut richtig. Und es stimmt immer noch für mich so.

Th. (4'45"): Was nimmst du denn im Moment in dir wahr?

Kl.: (Pause) Vom Kopf her ist es so ein Suchen. Ich such' was. Und dann merk' ich, daß ich den Atem ab und zu anhalte (schnauft tief).

Th. (5'30"): Und wie fühlt sich das an, das Suchen?

Kl.: Es ist irgendwie ... Mir fällt jetzt nichts anderes ein, aber es ist auch so was Angespanntes (längere Pause).

Th. (6'30"): Hast du eine Richtung, in die du suchst?

Kl.: Ja, ich hab' das Gefühl, daß ich mit dem, was die letzte Stunde war, noch nicht fertig bin. Weil die ganze Dynamik, die kam ja erst so am Schluß zum Ausbruch. Und als ich dann so in Bewegung war, kamen wir ja an den Punkt, wo die Zeit zuende war.

Th. (7'30"): Also, möchtest du da anknüpfen, wo die 'Dynamik' war, und suchst einen Zugang dazu?

Kl.: Ja, genau, das ist es.

Th. (7'45"): Was ist dir denn ganz konkret jetzt am plastischsten in Erinnerung von dem, was du die 'Dynamik' nennst?

Kl.: Am plastischsten in Erinnerung ist mir diese Eiseskälte, dieser ungeheure Haß und diese Eiseskälte; das weiß ich noch ganz genau.

Th. (8'30"): Kannst du dich auch erinnern, wie du in dem Moment hier standst? (Der Topdog hatte im Stehen, von oben herab, zum sitzenden Underdog gesprochen.)

Kl.: Ja, genau.

Th. (8'45"): Na, vielleicht magst du an dieser Stelle nochmal einsteigen.

Kl.: (zuckt zusammen)

Th. (9'00"): Was war denn das eben?

Kl.: Ich habe einen Schreck gekriegt. (bekommt Tränen in die Augen, die Stimme wird dünn.) Das ist ein Schreck.

Th. (9'15"): Was sagst du zu ihm?

Kl.: Ich erschreck' vor diesem Teil (Topdog) von mir.

Th. (9'30"): "X., ich erschreck' vor dir."

Kl.: Ich erschreck' vor dir ...

Th. : "... wenn du so eiskalt bist."

Kl.: Ja. Ich erschreck' vor dir. Und gleichzeitig ... ich bin schockiert, ich bin schockiert.

Th. (9'45"): Möchtest du ihm sagen: "Ich bin schockiert, wie du mit mir umgehst"?

Kl.: Ja, letztes Mal war ich ja auch so entsetzt.

Th. (10'00"): Sag's ihm, wie es jetzt paßt für dich.

Kl.: Das hab' ich doch nicht verdient! (weint) So schlecht bin ich doch nicht ... (schluchzt) ..., daß man mich so fertigmachen muß (weint, schneuzt sich, wird ruhiger).

Th. (11'45"): Was passiert denn im Moment?

Kl.: Es ist seltsam, jetzt komm' ich wieder davon weg. Irgendwie geh' ich weg davon.

Th. (l2'00"): Und welches Gefühl entsteht in dir?

Kl.: Äh, das ist Leere, das ist so was wie ... Leere.

Th. (12'30"): Ich überlege gerade, wohin das gehört: Ob das zu dieser Kälte da gehört, die ja auch eine Gefühllosigkeit ist, oder ob das dahin gehört, wo du gerade bist (Underdog), und ein Versuch ist, die Wucht abzumildern, die von dort (Topdog) auf dich zukommt.

Kl.: (längere Pause) Es ist eher eine Gefühllosigkeit, in die ich da gehe. Ich bin im Moment nicht so ... Ich laß das irgendwie nicht zu (seufzt).

Th. (14'l5"): Na ja, diesen Schmerz, den das bewirkt in dir, ständig zuzulassen, stell' ich mir auch ziemlich unerträglich vor.

Kl.: (beginnt zu weinen)

Th. (15'00"): Möchtest du vielleicht zu ihm sagen: "Das ist nicht auszuhalten auf die Dauer"?

Kl.: Ja, das ist auf die Dauer nicht auszuhalten (weint), das macht mich fertig.

Th. (15'15"): "Du machst mich fertig, X."

Kl.: Du machst mich fertig, X.

Th. (15'30"): Nochmal.

Kl.: Du machst mich fertig. (mit verzweifelter Stimme, schluchzend) Du machst mich absolut fertig! (schluchzt eine Weile, wird dann ruhiger) - Jetzt kommt so eine Stimme in mir, die sagt: Mensch, mach' doch hier nicht so rum!

Th. (16'00"): Ja? Komm' hierher (Topdog-Position), stell' dich wieder hierhin und sprich zu ihm.

Kl.: Was machst denn du hier eigentlich so rum? Was soll das Theater, was soll das überhaupt? (schüttelt verständnislos den Kopf) Wie kann man nur so rummachen? (Pause) Da kann ich ja nur den Kopf schütteln.

Th. (17'30"): Irgendwie hast du im Moment eine andere Ausstrahlung als letzte Woche mit dieser Kälte.

Kl.: Ja, diese Kälte hab' ich im Moment auch nicht, die spür' ich nicht.

Th. (17'45"): Es sind ähnliche Formulierungen wie das letzte Mal, wenn du sagst "Was machst du denn da rum?" oder "Was soll das Theater?". Aber es hat nicht so eine Schärfe wie neulich, als du so auf dir herumgehackt hast.

Kl.: Im Moment hab' ich auch nicht den Impuls, da noch einen draufzusetzen. Das würde nicht stimmen.

Th. (18'15"): Es ist mehr diese Verständnislosigkeit?

Kl.: Ja.

Th. (18'30"): Kannst du daraus mal 'ne Frage machen? Frag' ihn (Underdog) doch mal danach, was du nicht verstehst.

Kl.: Ich verstehe nicht ..., ich verstehe nicht, wie ich das letzte Mal zu dieser Eiseskälte kam, obwohl ich mich genau daran erinnern kann, wie die war. Da war auch nichts Gespieltes dran, nichts Produziertes oder Aufgesetztes, das war wirklich so spürbar, das war meine Wahrheit. (Die letzten Aussagen beziehen sich auf eine unserer vorangegangenen Sitzungen, in denen er entdeckt hatte, daß er nur weiterkommt, wenn er sich auf "seine Wahrheit" konzentriert, anstatt irgendetwas zu spielen.)

Th. (19'30"): Aha, es sind wohl zwei Dinge, die du nicht verstehst: Im Bezug auf dich hier (Topdog) verstehst du nicht, wie du das letzte Mal zu dieser Kälte kamst; im Moment empfindest du die jedenfalls nicht.

Kl.: Ja.

Th. (19'45"): Und in bezug auf ihn (Underdog) verstehst du was nicht?

Kl.: (verwirrt) Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.

Th. (21'00"): Na, laß es uns nochmal anders probieren: Vorhin hast du da drüben (Underdog) gesagt, wie schmerzhaft es für dich ist und daß du das auf die Dauer gar nicht aushalten kannst. Daraufhin hast du hier rüber gewechselt (Topdog) und gesagt: "Das verstehe ich nicht." So als wolltest du sagen: "Ich verstehe nicht, was daran nicht auszuhalten sein soll. Du hast es doch dein ganzes Leben lang ausgehalten, was soll denn jetzt plötzlich so schlimm daran sein? Du bist doch gut trainiert darin, es auszuhalten, wenn du fertiggemacht wirst."

Kl.: Ja, das bin ich wirklich, darin bin ich perfekt.

Th. (22'45"): Möchtest du wieder da rüber (Underdog) ?

Kl.: Ja. - Und trotzdem ist es so, daß mich das jedes Mal trifft, und zwar ganz drinnen.

Th. (23'30"): Kannst du das direkt zu ihm (Topdog) sagen?

Kl.: Du triffst mich jedes Mal am entscheidenden Punkt, und zwar immer messerscharf.

Th. (23'45"): Sag' ihm, an welchem Punkt er dich trifft.

Kl.: (fängt wieder an zu weinen) Du triffst mich immer an meiner empfindlichsten Stelle, an meinem schwächsten Punkt, mit absoluter Sicherheit immer am schwächsten Punkt (weint heftiger). Das ist immer das gleiche, immer an der schwächsten Stelle (schluchzt), immer an der schwächsten Stelle (weint, schneuzt sich, längere Pause). - Jetzt ist's wieder so leer im Kopf, wieder so leer.

Th. (25'45"): Das erinnert mich an die eine Situation beim letzten Mal, wo ich zu dir gesagt habe, irgendwie kommst du nicht in Gang. Es entsteht immer wieder etwas, aber es entsteht kein durchgängiger Fluß. - Ich finde, du hast heute auf beiden Seiten etwas Müdes an dir, als wäre es dir fast zu mühsam, dieses Selbstgespräch zu führen. Es ist etwas Schweres in deiner Ausstrahlung. - Kannst du mit meiner Beschreibung etwas anfangen?

Kl.: Ja, ich spür' schon was Schweres, und so vom Kopf her will ich die Auseinandersetzung schon.

Th. (27'30"): Daran zweifel ich überhaupt nicht. Ich vermute eher, daß das Schwere und Mühsame zu dieser Auseinandersetzung dazugehört.

Kl.: Ja, damit kann ich was anfangen: Der ist ein absolut harter Brocken, und ich denke mir, daß das einfach Zeit auch braucht.

Th. (28'45"): Jetzt hörst du dich ein bißchen resigniert an, so als wolltest du dich etwas vertrösten.

Kl.: (lächelt) Ne, vertrösten nicht, (lacht) vertrösten will ich mich absolut nicht.

Th. (29'15"): Du lachst.

Kl.: Ja, das Thema steht schon lang genug an, ich mach' das schon lange genug, da gibt's keine Veranlassung, daß ich mich da vertröste. Nee!

Th. (29'45"): Jetzt wirkst du plötzlich viel wacher auf mich.

Kl.: Ums Vertrösten geht's wirklich nicht!

Th. (30'00"): Was soll das dann heißen, "Das braucht einfach noch Zeit"?

Kl.: Das hat schon was Vertröstendes an sich, du hast recht. Aber mir geht's nicht darum, mich zu vertrösten ...

Th. (30'30"): Sondern?

Kl.: ... da anzuknüpfen, wo ich letztes Mal aufgehört habe.

Th. (30'45"): Das hast du ja jetzt durchaus schon gemacht. Und jetzt taucht diese Schwerfälligkeit oder Müdigkeit auf - ich weiß noch nicht, was das richtige Wort ist, aber ich glaube, du weißt, was ich meine, ...

Kl.: Ja, ich spür's ja.

Th. (31'15"): ... und führt dazu, daß es, obwohl du es willst, nicht so recht weitergeht - als ob es etwas in dir gäbe, das dich bremst, obwohl du eigentlich weiter willst. - Ist das eine passende Beschreibung?

Kl.: Ja, das paßt.

Th. (31'30"): Es ist wie wenn man anfängt, einen Film langsamer laufen zu lassen, und allmählich in Zeitlupe übergeht ... Das braucht dann Zeit. - Kannst du spüren, was das in dir ist, wie du dich bremst?

Kl.: Also im Moment spür' ich diese Schwere, das ist deutlich, aber die Bremse kann ich nicht spüren.

Th. (33'15"): Das ist doch wirklich ein interessantes Phänomen: Du kommst her, willst weitermachen, du hast es bedauert, daß beim letzten Mal die Zeit schon zuende war. Und das Ganze ist ein Ding, das dir seit Ewigkeiten auf der Seele liegt, du hättest eigentlich nichts lieber als diese Sache endlich geregelt zu kriegen. Du bist wirklich motiviert. Und trotzdem passiert jetzt irgendetwas, daß es so langsam wird, obwohl du lieber schneller als langsamer weiterkämst damit. Wenn ich jetzt mal innerhalb deines Konflikts versuche, das zu verstehen, dann könntest eigentlich nur du dort (Topdog) ein Interesse daran haben, daß das langsam geht. Du hier - (Underdog) kannst eigentlich nicht das geringste Interesse daran haben, im Gegenteil, dir tut das so weh, was du mit dir machst, für dich hätte es lieber schon gestern aufgehört als heute oder morgen. Also wenn einer 'ne Motivation zum Bummelstreik haben könnte, dann höchstens du dort (Topdog).

Kl.: Ja, das ist klar.

Th. (35'00"): Und irgendwie paßt das für mich auch dazu, daß du vorhin da (Topdog) gesagt hast: "Ich versteh' die ganze Aufregung nicht, hab' dich doch nicht so ...", so beschwichtigend, beruhigend. Das wirkt auch verlangsamend. Also, ich hab' die Vermutung, daß das von da (Topdog) ausgeht. Es würde für mich Sinn machen, wenn du dort (Topdog) etwas unternehmen würdest, damit es dir nicht an den Kragen geht. - Stell' dich doch nochmal dahin, laß es uns mal ausprobieren, versetzt' dich doch da nochmal rein für einen Moment und sag' mal in deinen Worten so etwas wie: "Ich will aber so bleiben wie ich bin."

Kl.: (kühl) Ich sehe keine Veranlassung, etwas zu verändern. Mir geht's in meiner Position ... Mir tut das nicht weh.

Th. (37'15"): Und wie geht's dir "in deiner Position"?

Kl.: In meiner Position, da bin ich immer der Stärkere, der austeilt, da fühl' ich mich stark.

Th. (37'45"): Und deine Stärke willst du nicht verlieren?

Kl.: Ne, meine Stärke geb' ich nicht auf! Es gibt keine Veranlassung, bei mir was zu ändern.

Th. (38'15"): (zu Underdog) "Wenn du meine Stärke infrage stellst und an der was verändern willst, dann beißt du auf Granit."

Kl.: Da laß ich nicht dran kratzen!

