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Kristine Schneider
Vier Irrwege der kreativen Anpassung
Eine Vortragsreihe


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik 1-1993:

Kristine Schneider
Vier Irrwege der kreativen Anpassung
Eine Vortragsreihe

 

Kristine Schneider (1935 - 2001)Kristine Schneider (1935 - 2001)

 

Irrweg I - Opferhaltung

Verzicht und Einschränkung sind aus dem Leben in Partnerschaft und Familie nicht wegzudenken. Manche aber opfern sich ohne Rücksicht auf sich selbst. Sie machen aus dem Sich-Aufopfern eine Art Sport. Wenn man sie nach ihrer Überzeugung fragt, würde die Antwort ungefähr lauten: Ich muß zurückstehen. An sich denkt man zuletzt. Ich bin nur für die andern da, das genügt mir.

In meiner jahrelangen Tätigkeit als Psychotherapeutin habe ich wiederholt mit Menschen zu tun bekommen, deren Bereitschaft sich aufzuopfern ich für übertrieben hielt. Sie litten an ihrer Opferhaltung - davon war ich überzeugt - zwecklos. Sie würden mir unrecht geben, weil sie etwas Wesentliches nicht eingestehen würden. Um es auf den Punkt zu bringen, diese Menschen litten, indem sie ihre Selbstlosigkeit zu weit trieben und dadurch krank wurden.

Frau Marga S., heute 34 Jahre, Hausfrau, ohne Kinder, seit 8 Jahren verheiratet, wünschte sich, als sie zu mir kam, nichts sehnlicher, als ein Kind zu bekommen. Sie war früher im Finanzamt beschäftigt, hatte Freude an der Tätigkeit und war erfolgreich gewesen, gab auf Wunsch ihres Mannes die Berufstätigkeit auf und war die letzten 7 Jahre damit beschäftigt, den Haushalt zu versorgen, verwandtschaftliche Pflichten zu übernehmen und auf ihr erhofftes Kind zu warten. Die gynäkologische Hormonbehandlung hatte nichts gebracht, obwohl körperlich die Voraussetzungen für eine Schwangerschaft vorhanden waren. Neben der Trauer über den nicht erfüllten Wunsch klagte sie über Kopfweh, Anfälle von Müdigkeit. Besonders in den letzten Monaten war sie aus der Überforderung kaum herausgekommen, schlief weniger, strengte sich mehr an als vorher, ohne im entferntesten mit ihrer Leistung zufrieden zu sein. Frau Marga ist eine hübsche hochgewachsene Frau, sie wirkt müde, das Gesicht zerquält. Während sie bescheiden mir gegenüber sitzt, spricht sie monoton vor sich hin, ohne mich anzusehen. Was mir besonders auffällt: sie spricht kaum über sich, viel über ihren Mann, das ersehnte Kind, ihre Mutter, ihre Verwandtschaft. Ihr Zustand ist ihr unerklärlich; bis vor zwei Jahren habe sie alles spielend erledigt, ihrem Mann Büroarbeiten abgenommen, die kranke Großmutter gepflegt, den Haushalt tipp topp in Ordnung gehabt. "Früher machte ich das mit Freude", sagte sie, "heute ist mir ziemlich einerlei, was mit mir geschieht". Als ich weiter in sie dringe, entdeckt sie mir ihre Selbstvorwürfe. Ihrem schlechten Gewissen kann sie nicht entkommen. Es wirft ihr vor, wie wenig sie für ihren Mann tut. Da sie nicht mehr voll einsatzfähig ist, fragt sie sich, wie sie all das je wieder gutmachen soll, wozu sie nicht mehr in der Lage ist. Schließlich seien alle auf sie angewiesen. Der äußere Auslöser für ihren Besuch bei mir war eine heftige Grippeerkrankung. Die Untätigkeit des Liegens hatte ihr Zeit zum Nachdenken gegeben. Die Schalheit, die Ziellosigkeit und der unerklärbare Umschlag ihres Lebensgefühls kamen ihr ins Bewußtsein, und sie geriet ins Nachdenken, ja fast in Panik. Sie sah sich älter werden, kam sich häßlicher vor, und tatsächlich zeigte ihr Mann weniger Interesse für sie, war viel verreist und behandelte sie manchmal, als wäre sie nicht vorhanden. Um ihrem Alltag etwas mehr Inhalt zu geben, hatte sie begonnen, einen Nachmittag in der Woche im Altenheim unentgeltlich zu helfen. Es sah dunkel aus für Marga: ihre Selbsthilfeversuche wenig erfolgreich, die Hoffnung auf das Kind unerfüllbar, der Mann in ihren Phantasien im Begriff sich abzuwenden, sie selbst mehr und mehr an Attraktivität verlierend, dazu die moralische Schuld. Ihr Glaube für das Richtige in ihrem Leben schwankte. Wozu das Verzichten? Sie hat sich gerne aufgeopfert, auf die anderen eingestellt. Es erstaunt, daß sie ihrer Umgebung nicht böse zu sein scheint, wenn sie darüber spricht, wie wenig sie zurückbekommt. Es ist offensichtlich selbstverständlich für sie, daß sie zurücksteht. Ich möchte fast sagen, sie kann nicht anders als zurückstehen. Sie befindet sich wie unter einem Zwang, für die andern da zu sein und selbstlos zu handeln.

Gesunde Selbstbeschränkung ist auf Gegenseitigkeit aufgebaut. Wenn dies der Fall ist, wirkt das, was wir für andere tun, auf uns selbst wohltuend zurück. Eigentlich müßte die Bereitschaft von Marga, für ihren Mann Büroarbeiten zu machen, den Haushalt ganz allein zu übernehmen, sich um Blumen und Haustiere der Verwandtschaft zu kümmern, keinen der Geburtstage zu vergessen, große Einladungen für Geschäftsfreunde zu geben, den Haushalt der gehbehinderten Großmutter zu versorgen zu Gegenleistungen der anderen führen. Doch darauf wartet Marga vergebens. Eine Gratifikation im idealen Bereich ist auch nicht vorhanden, denn Marga ist nicht religiös. Wenn sie für ein höherwertiges Ziel ihre Aufopferung betrieben hätte, wäre ihre Haltung noch zu verstehen. Doch wartet auf sie weder Lohn im Jenseits noch auf eine spätere Wiedergutmachung in dieser Welt. Was hat sie nur davon? Marga macht sich unentbehrlich, aber sie braucht niemanden. Und so macht ihr Dasein den Eindruck, als ob etwas ganz Wesentliches fehle: das Neinsagenkönnen im richtigen Moment. Weil sie nicht nein sagt, wird ihre überspannte Selbsteinschränkung zur Selbstlosigkeit im wörtlichen Sinne. Sie hat keinen kreativen und sebstunterstützenden Umgang mit sich selbst. Letzendlich wird sie gehindert, weiter durchzuhalten: ihr Körper streikt.

Wir nennen Haltungen, die krank machen, neurotisch. Eine neurotische Opferhaltung, und unter ihr leidet Marga, braucht nicht unbedingt zu Symptomen zu führen, vorausgesetzt, die Lebensumstände bleiben stabil und es treten keine schweren Krisen ein: Zwei Einflüsse bringen in Margas Leben die krisenhafte Erschütterung: das Ausbleiben des Kindes und die Abwendung des Mannes. Ihr Selbstwertgefühl bricht ein, das sich durch ihre Leistungsfähigkeit für andere ernährte. Insgeheim glaubte sie daran, daß sie sich opfern müsse, damit die andern sie mögen. Sie mußte ständig von sich geben, um durch die Dankbarkeit der Beschenkten zu fühlen: sie war etwas wert. Die Enteignung der positiven Einstellung zu sich selbst ist hauptsächliches Kennzeichen für eine neurotische Opferhaltung. Das macht abhängig von der Anerkennung der Umgebung. Bleibt sie aus, schleichen sich Unsicherheit und Unzufriedenheit ein. Marga allerdings, ein Mensch von hohen moralischen Ansprüchen an sich selbst, konnte sich nicht erlauben, unzufrieden zu sein. Sie wendete viel Kraft auf, um ihr eigentliches Empfinden vor sich zu verbergen. Unzufriedenheit ist gewöhnlich der Anlaß, anders an Dinge heranzugehen. Es wäre ein Schritt nach vorn. Dazu ist Marga nicht fähig, ihr Körper tritt dazwischen mit Symptomen und rettet sie ohne ihr Wissen aus der Überbelastung durch Streik. Sie hatte, wie alle neurotisch Opferbereiten, den Kontakt zu ihrer Umgebung durch Dienstbereitschaft hergestellt, nun kam der Kontakt über das Symptom zustande. Ihre Bescheidenheit verbietet ihr, über sich zu sprechen.

