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Kristine Schneider
Selbstboykott
Irrwege kreativer Anpassung und Möglichkeiten persönlichen Wachstums


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik 1-1994:

Kristine Schneider
Selbstboykott
Irrwege kreativer Anpassung und Möglichkeiten persönlichen Wachstums

 

Kristine Schneider (1935 - 2001)Kristine Schneider (1935 - 2001)

 

Wenn ich beschreiben sollte, was unter Selbstboykott zu verstehen ist, würde ich als erstes sagen, es ist die Kunst, weniger aus mir zu machen als ich eigentlich bin. Nicht nur weniger aus mir zu machen als ich eigentlich könnte, sondern mich über das, was ich bin, einzuengen. Ich weiß nicht, ob sich die Menschen immer bewußt sind, wie sie sich den Weg zu ihren Möglichkeiten versperren. Ich neige mehr zu der Auffassung, sie wissen es nicht. Denn zur Gewohnheit geworden schwinden die Einstellungen aus unserm Blickfeld, welche unsere wahren Bedürfnisse und tiefsten Wünsche boykottieren. Mit anderen Worten, wir vernachlässigen die Selbstwahrnehmung, die sie nach der Überzeugung der Gestalttherapie veränderbar machen würde.

Wie ist das zu verstehen und wie lösen wir uns aus der seelische Enge, in die uns der Selbstboykott zwängt?

Wer aus Routine oder Konvention die Sofortlösung wählt, wenn etwas Beunruhigendes auf ihn zukommt, boykottiert seine Abenteuerlust, die Erregung und Unruhe geradzu sucht. Sofortlösungen helfen uns für den Moment, indem sie die wenig beliebten Gefühle von Unsicherheit, Angst und Verwirrung verhindern. Wer sich auf das Wegtrösten einläßt, boykottiert seine Trauerfähigkeit, die ihm Abschied und Neubelebung zugänglich machen würde. Als Therapeuten sind wir den trügerischen Sicherheiten der Sofortlösungen und des Wegdrängens von Gefühlen auf der Spur, weil sie, wie wir glauben, zu Lasten der Lebendigkeit des Selbst gehen. Auf lange Sicht geraten die Betreffenden ins Minus. Jeder Selbstboykott beschneidet ihr Selbst und verengt ihre Grenzen weiter. Die Erlaubnis zum vollen Leben rückt in immer weitere Ferne.

 

1. Vergessene Trauerfähigkeit

Wenn ich bedenke, wie oft ich den Ausspruch gehört habe: Sei nicht traurig! Eltern sagen diesen Satz ihren Kindern. Auch ich erinnere mich, ihn als Kind gehört zu haben. Ich fange an, mich zu fragen, was damit erreicht werden soll. Warum sollte ich nicht traurig sein, was können und konnten andere daran nicht ertragen? Trauer ist ein warmes, gutes Gefühl. In der Trauer ist man weich, Tränen kommen, Schluchzen erschüttert den ganzen Körper und bringt eine fließende Weichheit.

Allerdings, Trauer zuzulassen und dem Trauernden zuzusehen, scheint nicht einfach zu sein. Unter Erwachsenen ist es üblich, sich zusammenzureißen und, wenn es einmal nicht recht gelingt, weil die Stimmung uns überwältigt, sehen wir entweder betroffene Gesichter oder Hilflosigkeit, oder man eilt uns schnell zu Hilfe, damit wir uns wieder fassen. Solche Aktionen sind eher ein Wegtrösten als ein Trost, das vom Trauernden verlangt, daß er oder sie schnell wieder zur "Normalität" zurückkommt. Selbst wenn uns danach zumute ist, uns auszuweinen, jemand ins Vertrauen zu ziehen, so hält uns doch die Befürchtung zurück, für den anderen unerträglich,

zu belastend zu sein, ihm nicht zumuten zu können, mit uns zu trauern. Der Trauernde ist allein. Und wenn er seine Trauer noch nicht einmal vor sich selbst zuläßt, weil sie zu schmerzlich für ihn ist, läßt er zudem sich selbst im Stich.

Das war nicht immer so. Als Kinder können wir von Herzen trauern. Wir hatten Trauerspiele, z.B. die Beerdigung des Hamsters oder eines tot aufgefundenen Vogels, wir konnten auch weinen, wenn uns etwas wehtat. Doch Jungen hören schon früh Ermahnungen wie: "Du bist doch ein Mann, Männer weinen nicht!" und ihre Fähigkeit zu weinen, zu trauern versiegt. Wenn Mädchen aufgehört haben, wirkliche Trauer zu fühlen, werden sie weinerlich, und die Kullertränen werden zu wirksamen Mitteln der Manipulation, um doch zu erhalten, was auf anderem Wege nicht zu erhalten ist.

Wir versuchen gewöhnlich, schnell über Verluste, Kränkungen und Schmerz hinwegzukommen. Der nach dem Verlust eintretende Trauerprozeß wird unterdrückt und wandert in den seelischen Untergrund. Ich möchte mit Ihnen über die Möglichkeiten sprechen, die im Trauern enthalten sind, denn unterdrückte Trauer kann krank machen.

Es gibt zahllose Anlässe zum Trauern, nicht nur der Verlust durch den Tod eines geliebten und geachteten Menschen, die zeitweilige Trennung von der geliebten Person, der Weggang eines Partners durch Scheidung, der Verlust von Kindern dadurch, daß sie erwachsen werden und das Haus verlassen, das Einbüßen von Lebenschancen, die sich definitiv nicht mehr verwirklichen lassen, der Verzicht auf Wünsche und hochgesteckte Ziele, bis hin zu den kleinen Mißerfolgen des Tages, die zeigen, wie man sich in seinen Erwartungen getäuscht hat. Manche Menschen haben mit dem Verlust ihrer Gesundheit einen Trauerprozeß zu durchlaufen oder mit dem Verlust der Jugend. Kurz, im Grunde ist der Prozeß der kreativen Anpassung an sich ständig ändernde Lebensumstände damit verbunden, daß Trauer ausgelöst und gelebt wird. Wir sehen, wenn dies verhindert wird, wie Verbitterung und Versteinerung eintreten. Besser wäre es, für eine gelassene Heiterkeit über die unvermeidbaren Einschränkungen, die uns das Leben erleichtert, einzutreten. Ich bin der Auffassung - sie hat sich viele Male in der Durcharbeitung schwieriger Situationen mit meinen Patienten bewahrheitet - daß der Verlust und der Verzicht nicht allein aufgrund sozial erwünschter Festigkeit akzeptiert werden kann, die verlangt, Fassung zu bewahren, den Kopf hochzuhalten und etwas durchzustehen. Eine Periode des Trauerns ist nicht zu umgehen. Trauer muß zugelassen werden, um sich ablösen zu können von dem, was man vorher hatte und nun nicht mehr besitzt.