Th. (38'20"): Wie fühlt sich das an, wenn du das sagst?

Kl.: Das ist was Unerbittliches, das ist wie purer Beton, darüber laß ich mit mir nicht diskutieren, da ist mit mir nicht zu reden, da bin ich stur wie ein Panzer.

Th. (39'30"): Diese Stärke muß dir extrem wichtig sein.

Kl.: Das hab' ich mich bisher noch nie gefragt, aber das ist wohl meine Wahrheit. Ich habe mir die Frage noch nie gestellt, warum mir das so wichtig ist. Und das würde mich auch interessieren, warum das so ist.

Th. (40'15"): Na, irgendwas wird dir so wertvoll sein an dieser Stärke, daß du um keinen Preis bereit bist, sie aufzugeben, selbst wenn sie solche destruktiven Formen annimmt?

Kl.: (Pause) Ich sag's jetzt einfach mal so, wie's mir gerade einfällt: Wenn ich so bin, dann bin ich gefühllos, dann spür' ich keinen Schmerz, dann geht mir auch nichts unter die Haut.

Th. (41'45"): Mit der Stärke kannst du einigermaßen durch die Welt kommen, auch wenn die Umstände widrig sind.

Kl.: Mit so einer Stärke kann man alle widrigen Umstande überleben, aber das ist das einzige ...

Th. (42'00"): Ohne diese Stärke hättest du nicht überlebt?

Kl.: (bricht plötzlich in lautes Weinen aus, schluchzt heftig und lange, spricht dann weinend) Das war die einzige Art, wie ich hab' überleben können, ich hab' keine andere Chance gehabt, ich hätte sonst nie 'ne Chance gehabt (schluchzt) ...

Th. (43'30"): ... wenn du nicht diese Stärke entwickelt hättest?

Kl.: Ja (schluchzt weiter).

Th. (43'45"): ... wenn du nicht die Stärke entwickelt hättest, über die ganzen Schmerzen in dir hinwegzugehen.

Kl.: (schluchzend) Ja ...

Th. (44'15"): Was passiert denn gerade in deinen Beinen? (Er steht nach wie vor in der Position des Topdog. Während er bisher immer die Knie durchgedrückt hielt, beginnt er nun, sich in den Knien leicht auf und ab zu bewegen.)

Kl.: (wird ruhiger, schneuzt sich, bewegt die Beine weiter) Ich stehe nicht mehr so starr, ich tu ein bißchen in die Knie gehen, mich ein bißchen wiegen. Es ist ... (beginnt erneut, aber auf weichere Art zu weinen) ... als würde ich mich auffangen! (weint längere Zeit)

Th. (44'45"): Wie fühlt es sich denn an, dich aufzufangen?

Kl.: (weint freier, mit tiefem Atem) Das ist gut.

Th. (45'00"): Das ist eine andere Form von Selbstunterstützung als dich stark zu machen.

Kl.: (atmet erleichtert auf) Ja.

Th. (45'30"): Du wirst weicher und beweglicher in deinem Körper.

Kl.: (atmet wieder auf, weint) Ja, ich muß nicht so starr sein. (schluchzt laut und mit viel Luft, wird dann ruhig)

Th. (46'30"): Mir scheint, daß du eine Alternative entdeckt hast, wie du mit dir umgehen könntest, wie du überleben kannst, ohne dich so starr und stark und kalt zu machen, und dann ist Platz ...

Kl.: ... für die weichen Gefühle, oder für Gefühle überhaupt.

Th. (47'00"): Dann brauchst du nicht mehr auf dir herumzuhacken und dir weh zu tun, sondern kannst dich stattdessen auffangen. - (Pause) Bist du einverstanden, wenn wir an dieser Stelle für heute Schluß machen?

Kl.: Ja, danke.

 

3. Die Kommentare

3.1. Klaus Bessel

Die dokumentierte therapeutische Sitzung hat einen hohen Wiedererkennungswert als gestalttherapeutische Sitzung ('klassische' Arbeit mit Topdog/Underdog) und entspricht i.W. meinen Vorstellungen von gestalttherapeutischer Arbeit: weitgehend Arbeit im Hier-und-Jetzt, Fokussieren auf Bewußtheit, therapeutische Vermittlung signifikanter emotionaler Erfahrungen auf der Basis von Support des Kl., dialogische Orientierung des (ich vermute: männlichen) Th.

Im Kontext der vorgestellten Diagnose des Kl. (seine Identifikation mit der Persönlichkeitsfunktion "Versager und Schwächling", wenig Selbstwertgefühl) habe ich allerdings einige kritische Anmerkungen - mit den Vor- und Nachteilen, die ich als Leser eines Transkriptes habe - zu inhaltlichen Vorlieben des Th. bzw. Interpretationen, die er gibt (Bewußtheit dafür, daß und wie ich interpretiere, scheint mir eine unverzichtbare Fähigkeit von (Gestalt)Therapeuten zu sein, die ein phänomenologisch-dialogisches Verfahren anwenden):

Support als eine in letzter Zeit glücklicherweise vermehrt in die Theorie und Praxis von Gestalttherapie aufgenommene Dimension therapeutischen Verhaltens meint: Support von Gesundheit, des zu wenig entwickelten Poles und seiner Integration usw. Im vorliegenden Fall geht es ziemlich wahrscheinlich um die Unterstützung eines schwachen/fehlenden "Nein", der verleugneten Stärke auf Klientenseite - sowohl außerhalb als auch innerhalb der therapeutischen Beziehung. Im dokumentierten therapeutischen Dialog dominiert allerdings sehr stark das "Ja" des Kl.; der Verdacht auf verfrühte Konfluenz von Kl. und Th. erscheint mir nahe. Das fast völlige Fehlen von Vorkontakt im Jetzt (der Kl. wird vom Th. zu Beginn der Sitzung sofort auf die vergangene Stunde hin orientiert) ist dafür ein förderlicher Kontext. Etliche Sequenzen ähneln eher einer gesprächstherapeutischen Sitzung; das führt auch zur Verwirrung des Kl. (19'55"), die dann aber - hilfreich? - vom Th. aufzulösen versucht wird (statt sie im Beziehungskontext zu fokussieren). Nur einmal (28'45"ff.) kommt eine Sequenz mit "Neins", ambivalent vom Kl. vermittelt ("lächelt" etc.) - ein "Nein", das den Kl. "viel wacher" macht, leider aber nicht prägnant exploriert und als Ressource-in-Aktion genutzt wird. Dazu paßt für mich auch die Neigung des Th., den Topdog als den 'Bösen' zu sehen (vgl. 33'15": sicher hat der Underdog mindestens ebenso viel Interesse, daß alles beim alten bleibt, wie der Topdog - bekanntlich ist er sowieso der Stärkere durch sein Sabotieren) und die Identifikationsneigung des Kl. mit dem Underdog eher zu unterstützen (15'15"ff.). Aggression als positive Kraft, ein nach wie vor differentielles Kriterium von Gestalttherapie, wird - auch wenn sie, wie hier, verzerrt im Topdog auftritt - nicht genügend gewürdigt, wird lediglich konnotiert mit Gefühllos-Machen (vgl. 43'45"). Die Entfremdung des Kl. von dieser Kraft, die er qua Topdog in sich hat, wird m.E. eher verstärkt durch die, wie ich finde, mehr oder weniger heimliche Koalition - Mitgefühl? - des Th. mit dem Underdog des Kl., der wiederum lediglich als schwach gesehen wird. So steht für mich zu vermuten, daß das Ergebnis dieser Stunde, das Sich-Auffangen-Können des Kl., eine retroflektive Qualität hat - es ist tatsächlich etwas anderes als "dich stark zu machen" (45'00").

Solche Nachgedanken gehen üblicherweise in die Planung der nächsten Stunden ein; erst der Verlauf der folgenden Sitzungen kann meine Vermutungen bestätigen oder auch nicht. Es bleibt jedoch eine grundlegende Kritik, daß der Th. bestimmte Weichenstellungen, die er trifft, nicht zur Disposition stellt: er spricht insgesamt zu wenig zu den Ich-Funktionen des Kl. (vgl. z.B. 35'00").

3.2. Bernd Bocian

Die protokollierte Therapiestunde berücksichtigt das Hier und Jetzt und die Stunde der letzten Woche. Es werden keine Hintergrundinformationen mitgeliefert, die etwa die Biographie und Familiengeschichte betreffen oder die berufliche und soziale Situation. Für mich ist die Gestalttherapie (in den Worten von Perls und Goodmann) eine "kontextuelle Methode", und ich halte die genannten Feldfaktoren für das Verständnis der Gesamtsituation und eine Gestaltanalyse für unabdingbar (vgl. den "Fall Claudia" in L. Perls 1989, 64f.). Die Präsentation der Stunde entspricht demzufolge nicht meinen Verständnis von Gestalttherapie. Sie spiegelt allerdings eine spezielle und mögliche Vorgehensweise innerhalb der Gestalttherapie wider. Der Stil entspricht in manchem dem späten Demonstrationsstil von Friedrich Perls. In letzter Zeit ist dieses Vorgehen als figurzentriert kritisiert worden (z.B. durch Wheeler 1993), und der Feld- und Kontextgedanke wird allgemein wieder stärker betont. Zudem ist mir vieles in bezug auf die Therapeut-Klient-Beziehung unklar, z.B. wieso sie sich duzen. Ich kann entsprechend keinen fundierten Kommentar abgeben, und da ich nicht weiß, was der Th. weiß, ist eine seriöse Kritik ebenfalls nicht leicht. Ich werde dennoch einige kritische Anmerkungen machen, wobei mir klar ist, daß mir nicht nur Hintergrundinformationen fehlen, sondern auch der sinnliche Eindruck, wie etwas gesagt und getan wird.

Zu Beginn spricht der Kl. davon, daß ihm die letzte Stunde "trotz allem . . . nicht geschadet hat" und er sieht auch schon "einen kleinen Fortschritt". Er ist mit der letzten Stunde "noch nicht fertig", weil "die Zeit zuende war". Ab 7'30" steuert und erklärt der Th. für meinen Geschmack recht viel. Ins Blickfeld gerät nicht, ob der Kl. vielleicht auch auf den Th. ärgerlich ist und noch "nicht fertig" mit ihm. Als ein Schreck auftaucht (9'00"), läßt der Th. den Kl. sofort zu ihm sprechen. Für mich ist das ein wenig schnell und stereotyp, wie hier mit der Dialogtechnik umgegangen wird. Ich erspare mir weitere Anmerkungen, da der Kollege Staemmler (1995) hierzu jüngst ein Buch geschrieben hat und sicherlich als Kommentator auftauchen wird. Es sei hier nur an den schönen Satz von Karl Landauer, dem Frankfurter Lehranalytiker von Lore Perls erinnert: "Technik ist Persönlichstes."

Im Folgenden steuert der Th. wieder viel. Der Kl. (10'00") sagt: "So schlecht bin ich doch gar nicht, daß man mich so fertig machen muß." Hier hätte mich interessiert, wer gemeint ist. Ob es sich vielleicht um das Auftauchen einer verinnerlichten Elternrepräsentanz handelt, ein entwertendes machtvolles Introjekt aus einer wichtigen Beziehung? Bei (12'30") kritisiert der Kl. sich selbst, er läßt etwas "irgendwie nicht zu", und ich finde, auch der Th. läßt den Kl. nicht. Er lenkt weiter (15'00"): "Möchtest du vielleicht sagen ..." Bei (16'00") schüttelt der unbekannte Topdog des Kl. verächtlich den Kopf. Bei 25'45" gibt's Interessantes aus der letzten Stunde, das gut in meine Phantasie über die vorliegenden transkribierten Interaktionen paßt. Der Th. hatte dem Kl. gesagt: "Irgendwie kommst du nicht in die Gänge", und auch heute findet er den Kl. "etwas müde". Der Th. scheint mehr Aktion zu brauchen. Ich ordne hier das "trotz allem" vom Anfang zu. Es scheint, als wäre der Kl. wieder (ähnlich wie in seiner inneren Dynamik) mit einem fordernden und abwertenden Topdog konfrontiert, diesmal in Gestalt seines Th. Es wiederholt sich hier möglicherweise eine alte kränkende Beziehungserfahrung. Der Kl. versucht sein Bestes zu geben und beteuerte ja schon zu Anfang, daß er "trotz allem" einen "kleinen Fortschritt" sehe. Verbirgt sich hier auch eine Kritik, die sich nicht traut?

Bei 27'30" äußert der Kl., daß das "einfach Zeit ... braucht", und er kann die "Bremse" nicht spüren, die den Th. interessiert. Der Th. (33'15") unterstützt weiter den Anteil, der gerne "schneller ... weiterkäme" und er weiß auch, welche Instanz Interesse an einem "Bummelstreik" hat. Der Kl. übernimmt recht schnell die Deutungsangebote. Der Th. macht als Regisseur weiter: "Sag mal in deinen Worten so etwas wie ..." (35'00"). Bei (42'00") bringt der Th. Verständnis für den Widerstand auf, der doch für den Kl. ein Beistand ist. Das beruhigt mich etwas und berührt den Kl. tief. Zum Ende (leider) neigt der Th. zu großen Erklärungen und schnellen Lösungen (du hast "eine Alternative entdeckt" und "brauchst nicht mehr auf dir rumzuhacken").

Resümee in Bezug auf die (durch mich natürlich in weiten Teilen innerlich konstruierte) Stunde: Die Beziehung der beiden Beteiligten gerät kaum ins Blickfeld, und (Übertragungs-) Dynamiken aus alten Beziehungen können sich möglicherweise unbemerkt entfalten. Der Topdog des Kl. sitzt auch im Raum, der Th. scheint phasenweise als leibhaftiges Bewertungsintrojekt, als Inkarnation einer fordernden und kränkenden Selbst- oder Elternrepräsentanz des Kl. zu agieren. Durch die eventuell nicht bewußte Reinszenierung von Machtstrukturen wird ein zentraler Schwachpunkt der orthodoxen Psychoanalyse wiederholt (vgl. Bocian 1994, 1995a, 1995b). In der Stunde spiegelt sich auch die fragile Balance zwischen dem dialogischen Anspruch der Gestalttherapie, durch den sie sich radikal von vielen verbreiteten Varianten der Psychoanalyse unterscheidet, und ihrem Selbstverständnis, den Kl. bei seiner Selbsterforschung zu unterstützen, was die Gefahr in sich birgt, daß der Th. als technischer Direktor dominiert.