Wie alle Überbescheidenen, hat sie die Ich-Sprache verloren. Was andere von einem denken, wie sie zu einem stehen, wird vorgeschoben, um mit den Worten anderer über sich selbst zu sprechen. Auch Marga beschreibt sich in der Sprache eines anderen, ihres Mannes: "Er findet mich häßlich, er wünscht, ich solle mich mehr zusammennehmen". Es sieht so aus, als hätte sie keine eigenen Eindrücke, Wünsche und kein eigenes Urteil. Selbst als ich sie bitte, ihre Sätze mit "Ich" zu beginnen, fällt sie nach zwei Sätzen in ihre alte Sprechgewohnheit zurück. Was sie wirklich angeht, ist nur zwischen den Zeilen zu erraten und spricht von zahllosen Selbstvorwürfen. Ihre klagende Stimme, die Notfalten auf ihrer Stirn, die Abwendung des Körpers und des Blickes machen an mich eine Mitteilung, die so lauten könnte: "Am besten wäre ich nicht mehr da, dann würde ich anderen den Platz nicht wegnehmen".

Doch ist da noch etwas anderes, ein störender Eindruck. Es ist kennzeichnend für die neurotische Opferbereitschaft, durch falsche Großzügigkeit und zwanghafte Zurückhaltung in Berührung mit den anderen zu kommen. Die Umgebung geht aber zwiespältig darauf ein. Sie läßt sich die Bequemlichkeit gerne gefallen und ist zugleich auf die Unangreifbarkeit des Opfernden böse oder reagiert geringschätzig. Die Gefügigkeit wird ausgebeutet und angefeindet. Nicht ohne Grund übrigens. Die Doppelbödigkeit in der Reaktion der Umgebung entspricht beim Opfernden einer Doppelbödigkeit seinerseits. Er ist opferbereit, gibt aber auch verdeckt zu erkennen, daß die Umgebung ihn krank macht. Margas Symptom spricht für sich und gegen die anderen: "ihr macht mich krank, ihr macht mich unzufrieden". Hat sie nicht Kopfweh, leidet sie nicht unter Schlaflosigkeit? Also kann sie Rücksicht fordern. Ihr Symptom fordert für sie, erspart ihr, selbst klare Grenzen zu setzen. Die machtvolle geheime Forderung nach Gegenleistung, auf die sie betont zu verzichten scheint, ist die nach Beachtung und Mitgefühl.

Neurotische Haltungen haben in aller Regel einen heimlichen Gewinn. Was hatte Marga für einen Gewinn, bevor sie krank wurde? Früher war es der ihr zurückgegebene Selbstwert und ihre Selbstanerkennung für das Besondere, das sie sich abverlangte. Was sie nicht bemerkte, war, wie sie die anderen mit ihrer Bescheidenheit tyrannisierte. Ihre Bescheidenheit und Dienstbereitschaft erlebte ihr Mann als feingesponnene Tyrannei. Seit sie ihre Symptome hat, kümmert sich ihr Mann wieder etwas mehr um sie. Der Gewinn des Symptoms ist, sich weniger vor dem Drohenden fürchten zu müssen, vor dem, das anscheinend unabwendbar auf einen zukommt.

Unverkennbar ist die übertriebene Selbstlosigkeit oberflächlich, darunter liegt das Bedürfnis nach Kontrolle. Zugegeben, neurotische Opferbereitschaft verzichtet, aber auf das Falsche: die eigene Spontaneität, die Aggression, der Freiraum, der Spaß an sich selbst. Dagegen hält der Betroffene umso fester an seinen Illusionen und Idealen fest. Menschen finden es schwierig, Traditionen aufzugeben, auch wenn sie ihnen nicht gut bekommen. Marga ist in eine Tradition der Bedrücktheit getrudelt, die wenig Aussicht hat, von selbst zu weichen. Eine Wende wäre für Marga erst zu erreichen, wenn sie erkennt, daß ihre übertriebene Bereitschaft zum Opfern in einem direkten Zusammenhang mit ihrer eigenen Haltung und der zwiespältigen Reaktion ihrer Umgebung steht.

In Beziehungen gibt es für den Psychotherapeuten keine Schuldigen und Unschuldigen, es gibt nur Spieler und Mitspieler im Spiel des Zusammenlebens. Sie würden die Opferhaltung von Marga in Korrespondenz mit ihrem sozialen Umfeld sehen. Wie sieht dann ihre Lage aus? Ihr Mann gehört zu jenen Menschen, die eine andere Person ganz für sich brauchen, und nicht ohne Grund fiel die Wahl Margas auf ihn, der ihr das Gefühl gab, endlich gebraucht zu werden. "Ich brauche dich ganz", sagte er damals, "ohne dich bin ich nichts", sagte sie. Die Eheschließung war ein Lösungsversuch mit wenig Freiraum für die Partner. In ihrem Wertgefühl abhängig von ihm und seiner Anerkennung war für Marga die Misere schon vorprogrammiert. Als nach der ersten Verliebtheit der Mann mehr Interesse für seinen Beruf entwickelte, sie weniger brauchte als früher, betrachtete sie sich in ihrer Logik als weniger wert. Umso mehr versuchte sie, um den Verlust auszugleichen, sich noch weiter anzupassen, noch mehr zu verzichten. Es ergab sich erst eine Steigerung, schließlich Aussichtslosigkeit.

Sehen wir uns die Psychodynamik der neurotischen Opferhaltung etwas näher an. Sie führt nicht zum Kontakt, zur wirklichen Berührung mit anderen Menschen. Solche Menschen haben aufgehört, sich im Zusammensein mit anderen psychisch zu ernähren. Rückzug vom Mitmenschen und überhöhte selbstschädigende Werthaltungen, die irgendwann im Leben des Betreffenden einmal nützlich gewesen sein mögen, wurden später, obwohl unbrauchbar geworden, beibehalten und verstellen das persönliche Wachstum. Wer sich sagt: du darfst nicht fordern, du mußt geben, erkennt seine natürlichen Bedürfnisse nicht an. Wer sich bemüht, durch seine Opferbereitschaft jeder möglichen Kritik zuvorzukommen, geht der Auseinandersetzung und damit auch dem Kontakt aus dem Weg.

In der Gestalttherapie geht man davon aus, daß der neurotischen Opferhaltung die psychodynamische Struktur der Retroflektion zugrunde liegt. Wir verstehen darunter die Wendung gegen sich selbst. Retroflektion ist eine nützliche Funktion, sofern man nicht in ihr steckenbleibt. Um uns den schmerzlichen Kontakt mit dem Neuen zu ersparen, neigen wir dazu, in allen nur denkbaren Zwischenstadien hängenzubleiben. Man ist ständig im Begriff etwas zu tun, tut es aber nicht und fängt entweder nie mit seiner Aufgabe an oder wenn man sie angefangen hat, wird man nie mit ihr fertig. Es ist nun denkbar, daß jemand, der in gesunder Weise retroflektiv handelt, d.h. eine gute Portion Selbstkritik besitzt aber auch für sich sorgt, soviel Stärkung aus seiner Aktivität zieht, daß er es eines Tages schafft, über sich selbst hinauszuwachsen. Ein Weg aus dieser Falle könnte z.B. sein, die Überforderung an sich selbst nach und nach in Forderungen an die anderen zu verwandeln. Gewöhnlich führen neurotische Haltungen selten von selbst in diese Expansion, man muß dazu angeregt werden.

Retroflektion hält uns auch vom intensiven sinnhaften Erleben ab. Wer irgendwie nebelhaft und unklar so ein Gefühl der Unzufriedenheit spürt, es aber anstandshalber unterdrückt und eine Selbstschwächung um hochgesteckter Ideale willen betreibt, befindet sich vermutlich im Zustand der Ablehnung sinnlicher Erfahrung. Therapeutisches Ziel wäre es hier, Freude, Sinnenhaftigkeit und Genuß akzeptieren zu lernen. Das bedeutet Rückkehr zum Vertrauen in sein Leben. Der Anfang könnte darin bestehen, sich kleine Vergnügen zu bereiten, die einen aufpäppeln und verwöhnen, bis man später dafür frei wird, sich wieder auf andere zu beziehen und ihnen Vergnügen zu spenden, um es dann umgekehrt aus den Händen anderer selbst zu empfangen.

Margas Retroflektion begreifen wir am besten, wenn wir sie als gegen sich selbst gerichtete Aggression in Form von Verboten sehen. Sogar die Unzufriedenheit und die Symptome verbot sie sich. Der Weg, den sie vor sich hat, wird dahin führen müssen, sich ihre tiefliegende existenzielle Unzufriedenheit zuzugestehen, zu erkennen, wie sie im Grunde gegen sich selbst war und nicht wirklich für die anderen dasein konnte, frei und unvoreingenommen, sondern daß ihr Dienst an der Umgebung ein qualvoller und überflüssiger Umweg war. Ihre Leistungen, wird sie eines Tages sehen, waren nicht Geschenke aus vollem Herzen, sondern Tribut, um existieren zu können.