Im Frühjahr 1980 erschien eine junge Frau bei mir. Aus dem Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik war sie nach sechs Wochen mit der Auflage entlassen worden, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Sie gab mir die Hand, ihr Händedruck war schwach, die Hand zog sich sofort zurück. "Ich fühle nichts mehr", klagte sie, "ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, ich bin ganz durcheinander-geraten." Ich frage, wie es ihr gesundheitlich geht. Sie hat plötzliche Anfälle von Herzklopfen und Schweißausbrüche, und sie weiß nicht, woher sie kommen, es gibt keinen äußeren Anlaß. Nachts schreckt sie hoch, das Herz klopft, und wenn sie ihr Herz so schlagen hört, bekommt sie Angst zu sterben. Ihre Lebensumstände bestätigen meine Vermutung, daß sie augenblicklich in einem unhaltbaren Zustand lebt, dessen Problematik sie nicht klar durchschaut. Es ist eine Situation, in der sie sich über ihre Kräfte anstrengen muß, um nicht unterzugehen. Sie wohnt bei ihrem Freund, sie haben Heiratspläne. Vor kurzem verlangte er von ihr eine Abtreibung, weil er sich nicht auf Kinder, jedenfalls jetzt noch nicht, vorbereitet fühlte. Sie hatte das Kind haben wollen und - sie bricht in Tränen aus - "Ich habe mich' bereden lassen. Jetzt habe ich keine Kinder, denn ich will auch keine mehr, es ist alles vorbei." Ein zweites ist die noch nicht vollzogene Scheidung von ihrem ersten Mann. Er ist Alkoholiker, immer wieder bittet er sie zurückzukommen. Aber sie weiß, er würde sie nur weiter ausnutzen. Noch stehen alle ihre Möbel in der alten Wohnung, und sie sagt: "Ich kann es ihm nicht antun, ihm das wegzunehmen, schließlich muß er schon auf mich verzichten, obwohl er mich so braucht." Sie zeigt mir den letzten Brief von ihrem Mann, in dem er sie beschwört, bittet, bedroht und erpresst, wieder zu ihm zurückzukommen. "Ich weiß nicht, wie ich meine Scheidung durchbekommen soll, ich lasse die Sachen liegen, meine Möbel hole ich auch nicht. Ich hatte nur einen Koffer mitgenommen. Ich habe kaum etwas zum Anziehen." "Und warum holen sie ihre Sachen nicht?" frage ich. "Ich habe Angst, dann könnte ich gleich dort bleiben, ich würde mich von ihm wieder einfangen lassen."

Was ist hier geschehen? Die Tränen der Frau fließen, aber sie fließen als eine physiologische Reaktion, etwa wie ein Schweißausbruch, sie wird bedrückt, deprimiert. Doch die heftige Trauer, die zu erwarten gewesen wäre, wenn man die beiden großen Verluste: ihre erste Bindung und ihren Glauben an diese Bindung, und das verlorene Kind und den Glauben an ihre Mutterschaft, sieht, findet nicht statt. Sie ist konfus, völlig durcheinander, keine Entscheidung ist möglich. In der Klinik hatte sie Medikamente erhalten, die sie beruhigten, aber der Lösung ihrer Fragen nicht näher brachten. Die Gruppengespräche hatten ihr etwas weitergeholfen, nun, sie würde sich wenigstens nicht mehr umbringen, dessen sei sie sich jetzt sicher. Für mich bedeutete die Situation, in der diese Frau mich aufsuchte, die Frage nach ungelebter Trauer zu stellen. Sie hätte auf dem Kind bestehen können; aber wäre sie sicher gewesen, daß ihr Freund bei ihr bleibt? Sie zog den unfreiwilligen Verlust vor, aber sie verachtete ihren Freund und sich dafür. Ihr Vorteil, ihre Enttäuschung auf ihn abladen zu können, hinderte sie daran, ihre Entscheidung, die sie ja mitgetroffen hatte, wirklich auf sich zu nehmen und zu trauern, daß dieses Kind nicht leben würde. Zu diesem Zeitpunkt zählte sie innerlich die Tage mit, die es da gewesen wäre, wenn es gelebt hätte. Diese Träume füllten viel von ihrer Zeit aus. Sie mußte lernen, auch von diesen Vorstellungen Abstand zu nehmen, denn sie verstopften ihre Phantasie, machten sie unfrei für etwas Neues, vielleicht sogar für ein späteres Kind. Ich besprach mit ihr die Möglichkeit, ihre Phantasien zu Grabe zu tragen und wirklich die Trauer zu durchleben.

Die zweite Frage der Scheidung und des definitiven Neuanfangs mit ihrem Freund war damit noch nicht gelöst. An dieser Stelle möchte ich einschieben, daß ich gewohnt bin, wenn derartige unhaltbare Zustände aufrechterhalten werden, nachzuforschen, ob es irgendwelche geheimen Vorteile gibt, die die Person durch diesen Zustand gewinnt, von denen sie unter Umständen gar nichts weiß und ganz überrascht ist, wenn sie darauf stößt. Mein Gedanke war, daß sie sich die Möglichkeit der Wahl offenließ. Ich äußerte diesen Gedanken und fragte: "Würden Sie denn zurückgehen wollen und Ihren Freund verlassen?" Sie schaute etwas verdutzt, als ich sie vor die Alternative stellte. Ja, sie hatte schon daran gedacht, alles wieder wie früher zu machen, aber zurück wollte sie auch nicht. Sie hing fest, zwischen zwei Stühlen, aber auf keinen wollte sie sich wirklich endgültig setzen, weil die Entscheidung für einen der Männer von ihr verlangen würde, daß sie endgültig vom anderen und den mit ihm verbundenen Möglichkeiten und Plänen Abschied nähme. Das wäre eine erhebliche Einschränkung, ein Verlust von imaginären, illusionären Chancen. Wie gerne halten wir solche Chancen in uns am Leben, weil sie uns ernähren und uns die Kraft geben, in wenig aussichtsreichen Situationen weiterzumachen.

Auch hier stand ein Trauerprozeß an, sie mußte Abschied nehmen. Die junge Frau fand das Vertrauen in mich und begann ihren Weg aus der Konfusion und Erstarrung in die Betroffenheit und den Schmerz des Abschiednehmens. Es traten viele Phasen des Aufbegehrens, des Nicht-Wahrhaben-Wollens auf, bis sie endlich ihre Trauer verflüssigen konnte und freies Fließen ihrer Gefühle erlebte.

Das bewußte Erleben ihrer Gefühle und das Annehmen ihrer Trauer als notwendigen Bestandteil des Lebens ermöglicht ihr eine bewußt selbständige Gestaltung ihres Lebens.

Meine Einstellung zu den starken und für den Menschen unverzichtbaren Gefühlen ist die, sie in ihrer Kraft und Gewalt zuzulassen, sie zu erleben und sie nicht zu unterbrechen, und, wenn der Patient sich selbst unterbricht, sozusagen einen Selbstboykott betreibt, ihm zu helfen, seine Art, sich zu boykottieren, näher kennenzulernen. Denn sobald er sich bewußt wird, wie er sich selbst im Wege steht, wie er seine drängenden Gefühle unterdrückt, lernt er schon, sie auszudrücken, zu Ende zu leben und, wenn er sie zu Ende gelebt hat, hinter sich zu lassen und sich befreit zu fühlen. Die Befreiung von Altem, Unzeitgemäßem, an dem man festgehangen hat, und die Öffnung für etwas, das jetzt kommen kann, wenn es kommen möchte, Öffnung für neue Pläne und Entscheidungen.

Wie nicht anders erwartet, hatte diese beengende Einstellung der Frau, die sie bis zu einer psychosomatischen Störung getrieben hatte, ihre Geschichte. Ich möchte dazu nur kurz erwähnen, daß ihre Überlebensbotschaft von Seiten der Mutter im Kern bedeutete: Sei nicht traurig, sonst geht es mir, der Mutti, nicht gut. Die Mutter war selbst depressiv und wünschte sich ein heiteres Kind. ES durfte niemals weinen und mußte stets tapfer sein. Die junge Frau hatte schon sehr früh gelernt, der Botschaft zu folgen, sie konnte sich nicht erinnern, als Kind oder als Mädchen je geweint zu haben. Sie hatte die Trauer aus ihrem Leben gestrichen, und in der Zusammenarbeit mit mir lernte sie, diesen Bereich für sich zugänglich zu machen und nachzuholen, was sie versäumt hatte.

Das ist eine tragische Entwicklung, die diese junge Frau durchlaufen hat. Am wichtigsten wurde es für sie, sich Rituale und Gelegenheiten zu schaffen, in denen sie Trauer erleben konnte. Sie begann z.B. sich Nachdenkzeiten einzurichten, die sie sich äußerlich gemütlich gestaltete, um aus der selbstgestalteten Sicherheit der äußeren Umstände für sich in ihre unbewältigte Vergangenheit zurückzudenken. Sie ging dazu über, vor ihrem Freund zu weinen, sie wagte, über ihr Traurigsein zu sprechen, und spürte kaum noch Scheu.