Das letzte, was der Kl. sagt, ist "Ja" und "Danke". Warum?

3.3. Hans Peter Dreitzel

Gestalttherapie ist nur zu einem Teil verbal, vieles läuft auf der averbalen Ebene: der Atem, die Stimme, die Mimik, die Gestik, die Haltung des Klienten. Aber auch des Therapeuten: es gibt eine Menge averbaler Interventionen, ohne die die Gestalttherapie nicht wäre, was sie ist. Und wie könnten wir einen Klienten wahrnehmen, ja: auch diagnostizieren und mit ihm in einen therapeutischen Kontakt treten, wenn wir nur seine bloßen Worte hätten? Daran liegt es ja auch, daß Gestalttherapie nicht aus Büchern, sondern nur durch therapeutische Selbsterfahrung im direkten Gegenüber mit dem Lehrer erlernt werden kann. Ein bloßes Transkript läßt also vieles offen und verleitet dazu, die Arbeit des Therapeuten entweder zu überschätzen oder - wahrscheinlicher - zu unterschätzen. Wie z.B. klingt die Stimme des Kl.? Und wie ist die Positionierung der beiden Beteiligten im Raum gewesen? Steht der Kl. die ganze Zeit - und in welchen Haltungen? Und der Th. - sitzt er wie in einem Regiesessel, von dem aus er dirigiert, oder - was ich hier supportiver fände - steht er (dem Klienten brüderlich zur Seite)?

Eine andere Frage betrifft den Kontext. Eine aus dem Zusammenhang einer längerfristigen Therapie gerissene Stunde läßt sich nicht nur nicht ohne etwas Kenntnis der Biographie, sondern auch kaum ohne etwas Diagnostik und ohne etwas Wissen um den Stand der Therapie beurteilen. Denn was für den einen und in einer bestimmten Situation eine kluge Intervention ist, kann für den anderen oder in einer anderen Situation weniger hilfreich wirken oder auch ganz fehl am Platz sein.

Trotz dieser wichtigen Einschränkungen will ich versuchen, etwas zu der transkribierten Stunde zu sagen, muß aber dabei mein hermeneutisches Vermögen überstrapazieren. Ich kann hier nur aufgrund des vorliegenden Textes vermuten, was doch Voraussetzung für das Verständnis der ganzen Stunde ist. Ich vermute also - daß der Kl. zu depressiven Kontaktprozessen neigt, daß er leicht introjiziert, und daß "Topdog" bei ihm eine introjizierte Vaterfigur repräsentiert, vor der er sich nicht hat behaupten können, die ihn immer wieder kleingemacht hat und der gegenüber er von seiner Mutter keine ausreichende emotionale Unterstützung bekommen hat. (Der vorgegebene Umfang dieser Zeilen reicht leider nicht, um die Textstellen anzuführen, auf die ich diese Interpretation stütze).

Mit diesem Bild im Kopf habe ich das Transkript erneut gelesen und finde das nun eine am Ende gut gelungene gestalttherapeutische Sitzung, zu der es aber auch einiges Kritische zu sagen gibt. Ich selbst benutze in meiner Arbeit die Polarisierung in "Topdog" und "Underdog" immer seltener, weniger weil - wie Isadore From zu Recht bemerkt hat - der späte Perls mit dieser saloppen Begriffsbildung das psychoanalytische Über-Ich durch die Hintertür wieder eingeführt und damit eine wichtige, schon einmal (bei Perls, Hefferline, Goodman) gewonnene Einsicht der Gestalttherapie aufgegeben hat, als weil dabei der direkte Kontakt, die Ich-Du-Beziehung zwischen Therapeut und Klient zugunsten der Rolle eines Regisseurs verloren geht, in die der Therapeut bei dieser Technik zwangsläufig gerät. In der hier zur Diskussion stehenden Sitzung hält sich der Th. aus einem direkten Kontakt mit dem Kl. weitgehend heraus, er ist Regisseur und Lenker der Aktionen des Kl. oder er verstärkt gesprächstherapeutisch die gewonnene Einsicht durch Wiederholung und Erklärung.

Aber wie so oft zeigt sich auch hier, daß viele Wege nach Rom führen, und oft sind es dabei die Klienten selbst, die unsere besten Führer sind, insbesondere wenn der Therapeut bemerkt und thematisiert (wie hier: 44'15"), was sich im Kl. körperlich abspielt und verändert. Diese ganzheitliche, den Körper einbeziehende, aber ihn deshalb nicht gleich zum Hauptgegenstand machende Arbeitsstil ist für mich genuine Gestalttherapie. Und so geht denn der Kl. aus dieser Sitzung offensichtlich mit einer neuen Erkenntnis nach Hause, die freilich noch sehr der Vertiefung in späteren Stunden bedarf.

Im einzelnen: Der Th. konzentriert den Vorkontakt sofort auf das Anknüpfen an der letzten Stunde, wobei die Ausgangsfrage ein bißchen besorgt klingt, so als ob er sich nicht sicher ist, ob dem Kl. die letzte Stunde nicht vielleicht schlecht bekommen ist. Gab es Anlaß zu dieser Sorge? Vermutlich, denn sonst hätte er es wohl dem Kl. selbst überlassen zu sagen, was heute für ihn im Vordergrund steht.

Im gesamten Dialog folgt der Kl. brav den Vorschlägen des Th.; meistens sagt er sofort erstmal "ja" zu seinen Interventionen. Nur an zwei Stellen (30'00" und 39'30"f.) versucht er zu widersprechen, ist aber unfähig, "nein" zu sagen. Diese Sitzung läßt also vermuten, daß der Kl. dazu neigt, schnell zu introjizieren. So gesehen muß es auch nicht unbedingt gut sein, wenn er alle Sitzungen auf Tonband aufnimmt und sie sich zuhause noch einmal anhört: Wenn er anfangs sehr flüchtige Erinnerungen hatte, gilt es ja, sein Erinnerungsvermögen wiederzubeleben und zu stärken und zwar dadurch, daß die Sitzung ihm von vornherein einen hinreichenden Eindruck hinterläßt. Das ist m.E. eine Frage des Nachkontakts innerhalb der Stunde. Möglicherweise fehlt es daran; jedenfalls in der hier zu besprechenden Sitzung gibt es praktisch keinen Nachkontakt im Sinne von Nachspüren und Einschätzen dessen, was da gewesen ist. Unverständlich ist mir die Bemerkung des Th., daß es dem Kl. wichtig gewesen sei, "so bald wie möglich" wieder einen Termin zu bekommen (3'45") - gab es keine regelmäßigen Termine?

Gleich nach dieser Stelle spricht der Kl. von etwas, das er in der letzten Stunde bemerkt habe und das "absolut richtig" sei. Ausgerechnet an dieser Stelle wechselt der Th. unvermittelt in das scheinbare "Hier-und-Jetzt" der Frage, "Was nimmst du denn im Moment in dir wahr?" Aber was bei dem Kl. dann und dort natürlich im Vordergrund stand, war dieses "absolut Richtige", über das wir nun nichts weiter erfahren. Verständlicherweise ging daraufhin bei dem Kl. die Energie erst mal raus: "Mir fällt jetzt nichts anderes ein..." (5'30"f.). Danach allerdings kommt er natürlich von sich aus wieder auf seine Erfahrung in der letzten Stunde zurück, und der Th. folgt ihm nun.

Im weiteren Verlauf wird dann sehr schön die "Topdog/Underdog"-Polarisierung, die offenbar schon die letzte Stunde beherrscht hatte, wieder herausgearbeitet: ein brutaler "Topdog" (vermutlich die Vaterfigur, mit der er sich ohne Gewahrsein in dieser Position identifiziert) und ein Schmerz erleidender "Underdog". Es kommt aber bald zu einer Verwirrung - "Jetzt verstehe ich gar nichts mehr" (19'45"f.) - nachdem der Kl. in der "Topdog"-Position nicht die "Eiseskälte" zeigt, die er in der letzten Stunde an dieser Stelle erlebt hat, und die Klärungsbemühungen des Th. zunächst nichts fruchten. Für mein Gefühl ist bei der folgenden, vom Th. gesteuerten Klärung (21'00") etwas verlorengegangen: Warum der Kl. nämlich nicht wieder in die "Eiseskälte" gekommen ist, sondern stattdessen plötzlich (15'30"f.) sagt "Mensch, mach doch hier nicht so rum", bleibt ungeklärt. Und das könnte etwas Wichtiges sein. Meine eigene Vermutung ist, daß der Kl. hier unbewußt in eine dritte Position gerutscht ist, nämlich die seiner Mutter. Daher wahrscheinlich auch die "Leere im Kopf" (23'45"f. und dann noch zweimal). Das ist natürlich nur eine Vermutung, aber es hätte sich auf jeden Fall gelohnt, den Kl. bei der "Leere" festzuhalten, die er schon in 12'00"f. artikuliert und dann mehrfach wiedererlebt - denn sie hätte sich als eine "fruchtbare Leere" erweisen können. Diese "Leere", aber auch das Schwere, Träge, Langsame, kurz das Depressive, in das die Arbeit des Kl. nun zunehmend gerät, hängt m.E. mit einem Mangel an emotionaler Unterstützung zusammen, die der Kl. wahrscheinlich von seiner Mutter (gegenüber dem Vater) nicht bekommen hat und die er auch jetzt von seinem Th. nicht bekommt. Erst durch diese Unterstützung könnte der Kl. aus dem Weinen über den Schmerz herauskommen und mit seiner sicherlich vorhandenen Wut in Kontakt kommen. Der Th. versucht statt dessen alles, um den Kl. wieder "in die Gänge" zu bekommen - eine typische Gegenübertragung bei depressiven Prozessen, bei deren Bearbeitung immer die Gefahr besteht, daß die ganze Interaktion von der Energie des Th. statt der des Kl. lebt. Der Kl., der hier offenbar nicht weinerlich heult, sondern "schluchzt", hätte an dieser Stelle (ab 23'45") - ich spüre es mehr als daß ich es genau belegen könnte - mehr Zeit und warme Unterstützung in seinem Elend und dann Zeit für eine innere Sammlung in seiner "Leere" gebraucht, aus der heraus dann seine eigene Stärke hätte erwachsen können. Die "Stärke", von der im letzten Teil der Sitzung (37'15" - 43'45") so viel die Rede ist, ist die Stärke von "Topdog". Erst ganz am Schluß (44'15") - spät aber doch - kommt die Unterstützung des Th. für das Weiche im Kl. und die noch lange nicht ausgereifte Erkenntnis, daß das Weiche seine eigene Stärke hat.

Insgesamt finde ich, daß der Th. sich in dieser Sitzung für die Äußerungen und Gefühle des Kl. nicht genau genug interessiert und ihm statt dessen zu sehr seine eigenen Vorstellungen ("Topdog/Underdog"-Schema) beredsam nahelegt (besonders deutlich: 33'15" und 35'00"). Die oft objektlose Sprache des Kl. wird durch den Th. komplettiert statt vom Kl. erlebt. Die offensichtliche Schwierigkeit des Kl., Nein zu sagen, bleibt unbeachtet. So ist am Ende ein hartes Über-Ich durch ein milderes ersetzt, aber die Neigung des Kl. zur Introjektion bleibt außerhalb seines Gewahrseins bestehen.

3.4. Klaus Lumma

In der Hoffnung auf eine gute Weiterentwicklung der Gestalttherapie

Ich bitte die Leserschaft darum, meine Rückmeldungen zum Transkript ausschließlich als konstruktiv angelegten Beitrag zur Weiterentwicklung des gestalttherapeutischen Handwerkszeugs zu verstehen, nicht als Besserwisserei. Das Transkript dokumentiert eine auffällig lange Arbeit mit dem Anspruch des gestalttherapeutischen Bezugrahmens.

1. Im ersten Absatz wird deutlich, daß eigentlich gestaltorientierte Paargespräche angezeigt sind. "Die naheliegende Idee, seine Frau im Rahmen einer Partnertherapie in die Arbeit einzubeziehen, erweist sich als unrealistisch, da sie nicht bereit ist, sich zu beteiligen", schreibt der Th. als Autor. Ohne die Beteiligung der Partnerin des Kl. kann vom gesamten Kontext zwischen dem Kl. und dem Th. jedoch nur ein verzerrtes Bild entstehen, wie die Erfahrungen mit gestaltorienterter Paar- und Familientherapie zeigen.

Woher nimmt der Th. zum Beispiel die Gewißheit, daß die beiden kaum noch miteinander reden oder daß von Trennung die Rede ist. Ich würde immer wieder für eine Beteiligung der Partnerin verhandeln. Dabei käme zumindest deutlich zum Vorschein, wofür die Nichtbeteiligung der Partnerin eigentlich steht, von seiten des Kl. und des Th. betrachtet. Zum Beispiel könnte das mittels des gestalttherapeutischen Elterninterviews eruiert werden. Etwa so: Th.: "Bist du damit einverstanden, daß wir Deine Eltern interviewen, woran es liegen könnte, daß uns die Beteiligung von Hanna (erfundener Name für die Partnerin des Kl.) nicht gelingen will?" Wir stellen dann für Mutter und Vater je einen Stuhl auf, und der Th. interviewt beide, indem der Kl. deren Rollen nacheinander einnimmt. Die Eltern können in diesem Rahmen auch zum Verhalten des Th. befragt werden. Das bietet neben der Themenbehandlung außerdem eine hervorragende Möglichkeit für ehrliche Feedbacks und hilft, eventuelle Konfluenzen zwischen Therapeut und Klient aufzulösen.