Die Durchleuchtung ihrer Lage in unseren therapeutischen Gesprächen wird wahrscheinlich an mehreren Punkten erschwert. Wie alle neurotischen Opfer verhält sie sich passiv in ihren eigentlichen Belangen, ihre Aktivität gilt andern, nicht sich. Ihre Aggressionen, soweit sie sie bei sich selbst wahrnehmen kann, sind vollständig nach innen gerichtet, so daß kaum etwas übrigblieb für Planung und Durchsetzung. Ihre Selbstlosigkeit hatte sie idealisiert und vor sich verleugnet , daß sie sich zum Selbstverlust ausweitete.

Die Therapie zeigte: ihre Angst, sich selbst zu leben, war übermächtig. Das Leben in anderen und durch andere verschaffte ihr das Gefühl der Sicherheit. Allein der Gedanke, für sich stehen zu sollen, ein eigenes Urteil zu entwickeln, ja schon Befolgung wiederholter Bitten, Sätze mit dem Wort "Ich" zu bilden, war für sie unglaublich schwer. Bezeichnenderweise spielten ihre Symptome Kopfweh, Schlaflosigkeit und Schwächung, die sämtliche die Passivität begünstigten, in die schon vorbereitete Leidensbereitschaft hinein und ergänzten sie. Marga durfte eigentlich ihrem Körper dankbar sein, daß er es in seiner organismischen Weisheit durch Symptome dahin brachte, daß sie die Eskalation der Selbstlosigkeit nicht weiter treiben konnte.

Es wäre interessant zu fragen, wieso es für jemanden sinnvoll sein kann, in einer Opferhaltung auszuharren, die zum seelischen Ausverkauf führt, die innere Leere entstehen läßt, in der Abhängigkeit von der Anerkennung anderer endet und als Versuch, seinem Leben einen Sinn zu geben, verfehlt ist? Einen heimlichen Gewinn hatten wir schon festgestellt: die vermeintliche Macht, andere zu verpflichten und falls sie nicht erreichbar ist, den stummen aber anhaltenden Vorwurf gegen die Umwelt zu richten. Weitere heimliche Gewinne sind zu vermuten: Ist die neurotische Opferhaltung nicht eine hervorragende Beschäftigungsmethode? Werden durch die eigene Hilfsbereitschaft nicht Gefahren, wie Kritik an der eigenen Person, der Schmerz des Alleinstehens, im Konfliktfall die Unannehmlichkeiten, Forderungen bei anderen durchzusetzen, abgewendet? Dazu tritt die erhöhende Selbstidealisierung, die der Betreffende hartnäckig verteidigt. Die Welt ist schlecht, man selbst ist insgeheim etwas Besonderes.

Eins ist gewiß: In der neurotischen Opferhaltung unterliegt man dem intellektueller Einsicht nicht mehr zugänglichen Irrtum, daß menschliche Wertschätzung und Nähe verdient werden müssen, daß man sich nützlich machen muß, um etwas wert zu sein. Solche Menschen haben aufgehört, an ihren Wert zu glauben und ihn zu spüren, wenn sie es überhaupt jemals konnten.

 

Irrweg II - Hilflosigkeit

Hilflosigkeit nennt man den Zustand, in dem Gedanken um ein Problem kreisen, aber es fällt einem nichts Brauchbares ein und man gibt schließlich auf. Das Nachdenken wird eingestellt, was bleibt sind Verwirrung, Unsicherheit und Passivität. Die vorübergehenden Zustände solcher Desorientierung gehören für jeden von uns zu den gewohnten Erscheinungen. Es ist nichts Besonderes, einmal nicht Bescheid zu wissen, sprachlos zu sein oder sich dumm anzustellen.

Doch es gibt Menschen, die für Hilflosigkeitszustände keine Toleranz besitzen. Sie setzen alles daran zu jeder Zeit über alles genauestens Bescheid zu wissen und Pläne für alles und jedes zu haben. Andere aber flüchten sich geradezu in Hilflosigkeit. Sie wissen nichts, können nichts - meinen sie - und sie verhalten sich dümmer, zögernder, ungeschickter und uneinsichtiger, als sie es ihren Fähigkeiten nach zu sein brauchten. Sie entwickeln eine gewisse Geschicklichkeit darin, ihre Unsicherheit zu zeigen, ängstlich zu sein, andere um Hilfe anzugehen, im Abwarten zu versinken, bis die Rettung von außen auf sie zukommt. Macht diese Hilflosigkeit ihnen Spaß. Der Eindruck täuscht. Solche Menschen machen sich von der Hilfsbereitschaft ihrer Umgebung abhängig oder vom Zufall des wunderbaren "richtigen" Augenblicks, der alles wie von selbst auf die Reihe bringt.

Meistens ist diese Kunst der Hilflosigkeit nicht angeboren, sie ist erlernt. Das Kind wächst in einer ungestörten Entwicklung aus der Abhängigkeit von Vater und Mutter heraus, drängt auf Autonomie und freut sich, wenn es eigene Pläne entwickeln und verwirklichen kann. Es wird nur in jenen Fällen hilflos sein, in denen es überfordert ist. Es wird jedoch wahrscheinlich eine situationsspezifische Hilflosigkeit beibehalten, wenn es für seine Hilfgesuche bei etwas, das es schon kann, von der Umgebung offen oder verdeckt belohnt wird. Was man selbst nicht zu können vorgibt, erledigen die andern, mit dem Ergebnis, daß man es selbst nicht übt und festigt, obwohl die Fähigkeiten vorhanden wären. Dahinter steckt die Angst vor dem Überraschenden und Neuen, die Angst vor unerwünschten Konsequenzen. Der Hilflose ist davon überzeugt, andere seien in der Lage, ihr Leben zu beeinflussen, er selbst aber nicht. Die anderen sind mächtig, er ist schwach. Die eigenen Handlungen aber scheinen ohne Bedeutung.

Ich bin der Auffassung, was sich der neurotisch Hilflose selbst vormacht, seine subjektive Machtlosigkeit, ist Selbstbetrug. In Wirklichkeit bringt er seine Mitmenschen geschickt dazu, ihn zu unterstützen und Unbequemes für ihn zu erledigen. Und er selbst wird dabei immer unfähiger - ein teuflischer Kreislauf. Der neurotisch Hilflose benimmt sich, als sei er ständig in Not und als müßten sich andere unablässig um ihn bemühen. Scheinbar ein gutes Geschäft. Doch der Preis ist hoch: er besteht in der Unfähigkeit, die später nicht einmal mehr gespielt ist, und in der Abhängigkeit von den Hilfsquellen in der Umgebung. Dazu tritt das Abgeschnittensein von sich selbst, weil der Hilflose buchstäblich nicht mehr weiß, was er eigentlich will, und wozu er in der Lage wäre.

In der Therapie habe ich mit Menschen zu tun, die sich mit ihren Problemen und Symptomen selbst nicht zu helfen wissen und daher Hilfe suchen. Die neurotisch Hilflosen unter ihnen haben sich zusätzlich zu dieser Hilflosigkeit des Symptomträgers auf die Überzeugung versteift, sich selbst nicht mehr helfen zu können, was ich gut akzeptieren kann. Aber außerdem weigern sie sich hartnäckig, und das hinzunehmen fällt mir zugegeben schwer, weiterführende Gedanken und Pläne selbstverantwortlich mit durchzugehen. Sie erwarten praktisch von mir, daß ich so etwas wie ein Wunderdoktor bin. Manche übermitteln mir die Auffassung: "Sehen Sie doch, ich kann wirklich nicht, obwohl ich es sehr gerne wollte". Sobald sich in der Beratung oder in der Therapie das Umkippen dieser Auffassung erreichen läßt, ist etwas gewonnen. Danach erst lösen wir gemeinsam Probleme. Der Hilflose braucht nur zu erkennen, was er unterschwellig und für meine Überzeugung wesentlich glaubwürdiger von sich gibt: "Sehen Sie doch, ich will nicht, obwohl ich es sehr gut könnte". Wir müssen also unterscheiden zwischen einer zeitweisen Hilflosigkeit, die jedes unbewältigte Problem mit sich bringt, und der neurotischen Hilflosigkeit, in der gerade der Zustand der Hilflosigkeit Belastungen und Veränderungen vom Leibe hält.

Von zwei dieser Patienten möchte ich berichten. Es handelt sich um zwei Frauen im mittleren Alter. Allgemein habe ich den Eindruck, daß die Flucht in die Hilflosigkeit von Frauen mittleren Alters bevorzugt wird. Noch immer gehört es zur Frauenrolle, weniger zupackend, weniger einfallsreich, weniger durchsetzungsfähiger aufzutreten als der Mann, und hilflose Frauen erhalten für ihre Rolle eine hohe Gratifikation, was ihnen erschwert, ihre Hilflosigkeit zu durchbrechen.