Gewöhnlich führt unterdrückte Trauer nicht zu so extremen Verläufen. Aber in schwächerer Ausprägung ist das Verhaltensmuster doch bei vielen Gelegenheiten zu beobachten. Man erledigt einen Verlust, man will ihn nicht wahrhaben, und wenn er sich nicht mehr verleugnen läßt, dann explodieren wir in Verzweiflung, bäumen uns auf und, wenn die Trauer durchbricht und fließen darf, kommen wir zu einem versöhnenden Abschluß. Unser Organismus hat in wunderbarer Weise dafür vorgesorgt, daß wir mit Verlusten fertigwerden können, wir haben das Potential zur Trauer, aber wir haben nicht gelernt, es auch zu nutzen. Unsere Gesellschaft stellt keine Formen, keine Rituale mehr zur Verfügung. Andere Völker, z.B. in der Landschaft Mani in Griechenland, haben das Glück, noch über Trauerrituale zu verfügen, in denen die ganze Gemeinde sich zusammenfindet. Wenn jemand stirbt, kommen Klagefrauen, die Trauergesänge anstimmen, die Moroloija. In diesen Gesängen dichten sie das Leben des Verstorbenen in seinen wichtigen Begebenheiten, sie machen dem Verstorbenen auch Vorhaltungen und geben ihm gute Wünsche mit auf den Weg ins Jenseits, Tote und Lebende betreffend. Der Tod und der Verlust werden auf diese Weise unmittelbar in das Leben einbezogen und somit bewältigt. Jeder zeigt sich in seiner Trauer und wird von anderen gesehen. Trauer ist Lebensmoment, akzeptierter und normaler Bestandteil des Lebens und nicht Tabu.

Wenn man sich bemüht, das Vergessene wiederzuentdecken und das Unterdrückte zuzulassen, begegnet man fast unausweichlich dem Problem, daß die Selbstwahrnehmung einem den Streich spielt, über die wichtigsten Punkte hinwegzugehen, weil sie uns selbst zu gewohnt und deshalb unauffällig sind. Man braucht entweder einen Partner, Freund oder Interessierten, von dem man Beobachtungen, Eindrücke und Gedanken über sich selbst erhält, um dahinterzukommen, wie man auf ihn wirkt. Oder man braucht besondere Hilfen, um die Selbstwahrnehmung zu verbreitern und zu vertiefen. Auf diese Frage werden wir im letzten der vier Abschnitte näher eingehen.

Von den Veränderungen, die meine Patientin durchmachte, möchte ich einige erwähnen, die mir allgemein gültige Zusammenhänge zu betreffen scheinen: Sie erkannte, daß die Fähigkeit zu trauern ein Teil von ihr ist, daß sie Verluste auf zwei Ebenen durchzuarbeiten hat, einmal als reale Gegebenheit, zum anderen in ihrer Phantasie. Sie konnte Beziehungen in der Phantasie am Leben erhalten, die in Wirklichkeit längst tot sind, nur hatte sie es bislang nicht bemerkt. Noch war es neu für sie, daß die Lösung von der Vergangenheit eine tägliche Angelegenheit ist. Ihre frühere Überlebensbotschaft "Sei nicht traurig", änderte sich radikal und lautete künftig etwa folgendermaßen: "Sei aufmerksam, wenn du traurig wirst und zu dir sagst, sei nicht traurig. Schau bei dir nach, was dich traurig macht. Gib der Trauer ihren Platz". Die Botschaft, die vorher zum Boykott ihres Gefühls geführt hatte, wurde zum Signal, es zuzulassen und ihm nachzuspüren.

Dadurch ermöglichte sie sich, ihre Gefühle bewußter zu erleben und die Kraft und Energie, die Gefühle innehaben, für sich zu nutzen.

 

2. Ich schaffe nicht, was ich mir vornehme

Wie schaffen Menschen es, ungeeignete Pläne in ihrem Leben aufzufinden und sie in neue Strategien zu überführen, die ihnen besser entsprechen?

In Gesprächen mit Patienten über ihre Wünsche nach Veränderung und beim Nachdenken über meine therapeutische Arbeit habe ich mich entschlossen, einige Punkte aufzuzeigen. Mir ist aufgefallen, daß viele Menschen - meine Patienten berichten mir immer wieder davon - Pläne schmieden, die sie nicht ausführen, obwohl sie besten Willens sind. Der Plan ist prächtig und wird beibehalten bis zu dem Zeitpunkt, an dem er zur Ausführung gelangen sollte. Dann jedoch erscheint er ungeeignet und verfrüht, oder er ist ganz einfach nicht mehr zu erinnern. Oder aber, man kennt seinen Plan sehr genau, aber es gibt ein überwältigendes Bedürfnis, das dem Plan entgegensteht. Das Bedürfnis ist stärker und drängt den Plan zur Seite. Gibt man dem Bedürfnis nach, bleibt der Plan auf der Strecke, kehrt jedoch in Form von Selbstvorwürfen später ins Gedächtnis zurück. Ein Mißerfolg mehr, aber halb so schlimm, das Spiel beginnt von neuem. Diesmal macht man den Plan genauer, nachhaltiger und ganz unumstößlich.

Eine ganz alltägliche Angelegenheit. Psychopathologie des Alltags. Äußerlich scheint dieser Mensch vielleicht ohne Initiative. Der Schein trügt, denn er rotiert im Pläneschmieden und im Aufgeben und Unterlaufen seiner Pläne. Er verzehrt sich im vergeblichen Bemühen, Linie in einen Bereich der Wohnung, seiner Beziehungen, seiner Arbeit zu bekommen, aber - für ihn unbewußt - macht er etwas nicht richtig. Solange wir die Strategie, nach der die ungeeigneten Pläne entstehen, nicht durchleuchtet haben, werden wir weiterhin zur Initiativlosigkeit verurteilt sein.

Nach meiner Auffassung ist persönliche Veränderung etwas, das sich in kleinen Abstufungen vollzieht. Es mag die Erleuchtung, die Bekehrung, die Wende zum Gegenteil und die wunderbare Wandlung geben - die Regel ist das nicht. Was und wie wir werden, ist das Ergebnis ständiger Auseinandersetzung mit uns selbst und mit dem, was uns umgibt. Aus dieser Auseinandersetzung ergibt sich ein Problem, und wir planen, wie wir mit diesem Problem fertig werden können, einfach, schnell, angenehm. Und auch wenn es ein größeres Problem ist, machen wir Anstrengungen, es trotzdem einfach, schnell und angenehm zu erledigen.

Wenn man nicht schafft, was man sich vornimmt, liegt der Grund oft in der Tatsache, daß wir die Fehlschläge begründen und diesen unseren allgemeinen Begründungen glauben, z.B. "Ich habe eben keinen starken Willen" oder "Ich habe mich überschätzt". In Wirklichkeit haben der Fehlschlag und die Enttäuschung funktionale Zusammenhänge, die sich bei näherer Untersuchung erkennen lassen. Die Art, mir mein Verhalten zu begründen, stellt sich bei der Untersuchung als ein Teil des gesamten Verhaltensmusters heraus, das wir Scheitern von Plänen nennen.

Oft ist es ausreichend, das was uns an uns stört, mit Verstand und genauer Beobachtung anzugehen, und wir brauchen noch nicht einmal einen Helfer. Wir müssen nur wissen, in welcher Reihenfolge wir unsere ungeeigneten Pläne aufgreifen können, um mit uns eine gewünschte Veränderung zu erreichen. Wegen der Übersichtlichkeit wähle ich einen einfachen Fall von Verschlafen.