2. Wenn "sie" denn schon aus welchem Grund auch immer nicht dabei ist, so würde sich anbieten, daß der Th. "ihren Vorwurf, daß er es nicht bringt" (einschließlich Sexualität) auf alle Fälle auch mittels Hot & Empty Seat so angeht, daß jene durch das "Klagen" versteckt gehaltenen, konstruktiven Lebensfähigkeiten des Kl. (einschließlich Sexualität) in den Vordergrund kommen und nicht so sehr seine Unfähigkeiten. Wenn die Fähigkeiten klar sind, kann damit konfrontiert werden, welche "Stolpersteine" im Weg liegen, kann verhandelt werden, wie die Fähigkeiten nach vorn gebracht werden können. Aus der Gestalttheorie wissen wir, wie sehr eine Neugestaltung des Vordergrundes auf das Ganze, also indirekt auch auf den Hintergrund wirkt. Je mehr es gelingt, den Vordergrund positiv zu gestalten, um so mehr wir das Ganze positiv strukturiert.

3. Noch ein Plädoyer für das Hinarbeiten auf eine Beteiligung von Hanna: Bzgl. des zehnjährigen Sohnes wird in der Paarberatung deutlich werden, daß Elternsein nicht gleichbedeutend ist mit Partnersein. Daß "sie" nicht mitmachen will, ist kein Grund dafür, Individuum bezogen weiterzuarbeiten. Wir können Partner auch zum Interview, hier eher zu einem gestalttherapeutischen "Aufklärungsgespräch über die verschiedenen Rollen des Erwachsenen" einladen. Ganz nebenbei entsteht dann außerdem ein reelleres Bild von den Wirkzusammenhängen aller Beteiligten.

4. So lange die Partnerin nicht dabei ist, würde ich auf alle Fälle kein Hehl daraus machen, daß die Gestalttherapie keinesfalls als vollständig betrachtet werden kann. Th.: "Ohne Deine Partnerin dabei zu haben, ist unsere Arbeit zweitklassig. Sollen wir nicht beide nach konstruktiven Wegen suchen, sie einzubeziehen anstatt zweitklassig weiterzuarbeiten?"

5. Das Kollabieren wird in der beschriebenen Sitzung nicht angesprochen, obwohl es mit dem Phänomen Abwertung von sich selbst zu tun hat, möglicherweise auch mit Suizidgedanken. Bei dem Verdacht des Letztgenannten würde ich auf alle Fälle einen schriftlich gefaßten Lebensvertrag abschließen, etwa so: "Ich erkläre hiermit, daß ich mir und anderen keinerlei Gewalt antue. Ich richte ab heute meine Aufmerksamkeit auf die positive Gestaltung meines Lebens." Datum und Unterschrift des Kl. kommen darunter. Der Th. erhält das Original, der Kl. eine Kopie des Abkommens mit dem der Titel Lebensvertrag.

6. Ich würde auf alle Fälle als Therapeut in dieser Sitzung weniger reden. Der Th. übernimmt viel Verantwortung für den Kl., was mich darin bestärkt, auf jeden Fall oben genannten Lebensvertrag zu schließen. Er kann auf keinen Fall schaden, bringt allenfalls eine große Beteiligung tiefer Gefühle, möglicherweise auch Widerstand.

7. An jener Stelle, an der beim Kl. vom Suchen die Rede ist, bietet sich ebenfalls das Elterninterview an. Das bringt mehr Tiefe als zu fragen "Wie fühlt sich das an, das Suchen?" Bei solchen Fragen ist das "Fühlen" allzu stark mit dem "Denken über", hier mit dem "Denken übers Suchen" verbunden. Der Th. selbst geht von seiner Einladung "zu fühlen" weg und fragt "Hast Du eine Richtung, in die Du suchst?"

8. In dem jetzt folgenden Teil des Transskipts gewinne ich immer mehr den Eindruck, daß die transkribierte Therapie eine mit wenigen Gestaltelementen gespickte Gesprächstherapie ist. Die Frage nach der Richtung bringt eine Orientierung zur vorausgehenden Stunde. Ein Weggehen von Hier & Jetzt Phänomenen ist die Folge. Statt in Vergangenheitssprache zu fragen "Kannst du Dich auch erinnern, wie du in dem Moment hier standst?" gibt es im Gestalt Sinne eine wirkungsvolle Hier & Jetzt Alternative: "Stell' Dich doch bitte noch mal so hin, wie Du Dich vom letzten Mal in Erinnerung hast und spüre nach. Ich halte mich derweil etwas zurück. Vielleicht kannst Du mir mit pantomimischen Gesten klar machen, was Du dann fühlst. Falls starke Gefühle kommen, so darfst Du sie zum Ausdruck bringen, mußt es aber nicht. Ich bin hier, um Dich zu unterstützen. Ich tu' das auf alle Fälle, auch wenn ich dabei nichts sage."

9. Den Schreck, so habe ich's bei John Brinley gelernt, würde ich in einer Hot & Empty Seat Arbeit personifizieren. Der immer wieder genannte Bezug zu Topdog und Underdog ist zwar fritzig, doch er verleitet zu sehr zum Interpretieren, Rekapitulieren und Erklären. Der Th. alternativ: "Wenn Du vom Schreck sprichst und auf den leeren Stuhl dir gegenüber schaust, erscheint dann eine Person?" Wenn keine Person "erscheint", so können wir dem Schreck immerhin noch einen Namen geben. Manchmal ist es ja so, daß Namen neue Assoziationen wecken und die vom Schreck gebundenen aggressiven Kräfte lösen können zum weiterkommen. Wenn wir zum Beispiel dem Schreck den Namen Meck gäben, so würden damit auf alle Fälle andere Gefühle hervorgerufen als die, die wir schon aus dieser und vor allen Dingen der vorangehenden Sitzung kennen.

Die 25. Sitzung hätte zum Anlaß genommen werden können, das bis dahin Gelernte in Form eines Fünfundzwanzigsten Jubiläums zu feiern. Humor ist auch in der Gestalttherapie erlaubt.

10. In einem Teil des Transskiptes wird überhaupt häufig die Vergangenheitssprache benutzt. "Sag's, als wenn es jetzt gerade passiert. So kommen wir mehr zur Verbindung mit dem, was jetzt wirkt." ist eine gestalttherapeutische Möglichkeit, auf das Aktuelle zu kommen. Statt zu sagen "Vorhin hast du da drüben gesagt ..." , kann ich als Therapeut auch sagen: "Komm' mal an die Seite und betrachte selbst, was hier geschieht." Wir nennen das den freundlichen Beobachter in der Gestalttherapie (John Brinley). "Bitte sei ein freundlicher Beobachter zu dem, was Du machst und beschreibe das Geschehene in der Gegenwartssprache." Das bringt den Kl. zu einer phänomenologischen Betrachtungsweise, die in ihrer Wirkung mit reflektierendem Denken nicht vergleichbar ist. Es geht in der Gestalttherapie um die Wahrnehmung der Wirkzusammenhänge von dem, was da wie geschieht. Der Kl. wird dann mehr gefordert, als wenn der Th. Erklärungen über das abgibt, was geschehen ist.

11. Wenn der Th. sagt "Irgendwie kommst du nicht in Gang ...", dann ist das in meinen Augen eine Dilemma verstärkende (oder gar hervorrufende) Aussage. Eine wirkungsvolle Alternative bietet die Identifikation: "Wenn wir vom Fluß reden, so laß' uns mit ihm mal eben identisch sein. Wir legen uns auf den Boden und sind der Fluß. Bist du ein reißendes Wasser? Bist du ein träger Fluß? Bin ich ein Nebenarm des Flusses? Wie bist Du? Wie bin ich? ..."

12. Nach der Anmerkung des "nicht in Gang Kommens" entdecke ich auf seiten des Th. immer mehr von dem, was wir Rogern nennen. Es kommen immer wieder Erklärungen, für die jetzt Beifall eingeholt wird: "Ist das eine passende Beschreibung?" "Ja, das paßt", sagt der Kl.. Ich höre daraus als Kommentator: "Ja, das paßt mir gut. Du arbeitest wunderbar für mich. Mach' weiter so. Dann bin ich die Verantwortung los." Der Th. erklärt statt den Kl. anzuleiten, die Phänomene selbst wahrzunehmen. Er gerät in Konfluenz, wenn er aus einer Rolle des Kl. sagt "Wenn du meine Stärke infrage stellst und an der was verändern willst, dann beißt du auf Granit." Das ist vielleicht als Paraphrasieren gemeint, hat jedoch erfahrungsgemäß Konfluenz stärkende bzw. auslösende Wirkung. Solche Rollen lassen wir den Kl. über Hot & Empty Seat Arbeit alle selbst erfahren.

13. Der Th. sagt: "Ohne diese Stärke hättest du nicht überlebt." Der Kl. fängt plötzlich an zu weinen. Ich erinnere an den Lebensvertrag. Falls ich mich wegen des Flusses vom augenblicklichen Geschehen dazu entscheiden würde, den Vertrag später zu arrangieren, so wäre ich an dieser Stelle auf jeden Fall still, damit der Tränenfluß auch ohne meine Interventionen fließen k_nnte.

14. Die Einführung des Themas Beine stoppt den Fluß und bringt ein anderes Thema hervor. Der Kl. sagt: "Es ist ... als würde ich mich auffangen." Hier nun ruft der treue John Brinley Schüler in mir: "Halt ein Th., halt inne. 'ich-mich', das klingt nach Retroflexion." Selbstunterstützung ist zwar o.k. - gelegentlich - doch könnten wir uns als Gestalttherapeuten mehr und mehr für das Dialogische, die Beteiligung des anderen öffnen, vor allen Dingen, wenn es um die Themen Auffangen und Unterstützen geht.

Last not least: Am Ende dieser Sitzung würde ich dem Kl. eine konkrete Hausaufgabe stellen: "Es kann sein, daß Deine Frau von Dir getrennt sein muß, daß Du von Deiner Frau getrennt sein mußt oder willst. Ich möchte auf alle Fälle, daß Du Dich bis zu unserer nächsten Sitzung einmal von ihr auffangen und ein anders Mal von ihr unterstützen läßt. Du mußt ihr nicht sagen, daß du diese Aufgabe hast, doch ich erwarte beim nächsten Mal Deinen Bericht über das Was und Wie des Auffangens und Unterstützens. Mach's gut. Auf Wiedersehen."

3.5. Helmut Pauls

Zunächst fällt mir auf, daß keine Diagnose (weder psychodynamisch-strukturell noch gemäß internationalen Standards wie ICD oder DSM) mitgeteilt wird, sondern eine Deskription von teils vom Klienten/Patienten geäußerten Schwierigkeiten, teils von im bisherigen Verlauf der Therapie offenbar vom Therapeuten eruierten Phänomenen. Dieses Vorgehen entspricht einer in gestalttherapeutischen Kreisen verbreiteten Ablehnung einer strukturellen und klassifikatorischen Diagnose. Statt dessen wird es bei einer alltagssprachlichen Deskription von Auffälligkeiten belassen (die an sich als Element einer "ersten Annäherung an die Phänomene" Berechtigung hat). Allerdings entgeht man dadurch allzu häufig gerade nicht den Problemen bewertender Kategorisierungen, sondern landet bei vorwissenschaftlichen Konzepten.

Meinen sehr selektiven Stellungnahmen möchte ich das mir zentralste Merkmal meines gestalttherapeutischen Grundverständnisses voranstellen: Hauptkennzeichen der Gestalttherapie als erlebensorientiertem Beratungs- und Therapieverfahren - und zugleich Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zu anderen Ansätzen - ist die Betonung des von Moment zu Moment ablaufenden Erlebensprozesses (kognitiv, affektiv, kinästhetisch, motorisch) und die Förderung bzw. Erleichterung des jeweils nächsten Schrittes im Erleben. Nicht die Bearbeitung spezieller psychischer Inhalte ist zentral, oder die Vermittlung spezieller Modifikationstechniken (doch ist beides durchaus auch Möglichkeit gestalttherapeutischen Vorgehens), sondern die Förderung von Veränderungen der Bedeutung, die der Klient im jeweiligen Moment affektiv-kognitiv erlebt.

Kommentierung des fortlaufenden Transskriptes: Unter 0'00" fällt auf, daß der Th. einleitend gleich ein Thema vorgibt. Der Kl. antwortet mit einem Bericht über seine Fortschritte (wobei hier einige Verwirrung bei ihm deutlich wird), die er schließlich als "klein" qualifiziert. Der Th. greift diese Schilderungen aber gar nicht auf (obwohl er sie doch angeregt hat, geht auch nicht auf die verwirrenden Aspekte, Ambivalenzen und geäußerten Gefühle ein). In 2'30" spricht der Th. dann von "schockiert" sein, wieder ohne die folgende Äußerung des Kl. in 3'45" zu bearbeiten.

Überrascht bin ich über die Praxis der Mitnahme und nachträglichen Anhörung der Tonbandaufnahmen der Therapiesitzungen: was im Einzelfall ggf. zu rechtfertigen wäre, scheint mir im vorliegenden Fall aufgrund der Störung und der Beziehungsdynamik problematisch zu sein (s.u.). Der Kl., der offenbar seine Therapieerfahrungen ambivalent oder unvollständig aufnimmt, lernt zu Hause brav seine Lektionen? Hier werden m.E. wichtige gestalttherapeutische Prinzipien vernachlässigt, denn die Flüchtigkeit seiner Erinnerungen ist vermutlich ein wichtiges Thema und evtl. eine kreative Leistung der Grenzziehung und Verweigerung von wahrgenommener/befürchteter (und lebensgeschichtlich erfahrener) Fremdbestimmung, die in die therapeutische Bearbeitung hineingehört.