Eine 55jährige Frau, deren zehn Jahre älterer Mann vor kurzem pensioniert worden war, erschien in meine Praxis mit der Klage, ihr Mann bevormunde sie unerträglich, seitdem er die Zeit größtenteils zu Hause verbringe. Zudem werde er immer übellauniger. Sie sei bemüht, alles richtig zu machen, aber jetzt könne sie nicht mehr. Es ginge ihrem Mann wohl nur darum, sie zu tyrannisieren. Die kleinsten Dinge würde er ihr vorschreiben. Wie sie sich auch benähme, irgendetwas sei immer falsch. Mittlerweile saß sie, wie sie sagte, nur noch herum und wartete, was er jetzt wieder von ihr wollte. "Ich bin schlecht gelaunt und kann nichts mehr richtig. Ich kann nichts dagegen machen, am besten wäre, ich würde ein eigenes Leben anfangen". Aber wenn sie dieser Idee nachgeht, fühlt sie sich ganz und gar hilflos. Keine nahen eigenen Freunde, die Rente des Mannes zu klein zum Teilen, zu alt, um in den Beruf zurückzugehen, die Kinder würden sie nicht aufnehmen,. von keiner Seite Hilfe! Ihren Selbstbefreiungsphantasien nachzuhängen bedeutete für sie ein noch größeres Elend. Ihre Hilflosigkeit gegenüber ihrem Mann machte einer Ausweglosigkeit Platz, ihr Leben nicht mehr ändern zu können. Es war nur zu gut zu verstehen, daß diese Frau gedrückt und hoffnungslos war. Sie hatte sich in der Klage über ihre hilflose Lage festgefahren. Ich begann nachzufragen, was sie von mir erwarte. Sie schwieg und war überrascht. Ich wollte wissen, was ihr Problem sei, was sie daran zu ändern wünsche. Unser Gespräch wurde konkreter. Sie berichtete von ihrer Unfähigkeit, das Schweigen zu durchbrechen, von ihrer Angst, die sie überwinden wollte. Doch dies alles erst nach langen Umwegen, Ausreden, Beteuerungen, wie hilflos und ausgeliefert sie sei. Wie ich deutlich erkennen konnte, hatte sie dieses Auftreten auch ihrem Mann gegenüber. Seine Antwort darauf war Fürsorge durch Bevormundung. Er war früher im Beruf in führender Stellung gewesen und es bot sich für ihn an, seiner hilflosen Frau jetzt mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Wo er jedoch meinte, ihr zu helfen, fühlte sie sich bevormundet, und wenn sie ihre Wut zeigte, die sie sonst gut zu verhüllen wußte, verfiel er in grimmiges Schweigen, gemischt mit Verständnislosigkeit. Das Problem der Patientin erwies sich als ihre Tendenz, sich um der ehelichen Harmonie willen zu verstellen, äußerlich ruhig und schmiegsam, innerlich jedoch zerfressen von aggressiven stummen Dialogen mit ihrem Mann. Jetzt, mit 55 Jahren, hatte sie erkennen müssen, daß die Ausbruchphantasien nicht mehr realisierbar waren und keinen Trost mehr brachten, wie das früher der Fall gewesen war.

Ihre Veränderungen begannen mit dem Erlernen von Wechselverhalten: einen Tag alles befolgen, war ihr Mann vorschrieb, den nächsten Tag entweder nichts davon befolgen oder absichtlich völlig hilflos zu spielen, um zu sehen, was dann geschah. Sie erkannte die dynamische Abhängigkeit ihres hilflosen Verhaltens von der Bevormundung ihres Mannes und begann bald, sich freier zu fühlen. Später besprach das Ehepaar in meiner Gegenwart seine Ehegeschichte mit Versäumnissen und mit den guten Episoden. Die beiden konnten zwar kein neues Leben beginnen, doch war die Frau aus der Unfreiheit ihrer Hilflosigkeit zu einem beträchtlichen Teil herausgeholt. Sie bemühte sich mit Erfolg um eine Halbtagsstelle und gewann wieder Selbstbestimmung in ihrer Leistung.

Ihrer Unfähigkeitsphantasien wegen suchte mich eine Ärztin von 44 Jahren auf. Seit zwölf Jahren mit der Erziehung ihrer drei Kinder beschäftigt, war sie vor vier Monaten für drei halbe Tage in ihren Beruf zurückgekehrt. Sie hatte vorgehabt, ihren gynäkologischen Facharzt nachzuholen, um später vielleicht gemeinsam mit ihrem Mann, der selbst Gynäkologe war, tätig zu sein. Ihr äußerer Zustand ist erschreckend. Körperlich ist sie geschwächt und verhärmt, sie bekommt kaum den Mund auf. Schleppend berichtet sie von ihrem schlechten Befinden und davon, wie angewiesen sie auf die Hilfe ihres Mannes und ihrer Kinder sei. Als Schülerin und als Studentin war ihr alles zugeflogen, ihr Mann hatte sie verwöhnt. Anstrengung lernte sie erst kennen, als der Haushalt größer wurde, die Kinder selbständiger und die Repräsentationspflichten umfangreicher. Was sie nicht erledigen konnte, wurde an Hauspersonal delegiert. Doch ihr fehlte das Organisationstalent. Also übernahm manches ihr Mann. Ihre Lebensverhältnisse waren nicht schlecht, meinte die Patientin, dennoch sei sie unzufriedener geworden, unerklärlicherweise übrigens. Deshalb ihr Entschluß, es wieder mit dem Beruf zu versuchen. Dieser Entschluß sei allerdings unglückselig gewesen. Sie schaffe im Haus wirklich nicht mehr, die Ordnung aufrechtzuerhalten, die Kinder ließen in den Schulleistungen nach, die Idee mit der Rückkehr in den Beruf habe sie fallenlassen. Sie erklärte: "Ich bin völlig unfähig". Und: sie verurteilte sich wegen ihrer Unfähigkeit, weil sie so wenig zu ihrem früheren Bild von sich, dem Bild der intelligenten Frau, der alles zufällt, paßte. Auf der anderen Seite genoß sie, daß ihr Mann alles Erdenkliche tat, um seiner Frau zu helfen. Er wollte sie in Kur schicken, übernahm die Aufsicht der Schulaufgaben, kam abends früher nach Hause, um nach dem Rechten zu sehen. Seine Vorschläge jedoch wies sie ab. Sie bestand auf der Aussichtslosigkeit, ihre Hilflosigkeit schien ihr endgültig. Natürlich sah ich ihre körperliche Schwäche und ihre Hilfsbedürftigkeit. Aber da war noch etwas, das weit darüber hinausging. Wir haben schon erfahren, daß Zustände der Hilflosigkeit sich nicht isoliert sehen lassen. Ihnen liegen stets zugleich innere, subjektive Bedingungen und äußere Bedingungen zugrunde. Deshalb motivierte mich der sonderbare Wunsch der Patientin, ihre Aussichtslosigkeit besser ertragen zu lernen, die Beobachtung auf ihre Familie auszudehnen. Es ging mir darum, zu erkennen, welchen Anteil die familiäre Dynamik zu ihrer neurotischen Hilflosigkeit beitrug. Denn wie sollte sich jemand freiwillig dazu bereiterklären, mit der schlechteren Lösung der Aussichtslosigkeit zu leben, wenn es erfüllendere und bessere Möglichkeiten gab? Und solche sah ich sich abzeichnen. Die Patientin war intelligent, wenn auch nicht so hochintelligent, wie sie von sich glaubte. Sie war beruflich tüchtig, wenn auch die Rückkehr in den Beruf eine Mischung aus kleinen Erfolgen, unerwarteten Enttäuschungen und verletzenden Entdeckungen war, die notwendig mit dem inzwischen lückenhaft gewordenen Fachwissen auftreten mußten. Die Familie funktionierte. Trotzdem war da ein plötzlicher Bruch, ein Hineinfallen in die Hilflosigkeit. Für die Patientin schien das etwas völlig Unberechenbares zu sein.

Für mich jedoch schien dieser Zusammenbruch schon lange vorbereitet. Die Tendenz, sich helfen zu lassen, es sich nicht schwer zu machen, war schon immer in der Patientin vorhanden gewesen. Nun kam eine reale Anforderung hinzu, der Beruf. Da brachte das Hilflos-Spielen nicht den gleichen Erfolg wie bei ihrem Mann und bei den Kindern. Sie erfuhr Gleichgültigkeit oder Kritik. Der Charme der unbeholfenen, gerade erst mit dem Examen fertigen jungen Frau, der früher ihre ärztlichen Kollegen bewegt hatte, ihr Dinge abzunehmen, ließ sich nicht mehr nutzen. Sie war gezwungen, ihre Intelligenz für eigene Leistungen zu gebrauchen, statt sie für die Manipulation ihrer Umwelt einzusetzen. Dazu kam noch ein weiteres Moment, das, so glaube ich, von noch größerer Wichtigkeit ist. Ihr Mann war, so wie sie von ihm berichtete, ein Mensch mit leicht verletzbarem Selbstgefühl. In russischer Gefangenschaft hatte er schwere gesundheitliche Schäden davongetragen, unter denen er noch immer litt. In den letzten beiden Jahren hatte er zu seinem Erschrecken das Arbeitspensum herabsetzen müssen. Er spürte jetzt, knapp über 50, den Abbau. Gerade in dieser Zeit fielen die Gespräche über die Berufstätigkeit der Ehefrau. Das war für ihn schmerzlich und erfolgversprechend zugleich. Er würde eine Entlastung durch ihre Mitarbeit erhalten - aber auch eine Konkurrentin. Das Problem war für ihn gelöst, als er erkannte, daß seine Frau die Doppelbelastung nicht durchhielt und einen Zusammenbruch hatte. Daß dieser kommen würde, hatte er schon erwartet. Es war wieder Schluß mit der Unruhe, den Konkurrenzgefühlen, seine Frau brauchte ihn wieder; es war wie eh und je.