Eine hübsche Frau, Sekretärin, konnte sich, seitdem sie entschieden hatte, sich von ihrem Freund zu trennen, und wieder allein lebte, nicht dazu bringen, rechtzeitig aufzustehen, um pünktlich auf der Arbeitsstelle zu sein. So hastete sie ohne Frühstück, auf das sie übrigens nur ungern verzichtete, aus dem Haus, ärgerte sich maßlos über die im Verkehr üblichen Aufenthalte, fand eine vollgeparkte Garage vor, mußte sich dann einen Parkplatz suchen, manchmal dauerte das eine Viertelstunde. Sowieso zu spät, um eine weitere Viertelstunde gebracht, kam sie im Büro an, sich eine Ausrede und Entschuldigung verbeißend. Ob es schon einmal gutgegangen sei mit dem Aufstehen? Höchstens einmal die Woche. Um das zu erreichen, würde sie sehr früh zu Bett gehen. Außer dem Frühzubettgehen hatte sie etliches andere versucht, um sich zur Pünktlichkeit zu erziehen, lauter gutgemeinte Pläne, die ihr nichts brachten: Sie kaufte einen lauteren Wecker, den stellte sie noch im Schlaf ab, einen Radiowecker, den Weckdienst des Fernmeldeamtes, sie stellte den Wecker auf den Schrank, damit sie aufstehen mußte, wenn sie ihn ausmachen wollte. Diese Lösung revidierte sie schon am zweiten Tag. Was nun? Sie schaut mich fragend an. In welchem Zusammenhang wurden ihre fehlschlagenden Pläne für sie selbst sinnvoll? Mit dem Auftreten der Unpünktlichkeit verließ sie ihr Freund, mit dem sie vier Jahre zusammengelebt hatte. Seitdem wohnt sie allein, in der Wohnung fehlt das halbe Mobiliar. Sie hat es nicht ausgefüllt, die Trennung nicht verwunden. "Ich fühle mich allein und unbeachtet." Es war leicht für sie einzusehen, daß die Reaktion der Kollegen und des Chefs auf ihr Zuspätkommen eine Rolle spielen mußte. Sie wurde kritisiert, aufgemuntert, es zu versuchen. Abends mußte sie die versäumte Zeit nachholen. Alles Momente, die ihr Aufmerksamkeit und Zuwendung in der Firma brachten und überdies die einsamen Abendstunden verkürzten. Sie mußte zu spät kommen, wenn sie beachtet werden und unter Menschen sein wollte. Ohne Kenntnis dieses Kontextes, in dem ihr Zuspätkommen sinnvoll wurde, hätte jeder Vorschlag, jeder Plan, morgens früher aufzustehen, wenig gebracht. Außerdem war nicht zu leugnen, daß sie ihrem wirklichen, tiefliegenden Bedürfnis nach Nähe und Beachtung nicht entsprach. Sie verschwendete ihre Energie im Pünktlichseinwollen. Ihr Veränderungswunsch war eng, krank, aber er brachte ihr etwas aus dem sozialen Umfeld und schützte sie vor den Ängsten, die auftreten mußten, wenn sie ihre enttäuschten Bedürfnisse anerkannte. Nicht das Experimentieren mit neuen Weckmethoden konnte die Lösung sein, sondern das Experimentieren mit ihrer Einstellung zu Partnerschaft, zu Möglichkeiten sozialer Bindungen verschiedenster Form. Sie boykottierte ihr dringendstes Bedürfnis - ihren organismischen Plan - durch die Vorstellung, wieder eine Enttäuschung erleben zu müssen, d.h. durch den Plan, die Enttäuschung zu vermeiden. Beide Pläne stießen aufeinander. Also war das Experimentieren mit sozialen Beziehungen das, was sie brauchte.

Was ihr früherer Freund an ihr gemocht habe? Was andere an ihr mochten? Was sie an sich selbst schätzte? Viele Menschen verlieren in der Enge ihrer Einstellungen den Blick für ihre liebenswerten Seiten, weil ihre nähere Umgebung, sich dieser Seiten bedienend und an sie gewöhnt, sie nicht mehr mit Beachtung belegt. Sie sind Selbstverständlichkeiten geworden und verschwinden aus dem Bewußtsein. Sie können sie erkennen, wenn sie sich vergegenwärtigen, wie andere sich zu ihnen stellen würden. Das gibt Selbstsupport. Man kann gleiches für andere tun und

erhält Rückmeldung. Deshalb ist es so wichtig, vielfältige soziale Beziehungen zu haben.

Obwohl das menschliche Handeln zielgerichtet ist, sind wir uns nicht aller Ziele bewußt. Es gibt auch unbewußte Ziele. Oft stehen bewußte und unbewußte Ziele in einem Ergänzungsverhältnis. Wenn sie in Konkurrenz stehen, spricht man von einem unbewußten Konflikt. Ohne unser Bewußtsein verlangen unbewußte Pläne nach Erfüllung, und werden sie nicht erfüllt, machen wir immer wieder Versuche und wiederholen wir uns, ohne zu wissen, warum. Solche unbeendeten Situationen, in denen bewußte und unbewußte Pläne aufeinanderprallen, haben die Eigenschaft, daß sie nie zum Abschluß kommen. Wir stehen uns selbst im Wege. An der Oberfläche sieht alles vernünftig und einsichtig aus, aber tiefer gesehen versucht die unbewußte Planung, die Wiederbelebung früherer schmerzlicher Erfahrungen zu vermeiden. Es ist besser, etwas nicht zu sehen, nicht zu hören, nicht zu fühlen als Angst und Leid durchzustehen. Beengende Einstellungen haben in der Regel diesen psychodynamischen Hintergrund. Und das resignative Gleichgewicht, das sich einstellt, ist das klassische Ergebnis des Selbstboykotts.

Ich treffe immer wieder mit Menschen zusammen, die mir zu erkennen geben: "Ich schaffe nicht, was ich mir vorgenommen habe". In der Tatsache, daß sie es mir anvertrauen, ist meist die Mitteilung enthalten: "Sag mir etwas dazu, ich bin mir nicht durchsichtig genug, aber ich möchte dahinterkommen". Menschen mit Selbsthunger, dem Interesse an der eigenen Entwicklung, wollen wissen, was mit ihnen und anderen Menschen los ist. Sie fordern von sich die Auseinandersetzung, und sie werden ganz von selbst die Frage stellen, wie sie ihren Selbstboykott auffassen sollen. Viele sind überrascht festzustellen, hinter welchen geschickten Verkleidungen und unverdächtigen Masken sich der Boykott von Plänen durch das "Ich schaffe es doch nicht" verbirgt.

Ein Plan, etwas so und nicht anders zu machen, berücksichtigt die Realität, die inneren, jetzt wichtigen Bedürfnisse und die äußeren Bedingungen gleichzeitig. Es ist der optimale Weg zum Ziel, wenn man die inneren und äußeren Bedingungen in Rechnung stellt. Wenn nun jemand sagt: "Ich schaffe nicht, was ich mir vornehme", gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder man erreicht sein Ziel, nimmt aber nicht wahr, daß man angekommen ist. Was fehlt, ist, daß das Bewußtsein uns nicht die entsprechende Meldung gibt. Oder eine Person strebt ein Ziel an, glaubt aber, sie strebe nach etwas anderem. In Wirklichkeit erfüllt sie sich ein unbewußtes Ziel.

Für Menschen, welche die Selbstauseinandersetzung bevorzugen, wird es zunehmend selbstverständlich nachzusehen, wofür das, was ihnen widerfährt, sinnvoll sein könnte. Möglich ist, sie entdecken, daß ein einzelner Mißerfolg Teil des umfassenderen Plans ist, der an sich gesehen, höchst sinnvoll aussieht. Oder man nimmt sein Scheitern wörtlich und probiert genau an der Stelle, an der man nicht weiterkommt, man beginnt mit Experimenten, z.B. indem man den Plan ganz fallenläßt oder ihn zum Teil aufgibt oder etwas Gegenteiliges versucht. Man kann auch noch eigensinniger an dem Plan festhalten, um dann zu erfahren, was geschieht. Die Selbstauseinandersetzung ist in beiden Fällen gewährleistet, im ersten Fall durch die Reflexion, im zweiten durch das Experiment. Auf beiden Wegen gibt es unweigerlich Momente des Erschreckens, der Angst, des Wunsches, sich zu flüchten, weil man die Konsequenzen nicht ertragen kann, oder weil die Veränderung einem schwierig erscheint.

