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Malcolm Parlett
Gestalttherapie:
Im eigenen Leben präsent sein


Aus der Gestaltkritik 2/2006

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

  • Gestalttherapie und ihre Weiterentwicklung
  • Gestalttherapie als spirituelle Suche
  • Gestalttherapie als politische Praxis

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik 2-2006:

Malcolm Parlett
Gestalttherapie:
Im eigenen Leben präsent sein

 

Foto: Malcolm ParlettMalcolm Parlett

1

Ich bin gerade von einem Spaziergang am Fluß bei meinem Haus zurückgekommen und will jetzt mit dem Schreiben beginnen. Auf dem Tisch liegen Notizen, die ich seit vergangenem Sommer gesammelt habe, als mich der Herausgeber dieses Buchs um die Übernahme dieses Kapitels bat. Ich sitze hier und trinke Tee. Ich überlege, wie ich den Einstieg finde – und bemerke, daß ich ihn damit soeben finde.

Ich bemerke, daß ich hier sitze und am Schreiben bin. Doch wenn ich innehalte und genauer auf mich selber achte, merke ich, daß ich noch nicht ganz hier bin, nicht ganz in diesem Raum und nicht ganz bei meiner Schreibtätigkeit. Ich bin auch noch draußen. Starke innere Bilder wirken in mir nach wie ein Duft oder wie ein Echo: die seit kurzem blattlosen Bäume, der lichte Tag und die kalte Luft, die plätschernden und glucksenden Laute des Flusses, meine Körperempfindungen, als ich in Gummistiefeln durch das flache, schnell dahin fließende Wasser watete. Dabei fällt mir auf: Indem ich jetzt darüber schreibe, wird meine Erinnerung überformt und verdichtet, sie wird »integriert«. Das trägt dazu bei, daß sich die »Gestalt« meines Spaziergangs am Flußufer schließt. Durch meine Aufmerksamkeit auf meinen gegenwärtigen Bewußtseinsinhalt kann ich mich der ganzen Realität des Hier und Jetzt besser stellen, sowohl dem Computerbildschirm, meinen Gedanken als auch dem Beginn dieses Kapitels.

Intensive Beobachtung und ein gesteigertes Interesse am Strom des Gewahrseins, fast wie bei Marcel Proust, waren natürlich schon immer ein Markenzeichen des Gestaltansatzes (Perls et al. 1951; Yontev 1993; Parlett und Hemming 1996a). Wenn ich meine momentanen Gedanken und Gefühle ständig protokolliere, ähnlich wie sich ein Klavierspieler mit Fingerübungen und Tonleitern in Übung hält, bringe ich geradezu die Hauptmethode der Phänomenologie zur Anwendung. Nun bin ich bereit, auf die Fragen einzugehen, die mir der Herausgeber gestellt hat: Wie hat mich der Gestaltansatz persönlich geprägt? Welchen persönlichen Ausdruck verleihe ich seiner Theorie? Wie hat sich dadurch mein Leben verändert?

Nun, ich versuche tatsächlich, immer »in der Gegenwart« zu bleiben. Damit meine ich, ich will mit meinen Erfahrungen in Kontakt bleiben, noch während sie sich bilden. Denn groß ist die Verführung, aus dem Fluß der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung zu entfliehen und sich in Gedanken, Vorstellungen, Gewohnheiten, Sorgen und Erinnerungsresten zu verlieren, in jenem Gemisch aus spontanen Einfällen und Selbstgesprächen, die andauernd auf einer vorsprachlichen oder vorvorsprachlichen Ebene in uns ablaufen und unseren Geist völlig ausfüllen können. In jenem Reich des »Bewußtseins« oder besser »Halb-Unbewußtseins« können wir lange Zeit zubringen. Es ähnelt unserer Verfassung bei langen Autofahrten über wohlbekannte Strecken, wo wir erst bei der Ankunft gewissermaßen »aufwachen« und uns dann fragen, wie wir überhaupt den Weg zum Ziel gefunden haben.

Gestalt gibt uns Mittel an die Hand, die den Strom der Selbstgespräche zu unterbrechen vermögen und uns darin bestärken, zum »Jetzt«, »Hier« und zum »Tatsächlichen« zurückzukehren, so daß wir wacher in der Gegenwart leben. Darin gleicht Gestalt manchen Formen buddhistischer Meditation. Auf Dauer kann das dazu führen, daß man seine Gefühle in vielen Nuancen, die einem normalerweise leicht entgehen würden, spüren und erfassen kann. Die Menschen erleben sich stärker als lebendige Wesen mit einem Körper, in dem sie wahrnehmen, fühlen und sich bewegen können. Auf solch einen Zustand verstärkter Gegenwärtigkeit legt die Gestalttherapie besonderen Wert, wie ich gleich noch erläutern werde.