Sie dagegen hatte den Kontakt zu ihren tatsächlichen Fähigkeiten verloren. Was man nicht ständig braucht und übt, geht dem unmittelbaren Zugriff verloren. Für die Frau wurde es wichtig zu erkennen, daß sie selbst sich von ihren Möglichkeiten abgeschnitten hatte, und zwar durch Delegation an andere. Was sie im Kern brauchte, war die Erfahrung durchführbarer Pläne und ihrer Verwirklichung. Nicht das Hinnehmen des unvermeidlichen Schicksals war zu erlernen. Das wäre eine entwicklungshemmende, destruktive und auf Dauer nicht haltbare Lösung gewesen. Sie brauchte Tätigkeit, ein eigenes, von ihrem Mann abgesondertes Tätigkeitsfeld und die Erkenntnis des Bärendienstes, den ihre Familie ihr tat. Ich riet ihr ab, in nächster Zeit den Facharzttitel anzustreben. Zunächst sollte sie ihre berufliche Selbstsicherheit wiederherstellen und später weiterreichende Pläne machen. Im Augenblick führt sie mit Freude und bei guter Bezahlung Urlaubsvertretungen durch. Im Winter wird sie ihren Mann vertreten, wenn er Urlaub mit Freunden macht. Er war nicht zu einer einzigen Sitzung mitgekommen. Trotzdem erfuhr ich von Veränderungen in seiner Einstellung. Die zu erwartende Entlastung durch seine Frau hatte ein größeres Gewicht als die Angst vor Konkurrenz erhalten.

In beiden dargestellten Therapiegeschichten wird ein Grundmuster erkennbar: Die Hilflosigkeit ersparte die Unbequemlichkeit eigener Initiativen, die sie in Ängste und Unsicherheiten in den menschlichen Beziehungen verwickelt hätten. Ihre Hilflosigkeit war von Blindheit für die eigentlichen Zusammenhänge begleitet; überdies zeigte sich eine fatale Delegation von Aktivität an die Umgebung, wodurch sie sich in den fatalen Autonomieverlust drängen ließ. Der Anfang für eine positive Veränderung liegt bei der neurotischen Hilflosigkeit, nicht bei anderen Menschen, nicht im Schicksal und nicht in magischen Momenten. Das Anfangsglied der Kette, liegt bei dem Betreffenden selbst. Was ein Mensch in dieser Lage braucht, ist die geeignete Hilfe, diese Zusammenhänge zu entdecken. Diese Entdeckung ist identisch mit der Aufhebung seines hilflosen Zustands, weil ab jetzt kreativ gedacht und gehandelt werden kann.

 

Irrweg III - Dumpfheit und Abschalten

Wenn wir nicht gelegentlich bewußt abschalten könnten, würden wir erdrückt. Abschalten ist ein Schutz- und Abwehrmechanismus, über den wir verfügen, wenn uns etwas zuviel wird. In unseren Beziehungen mit anderen Menschen sehen wir uns gezwungen, abzuschalten. Ihre Zudringlichkeit, ihre fordernde Haltung, ihre "Macken", mit denen sie uns nicht in Ruhe lassen, ihre Anhänglichkeit und ihre Unfähigkeit, sich zurückzuziehen, wird für uns Anlaß, Distanz zwischen uns und die anderen zu legen. Uns gelingt das Herstellen einer psychischen Distanz, die uns eine Unterbrechung verschafft, durch ein Zurückstufen der Intensität unserer Wahrnehmung. Wir sehen nicht mehr genau hin, hören nicht mehr richtig zu, wir hören auf, hinzuspüren. Augenkontakt, Hörkontakt, Kontakt durch Bewegung auf etwas und jemanden zu mindern sich und infolgedessen mindert sich die Sensibilität auch für uns selbst. Wir unterbrechen das Unangenehme, uns sinnlos Vorkommende, das, was wir nicht wollen und dem uns auszusetzen wir für überflüssig halten. Ist das nicht ein großartiger Schutz?

Umweltbedingungen, die zu hart sind, um sie mit wachen Sinnen zu ertragen, gibt es reichlich. Stupides Arbeiten am Fließband, zur Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpfte Teilaufgaben, Einengung durch Vorschriften, Krankenhausaufenthalte, eine zänkisch-übelnehmende Atmosphäre gehören dazu, um nur einige zu nennen. Ständiger Lärm, ständige Störung, körperliche Überlastung gleichfalls. Es handelt sich um Situationen mit einem zu geringen, einem übertrieben großen oder aber mit einem einseitigen Reizangebot. Die Situation wirft nicht ab, was man zum Leben und Zufriedensein braucht. Einen großen Teil des Abschaltens lernt unser Körper vorzunehmen, ohne unser Wissen zu belasten, und erspart uns zeitraubende Entscheidungen. Unter schädigenden Entwicklungs- und Umweltbedingungen steigert sich dieses Abschalten bis zu einem Maße, daß der Kontaktverlust droht. Es gibt Menschen, die ohne wirklichen Kontakt leben müssen, manche von ihnen wissen es, spüren es aber kaum noch; andere besitzen selbst das Wissen um ihren Kontaktverlust nicht mehr. Sie verfallen in einen dumpfen, unempfindsamen Zustand, werden unerreichbar. Von ihnen soll heute die Rede sein, weil es sich um eine schwere Form der Beziehungsstörung handelt, die besonders vom Träger der Dumpfheit selten problematisiert wird, während sich andere Sorgen um ihn machen oder nur schwer mit ihm auskommen.

In die Dumpfheit dringen weder Trauer noch Schmerzen, die den depressiven Zustand gewöhnlich begleiten; auch Schuldgefühle fehlen. Wie in der medizinischen Anästhesie der Körper durch Medikamente Schmerzlosigkeit erreicht, bewirkt das zur Kontaktlosigkeit angewachsene Abschalten Gefühllosigkeit. Keine Angst, keine Unsicherheit, keine Scham, kein Interesse. Der Zustand läßt sich mit einem passiven, leeren Dämmern vergleichen. Das Leben erscheint unterschiedslos grau, immer das Gleiche. Die Routine beherrscht den Tagesverlauf. Wird sie unterbrochen, kann als Restgefühl Langeweile aufkommen als letztes Zeichen, daß innerlich doch Lebendigkeit besteht. Langeweile ist ein äußerst wichtiges Signal. Es gibt uns zu verstehen, daß wir nicht das tun, was uns eigentlich entspricht und was wir für zentral halten würden, wären wir wirklich bei Sinnen. Indessen, das Signal der Langeweile wird nicht ernstgenommen, es wird überspielt oder mit dämpfenden oder aufputschenden Mitteln und Tätigkeiten bekämpft. Die Chance, die Dumpfheit zu überwinden, ist wieder einmal nicht ausgenutzt worden. Frederic Perls, der frühere Psychoanalytiker und Begründer der Gestalttherapie, gab dem gelangweilten Patienten zu verstehen, wie aufschlußreich seine Langeweile für ihn werden muß, wenn er mit ihr ausharre, um zu horchen, was sie ihm zu bedeuten habe. Langeweile stellt unsere wahren organismischen Bedürfnisse zu und offenbart sie uns gleichzeitig, wenn wir ihr Raum geben. Seine Dumpfheit aufmerksam mitzuvollziehen ist etwas völlig anders, als sich dumpf zu fühlen. Seine Langeweile bewußt zu beobachten und zu leben unterscheidet sich grundsätzlich vom bloßen Gelangweiltsein. Die aufmerksame Hinwendung auf die eigenen Prozesse bildet das Geheimnis der Wirksamkeit der Gestalttherapie. Wenn der Kontakt zur Langeweile wiederhergestellt ist, beginnt sie zu weichen, und andere Gefühlszustände gelangen in den Vordergrund. Sich auf die Langeweile einzulassen, ist in jenen Fällen angebracht, in denen die zu harten, unerträglichen Bedingungen, auf die mit Abschalten reagiert wird, nicht mehr im aktuellen Umfeld liegen. Andere Menschen würde dieses gleiche Umfeld nicht in Schutz und Abwehr treiben. Es muß also ein Erwartungsmuster im Betreffenden vorhanden sein, das mit der Unerträglichkeit von vornherein rechnet. In der Psychologie nennt man die der augenblicklichen Situation nicht gerecht werdenden Erwartungsmuster Projektion. Projektionen des Unerträglichen sind also in der Lage, Dumpfheit zu erzeugen. Die Projektionen werden vom Träger nicht, was verwundern könnte, aufgegeben, weil sie ein fatales Merkmal aufweisen: sie bestätigen sich ständig selbst. Was der projizierende Mensch in die Situation hineinsieht, ist für seine Wahrnehmung tatsächlich gegeben. Jeder weiß von der Binsenwahrheit: wer nichts Gutes erwartet, dem wird selten etwas Gutes begegnen.