Wenn wir Selbsthunger als den Hunger nach signifikanter Lernerfahrung auffassen, einem Lernen, das wirklich etwas ändert, können wir erkennen, daß Lernen nicht nur Wissensansammlung zu sein braucht. Lernen als Selbstentdeckung macht klar, wie ich mich mit der Welt auseinandersetze. Der Mensch beginnt sich anders, im Zusammenhang mit seiner Umgebung zu erkennen. Experimentierend wird er selbstbestimmender und realistischer. Wir haben schon viel erreicht, wenn das "Was habe ich falsch gemacht?" und der begleitende Vorwurf, der nichts anderes als Aggression gegen sich selbst ist, verwandelt wird zu "Was möchte ich lieber, was fehlt mir, was habe ich zur Verfügung, ohne es bisher benutzt zu haben?".

 

3. Keiner versteht mich

Wir sind gewöhnt, uns selbst zu beschreiben und uns ein Bild von uns zu machen. Die Selbstbeschreibung "Keiner versteht mich" kommt aus der Position eines Menschen, der über sich selbst und andere Bescheid zu wissen glaubt. In ihr sind weitere Bedeutungen, z.B. "Es gibt etwas Wirkliches und Eigentliches in mir, da bin ich wie ich bin" und: "Niemand nimmt mich, wie ich bin", enthalten. Wer sich angesprochen fühlt von dieser Selbstbeschreibung, muß sich ehrlicherweise fragen: Bin ich verständnislos? Bin ich zu dumm, um dich zu begreifen, oder habe ich kein Interesse, mich mit dem, was du wirklich bist, zu beschäftigen? Mir läge es, sollte ich gemeint sein, fern, mich schlecht machen zu lassen. Wahrscheinlich würde ich etwas fragen, woran der Betreffende womöglich niemals gedacht hat: "Wie kommt es, daß du unverständlich bist, und was unterläßt du, damit ich dich verstehe?"

Zur psychischen Ausstattung des Menschen gehört die Sehnsucht, verstanden zu werden. Wer diese Sehnsucht nicht spürt, hat schlechte Erfahrungen durchgemacht und verleugnet sie vor sich selbst. Wenn die Enttäuschungen dieser Sehnsucht in der Kindheit zu zahlreich waren, wird sie scheinbar aufgegeben und kaum noch gezeigt. Indessen besteht sie weiter, manchmal in Form des trotzigen Vorwurfs: "Keiner versteht mich." Nehmen wir die Selbstbeschreibung nicht philosophisch, sondern ganz praktisch. Die Person mag sich in ihrer Einstellung nicht schlecht fühlen, Tatsache ist aber, daß sie sich mit Hilfe dieser Einstellung schützt und isoliert. Die Person verschließt sich, sie schweigt sich aus über das, was sie beschäftigt, über Meinungen und Gefühle. Die Mitteilung des Innenlebens wird als Preisgabe angesehen. Und redet sie, so betreibt sie ein Schweigen im Sprechen: Sie benutzt viele Worte, aber das Wesentliche bleibt ungesagt. Bei ausreichend innerer Differenzierung wird das äußere Schweigen ersetzt durch den Dialog, das innere Sprechen. Ein Großteil unserer Phantasie vollzieht sich als innerer Dialog zwischen Parteien. Während wir uns ihm, hingeben, bleiben wir uns selbst genug, sind unabhängig. Für das soziale Zusammenleben ist diese Fähigkeit wichtig, weil sie uns auf spätere Situationen vorbereitet. Wenn jedoch der innere Dialog an die Stelle des Gesprächs gesetzt wird, wird es zu einer Position führen, in der man glaubt, sich selbst sehr gut zu verstehen, während sich zu den Mitmenschen, auch zu den nahestehenden, eine Distanz breitmacht, die als Isolation empfunden wird. Unter Isolation ist ein Dasein ohne innere Bezogenheit, ohne die unsichtbaren Fäden des gegenseitigen Verstehens jenseits von Worten zu verstehen, ohne das primäre Vertrauen in andere. Bei stark gestörten Menschen findet sich häufig ein Gefühl gähnender Leere um sich herum, ein Vakuum, das sich durch keine noch so große Anstrengung und durch keines der üblichen sozialen Entgegenkommen von außen füllen läßt. Im Rahmen der alltäglichen Psychopathologie ist das selbstgenügsame Spiel des inneren Dialogs unter zwei Aspekten zu sehen. Man sagt nichts und wirkt unverständlich, weil das, was zu sagen wäre, unerfreulich ist: Kritik, Vorwürfe, Anklagen, Klagen - warum sollte man sie nicht besser für sich behalten! Wir tendieren allgemein dazu, das Negative und Destruktive nicht ohne Hemmungen herauszulassen. Viele Menschen bevorzugen es, still zu bleiben, und sichern sich damit den äußeren Frieden. Sie nähren ihren Groll in der Selbstbestätigung der inneren Dialoge, es dringt - so glauben sie - nichts nach draußen. Natürlich irren sie sich, denn ihre Körpersprache verrät, was sie nicht zu sagen gewillt sind, und wir erhalten eine feingesponnene doppelbödige Botschaft von ihnen: "Ich bin zufrieden und ich bin unzufrieden" . Familienfrieden kann sehr wohl von der Auffassung der Familienmitglieder getragen sein, daß die anderen nicht wissen sollen, was man wirklich denkt. Der Preis des wackeligen Friedens ist Undeutlichkeit, man ist einander unverständlich. Für den Beobachter ist bemerkenswert, daß sich alle gemeinsam über den Groll einig zu sein scheinen, der im Augenblick die Szene bestimmt. Häufig sind in Familien die Zeitspannen, in denen der Groll abgebaut werden darf, vorgegeben. Ein verfrühtes Versöhnungsangebot würde keinesfalls von der Familie angenommen. Alle in der Familie ziehen sich in innere Dialoge zurück. Dennoch handelt es sich um ein offenes Geheimnis: "Wir wollen nicht verstanden werden, denn wir müssen uns schützen."

Warum macht man aus sich ein Geheimnis? Angst, den anderen zu verletzen, um im Gegenzug selbst verletzt zu werden? Angst, dem anderen zu nahe zu kommen und im Gegenzug vereinnahmt zu werden? Die Angst vor Nähe ist nicht von der Hand zu weisen. Innen herrschen Verlangen, Zuneigung, außen übertriebene Vorsicht. Wir werden uns mit dem ersten Fall, der Angst vor Verletzung, beschäftigen, weil im zweiten Fall erfahrungsgemäß damit zu rechnen ist, daß die Distanz vorläufig bleibt und sich langsam von den Beteiligten ohne Beistand von außen auflösen läßt.

Menschen mit dem Gefühl, nicht verstanden zu werden, senden doppelbödige Botschaften, sie sagen zwei Dinge gleichzeitig. So sieht es die Theorie der menschlichen Kommunikation.

Man geht von dem Gedanken aus, daß der Inhalt der Worte etwas vollkommen anderes, ja Gegensätzliches aussagen kann als die Stimme für sich genommen oder der Gesichtsausdruck oder auch die Bewegung der Hände, die das Gesagte unterstreichen sollen. Mir geht es gut, ich kann mich nicht beklagen, mit einer Leidensmiene gesagt, hinterläßt beim Angesprochenen einen Eindruck, bei dem er nicht weiß, welcher der beiden Botschaften er nun Glauben schenken soll. Wenn Kinder in Familien aufwachsen, in denen sie Doppelbotschaften von den Eltern erhalten, entwickeln sie Störungen: "Komm her zu mir, aber laß' mich in Ruhe", geht in diese Richtung oder "Mach das oder ich werde dich bestrafen". Egal wie das Kind sich verhält, immer ist es falsch, es ist ihm unmöglich gemacht, sich für das Richtige zu entscheiden.