Ab 4'45" initiiert der Th. einen Awarenessprozeß, auf den der Kl. sich einläßt. Warum geht der Th. in 6'30" nach der "längeren Pause" nicht auf "so was Angespanntes" ein? Er sucht hier statt dessen ein Thema, das m.E. im unmittelbaren Erlebensprozeß bereits aufgreifbar wäre. Bis 8'30" versucht der Th. den Kl. in die Dynamik der vergangenen Sitzung zurückzuführen, statt mit dem gegenwärtigen Erlebensprozeß zu arbeiten. Der Th. läuft Gefahr, dem Kl. die Verantwortung für die Gestaltung abzunehmen und die rudimentären Selbstbestimmungsversuche des Kl. zu übergehen.

Bei 9'00" steigt der Th. wieder auf unmittelbares Geschehen ein und leitet einen klassischen Gestaltdialog "Topdog"-"Underdog" ein, der dann bis 12'30" abläuft. Bei 12'30" verläßt der Th. diese prozessuale Arbeit und "überlegt". Der Erlebensprozeß des Kl. wird dadurch unterbrochen. Der Kl. reagiert dann aber auf eine mitfühlende Äußerung des Th. mit Weinen. Bei 15'00" Ùbernimmt der Th. wieder die Initiative und leitet wieder zum Gestaltdialog über. Der Kl. läßt sich wieder darauf ein. Hier kommt eine Weiterführung des Erlebensprozesses in Gang. Fraglich bleibt, ob bei 16'00" wirklich die Topdog-Position die adäquate Deutung ist.

Unter 17'30" macht der Th. den Kl. auf Veränderungen in der Qualität der Topdog-Äußerungen aufmerksam, was dieser bestätigt und was darauf hinweist, daß offenbar ein Prozeß der "Versöhnung" der Gegensätze zwischen Top- und Underdog begonnen hat.

In der Kl.-Äußerung nach 18'30" und der angefügten Erläuterung wird m.E. ein sehr wichtiges Thema angedeutet: Die eigene "Wahrheit" des Kl. tritt allzuoft hinter sein "Aufgesetztes", "Produziertes" zurück. Darauf geht der Th. nun nicht näher ein, sondern reagiert ab 19'30" eher mit Erklärungen. Der Kl. antwortet mit Verwirrung! Aber der Th. geht nun hierauf wiederum nicht ein, sondern versucht den Kl. von seinen Interpretationen zu überzeugen. Der Th. reagiert ab 21'00" weiterhin mit Erklärungen, anstatt die Verwirrung aufzugreifen (als Versuch der Abgrenzung und Selbststeuerung in Richtung des Kl. - "meiner" - Wahrheit).

Hier scheint deutlich zu werden, daß es ein mehrfach aufgetretenes Muster gibt: Der Th. geht wenig auf des Kl. unmittelbares Erleben ein oder unterbricht mit Interpretationen bzw. Erklärungen. Ich fürchte, der Th. erkennt die entstandene Übertragungs-Gegenübertragungsdynamik nicht hinreichend. Der Th. macht die Vorgaben, der Kl. folgt. Der Kl. wird dadurch in der Formung "seiner Wahrheit" zu wenig gefördert, teilweise gehindert. Der Th. läuft Gefahr, durch Überengagement (bzw. dadurch, daß er "für" ihn arbeitet), den Kl. in Abhängigkeit zu halten.

Ab 22'45" wird wieder die Fortführung des Gestaltdialoges eingeleitet, den der Th. bei 25'45" zunächst wieder durch Erklärung und Bewertung unterbricht (und zwar wieder bei der Thematik der "Leere"). Erwartungsgemäß übernimmt der Kl. diese Äußerungen zunächst wieder.

Dann wird es sehr interessant: Nach 28'45" wird des Kl. Widerstand deutlicher, und er wirkt auf den Th. "wacher". Offensichtlich versucht der Kl. sich abzugrenzen, doch der Th. beharrt in 30'45" auf seinen Interpretationen, ohne die doch belebende Dynamik wirklich konkretisierend aufzugreifen. Ab hier (30'45") fällt auf, daß der Th. deutlich länger spricht als der Kl.. Diese Phase geht bis 35'00". M. E. versucht der Th. hier, den Kl. zur Übernahme seiner Interpretationen zu bewegen, anstatt den Kl. seinen Prozeß gehen zu lassen - wobei der Kl. wohl nicht viel davon mitbekommen dürfte (deshalb muß er sich dann wieder das Tonband der Stunde mit nach Hause nehmen?).

Dann geht es mit einem Gestaltdialog weiter, den ich aufgrund des mir vorgegebenen Rahmens für diesen Kommentar nicht weiter analysieren kann. In dieser abschließenden Phase werden durchaus positive Ansätze in Richtung der eigenen Stärke und Selbstunterstützung des Kl. erkennbar, wobei nach meinem Eindruck auch Vorsicht geboten sein könnte, inwiefern der Kl. sich hier nur auf die durch den Th. nahegelegte Dynamik einläßt (also in seinem gewohnten Sicherungsmuster verbleibt).

Zusammenfassende Bewertung: Ich bin jetzt etwas erschrocken über meine kritische Kommentierung. Denn ich weiß, daß Mut dazu gehört, sich mit einer Arbeit der Öffentlichkeit zu stellen, und es ist immer leichter, mit Abstand und nachträglich Kritik zu üben. Doch geht es im vorliegenden Projekt ja wohl um klare Positionsbestimmungen: Zwar werden gestalttherapeutische Techniken und Erklärungsmodelle herangezogen, aber die Orientierung am Erlebensprozeß des Kl. wird häufig unterbrochen durch Erklärungen und Fremddeutungen, die der Klient eher "unzerkaut schluckt" als wirklich verarbeiten kann. In der Gestalttherapie besteht ohnehin eine gewisse Gefahr, durch die stark direktiven Techniken Klienten zu wenig Zeit und Raum für selbstentfaltende Prozesse zu geben. Die Beziehungsdynamik zwischen Kl. und Th. ist kritisch zu sehen, und wichtige Widerstandsphänomene werden ebenso wie Impasseaspekte nicht aufgegriffen.

4. Stellungnahme und abschließende Gedanken

(Frank-M. Staemmler)

Ich möchte meine Stellungnahme in drei Teile untergliedern: Im ersten Teil werde ich kurz meine Sicht des Sitzungsverlaufs darstellen. Vor diesem Hintergrund werde ich dann im zweiten Teil auf bestimmte Aspekte der Kommentare eingehen, die mir besonders wichtig erscheinen. In einem dritten Teil werde ich schließlich versuchen, den Wert des mit diesem Artikel durchgeführten Experiments insgesamt zu beurteilen.

4.1. Meine Sicht des Sitzungsverlaufs

Die Sitzung besteht inhaltlich zum überwiegenden Teil in der Auseinandersetzung des Kl. mit einem intrapsychischen Konflikt, bei dem sich zweiten Seiten gegenüberstehen: Der von Fritz Perls sogenannte "Topdog" und sein notwendiger Gegenspieler, der "Underdog". "Der Topdog ist rechtschaffen und autoritär; er weiß alles besser. (...) Der Topdog ist ein Tyrann und arbeitet mit 'Du sollst' und 'Du sollst nicht'. Der Topdog manipuliert durch Forderungen und Androhung von Katastrophen ... Der Underdog manipuliert, indem er sich ständig verteidigt und rechtfertigt, sich anbiedert und Heulsuse spielt. (...) Und der Underdog geht etwa so vor: 'Manana'. 'Ich tu mein Bestes'. 'Schau her, ich versuch's immer wieder. Ich kann nichts dafür, wenn es nicht geht'. (...) So kämpfen also der Topdog und der Underdog um die Herrschaft" (Perls 1974, 26 f.).

Die Arbeit mit dem Topdog-Underdog-Konflikt hat besonders in der Perls'schen Tradition der Gestalttherapie eine große Bedeutung; Perls scheint es geradezu geliebt zu haben, diesen Konflikt zu bearbeiten. Nach meiner Meinung wurde er von Perls aber sowohl unter- als auch überschätzt. Die Unterschätzung sehe ich darin, daß es sich dabei nicht nur um ein Selbstquäl-Spielchen handelt, wie Perls es gelegentlich hinstellte, sondern um eine Dynamik, die das Seelenleben mancher KlientInnen völlig beherrschen und bis zu Selbstmordversuchen führen kann (vgl. Paul 1970). Die Überschätzung liegt für mich in der impliziten Annahme, ein therapeutischer Fortschritt könne im Bezugsrahmen dieses Konflikts erzielt werden, z.B. durch den 'Sieg' einer der beiden Seiten oder eine Art Versöhnung oder Kompromißbildung zwischen Topdog und Underdog, denn "... sie sind Teile eines einzigen disfunktionalen Systems ..." (Friedman 1989, 277; Staemmler 1994b). Das wird offensichtlich, wenn man sich die beiden Seiten dieses Konflikts genauer ansieht. Beide werden schnell als Alternativen erkennbar, die, jede für sich genommen, so wenig Attraktivität besitzen, daß man keiner einen 'Sieg' wünschen möchte und sich außerdem kaum vorstellen kann, wie aus irgendeiner Verbindung von beiden etwas wirklich Produktives hervorgehen sollte. In meiner Sicht handelt es sich um falsche Alternativen. Ich nenne die Auseinandersetzung zwischen Topdog und Underdog daher ein "unfruchtbares Selbstgespräch" (Staemmler 1995).

Nun kann man als Therapeut natürlich einen Klienten nicht einfach veranlassen, dieses unfruchtbare Selbstgespräch kurzerhand aufzugeben. Die längerfristige therapeutische Strategie und die Aufgabe des Therapeuten besteht gemäß Beissers "paradoxer Theorie der Veränderung" (1995, 1997) darin, die Bewußtheit des Klienten von der Unfruchtbarkeit dieser falschen Alternativen und ihrer stagnativen Qualität zu fördern sowie ihm die Entdeckung einer echten Alternative zu ermöglichen. So bin ich in dieser Sitzung vorgegangen - mit dem Resultat, daß der Kl. nicht nur erfuhr, wie selbstzerstörerisch sein unfruchtbares Selbstgespräch für ihn war, sondern daß er auch entdeckte, welche unterstützende Funktion es einmal für ihn hatte, und er schließlich herausfand, wie er beginnen kann, sich heute auf neue, nicht selbstdestruktive Art zu unterstützen.

Damit hatte der Kl. im Ansatz das entwickelt, was wir in unserer Prozeßtheorie den "expansiven Pol" nennen (Staemmler u. Bock 1991/1997). Er war am Ende der Sitzung dabei, die Phase der Stagnation (unfruchtbares Selbstgespräch) hinter sich zu lassen und in ein fruchtbares Selbstgespräch zwischen echten Alternativen einzutreten. Es begann spürbar zu werden, daß das unfruchtbare Selbstgespräch sinnlos ist und ihn daran hindert, seiner neu entdeckten Möglichkeit der weichen Selbstunterstützung nachzugehen. Die wirkliche Alternative besteht also in der weichen Selbstunterstützung auf der einen Seite und der Selbstquälerei des unfruchtbaren Selbstgesprächs auf der anderen. Mit diesem Entwicklungsschritt eröffnete sich der Kl. den Zugang zur zweiten Phase seines Veränderungsprozesses, die wir "Polarisation" (vgl. a.a.O.) nennen.

4.2. Stellungnahme zu einigen Aspekten der Kommentare

Es wird den LeserInnen bereits aufgefallen sein, daß die zusammenfassenden Stellungnahmen der Kommentatoren die ganze Bandbreite möglicher Reaktionen umfassen. Sie reichen von einem klaren "entspricht i.W. meinen Vorstellungen von gestalttherapeutischer Arbeit" (Bessel) zu einem ebenso klaren "entspricht ... nicht meinen Verständnis von Gestalttherapie" (Bocian). Dreitzel "finde(t) das nun eine am Ende gut gelungene gestalttherapeutische Sitzung" und "genuine Gestalttherapie", während Lumma große Teile für "Rogern" hält und Pauls sie so kritisch sieht, daß er zuletzt sogar selbst darüber erschrickt. Man muß daraus schließen, daß die Vorstellungen, die die an diesem Artikel Mitwirkenden von der Gestalttherapie haben, untereinander deutlich divergieren. Meine Resonanzen auf die Lektüre der Kommentare umfaßten ebenfalls eine breite Palette: Ich empfand Zufriedenheit über die erfahrene Bestätigung, Neugierde und Interesse an mancher Kritik, aber auch Verwunderung, Irritation und Verständnislosigkeit hinsichtlich mancher Vorschläge für alternative Vorgehensweisen sowie hinsichtlich einiger Kommentare.

Nun zu einzelnen Aspekten:

Diagnostik: Unter MedizinerInnen gilt heute noch die traditionelle Regel "Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gestellt". In der Gestalttherapie, wie sie von Perls, Hefferline und Goodman formuliert wurde - und auch wie ich selbst sie verstehe -, sind "Diagnose und Therapie ... derselbe Prozeß" (1979, 243). Pauls bemängelt am Anfang seines Kommentars, "daß keine Diagnose (weder psychodynamisch-strukturell noch gemäß internationalen Standards wie ICD oder DSM) mitgeteilt wird", und folgert daraus, man "landet bei vorwissenschaftlichen Konzepten". Aus meiner Sicht gelingt es Pauls mit dieser Anmerkung nicht, eine Position zu formulieren, die rationalen Kriterien standhält: Daß keine Diagnose mitgeteilt wird, läßt zunächst noch keinen Rückchluß darauf zu, ob eine getroffen wurde. Die durchaus zu begründende "Ablehnung einer strukturellen und klassifikatorischen Diagnose" bedeutet außerdem keineswegs automatisch, bei vorwissenschaftlichen Konzepten zu landen. Bekanntlich gibt es verschiedene Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit, und "internationale Standards" sind nicht unbedingt das Resultat wissenschaftlich begründeter Entscheidungen, sondern beruhen erfahrungsgemäß oft auf Kompromissen zwischen politischen Mächten (man denke nur an die europäischen Standards bei der Bekämpfung von BSE). Für die Borderline-Diagose hat dies z.B. Kroll (1988) in einem Kapitel über "The Politics and Economics of the Borderline Diagnosis" eindrücklich aufgezeigt.