Während ich hier sitze und schreibe, bin ich mir – wie viele andere Autoren auch – der künftigen Leser meiner Sätze bewußt. Mir ist klar, daß etwas privat Dahingekritzeltes nicht genügen wird. In Wirklichkeit befinde ich mich in einem zweiseitigen Kommunikationsprozeß. Je nachdem, wie ich mir die Zusammensetzung meiner Leserschaft vorstelle – beispielsweise Buchherausgeber, andere Psychotherapeuten oder Teilnehmer an Gestaltausbildungen – schreibe ich in einem etwas anderen Stil und über etwas andere Gegenstände. Außerdem habe ich ein vages Bewußtsein von den übrigen Autoren dieses Sammelbandes, auch wenn ich sie nicht persönlich kenne und nicht genau weiß, worüber sie ihrerseits schreiben. Es geschieht eben nichts ohne Kontext, es gibt keine Figur ohne Hintergrund. Erst beide zusammen bilden das Feld der Erfahrung, und das sind im vorliegenden Fall die von mir formulierten Sätze und die gedanklichen Zusammenhänge, in die sie hineinpassen. Der Blickwinkel der Feldtheorie verlangt, daß man dem Rahmen, der wechselseitigen Steuerung und dem Kontext von Erfahrungen besondere Aufmerksamkeit widmet.

Man kann es auch anders formulieren: In der Terminologie der Gestalttherapie gesprochen, achte ich auf die »Kontaktgrenze« zwischen deiner und meiner Welt, auf meine Tastenanschläge, die Buchstaben auf der Seite, deine Augenbewegungen, usw. Du und ich, der Leser und der Verfasser, begegnen uns auf dieser Seite. Ich kann eine Vorstellung davon haben, wie du ein Wesen aus Fleisch und Blut bist, ein anderes Lebewesen, ein Leser, gerade so wie du deinerseits eine Vorstellung von mir als Autor haben wirst, wie vage auch immer sie sein möge. Es ist gleich, welche Form eine menschliche Begegnung oder ein Dialog konkret annimmt, in jedem Fall kommt darin ein Gefühl der Verbundenheit zum Tragen. Im vorliegenden Fall kann dieses größer oder kleiner ausfallen, je nachdem wie ich schreibe und wieviel Interesse du für meinen Gegenstand aufbringst. Um dich hier zu erreichen, versuche ich, dir meine Gestalterfahrung so frisch herüberbringen wie einen Fisch, den man tropfnaß aus dem Meer zieht, und nicht wie ein Fischfilet aus der Truhe, das man aufwärmt.

Dir war vielleicht aufgefallen, daß ich vorhin die Begriffe »Phänomenologie«, »Feldtheorie« und »Dialog« kursiv schrieb. Der Grund ist, daß es sich dabei um die drei Säulen handelt, auf die zeitgenössische Gestalttherapie aufbaut (Resnick und Parlett 1995). Diese drei Prinzipien sind unverzichtbar, und sie machen zusammen den Wesenskern der Gestalttherapie aus. Ich komme gleich darauf zurück.

 

2

Ich sehe jetzt mehrere Punkte, die zu Beginn einer Darstellung abgehandelt werden müssen, in der es um meine Erfahrungen beim Schreiben als Gestaltspezialist geht.

Als erstes will ich einen Einfall dazu sagen, was man sich unter »praktizierte Theorie« aus der Perspektive der Gestalttherapie vorstellen kann. Eine Theorie so sehr zu leben, daß sie zu einer Art zweiten Natur wird, ist durchaus typisch für den erfahrenen Spezialisten eines Fachgebiets. Hingegen werden bei der Anwendung von Gestalttheorie schon die Anfänger dazu aufgefordert, alles Gelernte sofort umzusetzen. Es muß in erster Person praktiziert werden und führt oft zu weitreichenden Veränderungen im eigenen Leben, andernfalls ist es kaum »verstanden« worden. Das liegt daran, daß die aufgenommene Theorie nicht so sehr eine psychologische Theorie mit Erklärungen z.B. für die Entstehung von Neurosen ist, sondern mehr eine allgemeine philosophische Weltsicht, eine bestimmte Art und Weise, zu denken und zu fühlen. Gestalt kann nicht aus Büchern oder Vorlesungen gelernt werden, so wenig wie dies bei Töpfern oder Skifahren möglich wäre.