Vorwurf kann durch inneren Dialog aufgehalten werden. Er bleibt unausgesprochen, im Mienenspiel zeigen sich die Spuren. Fragt man nach und erhält die Antwort: "Du täuschst dich, es ist nichts" , kommt einem der Betreffende unverständlich vor. Auf der Inhaltsebene ist alles in Ordnung, aber auf der Metaebene der Kommunikation erhält der Adressat den Hinweis, wie er das Gesagte zu deuten hat. Diese Doppelbotschaften sind ungemein häufig anzutreffen, immer dann, wenn die Vermeidung negativer Gefühle oder Schutzbedürfnis im Vordergrund stehen. Gruppen, ganze Abteilungen im Büro, eine Familie oder die gesamte Verwandtschaft hat sich auf Doppelbotschaften eingespielt. Man spricht miteinander, aber die Worte sind losgelöst, machen eine eigene Welt aus, in der nur noch Worte sind, aber kein echtes Verstehen.

Um aus der Isolation der negativ getönten inneren Dialoge herauszukommen, muß man zuallererst eine Einsicht gewinnen: daß Verständnis haben und einer Meinung sein zwei verschiedene Dinge sind, die nichts miteinander zu tun haben. Ich kann jemandem Verständnis entgegenbringen und durchaus anderer Meinung sein als er. Aber vielleicht meint er, der gerade sein Herz ausgeschüttet hat, daß er jetzt das Recht auf meine Parteinahme hat, als wolle er sagen: "Wenn du mich schätzt, mußt du auch meine Meinung teilen. Tust du das nicht, dann magst du mich nicht". Bei dieser Person ist eine Unfähigkeit zur Metakommunikation gegeben, d.h. sie kann nicht trennen zwischen Beziehung und Inhalt. Da sie realistischerweise feststellen muß, daß nur wenige Menschen der gleichen Meinung sein können, verhält sie sich äußerlich still. Dadurch entsteht eine Situation, die man ein Spiel ohne Ende nennen könnte. Denn es wird nicht lange dauern, bis diese Person von sich denkt, sie sei nicht interessant genug, niemand wolle sich mit ihr beschäftigen. Selbstverständlich ist diese Abweisung für die Umgebung keine Einladung, es trotzdem mit einer Annäherung zu versuchen. Und damit bekommt die Person sozusagen Recht. Mit einer solchen Einstellung setzen wir unsere Probleme in alle Ewigkeit fort, wir prophezeihen, was uns widerfahren wird, und tatsächlich, es tritt auch ein. Angenommen, der Isolierte macht einen unüberlegten Vorstoß und nimmt sich vor, offener zu sein, so ist nicht auszuschließen, daß seine Umgebung, darauf unvorbereitet, in alter Weise ablehnend oder befremdet reagiert.

Eine Vielzahl der isolierten Menschen weiß noch nicht einmal, daß sie das Problem der Isolation mit sich schleppen. Sie haben sich entschlossen, andere abzuwerten und sich selbst zum unerkannten Genie zu ernennen. Eine selbstgelenkte Problemlösung verlangt neben der Trennung von Verständnis und Einer-Meinung-Sein zudem eine genaue Beobachtung, wie man sich mit anderen benimmt und ob man vielleicht mit Absicht unverständlich bleibt. Das ist recht gut abzulesen an der eigenen Sprechweise. Wer niemals von sich selbst spricht und wer nie erkennen läßt, wie er etwas erlebt, wer seine Gefühle nicht ab und zu in seinen Worten aufgreift, arbeitet auf seine Isolation hin und hält sie am Leben. Eine Sprache, die in Allgemeinheiten mit "man" , "immer" , "alle" , "ständig" , "jeder" operiert, läßt erkennen, daß das "Ich" sich dahinter verstecken will. Andere wissen nicht, was der Sprecher genau meint, und nur wenige fragen nach: "Was meinst du genau damit?" , weil ihnen die Sprache in Allgemeinheiten erst auffallen müßte, um zu fragen. Auch das Reden in Abstraktionen gehört hierher. Ich kannte einen hochbegabten Akademiker, er hatte die Ich-Sprache im Alltag verloren und verschanzte sich hinter seiner abstrakten Sprache. Manche verstanden ihn nicht, andere verstanden wohl seine Fremdwörter, aber er blieb als Person unfaßbar, nicht festzulegen. Derartige Situationen werden nicht philosophisch, sondern in konkreten Situationen gelöst. Man denkt ihre Lösung, festgemacht an konkreten Sachverhalten, durch und geht mit kleinen Schritten vor. Im Unterschied zu den endlosen inneren Dialogen verzeichnet man dann erst Fortschritte, wenn eine Situation gesucht wird, in der das Problem aufgetreten ist. Fragen wie: "Wer war dabei, wann war es, wie war das eigene Verhalten, wie haben die anderen reagiert, und was ist dabei herausgekommen?" führen die Gedanken weiter. Wenn die Situation klar genug ist, kommt eine Frage, an die die Menschen meistens nicht denken: "Was ist nun eigentlich das Problem daran, daß die Situation so und nicht anders gelaufen ist?" Gut, ein Kollege hat einen Angestellten geärgert. Ich würde den Angestellten fragen: "Und wo liegt dabei das Problem?" Meine Patienten machen meistens bei dieser Frage ein verdutztes Gesicht, weil sie denken, das Problem sei schon völlig klar.

Für die selbstgelenkte Problemlösung braucht man eine klare Definition des Problems, denn mit der Definition wird das Ziel auch klar, das erstrebenswerter ist als die bisherige Lösung. "Mein Kollege hat mich geärgert, aber mein Problem ist, daß ich nichts sage und nur still meinen Ärger mit mir herumtrage, dabei will ich mir das nicht gefallen lassen." Und schon stößt man auf eine Alternative, an die man zwar gedacht, aber die man nicht durchgeführt hat, z.B.: "Ich hätte ihm sofort sagen müssen, daß er zu weit geht." Warum hat der Verärgerte geschwiegen? Natürlich hat jeder seine Gründe. In der selbstgelenkten Problemlösung ist ein kapitaler Irrtum, an dieser Stelle die Warumfrage aufzuwerfen, denn man kommt nur zu allerhand Erklärungen, nicht aber zu einer weiterführenden Lösung. Besser ist es, nach dem Hindernis zu fragen, das der Möglichkeit im Weg gestanden hat, die Alternative zu wählen. Bei dem Angestellten waren aversive Gefühle zu erwarten: Angst, Unsicherheit, Katastrophenphantasien, Beklemmung, Verwirrung, Nicht-im-Voraus-Wissen-Können und ähnliches die das eigentliche Hindernis darstellen. Mit der Frage nach dem Hindernis sind wir beim Problemkern. Es ist anzunehmen, daß der Problemkern vielfach durchlitten, aber niemals ausdrücklich durchdacht worden ist. Denn wenn man fragt: "Was haben sie bisher versucht, um das Hindernis zu überwinden?" , erhält man eine erstaunliche Anzahl von Versuchen, ausgeführten und fehlgeschlagenen. Diese Versuche sollte man gründlich durchgehen, denn in jedem von ihnen steckt ein kleiner Teil Wahrheit. Diese Versuche entsprechen uns, passen zu unserer Persönlichkeit, es fehlt ihnen allerdings etwas Wesentliches: Sie haben nicht auf die ganze Realität Rücksicht genommen und brauchen Ergänzung.