Zudem hat sich die Zuverlässigkeit von DSM-Diagnosen selbst im Rahmen eines konventionellen, positivistisch-empirischen Wissenschaftsverständnisses schon ebenso häufig als mangelhaft erwiesen (vgl. z.B. Frances et al. 1984) wie im psychoanalytischen (vgl. z.B. Abend et al. 1994) - ganz zu schweigen von den schädlichen Nebenwirkungen durch Labelling-Effekte oder geschlechtsspezifische, speziell Frauen benachteiligende Verzerrungen (z.B. Henry u. Cohen 1983, Herman et al. 1989, Rohde-Dachser 1994, 79ff.). Schließlich ist es fragwürdig, die Anwendung "psychodynamisch-struktureller" Diagnostik in einem gestalttherapeutischen Kontext zu fordern, nicht nur weil auch deren wissenschaftliche Legitimation gründlich bezweifelt werden kann, sondern weil der Nachweis ihrer Kompatibilität mit gestalttherapeutischen Grundannahmen bislang nicht auch nur ansatzweise gelungen ist (zu alledem vgl. Staemmler 1993, 1997).

Bezug zur Vergangenheit: Ein Punkt, der von mehreren Kommentatoren vorgebracht wird, betrifft den (vermuteten, wenn auch recht wahrscheinlichen) Zusammenhang zwischen dem rigiden Topdog des Kl. und "verinnerlichten Elternrepräsentanzen" (Bocian) bzw. einer "introjizierten Vaterfigur" (Dreitzel). Dreitzel bemängelt, daß der Kl. "sich ohne Gewahrsein in dieser Position identifiziert", und ich verstehe auch Bocians Hinweis als Kritik daran, daß der lebensgeschichtliche Hintergrund dieses Topdogs nicht eruiert und bewußtgemacht wird. Aus meiner Sicht lassen die Kollegen außer acht, daß die lebensgeschichtliche Funktion des unfruchtbaren Selbstgesprächs nach meinen Interventionen (39'30"ff.) durchaus klar wird. (Diese folgen übrigens der Feststellung von Perls, "... daß wir nur dann erfolgreich mit den Widerständen umgehen können, wenn wir die Tatsache, daß der Patient seine Widerstände als 'Beistand' ansieht, richtig würdigen" (1978, 183)). Sie haben aber recht, daß ein Bezug zu Elternfiguren bzw. -repräsentanzen nicht hergestellt wird.

Hier ist für mich die Frage des Timings ganz wichtig. Aus meiner Sicht hätte zum gegebenen, relativ frühen Zeitpunkt in der Therapie die Gefahr bestanden, daß der Kl., der ohnehin stark dazu neigte, sich als Opfer zu sehen, Hinweise auf den bestrafenden Vater zum Anlaß genommen hätte, jene Selbstverantwortung für seine Topdog-Underdog-Selbstquälerei wieder zu relativieren und dem Vater zuzuschieben, die er im Verlauf der Sitzung übernommen hatte. Gerade bei der vorliegenden Problematik ("depressive Kontaktprozesse" - Dreitzel) spielt doch der vom Kl. erlebte "locus of control" erfahrungsgemäß eine entscheidende Rolle (vgl. Rotter 1966, Mielke 1982 und besonders Seligmans, 1975, Konzept der "erlernten Hilflosigkeit"). Bevor der Kl. in sich einigermaßen stabile, positive Formen der Selbstunterstützung entwickelt hat - womit er in der vorliegenden Sitzung ja erst beginnt -, halte ich es darum für eher kontraproduktiv, wenn der Therapeut von sich aus auf Bezugspersonen aus der Vergangenheit verweist.

Übertragung/Gegenübertragung: Einen ähnlichen Standpunkt vertrete ich hinsichtlich der von einigen Kommentatoren angesprochenen Übertragungsdimension, speziell was ihre positiven Aspekte betrifft (vgl. Staemmler 1993, 120ff., insbesondere 144ff.). Dessen ungeachtet finde ich es eine fruchtbare Anregung von Bocian, eventuellen negativen Untertönen, wie sie vielleicht am Anfang der Stunde bezüglich der vorangegangenen Sitzung mitschwangen, mehr Beachtung zu schenken. Ich halte es zwar gerade am Anfang der Therapie mit einem Menschen, der so wenig positive Beziehungserfahrungen gemacht hat, für sehr wichtig, ihm seine positiven Übertragungen, manchmal selbst seine Idealisierungen (vgl. Kohut 1975, 195), eine zeitlang zu lassen, weil sie oft seine einzige Möglichkeit darstellen, eine stabile Verbindung zum Therapeuten aufzunehmen. Das bedeutet natürlich auch, daß negative Übertragungsanteile zunächst nur sehr dosiert in den Vordergrund gebracht werden können, damit die positiven von ihnen nicht zerstört werden. Sie jedoch gar nicht aufzugreifen kann, wie Kernberg (1983, 340ff.) mit Recht kritisch gegen Kohut eingewendet hat, zu einer Adressierung der negativen Gefühle nach außen, z.B. an die Partnerin führen, was gerade in dem vorliegenden Fall hinsichtlich der Ehesituation des Kl. unerwünschte Konsequenzen haben könnte (vgl. Rohde-Dachser 1994, 166ff.).

Auch dem speziell von Dreitzel betonten Hinweis auf eventuell unbeachtet gebliebene Gegenübertragungsvorgänge kann ich zustimmen. Die Annahme einer mir während der Sitzung nicht bewußten "Gegenübertragung" (ich mag diesen Begriff nicht - vgl. Staemmler 1993, 158ff), die sich darin äußert, daß die "Interaktion von der Energie des Th." lebte, leuchtet mir spontan ein. Wenn ich diese Sitzung mit anderen Transkripten meiner Arbeit vergleiche, stelle ich selbst auch fest, daß ich hier wirklich mehr Strukturen setze und Formulierungen liefere als im allgemeinen. Eine "Gegenübertragung" zu vermuten entspricht auch einem gewissen Unbehagen, das ich während der Sitzung empfand, das aber so unterschwellig blieb, daß ich es nicht formulieren bzw. direkt nutzen konnte. Eventuell versteckte es sich in meiner Rückmeldung an den Kl. bezüglich seiner 'Müdigkeit'. (Meinen Dank an die Kollegen Bocian und Dreitzel für die hilfreiche Supervision!)

Der Weg des Kl.: In diesem Zusammenhang greife ich aus Bessels Kommentar das Stichwort "Nein-sagen" heraus, auf das er besonders eingeht, und das ja auch von anderen Kommentatoren aufgegriffen wird. Ich stimme völlig zu, daß die Fähigkeit und die Bereitschaft des Kl. zum Widerspruch in der transkribierten Sitzung nur begrenzt zum Ausdruck kamen und zu jenem Zeitpunkt offenbar auch noch relativ wenig entwickelt waren. (Es ist allerdings auffällig, wie spontan und rückhaltlos er auch nein sagen konnte, wenn eine Aussage des Th. - 28'45" - wirklich nicht für ihn paßte; sein Lachen wirkte an dieser Stelle auf mich eher als Unterstreichung seiner Ansicht, wie deplaziert meine Idee vom Vertrösten für ihn war.) Daß die Weiterentwicklung dieser Fähigkeit ein wichtiges Therapieziel für den Kl. darstellte und die damit verbundene aggressive Potenz als etwas Wünschenswertes zu sehen war und auch generell positiv zu sehen ist, steht für mich gleichfalls außer Frage.

Die Frage ist für mich vielmehr, welchen Weg der Klient in Richtung auf dieses Ziel einschlägt. Wie der Verlauf der vorhergehenden und der transkribierten Stunde zeigen, entschied er zu diesem Zeitpunkt, sich zunächst mit seinen innerpsychischen Voraussetzungen für eine erfolgreich nach außen gerichtete Aggressivität zu befassen. Als Resultat seiner Bewußtheit von dem stagnativen Selbstgespräch (s.o.) zwischen Topdog und Underdog entdeckte er am Ende der Sitzung erst einmal ein Bedürfnis nach einer neuen, weicheren Form der Selbstunterstützung. In dieser sehe ich im hier stattfindenden Prozeß des Kl. den "zu wenig entwickelten" (Bessel - in meiner Terminologie:) "expansiven" Pol. Diesem Pol steht die falsche Alternative zwischen Topdog und Underdog gegenüber, der insgesamt Vermeidungscharakter zukommt. (Insofern sehe ich keinerlei Grund, mich auf die Seite des Underdog zu schlagen.)

Zum Begriff der "Selbstunterstützung" noch eine Bemerkung zu Lumma: Wenn sie eine "Retroflexion" darstellte, wie er behauptet, hieße das nach der Perlsschen Definition des Begriffs, daß der Kl. vermiede, jemand anderen zu unterstützen, und es stattdessen mit sich selbst macht (vgl. Perls 1976, 58ff.). Auf die Plausibilität einer solchen Deutung habe ich keinerlei Hinweis, auch nicht darauf, daß der Kl. eigentlich lieber von seiner Frau Unterstütztung bekommen hätte als sich selbst zu unterstützen, wie die von Lumma empfohlene Hausaufgabe suggeriert.*

Selbstgespräch-Technik: Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie, wenn der Kollege Bocian, der nicht wußte, wer der Verfasser des Transkripts war, sich in der Erwartung auf den "Kollegen Staemmler" bezieht, dieser werde die Einführung der Selbstgespräch-Technik wohl als zu schnell und stereotyp kritisieren. Dieser Erwartung kann ich nicht entsprechen, denn der Th. führt die Technik über fast zwei Minuten hinweg Schritt für Schritt und im Einklang mit seiner erwähnten Veröffentlichung ein. Das beginnt nämlich schon bei 7'30", wo der Arbeitsvertrag mit dem Kl. geklärt wird, der für diese Stunde gelten soll. Das Anliegen des Kl. wird mit der Frage 7'45" inhaltlich präzisiert und mit der Intervention 8'30" szenisch-memorativ aktualisiert. Die Anregung 8'45" greift der Kl. auf, er visualisiert den Topdog und hat, in seiner sitzenden Position, als Underdog eine unmittelbare körperliche Reaktion; er erschrickt. (Die Unmittelbarkeit und Prägnanz der Reaktion könnte Lumma zeigen, daß dieser unauffällige Weg recht direkt ins Hier und Jetzt führt - vgl. seinen Punkt 9) Damit befindet sich der Kl. bereits in einem (visuell-körperlichen) Selbst-'Gespräch'. Das Erschrecken ist ja bereits eine nonverbale Antwort auf den Topdog, die dann mit der Frage 9'15" vom Th. um die verbale Ebene ergänzt wird. Die Frage 9'15" dient insofern nur noch dazu, ein bereits zuvor begonnenes implizites Selbstgespräch des Kl. explizit zu machen (vgl. Staemmler 1995, 53). Dadurch erübrigt sich auch der Einsatz irgendwelchen Mobiliars.

Dieses Vorgehen steht für mich in Übereinstimmung mit der grundsätzlichen gestalttherapeutischen Strategie, den Prozeß des Klienten aufzugreifen und durch Bewußtheit aller beteiligten Ebenen zunehmende Ganzheit und Prägnanz zu fördern (vgl. Beisser 1995). Sie hat für mein Empfinden auch nichts Eiliges, wie man nachvollziehen kann, wenn man die entsprechende Passage mit einem parallelen Blick auf die Uhr liest und dabei spürt, wieviel Zeit sie in Anspruch nimmt. Das gilt übrigens auch für das vom Th. mitbestimmte Tempo der restlichen Sitzung. Bocians Vermutung, der Th. "scheine mehr Aktion zu brauchen", erscheint mir daher nicht plausibel; ich hatte durchaus das Gefühl, die Schwere des Kl. zu akzeptieren. Ich fühle mich versucht, Bocians Vermutung weiterzureichen; wenn ich Lummas Kommentar lese, scheint sie mir hier besser plaziert. Bei der Unmenge der von ihm vorgeschlagenen "Hot & Empty Seat Arbeit" (Partnerin auf den leeren Stuhl, "Elterninterview", Schreck als "Meck", Fluß sein etc.) sowie der vielen anderen Techniken ("Aufklärungsgespräch", "Lebensvertrag", "freundlicher Beobachter", Hausaufgabe), die er einführen würde, wird mir geradezu schwindlig.

Hermeneutik: Auf zwei Punkte aus Dreitzels Kommentar möchte ich gerne noch eingehen, erstens auf seinen Hinweis auf die "fruchtbare Leere" und zweitens auf seine Gedanken zum Vor- und Nachkontakt während der Sitzung. Im ersten Punkt bin ich gegensätzlicher Meinung. Ich glaube keineswegs, daß es sich "auf jeden Fall gelohnt hätte, den Kl. bei der 'Leere' festzuhalten". Ich hielte das, im Gegenteil, an dieser Stelle sogar für kontraindiziert. Nicht jede Form der Selbstwahrnehmung, die KlientInnen mit dem Wort "Leere" bezeichnen, hat die Chance, fruchtbar zu werden. Manche Formen der "Leere" können durchaus völlig unfruchtbar sein; die hier gemeinte (12'00"), im weiteren auch als "Gefühllosigkeit" gekennzeichnete gehört m.E. dazu. Mich wundert, wie Dreitzel, der die zentrale Problematik des Kl. als "depressive Kontaktprozesse" erkennt, die depressive Qualität der Leere so optimistisch deuten kann. Diese depressive Leere wird nicht nur von Mentzos in seinem einschlägigen Buch als Vermeidung charakterisiert: "Primär und hauptsächlich hat diese innere 'Lähmung', wie der Zustand von Patienten oft benannt wird, die Funktionen der chronischen Vermeidung und Überdeckung des Konflikts, der Blockade der Auseinandersetzung und der generalisierten Zurückstellung eigener Ansprüche" (1995, 136f.). Eine Deutung der "Leere" (wie jedes anderen Phänomens) sollte daher im Kontext der vorliegenden Problematik des Kl. erfolgen.