Es war die Ehepartnerin, die mich darum bat, ihren Mann in Therapie zu nehmen. Er vegetiere vor sich hin, nichts sei mit ihm anzufangen, schon seit mehr als fünf Jahren. Sie hatten einen Jungen von elf Jahren, der sich, zum Erstaunen der Mutter, gut machte, "wo doch der Vater sich gar nicht mit ihm abgibt, außer er brüllt ihn an, wenn er zuviel getrunken hat". Die Erbschaft, ein Häuschen, hatte die Familie finanziell etwas unabhängiger gestellt. Der Mann brauchte keine Überstunden mehr zu machen. Er saß tatenlos in der Küche, antwortete einsilbig, wenn überhaupt. Der Mann suchte mich auf Drängen der Frau allein auf. Eine einfache, schwerfällige Erscheingung, übergewichtig. Kranführer in einem großen Autowerk. Er hätte sich nicht zu beklagen, seine Frau würde ihn aber nicht in Frieden lassen, obwohl er niemandem etwas zuleide täte. Er versteht mich nur, wenn ich langsam spreche. Seine Blicke sind selten auf mich gerichtet. Seine Stimme ist so, als wollte er jedes Wort sofort wieder zurücknehmen, sobald er es gesagt hat. Für ihn gab es weder Konflikte noch Probleme. Und sein Trinken? Nicht mehr als normal, wie seine Arbeitskollegen auch ... vier Flaschen pro Tag. Der Mann ist seit 25 Jahren Kranführer, 20 Meter über der Arbeitsebene einer riesigen Montagehalle bewegt er die Hebel, um tonnenschwere Gußstücke über die Köpfe der Kollegen zu hieven. "Eine anstrengende Arbeit, wissen Sie. Den ganzen Tag nur ein paar Worte über Mittag. Passieren darf nichts. Ich habe ein Kofferradio, um mich wachzuhalten". Isolation, schlechte Luft, Eintönigkeit, Lärm. Seine schon früher sich andeutende Schwerfälligkeit im Umgang mit Menschen, seine Einsilbigkeit nahmen zu. Seit vier Jahren regelmäßig Alkohol, aber nie zuviel. Da ich nicht wußte, wie ich das Interesse dieses Mannes gewinnen konnte, lud ich zum nächsten Mal die ganze Familie ein. Mit Stolz ruhte der Blick auf dem Jungen, wenn dieser sprach. Ein überaus aufgewecktes, naseweises Bürschchen, keck, aktiv. Es korrigierte seinen Vater, wenn er sich sprachlich nicht richtig ausdrückte, und dann schwieg der Vater und sah unvermittelt gedrückt vor sich hin. Die Frau spricht mit dem Jungen über den Vater, sie spricht ihren Mann nicht selbst an. Nur wenn ich sie ausdrücklich auffordere, spricht sie direkt mit ihm. Mutter und Sohn behandeln den Mann, als sei er nicht ganz zurechnungsfähig, als würde er ohne sie im Leben nicht zurechtkommen. Die Frau zählt auf, wofür sie alles Sorge trägt. Gegen einen Gedanken mochte ich mich nicht wehren: Hatte der Mann nicht seine Familie ernährt und tat es noch? Bei seinen Kollegen schien er geschätzt zu sein. In letzter Zeit war er häufiger ein paar Tage krank gewesen, er pflegte daraus kein Aufhebens zu machen. Im Betrieb tat er still und abseits seinen Dienst, zu Hause schaltete er auf stur. Bezeichnenderweise ergänzten die Übergewecktheit des Jungen und die betonte Tüchtigkeit der Frau sein dumpfes Verhalten. Systemzusammenhänge in Familien ergänzen sich stets zu einem gleichgewichtigen Ganzen.

Weiß der "Problemträger" (also derjenige, von dem man einseitig meint, er "habe"das Problem) nicht, daß er ein Problem hat (für die anderen problematisch ist), braucht diese Tatsache kein Hindernis für günstige Veränderungen zu sein. Wesentlich ist, ob er eine Person seines Vertrauens hat oder findet und ob Interesse für wenige, vielleicht nur eine wenig umfangreiche Aufgabe, geweckt werden kann. Das ist gelegentlich Detektivarbeit. Ich fragte nach, was ihm früher Freude bereitet hätte. Schweigen. Nachdenken. Erst in der folgenden Gesprächsrunde kam er auf die Frage umständlich zurück: "Früher hat es mir Spaß gemacht, mit dem Jungen zu basteln, er hat mir auch im Garten geholfen". Nun sei er zu groß, umschreibt er seine stille Enttäuschung. "Auch mit meiner Frau sein, spazieren und so." Sie sei eine gute, tüchtige Frau. Sie wisse alles besser als er. Deswegen "gibt's auch nichts zu sprechen". Der Mann kam gegen die Reaktionsschnelligkeit und das sprachliche Können seiner Familie nicht an, wußte nicht um seine Schwäche und hatte seine Lösung im dumpfen Rückzug, in der sicheren Entfernung gefunden. Alkohol sprang in die Lücke. Das Ziel, auf das ich mit dieser Familie hinarbeitete, war gemeinsame Beschäftigung mit dem Jungen, die Spaß macht, und mit der Frau, sich weniger zu "kümmern". Dies war übrigens der schwierigste Punkt in der Gesundung der Verhältnisse. Es bestand eine deutliche Abhängigkeit zwischen ihrer Kenntnis und Fähigkeit, den Intelligenzunterschied zwischen sich und ihrem Mann nicht für Vorschriften und Besserwissen auszubeuten, und der Regeneration seiner Selbstachtung und Aktivität.

Einen auf das erste Hinsehen nicht erkennbaren Dumpfheitszustand entdeckte ich bei einem jungen Angestellten, der sich beklagte, er habe keine Konzentration. Sein Tag war vollgestopft, hektisch, er stürzte sich in die Arbeit, aber mit wenig Erfolg. Sein Kopf war überwach, aber im Denken und Planen wenig effektiv, sein Körper war wie abgestorben. Er wünschte seiner Langeweile zu entkommen, wandte sich in immer kürzeren Zeitabständen interessant scheinenden und Unterhaltung versprechenden Dingen zu, aber die automatische Abspaltung blieb: er war und blieb unsensibel, spürte seinen Körper nicht, andere Menschen waren für ihn weit weg. Einige Tage in einer Selbsterfahrungsgruppe hatten ihn darauf gestoßen, was ihm vorher unbemerkt geblieben war, seine - ich möchte sagen - soziale Blindheit und Körperblindheit. Wie viele andere Mensen, die ich näher in meiner Praxis kennenlernen durfte, war er sich selbst entglitten. Er spürte mehr und mehr, daß ihn nichts wirklich erreichte und er in einem Pseudokontakt lebte, oberflächlich und unverbindlich. Er befand sich schon in der seltsamen Sicherheit, seiner Dumpfheit zuvorgekommen zu sein, sich nicht von ihr einholen zu lassen. Sie zeigte sich unverkleidet, als die Anfangshektik, die sich in den Sitzungen zeigte, wich. Er fiel zusammen, atmete flach, der Blick blieb irgendwo in der Mitte zwischen ihm und mir stehen, er mißverstand mich, hörte nicht recht zu und wurde zuletzt apathisch. Was wir zuerst zusammen erarbeiteten, war ein tieferes Ausatmen. Der Organismus mußte wieder lernen, den Austausch mit Sauerstoff zu verbessern, sich mehr Unterstützung aus dem Atemrhythmus zu verschaffen. Leichteres Atmen ist verbunden mit einer aufrechten, gelockerten Haltung, frei in den Schultern. Schon allein dieses Vorgehen zwingt den Blick, wieder umherzuwandern. Die Augen erhalten Glanz, gehen wieder auf Dinge zu, nehmen wahr und wollen wahrnehmen. In der Wiederbelebung des dumpf gewordenen Selbst spielt die Einschaltung der Kontaktfunktionen des Sehens, Hörens, Sichbewegens und Sichspürens eine besonders wichtige Rolle. Die innere Ruhe, mit der die Langeweile zugelassen wird, gibt den Platz frei, auf den Körper zu horchen, die lange mißachteten Körpersignale aufzunehmen und sich verstärken zu lassen, bis sie endlich zu deutlichen Aussagen an einen selbst werden. Der Gedanke und das Ziel, die hinter diesem Vorgehen stehen, sind folgende: wenn ich erlebe, beobachte und mir klar werde, wie ich meinen inneren Zustand, und sei es der Zustand der Langeweile und Dumpfheit, aufrechterhalte und durch welche inneren Bewegungen ich ihn beeinflußt erleben oder gar selbst beeinflussen kann, bin ich ihm nicht mehr ausgeliefert. Ich habe ein Stück Terrain wiedergewonnen und in meine Entscheidung gestellt. Ich bin nicht mehr kampflos unglücklich.