Im letzten Frühjahr suchte mich ein Angestellter mit beruflichen Sorgen auf. Er neigte, wie sich bald herausstellte, zu herber Kritik und zu Anklagen, hielt sie aber im Berufsfeld völlig zurück. Seine Reizbarkeit stieg, bis er meinte, er fühle sich in der Abteilung isoliert, und er überlege schon, ob er den Arbeitsplatz wechseln solle, weil es ihm dort nicht mehr gefiel. Dabei äußerte er scharfsinnige Gedanken über die etwas trübsinnigen Verhältnisse in seiner Firma, wie ich sehr schnell bemerkte. Seine Phantasie war, daß er wenn er dort äußern würde, was er mir bereitwillig mitteilte, fristlos gekündigt würde und heftigen Angriffen seitens der Kollegen ausgesetzt wäre. Möglicherweise wußte er nicht zu unterscheiden zwischen Momenten, in denen er vorsichtig sein mußte, und anderen Situationen, in denen er vertrauensvoll sprechen konnte. Das war mit der Grund, warum er sich mit seiner Freundin auseinandergelebt hatte. Der Glaube an ihre Zuneigung war ihm verlorengegangen. Als wir zum Problemkern vorstießen, mußte er zu seiner Verwunderung eingestehen, daß alles, was er über sich sagen konnte, jedes Gefühl, jede Meinung, von Destruktion durchdrungen war. Er konnte von niemandem mehr gut denken, machte innerliche Anklagen, Forderungen, kritisierte zwanghaft und heftig. Wenn er nur einen Teil von all dem äußerte, womit er seinen inneren Dialog bestritt, hätten es weder seine Kollegen und noch seine Freundin lange mit ihm ausgehalten. Seine Versuche, sich trotzdem mitzuteilen, hatten - wie sich im Rollenspiel herausstellte - eine bemerkenswerte Doppelbödigkeit. Er spielte nacheinander sich selbst mit seinem Vater, mit seiner Mutter, mit seinen Schwestern, mit Kollegen und mit der Freundin. Wir berieten, wie es zu machen wäre, daß er über seine Kritiksucht, über seine Anklagen, über sein Alleinsein und die Angst, den anderen zu verlieren, sprechen konnte, ohne im gleichen Atemzug sein Gegenüber herabzusetzen. Als er seinen Ärger zum Ausdruck brachte, waren Inhalt der Worte und Körpersprache einheitlich, er wirkte glaubwürdig. Nachdem er die Möglichkeit durchgespielt hatte, mit seinen Arbeitskollegen und seinem Chef "Klartext" zu sprechen, kam ihm der Einfall, nicht direkt wütend zu sein, sondern über seinen Ärger in aller Ruhe zu sprechen. Da er sich außerdem bereitfinden konnte, zu erwarten, daß er vielleicht der einzige sein würde, der die Angelegenheit in dieser Weise sah, wurde seine Angst, verletzt zu werden, geringer. Ich hoffe, er hat sich daran gehalten, was er sich zum Abschied in der letzten Sitzung vorgenommen hatte. Um verstanden zu werden, wollte er innere Vorwurfs-Dialoge zum Anlaß nehmen, nach dem selbstboykottierenden Selbstteil zu suchen.

 

4. Selbstboykott und persönliches Wachstum

Beengende Einstellungen sind eine Form, in der Selbstboykott auftritt. Überlebensbotschaften fordern die Einengung: Sei nicht traurig, streng dich an, sei still. Sie wirken im späteren Leben fort, nachdem sie in früheren Lebenssituationen eingeprägt wurden. Die Überlebensbotschaften waren einst wichtig, sie mußten unbedingt befolgt werden. Sie außer Acht lassen hätte bedeutet, sich in Gefahr zu begeben, die Gefahr, nicht geliebt zu werden oder eine Strafe zu erhalten. Gewöhnlich werden frühere Botschaften durch spätere ersetzt, die dem Lebensalter besser entsprechen. Manche Überlebensbotschaften dagegen werden beibehalten, weit über die Zeit hinaus, in der sie Geltung hatten. Die Auswahl wird von einer Dynamik bestimmt, die im einzelnen Lebenslauf aufgesucht und beleuchtet werden muß. Vergessene Überlebensbotschaften und automatisierte Sofortlösungen stehen in engem Zusammenhang. Sie sind unsere Mittel, mit denen wir unseren Selbstboykott betreiben. Selbstboykott stellt sicher, daß nichts Unvorhergesehenes geschieht, wir wahren unsere Grenzen, und das Schutzbedürfnis steht an erster Stelle, die Aufregung des Neuen und seine Erforschung bleiben ausgespart. Im Selbstboykott bleibt man unlebendig und starr. Unlebendigkeit und statisches Verharren sind Feinde persönlichen Wachstums. Aus sich etwas machen und zu sich selbst kommen, bedeutet, Aufregung und Kontakt mit dem Neuen hoch zu bewerten. Natürlich ist es verführerisch, sich phantasierte Alternativen offenzuhalten oder in Bequemlichkeit zu versinken oder die Schuld bei anderen Menschen zu suchen. Das Ergebnis solcher Einstellung ist langfristig: Persönliches Wachstum findet nicht statt oder verläuft sogar rückwärts. Durch Bewußtheit der in uns vorhandenen Spannungen wird das persönliche Wachstum gefördert. Sie machen leiden, aber haben auch etwas Sinnvolles.

Selbstgelenkte Problemlösung ist einer der vielversprechenden Wege, persönliches Wachstum zu unterstützen. Im letzten Abschnitt habe ich sie zu umreißen versucht. Ein zweiter Weg mit einigen Aussichten auf Erfolg ist die Einübung von Bewußtheit körperlicher Spannungszustände. Unser Körper ist ein überaus feines Signalsystem für Situationen, die uns nicht bekommen. Schmerzen und Verspannungen sind leicht zu bemerken. Schon das Ziehen im Kopf oder im Magen, das Kribbeln der Finger, ein Anflug von Müdigkeit und Schlaffheit und vieles andere mehr können deutliche Signale sein, daß etwas nicht stimmt. Der übliche Umgang mit Körpersignalen ist sich zusammenreißen oder Medikamente einnehmen. Was erreicht man damit? Das Zusammenreißen führt zur zeitweisen Unempfindlichkeit, die Muskeln werden verhärtet, die Durchblutung wird herabgesetzt, gewisse Körperstellen werden "ausgeblendet" , sie sind überreizt, aber nicht wahrzunehmen. Medikamente beseitigen das Symptom, der Kopf tut nicht mehr weh, man regt sich nicht mehr auf, der Schlaf kommt schnell. Die Signalfähigkeit des Körpers leidet Schaden, denn der Verursachung der psychisch bedingten Spannung geht man nicht auf den Grund, man verhindert geradezu, daß sie ins Bewußtsein tritt. Was wir bei chronischem Verlauf als psychosomatische Störung kennen, geht nicht selten auf die fortlaufende Mißachtung von Körperspannungen zurück, die in Situationen auftreten, die konflikthaft für uns sind. Chronische Verstopfung und Migräneanfälle können unter diesem Gesichtspunkt in der Psychotherapie in vielen Fällen behandelt und geheilt werden. Wo Spannungen im Körper bemerkbar werden, hält man sich selbst ruhig, man macht sich selbst passiv. Die Energie, die man verwendet, um sich vom Reagieren abzuhalten, ist unglaublich groß. Einen Teil dieser Arbeit erledigt die beengende Einstellung, aber die Tatsache, daß wir sie als beengend erleben, spricht schon dafür, daß etwas in uns expandieren will, während sich eine Gegenkraft gegen die Expansion stellt. Wenn man sich seine Körperspannung bewußt macht und das Schwanken der Spannungen wahrnimmt, ist es möglich, in beträchtliche Erregungszustände zu geraten. Diese Erregung aber dann in Bewegung umzusetzen und zum Ausdruck zu bringen, sie zu zeigen und in Worten offenzulegen, kann aus mancherlei Gründen für den Betreffenden unerreichbar sein, und er bleibt im Selbstboykott stecken. Der Selbstboykott kann solche Ausmaße annehmen, daß man therapeutische Hilfe heranziehen muß. Was ich offensichtlich häufig in der Therapie tun muß ist, über die Formen des Selbstboykotts zu belehren, der sich in Körperspannungen Ausdruck verschafft.