Überdies tritt die "Leere", wie ich oben gezeigt habe, innerhalb der Phase der Stagnation auf; das ist für mich ein weiterer, bedeutsamer differentialdiagnostischer Indikator. Den Kl. bei ihr "festzuhalten" (!) hieße nichts anderes, als ihn in seiner Symptomatik und damit in seinem Leiden festzuhalten. Empfindungen von "Leere", wie sie für die spätere Phase der Diffusion typisch sind, können dagegen sehr fruchtbar werden. Eine Deutung der "Leere" (wie jeder anderen emotionalen Qualität) sollte daher immer nur im Kontext mit der Prozeßphase erfolgen, innerhalb derer sie auftritt. - Ähnlich kritisch sehe ich Pauls' Anmerkung, der Th. habe versäumt, "Impasseaspekte" aufzugreifen. Dies zu tun würde voraussetzen, daß der Kl. sich bereits im "Impasse" befunden habe. Nach meinem Prozeßverständnis waren wir noch weit davon entfernt.

Wir sind hier, nebenbei bemerkt, bei der Thematik angekommen, auf die Bessel berechtigterweise aufmerksam machen will: "Bewußtheit dafür, daß und wie ich interpretiere." Auch wir GestalttherapeutInnen tun das ja ständig. Daß wir das nicht unbedingt im psychoanalytischen Sinne tun, heißt keinesfalls, wir täten es überhaupt nicht: "... jeder Anspruch von Gestalttherapeuten, nicht zu analysieren oder zu interpretieren, ist völliger Unsinn. Jede Beobachtung fügt den Daten auf vielfältige Weise etwas hinzu. Die Entscheidungen darüber, was beobachtet und was hervorgehoben wird, und welche Bedeutungen aus der Interaktion zwischen Beobachter und Beobachtetem hervorgehen, fügen den Daten etwas hinzu. Die Experimente, die wir vorschlagen, die Hausaufgaben, die wir entwerfen, unsere emotionalen Reaktionen entstehen alle aus den Bedeutungen, die sich in der phänomenologischen Interaktion entwickeln, und schließen Inferenzen ein" (Yontef 1993, 405).

Es geht um die Frage der Hermeneutik, d.h. wie und anhand welcher Kriterien Bedeutungen von KlientInnen und TherapeutInnen erarbeitet und vergeben werden. Darüber ist unter GestalttherapeutInnen noch wenig nachgedacht worden. Sowohl die von manchen Kommentatoren vorgebrachte Kritik an meinem Vorgehen von 25'45" bis 35'00" als auch der diesbezügliche Dissens zwischen den verschiedenen Kommentaren macht das sehr deutlich. Ich will dazu nur eine kurze Anmerkung von Gadamer zitieren, der betont, daß "... alles Verstehen immer mehr ist als ein bloßes Nachvollziehen einer fremden Meinung. Indem es fragt, legt es Sinnmöglichkeiten offen, und damit geht, was sinnvoll ist, in das eigene Meinen über" (1972, 357). Solche Fragen sind mir im Sinne einer Haltung "kultivierter Unsicherheit" (Staemmler 1994a) sehr wichtig, weil Bedeutungen im therapeutischen Dialog so transparent gemacht und gemeinsam überprüft werden können. Darin - nicht im Einholen von Beifall - liegt ihr Sinn und auch der von Verbalisierungen, die ich weder im eigenen Interesse noch in dem von Carl Rogers abgewertet wissen will (vgl. Lummas Punkte 8 und 12). Im Übrigen darf man die tentative Formulierung einer "Realphantasie" (vgl. Buber 1984) nicht per se mit Konfluenz in einem Topf schmeißen (vgl. Staemmler 1993, 44ff. und 70f.).

Vor- und Nachkontakt: Abschließend zur Frage des Vor- und Nachkontakts innerhalb einer Sitzung. Dreitzel stellt fest: "Der Th. konzentriert den Vorkontakt sofort auf das Anknüpfen an der letzten Stunde". Pauls merkt in demselben Sinne an, "daß der Th. einleitend gleich ein Thema vorgibt". Dreitzel fragt dann nach dem "Nachkontakt innerhalb der Stunde" und konstatiert: "Jedenfalls in der hier zu besprechenden Sitzung gibt es praktisch keinen Nachkontakt im Sinne von Nachspüren und Einschätzen dessen, was da gewesen ist." Wenn man einmal beiseite läßt, daß eine interessierte Nachfrage nicht gleichbedeutend damit ist, ein "Thema vorzugeben", stimme ich den Beschreibungen der Kollegen zu und kann die kritischen Anmerkungen verstehen. Ich möchte allerdings die Frage stellen, ob die Kollegen hier einer unausgesprochenen Regel folgen, nach der man die anfängliche Strukturierung der Sitzung ganz dem Klienten zu überlassen habe. (Mir ist weder eine solche Regel bekannt noch ihre eventuelle Begründung.)

Für mich war die vorangegangene Sitzung in gewissem Sinne eine 'offene Gestalt' geblieben, weil sie sozusagen mitten in der Beschäftigung mit dem "unfruchtbaren Selbstgespräch" des Kl. zuende ging, ohne daß irgendein neuer Aspekt (wie am Ende der transkribierten Stunde) aufgetaucht wäre. Darum war ich neugierig, wie der Kl. mit diesem unterbrochenen Prozeß in der Zwischenzeit zurande gekommen war. Außerdem war mir wichtig, immer wieder zu überprüfen, welche Wirkungen unsere Arbeit an den Repräsentationsleistungen des Kl. zeigte, d.h. wie gut der Kl. vorherige Stunden im Gedächtnis behalten hatte. Interessant war, daß er offenbar nicht nur eine sehr plastische und leicht wiederzubelebende Erinnerung an die letzte Stunde hatte - ich hätte ihn bei dieser Gelegenheit natürlich fragen können, ob er das vorübergehend eingeführte Hilfsmittel der Tonbandaufzeichnungen immer noch brauchte -, sondern auch sehr motiviert schien, den Prozeß wieder aufzunehmen. Insofern war es für mich stimmig, direkt an die letzte Stunde anzuknüpfen, und ich fühlte mich vom Kl. durch seine Reaktion bestätigt.

Im Übrigen mag ich es natürlich auch lieber, wenn jede Stunde für sich in irgendeiner Weise 'rund' ist. Wenn sie es aber nicht von sich aus wird, erzwinge ich es nicht, sondern ziehe es vor, eben das am Schluß zu markieren, eine inhaltliche Zusammenfassung zu machen und dann im Interesse der Kontinuität am Anfang der folgenden Sitzung darauf bezug zu nehmen. Therapeutische Prozesse sind einfach zu 'organismisch', um sich mit den Zeittakten von Sitzungsterminen synchronisieren zu lassen. Das wird auch in der transkribierten Sitzung offensichtlich: Die Entdeckung, die der Kl. am Ende macht, kommt gerade noch 'rechtzeitig' im Zeitrahmen der Sitzung, aber es bleibt keine Zeit mehr für das "Nachspüren und Einschätzen dessen, was da gewesen ist", wie Dreitzel richtig bemerkt. Das ist natürlich ein Mangel. Wie geht Dreitzel, wie gehen andere KollegInnen mit solchen Situationen um? Die Arbeit früher zu beenden, um noch Zeit zum Nachspüren und Einschätzen zu haben, ist zwar oft eine Möglichkeit, im vorliegenden Fall hätte das aber eben jenen Prozeß unterbrochen, der für den Kl. noch eine neue Entdeckung ermöglichte - auch ein Verlust an Substanz. Die Sitzung zu verlängern kann andere Nachteile mit sich bringen und ist oft auch aus Termingründen nicht machbar.

Weitere Fragen wären: Haben Dreitzel oder andere KollegInnen bestimmte Kriterien für das, was sie innerhalb des Vor- und Nachkontakts während einer Sitzung tun und nicht tun? Überlassen sie es am Anfang immer ganz den KlientInnen, den Vorkontakt zu gestalten? Wie gehen sie damit um, wenn 'unerledigte Geschäfte' nicht wieder aufgegriffen werden, was ja besonders bei 'heißen Eisen' immer wieder vorkommt? - Über all diese Fragen könnte ein interessanter, Praxis-orientierter Austausch stattfinden.

4.3. Abschließende Bewertung

Damit komme ich zur Auswertung des mit diesem Artikel durchgeführten Experiments. Ich muß vor allem sagen, daß ich es ausgesprochen anregend fand, die Ansichten der KollegInnen kennenzulernen und mich mit ihren Kommentaren auseinanderzusetzen.

Natürlich waren die schon im Voraus thematisierten Grenzen der Methode spürbar, das Transkript einer einzelnen Sitzung zur Grundlage zu machen: Im Unterschied zu Erfahrungen, die ich in der kollegialen Supervision im direkten Kontakt häufig mache, habe ich mich durch die Kommentare an mehreren Stellen mit meinem Arbeitsstil und meiner therapeutischen Haltung nicht wirklich gesehen gefühlt. Das hat sicher ebenso viel mit der Methode zu tun wie das gelegentliche Gefühl der Kommentatoren, mehr oder weniger im Dunkeln zu tappen. Diese Nachteile ließen sich wohl nur durch eine sehr viel umfangreichere Falldarstellung und unter Einbeziehung verschiedener Medien (zum Teil) vermeiden.

Wenn man aber an die Kommentatoren nicht den unrealistischen Anspruch stellt, dem konkreten Therapeuten und seiner Arbeit in einem umfassenderen Sinne gerecht werden zu sollen, erweist sich das Experiment in meinen Augen auch mit der hier angewandten Methodik als sehr fruchtbar. Gerade weil sie Raum läßt für Vermutungen, Konstruktionen und vielleicht auch Projektionen wird sie zu einem ergiebigen heuristischen Instrument, mit dessen Hilfe Fragen und Diskussionspunkte aufgeworfen werden können, die in der theoretischen Diskussion manchmal nicht zur Sprache gebracht werden. Die von mir angesprochenen Punkte stellen sicher nur einen Ausschnitt aus der möglichen Fülle dar. Ich nehme an, daß die LeserInnen noch weitere Aspekte hinzufügen können, und würde mich über Rückmeldungen und Mitteilungen freuen.

Bei den mitwirkenden Kommentatoren möchte ich mich herzlich für ihr Engagement bedanken. Ich hatte den Eindruck, daß sie viel Mühe und Zeit aufgewandt haben, ihrer schwierigen Aufgabe gerecht zu werden.

 

5. Literatur

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Beisser, A. R. (1997): Wozu brauche ich Flügel? - Ein Gestalttherapeut beschreibt sein Leben als Gelähmter - Mit Beiträgen von Frank-M. Staemmler und Werner Bock, Wuppertal (Hammer)

Bocian, B. (1994): Gestalttherapie und Psychoanalyse - Zum besseren Verständnis eines Figur-Hintergrund-Verhältnisses - Teil 1 - Geschichte und Biographie - Revision der Triebtheorie und der Theorie des Selbst, in: Gestalttherapie 8/2, 12-36

Bocian, B. (1995a): Gestalttherapie und Psychoanalyse - Zum besseren Verständnis eines Figur-Hintergrund-Verhältnisses - Teil 2 - Revision der analytischen Praxis - Moderne Psychoanalyse, Kleinkindforschung und Gestaltpsychologie, in: Gestalttherapie 9/1, 61-83

Bocian, B. (1995b): Gestalttherapie und Psychoanalyse - Zum besseren Verständnis eines Figur-Hintergrund-Verhältnisses - Teil 3 - Kulturkritik und Naturphilosophie - Psychoanalyse als Forschungsprojekt und Freud als Symbol, in: Gestalttherapie 9/2, 69-83

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Kohut, H. (1975): Die Zukunft der Psychoanalyse - Aufsätze zu allgemeinen Themen und zur Psychologie des Selbst, Frankfurt/M. (Suhrkamp)

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Yontef, G. M. (1993): Awareness, Dialogue, and Process, Highland, NY (Gestalt Journal Press)

* Vielleicht verwendet Lumma den Begriff ãRetroflektion" hier in seiner zweiten, von Polster/Polster eingeführten und theoretisch verwirrenden Bedeutung, ã... bei der der Betreffende ... sich das antut, von dem er möchte, daß es ihm ein anderer antut" (1975, 87 - Hervorhebung im Original).

Leserbriefe

Gestalt-Kritik in der Praxis

Nachgedanken zum Projekt in GESTALTKRITIK 2/97

In der letzten Ausgabe der Gestaltkritik (2-97) veröffentlichten wir ein ungewöhnliches Forschungsprojekt zur Gestalttherapie, das von Frank-M. Staemmler initiiert worden ist. Mitgewirkt haben: Klaus Bessel, Bernd Bocian, Hans Peter Dreitzel, Klaus Lumma und Helmut Pauls.

An dieser Stelle nun finden Sie zwei Leserbriefe und Frank-M. Staemmlers Antwortschreiben.

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Der Herausgeber

 

Leserbrief I

Ich bin eine der Leserinnen Ihres Artikels in der "Gestalt-Kritik" und möchte sehr gerne der Aufforderung des Feedbacks nachkommen!