Im täglichen Leben wird die Dumpfheit nicht selten durchbrochen durch äußere Notlagen, gegen die mit allen Kräften angegangen werden muß, oder durch Anlässe, in denen ein Ausweichen katastrophale Folgen haben würde, weil das Umfeld nicht insgeheim mitspielt und kompensiert. Wer nicht auf Umstände dieser Art warten will, hat die Möglichkeit, mit Fragen an sich und seine Situation zu beginnen. Wieviel von dem, was ich den ganzen Tag mache, bereitet mir wirklich Spaß? Wieviel Graues und Ungewolltes steht dagegen? Was bringt es mir, daß ich es beibehalte? Welchen Gefahren und Unannehmlichkeiten gehe ich damit aus dem Weg? Wen würde ich verletzen, wenn ich etwas ändern würde? Was würde ich gerne anders machen? Habe ich gute Gründe, daß es so gekommen ist? Wie würden sich die Gründe für jemanden anhören, der einen zupackenden, frischen Verstand besitzt? Was haben die anderen davon, daß ich mich so verhalte? Diese Fragen führen von selbst weiter und machen den Blick frei für Zusammenhänge, in die man eingebunden lebt.

Dumpfheit und Abschalten zählen zu den Beziehungsstörungen und sind verankert in der eingeengten Wahrnehmung des eigenen Körpers. Getragen werden sie vom Mangel an Zielen und Plänen, für die sich der Einsatz lohnt. Der Anfang der Veränderung liegt zu einem guten Teil im Kennenlernen der Langeweile; jedenfalls gilt das für jene Menschen, die vorhaben, an sich selbst, ohne fremde Hilfe zu arbeiten.

 

Irrweg IV - Überaktivität

Wir haben es heute ein letztes Mal mit Beziehungsstörungen zu tun. Die Erinnerung an eine Frau, der man leicht das Etikett "Karrierefrau" gegeben hätte: strahlende Erscheinung, unermüdlich, die ein unglaubliches Tagespensum bewältigt, kommt in mir auf. Ihre Getriebenheit, ihre überwachen Blicke, ihre nervösen Bewegungen sagten etwas anderes. Das Strahlende bekam den Beigeschmack der Maske. Sie erzählte mir ihren Lebenslauf in den Pausen eines Seminars: Ja, sie sei hektisch, arbeite zuviel. Sie habe zwei Kinder, in der Ehe studiert, eine Scheidung hinter sich, während der Scheidung mehr als drei Jahre schlaflos gelegen. Herzfunktionsstörungen. Viel Nachtarbeit, viele Verabredungen in einem großen Bekanntenkreis, Überstunden. Aber es hätte ihr viel gebracht. Der Tag sei zu kurz, aber sie habe ihre Arbeit gern. Die Kinder? Sind selbständig. Ihre Gesundheit? Sie nehme wenig Rücksicht auf sich. Die übrigen Seminarteilnehmerinnen sind ihr gegenüber von vorsichtiger Zurückhaltung. Keiner will ihr nahekommen. Was ist mit ihr nicht in Ordnung?

Unser Miteinandersein und unsere Tätigkeiten folgen dem Rhythmus von Kontakt und Rückzug. Zeitweise sind wir ganz nahe, ganz bei der Sache, gehen selbstvergessen in ihr auf, begeistern und engagieren uns, führen aus, was wir uns vorgenommen haben und wenden uns nach Beendigung etwas Neuem zu. Im gesunden Rhythmus tätig sein bedeutet: Anfang und Ende der Aktivitäten sind klar abgegrenzt, man macht eine Sache auf einmal. Das Zuendebringen schenkt Zufriedenheit und Bereicherung, Momente satten Nichtstuns. Im Kontakt mit anderen Menschen erledigt man seine Angelegenheiten.

In der Überaktivität ergibt sich eine ungute Verschiebung. Das Tätigsein schiebt sich zwischen einen selbst und die Mitmenschen, es wird zur Barriere. Das Aktivsein scheint um seiner selbst willen betrieben zu werden. Der Überaktive hat endlose Berge von Aufgaben vor sich und wäre beunruhigt, wenn sie nicht da wären. Er fühlt sich aufgefressen von seiner Arbeit, hat keinen Platz für Erholung, und was wir vielleicht Erholung nennen, wie Sport oder gesellschaftliches Leben, auch das erledigt er, er genießt es nicht. Zuviel packt er in seinen Tag, die Zeit reicht nicht, er muß sich beeilen, der Zeitverlust droht. Aktivität ist für ihn nicht wechselweise da, nein, sie ist permanente Notwendigkeit. Muß, wenn wir das Wort Notwendigkeit wörtlich nehmen, Not gewendet werden? Welche Not ist vorhanden?

Als ich der überaus erfolgreichen Frau zuhörte, gingen meine Phantasien in Richtung Verlust: innere Not aufgrund drohendem Verlust. Was mußte auf dem Spiel gestanden haben, als es mit der Partnerschaft auseinanderging? Der Mann verließ sie, während sie die Bindung aufrechterhalten wollte. Ihre Angst vor der Trennung, die unsichere Selbsteinschätzung, ob sie es beruflich schaffen würde? Verlust der angesehenen sozialen Stellung, ihre Ohnmacht gegen seine Entscheidung? Sie entwickelte eine extreme Leistungsbereitschaft, als sie eine Stelle als Redakteurin in einer Tageszeitung erhielt. Und jetzt ihre trotzige Selbstbehauptung, mit der sie andere von sich stieß. Ich beließ es bei meinen Phantasien, die ich für mich behielt. Ihr Kampfmittel war die Überaktivität geworden. Ihre robuste Konstitution würde ihr noch einige Jahre garantieren, wahrscheinlich war bei ihrer geringen Bereitschaft, ihre Haltung zu reflektieren, der Eintritt eines Erschöpfungszustands oder einer körperlichen Erkrankung, welche ihr die existentiell unverzichtbare Bedenkpause verschaffen würden. Erst dann würde sie bereit sein, zuzuhören.

Fallen Berufserfolg und Überaktivität zusammen, ist nicht einfach zu erkennen, daß es sich im Grunde um ein Symptom handelt. Unsere gesellschaftliche Realität belohnt den Überaktiven reichlich. Daß er verarmt, in Isolation gerät, Raubbau betreibt, wird leicht vergessen.

Ich möchte eine Frau zu Wort kommen lassen, deren zentrales Problem ihre Zeitaufteilung war. Nie hatte sie Zeit. Jeder Tag war vollgestopft und zerplant. Sie hatte das Wettrennen mit der Zeit längst verloren, gab aber noch immer nicht auf. Sie erzählte mir unter anderem von ihrer Arbeit im Garten, die ihr keine Ruhe lasse: Unkrautrupfen, Düngen, Rasenmähen; ein Riesengarten, mit dem sie niemals fertig wurde. Ich bat sie, sich in ihrer Phantasie vorzustellen, der Garten habe - so wie das in Märchen manchmal der Fall ist - eine Stimme und könne über sich sprechen. Sie schloß die Augen, lehnte sich zurück und begann zu sprechen; "Ich bin ein großer Garten. Ich bin eingefaßt von Büschen, die man gesetzt hat, außen hohe Büsche, nach innen kleinere, damit es sich gut macht. Sie haben Rattengift in mich gelegt, Unkrautvernichtungsmittel auch. Ich wachse Tag und Nacht ununterbrochen, und wenn man nicht ständig in mir harken würde und schneiden, würde ich wachsen und wuchern. Alles würde durcheinanderwachsen. Ich trage keine Früchte, alles ist zum anschauen: Blumen, ein schöner Rasen, Steinwege, ein Swimmingpool. Meinen Rasen muß man alle zwei Tage schneiden, sonst bin ich nicht glatt und schön. Ich lasse die Birgit (so heißt die Patientin) niemals in Ruhe. Sie hat immer mit mir zu schaffen. Sie kann froh sein, daß ich da bin. Sie ist stolz auf mich, aber ich quäle sie." Die Patientin macht eine längere Pause. Der Gedanke, daß der Garten sie quält, oder besser: daß sie sich mit der Gartenarbeit quält, ist offenbar neu für sie. "Ich bin ein großer Garten, und wenn sie will, daß ich schön bin, soll sie leiden. Nie ist sie fertig mit mir." Ich frage die Patientin, was sie der Stimme des Gartens gerne zur Antwort geben möchte. Sie meint, es sei ein ziemlich anspruchsvoller Garten, der ständig glatt und schön sein müsse und trotzdem ununterbrochen alles tue, um durcheinander zu wachsen. Ihre Schilderung, wie sie ihre Gartenarbeit erledigte, gab ein übersichtliches Bild ab von ihrer Art, mit ihrer Zeit umzugehen. Der Stil der Arbeit im Garten ähnelte dem Stil ihres gesamten Tagesverlaufs. Sie ging zu stark in Kleinigkeiten, ließ sich in Schach halten von jeder abgeblühten Blume, von ungerade werdenden Rasenrändern, von Löwenzahn im Rasen, von drohender Trockenheit. Ihre Besorgnisse und Verrichtungen waren unendlich zahlreich. Bei diesen zahlreichen ihrer harrenden Tätigkeiten war sie gezwungen, pausenlos aktiv zu sein. Die zweimalige Erwähnung der Worte "glatt und schön" veranlaßte mich, sie zu bitten, ihre Gedanken spielen zu lassen, was alles in ihrem Leben außer dem Garten glatt und schön sein müsse. Sie kommt auf ihre Ehe zu sprechen. Der Mann ist Unternehmer, hat wenig Zeit für die Familie, läßt sie wenig an seinem Leben teilhaben. Sexuell spielt sich kaum noch etwas ab, nur äußerlich stimmt das Familienleben. Sie sehnt sich nach sexueller Erfüllung, denkt ans "Fremdgehen", wagt nicht, es sich auszumalen. Der Mangel in der Partnerschaft weckt Sehnsüchte. Wenn sie Zeit hätte, würde sie von ihrer Sehnsucht eingeholt.