Nach neuer Auffassung besteht Humanität in der Verbindung zwischen den Menschen. Der Selbstboykott unterbricht diese Verbindung, es kommt kein wirklicher Kontakt zustande. Nun mag es gefährlich sein, etwas anderes, ungewohntes zu tun, zu handeln, sich zu zeigen, ein Gespräch über sich zu führen, zu offenbaren, was einen innerlich bewegt. Das ist aber kein Grund, den Versuch nicht zu wagen. Das Risiko erhöht sich, man regt sich auf, man weiß nicht, was kommt, doch mit dem Risiko finden sich neue Muster des Auslebens bisher unterdrückter Impulse, Bewegungsansätze und Gedanken. Alles, was man ausprobiert und neu zum Ausdruck bringt, kann man als neue Verhaltensweise seinem Verhaltensrepertoire hinzufügen. Die Bewußtheit innerer Spannung führt in die innere Bewegung, in die Emotion. Wenn ich mir dann freizügig erlaube, mir selbst zu folgen, dann ist potentiell ein weiter Bereich von Ausdrucksmöglichkeiten erreichbar. Man wird seiner selbst gewahr, man verweilt bei dem, was sich innerlich wirklich abspielt. Und anstatt gegen sich selbst zu argumentieren und gegen sich Partei zu ergreifen, läßt man sich von seinen Möglichkeiten tragen, die sich im Inneren entfalten. Nur so kann man erkennen, wie die vergessenen Überlebensbotschaften lauten und worin der Konflikt besteht. Zu wissen, wie man vorsichtig wird, verspannt und passiv ist und wie man zu sich selbst ein unwiderrufliches Nein spricht, ist eine Kernfrage persönlichen Wachstums. Für das Bewußtmachen von Körperspannungen braucht man etwas Spielraum, Momente, um sich auf sich konzentrieren zu können, bis man etwas mehr Übung gewonnen hat. Aus der Gestalttherapie stammt die Regel: "Bleibe bei dem, was jetzt ist, und es wird sich verändern." Das ist eine paradoxe Regel, und sie wird selten wirklich verstanden. Auf beengende Überlebensbotschaften angewendet würde sie schnell die Bedeutung erhalten: Bleibe bei deiner Anspannung und mache dir bewußt, wie du dich beengst, wie der innere Ablauf in dir ist, der im Gefühl der Beengung endet. Das Gefühl der Beengung wird sich von selbst verändern, der Atem fließt wieder, es kommen neue Einfälle, man wird wieder aktionsfähig.

Gewöhnlich gehen die Menschen von der falschen Annahme aus, sich seinen Impulsen zu widmen und ihr Entstehen und ihren Verlauf sich frei entfalten zu lassen, könnte zu einer Gefährdung für das persönliche Befinden führen. Das muß nicht stimmen. Vielmehr werden Handlungen, die früher oft aufgrund der Wahl zwischen gut und böse vermieden wurden, zu einem mehr oder weniger glücklichen Ausgang führen, wenn sie ausgelebt werden. Die Überlebensbotschaften von damals sind heute überholt. Wir sind erwachsen und müssen suchen, was heute zu uns paßt und was wir heute verantworten können.

Das unmittelbare Gewahrwerden unseres Lebensprozesses ist die Grundlage des Kontaktes mit der Umgebung. Bewußtheit ist eine notwendige Bedingung, um mit den Vorgängen in uns und um uns in Berührung zu sein. Bewußtheit hat die Funktion einer mobilisierenden und orientierenden Kraft. Mit ihr als Basis können Menschen ihre Erfahrungen ständig auffüllen und frisch erhalten. Bewußtheit untermauert Erfahrung. Man vergewissert sich, bevor man wagt, sich zu zeigen, sich zu bewegen, sich der Beobachtung anderer auszusetzen, aber dann tritt man in Interaktion und in Kontakt mit dem, was einen umgibt. Die Lebendigkeit wird erhalten, weil man mit Dingen in Kontakt tritt, die außerhalb von einem liegen, die neu und fremd sind. Der Mensch ist emotional, kognitiv und physiologisch vor allem ein offenes System, das angewiesen ist auf die Zufuhr von außen. Jeder Versuch, in einem abgeschlossenen Raum ganz für sich zu sein, würde nicht lange anhalten. Der Austausch mit der Umgebung ist lebensnotwendig. Der Austausch mit der Umgebung der Umgebung, das Gespräch mit anderen Menschen sind lebensnotwendig. Bewußtheit unterstützt im lebenserhaltenden Austausch. Sie ist das Sprungbrett, von dem aus mein Handeln einsetzt.

Im Selbstboykott wird die Bewußtheit nicht ausreichend benutzt, denn man beschränkt sich auf einen bestimmten Ausschnitt der Situation. Bei manchen schweren Störungen ist die Bewußtheit völlig zusammengebrochen, und die Erlebensereignisse gehen an diesem Menschen vorbei. Er lebt in einer Zwischenwelt der Phantasien und Wünsche statt in der Realität. Um aus Perioden eingeschränkter Bewußtheit zurückzukehren, muß man erst einmal entdeckt haben, daß man Situationen nur in Ausschnitten mitbekommt. Dann aber kann man sich die Förderung der Bewußtheit zur Aufgabe machen.

Bewußtheit läßt sich mit den Begriffen Wachheit oder Selbstwahrnehmung genauer charakterisieren. Man ist wach für Dinge, außerhalb und innen, man nimmt sich selber wahr in seinen Absichten, in seinem Handeln, in der Tönung der Stimme und im Ausdruck des Gesichts, der Gestik der Hände. Dieser Prozeß ist anders zu sehen als gewöhnliches Nachdenken.

Wer sie benutzen will, hat in der selbstgelenkten Problemlösung und in der Bewußtheit von Körperspannungen zwei machtvolle Instrumente gewonnen. Ein dritter Weg persönlichen Wachstums findet keinen ausreichenden Platz mehr. Ich möchte ihn nur kurz erwähnen: Es geht darum, das Störende in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Symptome und Störungen sind, im Kontext unserer Bezüge gesehen, sinnvolle Lösungen. Sie bringen uns einen Nutzen, den wir brauchen, aber nur mit erweiterter Perspektive fähig sind zu erkennen. Wenige denken daran, daß man für seine Symptome auch etwas bekommt, wenn es auch schwer ist, sich das einzugestehen. Dieses Eingeständnis könnte der erste Schritt zur erweiterten Perspektive sein, in der wir mit Überraschung feststellen, daß wir uns doch, im ganzen gesehen, recht geschickt anstellen, damit wir nicht zu kurz kommen.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Dr. Kristine Schneider (1935 - 2001)

Fachpsychologin für Klinische Psychologie und Psychotherapeutin, Mutter von vier Kindern und fast 30 Jahre in privater Praxis in Köln tätig. Begründerin und Leiterin des Instituts »AGA - Angewandte Gestaltanalyse«. Dozentin und Ausbildungstherapeutin an verschiedenen Ausbildungsinstituten für Gestalttherapie, dem Fritz Perls Institut, dem Institut für Gestalttherapie Würzburg und dem Gestalt-Institut Köln/GIK Bildungswerkstatt. Langjährige Lehrtätigkeit in Ericksonscher Hypnose am Milton Erickson Institut Köln.

Vortragstätigkeit, Radiobeiträge, Artikel in Fachzeitschriften und Buchveröffentlichungen, darunter: »Grenzerlebnisse. Zur Praxis der Gestalttherapie« (Edition Humanistische Psychologie), sowie zwei Bücher zusammen mit Jorgos Canacakis: »Neue Wege zum heilsamen Umgang mit Krebs. Angebote für Betroffene und Helfer« (Kreuz Verlag) und »Heilsamer Umgang mit Schwinungen: Gongklänge« (Walter Verlag)

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