Ich befinde mich seit nun 2 Jahren in Ausbildung zur Gestalttherapeutin bei Erhard Doubrawa und Heidi Schoeller und würde gerne - ich möchte sagen "laienhaft" - ein paar Sätze schreiben. Ich fand es außerordentlich spannend, Ihrem Experiment zu folgen, verschiedene Ansätze und Ideen von mir allesamt (persönlich) unbekannten Autoren in mich aufzunehmen.

Ich fühle mich nach dieser Lektüre unglaublich bereichert und zufrieden in der Erkenntnis, daß es unglaublich viele verschiedene Wege gibt, als TherapeutIn mit einem KlientIn mitzugehen. Für mich war dabei (als "blutige Anfängerin") weniger wichtig, die verschiedenen Meinungen von Ihnen und den Kommentatoren im Detail gegenüberzustellen, zu vergleichen etc., als vielmehr zu sehen, daß es nicht darum geht "Recht zu haben", sondern als TherapeutIn dem eigenen Stil, der eigenen Intuition zu folgen!

Spannend fand ich auch, wie der nur grob beschriebene Rahmen der Therapiesituation allerlei "Entrüstung" (vielleicht mit Bindestrich passender: Ent-rüstung) hervorrief. Natürlich ist der Kontext wichtig, doch mangelnde Informationsbreite kann meines Erachtens auch große Kreativität und viel Spielraum hervorrufen!

Interessant fand ich auch, daß Klaus Lumma bei Ihnen in meinen Augen "schlecht wegkam", ich seine Kommentare dagegen mit am anregendsten fand! Diesbezüglich setzten sich bei mir Gedanken in Gang wie: Wenn ich auf einem Gebiet sehr erfahren bin, viel weiß, mich fortbilde etc., bemerke ich häufig, daß ich mit zunehmendem Wissen auch zunehmend empfindlicher auf Kritik reagiere und damit oft auch weniger empfänglich für Veränderungen bin. Insofern genieße ich im Moment meine Rolle als "Laie", da das "Konkurrenz-Karussel" in der Gestalt noch weit von mir entfernt ist! - Will damit sagen: Ich vermisse ein bißchen die Offenheit für Anregungen bei Ihnen, wobei mir klar ist, daß Sie Ihre Gründe für dieses oder jenes Vorgehen in der Therapie haben. Aber warum nicht über anderer TherapeutInnen Vorschläge nachdenken, sie evt. ausprobieren und dann neu beurteilen?

Im Moment komme ich mir zwar etwas dreist vor, Ihnen als erfahrenem Therapeuten "kluge Ratschläge" zu erteilen - und ich weiß, daß mir in meiner langjährigen Arbeit schon oft Mitteilungen von Praktikanten oder Berufsanfängern weitergeholfen haben.

In diesem Sinne, mit den freundlichsten Grüßen

Antje Abram

 

Liebe Antje Abram,

vielen Dank für Ihren Brief mit Ihrer Stellungnahme zu "Gestalt-Kritik in der Praxis". Ich habe mich sehr darüber gefreut und danke Ihnen herzlich dafür, daß Sie sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht haben, so gründlich über den Artikel nachzudenken und mir so ausführlich dazu zu schreiben. Mir bedeuten solche Rückmeldungen viel, denn allzu häufig bekommt man als Autor auf Veröffentlichungen hin überhaupt kein Feedback und weiß nicht, ob das, was man da in die Welt gesetzt hat, überhaupt jemandem etwas genutzt hat.

So habe ich mich natürlich besonders darüber gefreut, daß Sie den Artikel für sich anregend und ermutigend fanden, Ihren eigenen therapeutischen Stil zu finden, anstatt nach "richtig" und "falsch" zu suchen. Das gibt es bekanntlich sowieso nicht, wenn es auch bestimmte Erfahrungen gibt, über die sich unter KollegInnen mit der Zeit ein weitgehender Konsens bildet. So wurde z. B. in den 60er und 70er Jahren von vielen GestalttherapeutInnen ein sehr Technik-orientierter Stil praktiziert; die Fülle der technischen Möglichkeiten wurde für das Wesentliche gehalten. Heute sieht man weitgehend die therapeutische Beziehung als die wesentliche therapeutische Dimension an. Klaus Lumma gibt sich in seinem Kommentar meines Erachtens als jemand zu erkennen, der an dieser allgemein akzeptierten Entwicklung anscheinend kaum teilgenommen hat. Darum konnte ich mit seinen Ideen, so kreativ sie auf technischer Ebene auch sein mögen, wenig anfangen. Mit anderen, besonders denen von Bocian und Dreitzel zur Übertragungsthematik, ging es mir anders.

Deshalb gebe ich Ihnen prinzipiell recht, wenn Sie fordern, "über anderer TherapeutInnen Vorschläge nachzudenken, sie eventuell auszuprobieren und dann neu zu beurteilen". Ich denke allerdings, daß man Dinge, die von der Mehrheit der KollegInnen inzwischen als historisch überholt angesehen werden, nicht immer noch einmal neu aufrollen muß, sondern auch irgendwann an ihrem geschichtlichen Ort lassen sollte. Wo soll sonst der Fortschritt herkommen, wenn man alte Hüte, die sich über Jahre hinweg nicht bewährt haben, immer noch einmal neu ausprobiert? Ich bin da eher dafür, Neues auszuprobieren.

Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre weitere Ausbildung und viele anregende, neue Entdeckungen auf diesem Weg!

Mit freundlichen Grüßen

Frank-M. Staemmler

 

Leserbrief II

Lieber Herr Staemmler,

herzlichen Glückwunsch zu Ihrer interessanten und mutigen Initiative "Gestalt-Kritik in der Praxis". Der Text ist klassisch, das Vorgehen ist klassisch - eigentlich recht traditionelle Gestalt. Ich hatte mir vorgestellt, daß Sie etwas anders arbeiten. Es ist natürlich auch nur ein Ausschnitt, dessen bin ich mir bewußt.

Ich habe an der Sitzung keine Kritik. Man kann das so machen. Was mich interessiert, ist: Was sind hier die therapiewirksamen Faktoren? Inwieweit ist die Sitzung nicht in sich selbst ein "Narrativ", d. h. eine durch die Erfahrung mit der Gestalttherapie geformte Inszenierung? Wir kennen das ja: Freudsche Analysanden träumen freudsch, jungsche Analysanden jungsch. Im Psychodrama und in der Gestalttherapie werden gut dramatisierbare Träume präsentiert. Und hier haben wir die "Top Dog/Under Dog"-Folie. Grundsätzlich ist für mich die Frage, ob das "Top Dog/Under Dog"-Modell wirklich das wiedergibt, was im Menschen vorgeht, inwieweit es in diesem Klienten durch die Vorerfahrungen zu einer Inszenierungsfolie wurde, einschließlich der Art und Weise, Gefühle zu äußern, die Gefühle bestätigt zu bekommen, karthartische Entlastung, Trost und Klärung/Erklärung zu erhalten.

Dadurch, daß die "Top Dog/Under Dog"-Folie so stark vorgegeben und auch im Bewußtsein des Patienten präsent ist, kommt in mir die Frage auf, ob die Inszenierung solcher therapeutischen Rituale nicht auch im Hinblick auf die "Dynamik" prägend wird (man könnte von Artefakten reden, aber wo finden die sich nicht?). Die Frage ist nur, was und ob "es was bringt". Es wird doch viel Erinnerungsarbeit gemacht, wenig Kontaktarbeit. Das fällt mir auf (ist mir im übrigen nicht unsympathisch). Die Kontaktarbeit wird so oft "zwänglerisch" inszeniert. Die "Hypostasierung" von "Top Dog/Under Dog" macht mich auf jeden Fall nachdenklich.

Insgesamt sind meine Fragen: Was sind die zugrundeliegenden Heuristiken? Was sind die Ziele, die impliziten. Was die des Therapeuten, was die des Klienten. Welche Funktionen haben die Gefühle neben der der kathartischen Abreaktion? Es wird nicht zwischen Regung, Gefühl und Empfindung differenziert. Das würde ich z. B. tun. Über Strecken ist die Arbeit recht interpretativ (die Linie stimmt wohl auch, aber welches Ziel hat die Interpretation?). Was mir auffällt, daß kaum Kontextbezug zur Alltagsrealität, zum sozialen Netzwerk deutlich wird, daß weiterhin Beziehung oder Übertragungsdynamik nicht deutlich wird und thematisiert wird (muß ja nicht in dieser Sitzung, aber der Ausschnitt, der Text aus der Reihe von Vernetzungen, gibt zumindest die Anmutung, daß dies in anderen Sitzungen ähnlich verläuft). Das intersubjektive Moment wird damit schwach ausgeprägt. Die Deutungsmacht liegt offenbar beim Therapeuten, der annehmend und auch wohlwollend ist. Das Stärkste, was ich zu dieser Sitzung sagen kann, ist vielleicht: Bei mir ereignen sich seit langem derartige Sitzungen nicht oder nicht mehr (ich kann nicht sagen "ich mache sie nicht mehr", sie kommen einfach nicht mehr vor). Die Abläufe sind weniger ritualisiert, alltagssprachlicher, viel von dem durchzogen, was ich als "narrative Praxis" bezeichne. Dies ist selbst der Fall in der Arbeit mit "kreativen Medien" und selbst in Sequenzen mit Leibarbeit.

Der Bezug zum Alltagsleben, wie auch zur biographischen Geschichte, wie auch zur an-tizipierten Zukunft ist mir sehr zentral. Die Beziehungsdynamik wird immer wieder thematisiert. Ich könnte solche klassischen Gestalt-Sitzungen "machen", genauso wie ich ein klassisches Psychodrama inszenieren oder ein KB anleiten kann, das alles sogar mit einer gewissen technischen Brillianz, aber die Stimmigkeit wäre fraglich, wenn ich eine solche "archivierte" Möglichkeit meines Therapeutenlebens hervorhole und aufleben lasse. Dafür, daß Sie so lange gestalttherapeutisch arbeiten (seit 1976, wenn ich das richtig sehe), ist Ihr Stil (zumindest wenn man diese Sitzung generalisieren darf) doch recht "reinblütig" geblieben.

Ich weiß nicht, ob Sie mit diesen aphoristischen Anmerkungen etwas anfangen können. Sie sind nur Eindruck, Resonanz, keine sorgfältige Auseinandersetzung, eigentlich nur eine Rückmeldung (ob methodisch vertretbar oder nicht) zu diesem Unterfangen. Sie versuchen die Herstellung einer Offenheit in der Szene, die man nicht so häufig findet und die als solche schon die Chance des Erkenntnisgewinns birgt. Meine Wertschätzung für diese Initiative!

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Hilarion Petzold

 

Lieber Herr Professor Petzold,

herzlichen Dank für Ihr Schreiben. Ich habe mich sehr über die unerwartete und positive Resonanz gefreut. Man bekommt leider nur selten solche Bestätigung.

Lassen Sie mich auf ein paar Aspekte Ihrer Gedanken antworten. Mit Ihrer Annahme, daß ich in der Regel anders arbeite als in dem Transkript, haben sie recht. Ich halte mich selbst keineswegs für einen "reinblütigen" klassischen Gestalttherapeuten. In meinem Buch "Therapeutische Beziehung und Diagnose" finden sich viele Fallbeispiele für andere Schwerpunktsetzungen. Dennoch gibt es manchmal auch Sitzungen wie diese, und nach meiner Erfahrung haben auch sie einen therapeutischen Wert; sie stehen ja nicht allein. Mir ging es jedoch nicht um eine möglichst realistische Selbstdarstellung, sondern um einen möglichst fruchtbaren Reiz für die Diskussion.

Ich habe dieses Transkript für das Projekt ausgewählt, gerade weil es im Stil recht 'klassisch' ist. Ich dachte, daß dadurch der derzeitige Diskussionsstand unter GestalttherapeutInnen in seiner Breite besser deutlich werden könnte als wen ich eine Sitzung ausgewählt hätte, die von Vornherein als Dokument einer Außenseiterposition gesehen wird und dann nur noch Kritik aus einer Richtung herausfordert. Ich bin dabei bewußt das Risiko eingegangen, von meiner Arbeit ein etwas verzerrtes Bild zu vermitteln. Außerdem hätten repräsentativere Darstellungen meiner Arbeit sehr viel umfangreicher ausfallen müssen, da in ihnen Querbezüge verschiedenster Art (z. B. zum Alltag und zur Biographie) häufig sind, die eine lange Reihe von Erläuterungen und viel Hintergrund-Information erforderlich gemacht hätten, um für die LeserInnen verständlich zu sein. Dafür war im Rahmen eines Zeitschriftenartikels kein Raum.

Die Darstellung einer ausführlichen Fallgeschichte bleibt eines meiner Zukunftsprojekte, das wohl noch einige Zeit warten muß. Leider kann man ja mit dem Schreiben selbst kein Geld verdienen, und ich verfüge über keine anderen finanziellen Ressourcen als meine alltägliche Arbeit als Therapeut und Ausbilder.

Mit freundlichen Grüßen

Frank-M. Staemmler

  Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 

Initiator dieses Projektes ist FRANK-M. STAEMMLER, Dipl.-Psych., geb. 1951, Mitbegründer des "Zentrums für Gestalttherapie" in Würzburg, ist dort seit 1976 als Gestalttherapeut, Ausbilder und Supervisor tätig.

Er ist Autor zahlreicher Artikel und mehrerer Bücher zu gestalttherapeutischen Themen. Zuletzt erschienen "Therapeutische Beziehung und Diagnose - Gestalttherapeutische Antworten" und "Der 'leere Stuhl' - Ein Beitrag zur Technik der Gestalttherapie".

Gemeinsam mit Werner Bock verfaßte er ein Buch über die Theorie des Veränderungsprozesses in der Gestalttherapie ("Ganzheitliche Veränderung in der Gestalttherapie"), das in einer Neuausgabe in der Edition des Gestalt-Instituts Köln im Peter Hammer Verlag erschienen ist.

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