Es ist Gift in ihrem Garten, wie sie sagte. Die Überaktivität ist eine Ersatztätigkeit. Das Surrogat erlaubt ihr, die Isolation und die sexuelle Dürre in Ihrer Partnerschaft auszuhalten. Mit Hilfe des Surrogats läuft sie ihrer inneren Not davon. Erst das Aufdecken und die Einsicht in diese Zusammenhänge machen deutlich, wie wenig damit erreicht wäre, wenn sie rein technisch lernen würde, ihre Tageseinteilung zu verbessern, Pausen zu planen und einzuhalten. Die Pausen würden wie eine Bestrafung auf sie wirken und vermutlich würden sie im Handumdrehen wieder aufgegeben. Die Frau mußte ihr Problem von einer anderen Seite angehen, die Überaktivität war nur die Spitze des Eisberges. Sie war sinnvoller Bestandteil einer inneren psychischen Struktur, zu der noch andere Details zählen: ihre Intoleranz gegen das "Böse", das "Unerwünschte" in ihren Phantasien, die ablehnte und negieren wollte, was psychodynamisch zu ihr gehört und einen Teil ihres Selbst ausmachte. Sie war ein Mensch, der sexuelle Phantasien hatte und auf die sexuelle Lücke in ihrer Partnerschaft mit begehrlichen Phantasien reagierte. Das war normal. So etwas kam auch bei anderen Menschen vor. Das wußte sie theoretisch, sie hatte manches psychologische Buch gelesen und interessierte sich für psychologische Artikel in Zeitschriften. Dennoch war es ihr nicht möglich, das für ihre eigene Person hinzunehmen und anzuerkennen. Als wir über dieses Thema sprachen, entstand in ihr die Bereitschaft, ihr Problem nicht mehr in ihrem notorischen Zeitmangel und in ihrer Überlastung zu sehen, sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ihre Beziehung zu ihrem Mann und begann sich zu fragen, wie es zu dem sexuellen Stillstand hatte kommen können. Auch die Möglichkeit des Fremdgehens wurde aus dem Bereich des Tabuierten herausgeholt und sorgfältig durchgegangen. Zeit, so stellte sich heraus, war ein zentraler Punkt in der Familie. Sie schien gehandelt zu werden wie eine Ware. Man schenkte sich gegenseitig Zeit, man nahm sich gegenseitig Zeit weg. Zeit war Belohnung: "Ich habe jetzt Zeit für dich", und Bestrafung: "Ich habe keine Zeit für dich."

Wer es versäumt, der Zeit ab und zu ihren eigenen Gang zu lassen, verhält sich zu ihr, als sei sie konsumierbar. Die östliche Weisheit hat den Spruch hervorgebracht: "Dränge den Fluß nicht, er fließt aus sich selbst". Die Partnerschaft der beiden hatte diese Weisheit nie gekannt. Aus der Haltung zur Zeit, aus der Weigerung, der organismischen Selbstregulation ihr Recht zu lassen, ergab sich ein weiteres, wichtiges Detail. Beide Ehepartner hatten Schwierigkeiten, positiv über sich zu denken und sich selbst zu mögen. Sie glaubten zutiefst nicht an ihren Wert. Erst der Beweis durch erfolgreiche Aktivität verschaffte die Daseinsberechtigung. Für den Mann warf das Berufsfeld, der Aufbau eines Unternehmens aus dem Nichts, eine fruchtbare Gelegenheit ab. Die Frau, an das Haus gebunden durch ihre Aufgaben als Hausfrau und durch die Kinder, rieb sich an unwichtigen Nichtigkeiten auf.

Zwei therapeutische Ergebnisse möchte ich nicht unerwähnt lassen. Ein Rechtsanwalt, der sich weigerte, älter zu werden, wurde vom Joggingwahn gepackt. Jugend und Gesundheit bewahren verlangte von ihm, täglich 25 km zu joggen, Samstag und Sonntag 100 km. Mit therapeutischer Hilfe verlagerte er seine Aktivität auf die Herstellung einer druckfertigen Schreibmaschinenseite für das Fachbuch, das er seit Jahren nicht aus den Anfängen herausgebracht hatte. Das Buch wurde fertig, die Kilometerzahl auf das seinem Alter entsprechende Maß reduziert. Die Patientin, von der ich ausführlich berichtet hatte, begann mit der gleichen Verbissenheit für ihren Therapieerfolg zu arbeiten. Ihre Überaktivität hatte ein geeignetes Feld gewonnen und sie wird lernen, ihre Aktivität richtig zu kanalisieren.

Die Therapie der Überaktivität hat mit einem psychischen Ablauf zu tun, der in die Nähe der Zwangshandlungen rückt. Die Unterlassung von Zwangshandlungen führt zu erheblichen Ängsten. Wer die Eigendynamik der Unterlassung kennt, die dann entsteht, wenn sich jemand unter allen Umständen bemüht, etwas nicht zu tun, weiß nur zu gut, daß man sich verhakt. Es läuft das ab, was bei Schlankheitskuren regelmäßig der Fall ist. Man möchte nicht mehr soviel essen, das Essen unterlassen. Ergebnis ist, man denkt an nichts anderes. Schlankheitskuren, die auf Unterlassung angelegt sind, schlagen fehl. Ebenso würde es dem Überaktiven gehen, dem man verordnet, weniger zu tun. Meiner Meinung nach ist aus therapeutischer Sicht an der Überaktivität selbst nichts auszusetzen, sie ist willkommen und brauchbar. Nur nicht an der Stelle, wo sie auftritt. Überaktivität hat immer die Bedeutung von Bereitschaft zur Leistung, zum Engagement. Das muß genutzt werden. Wir brauchen nur die Aufgabe, den Tätigkeitsbereich, die Situation zu finden, in der die Überaktivität sinnvoll wird. Symptome sind in sich brauchbares Verhalten, nur daß sie sich am falschen Ort unter wenig einträglichen Bedingungen entfalten. Bringt die Aktivität wirklich Befriedigung, wird man mit Sicherheit fähig, sie zeitweilig aufzugeben, um sich ihr mit neuem Schwung und mit Interesse zuzuwenden.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Dr. Kristine Schneider (1935 - 2001)

Fachpsychologin für Klinische Psychologie und Psychotherapeutin, Mutter von vier Kindern und fast 30 Jahre in privater Praxis in Köln tätig. Begründerin und Leiterin des Instituts »AGA - Angewandte Gestaltanalyse«. Dozentin und Ausbildungstherapeutin an verschiedenen Ausbildungsinstituten für Gestalttherapie, dem Fritz Perls Institut, dem Institut für Gestalttherapie Würzburg und dem Gestalt-Institut Köln/GIK Bildungswerkstatt. Langjährige Lehrtätigkeit in Ericksonscher Hypnose am Milton Erickson Institut Köln.

Vortragstätigkeit, Radiobeiträge, Artikel in Fachzeitschriften und Buchveröffentlichungen, darunter: »Grenzerlebnisse. Zur Praxis der Gestalttherapie« (Edition Humanistische Psychologie), sowie zwei Bücher zusammen mit Jorgos Canacakis: »Neue Wege zum heilsamen Umgang mit Krebs. Angebote für Betroffene und Helfer« (Kreuz Verlag) und »Heilsamer Umgang mit Schwinungen: Gongklänge« (Walter Verlag)

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