Um die typische Gestalt-Haltung zu erwerben, einschließlich der Konzentration auf die Gegenwart und der Aufmerksamkeit auf das ganze Feld, braucht es mehr als die Vertrautheit mit den gängigen Grundbegriffen, Diagnosekategorien und klinischen Termini. Diese sind nur Abstraktionen aus dem Gestaltansatz. Man versteht sie erst, wenn man die von ihnen bezeichneten Phänomene, also ihre nichtsprachlichen Gegenstände, selber erlebt hat. Sie müssen persönlich angeeignet werden, sonst bleiben sie hohl und unfruchtbar. Besonders vertrackt ist es mit Grundbegriffen wie »Kontakt«, »Gewahrsein«, »Bedürfnis«, »Unterstützung« und »Prozeß«, weil sie einem einfach und vertraut erscheinen, in Wahrheit jedoch sehr spezielle Bedeutungen tragen.

Mein zweiter Punkt hat ebenfalls damit zu tun, was Gestalttherapeuten »wissen«. Laura Perls, eine der Begründerinnen der Gestalttherapie, sagte einmal, »in der Gestalttherapie gebe es so viele Stile wie Therapeuten und Klienten«. Gestalttherapie kenne keine »einzig wahre Lehre«, sondern sei ein breit angelegter, beweglicher und sich erneuernder Ansatz; zumindest war sie einmal so gemeint. Und Laura Perls fährt fort: »Wenn sich ein Therapeut in eine Situation einbringt, dann mit all den Lebenserfahrungen und Berufsfertigkeiten, die er je erworben und in sein Leben als Hintergrund integriert hat. Auf diesem Wege überrascht er seine Klienten und Gruppen und nicht zuletzt sich selbst stets aufs Neue.« (L. Perls 1992). Anders gesagt, Persönlichkeit und Kunstfertigkeit machen hier den Meister. Wohl ist einiges von dem anfänglichen anarchistischen Fanal in Verruf geraten, und Gestalttherapie ist im Laufe der Jahre in mehrfacher Hinsicht »sicherer« geworden, doch gilt nach wie vor, daß jeder Gestalttherapeut ganz individuelle Wege beschreitet. Jeder wirkt auf seine einmalige Art und Weise. In diesem Sinne unterliegen auch meine Äußerungen hier keiner Parteidisziplin. Vielmehr spreche ich ganz in eigener Verantwortung.

Als drittes will ich feststellen, daß kein Mensch jemals stillsteht, und daß es Therapieansätze genau so wenig tun. Im Laufe des letzten halben Jahrhunderts gab es viele Entwicklungen in der Psychotherapie und in den gestalttherapeutischen Kreisen (Parlett und Hemming 1996b). Unvermeidlich hat sich auch meine eigene Wertschätzung der Gestaltphilosophie im Laufe der 24 Jahre, die seit meiner ersten Begegnung mit ihr vergingen, weiterentwickelt. Das Kapitel, das ich jetzt im Jahre 1999 schreibe, ist anders, als was ich auch nur vor zwei Jahren geschrieben hätte, von 1989 oder 1979 gar nicht zu reden. Nicht einmal vor wenigen Monaten hätte ich genau dasselbe geschrieben wie heute.

 

3

Wir haben immer noch den gleichen Tag, doch inzwischen wurde es Abend. In der Küche nebenan brutzelt das Essen, während durch das Haus ein Hauch von Stille weht. Ich sitze ruhig da und lese mir noch einmal durch, was ich bisher geschrieben habe. Ich verspüre eine gewisse Unzufriedenheit mit dem letzten Abschnitt.

Entscheidend für die gelebte und praktizierte Gestalttherapie ist das Augenmerk auf die Ästhetik der Erfahrung. Es bestehen große Unterschiede in der Gestalt-Qualität aller möglicher Handlungen, Erlebnisse und Lebensereignisse, angefangen vom Kochen von Paella über das Streiten mit einem Freund bis hin zum Organisieren einer Beerdigung. Sie unterscheiden sich nach ihrer Vollständigkeit und Abgerundetheit, ihrer inneren Ausgewogenheit und ihrem Gehalt an Schönheit, Ganzheitlichkeit und Lebendigkeit.

Insofern nehme ich die Unzufriedenheit, die ich gegenwärtig mit dem letzten Abschnitt verspüre, als Anzeichen dafür, daß ich eine gelungene Gestalt verfehlt habe. Der Mensch bringt ein eigenes Gespür

(eine eigene Spür-Fähigkeit) dafür mit, Unpassendes, Fehlendes, Mißlungenes oder von Erwartungen Abweichendes wahrzunehmen. Außerdem hat er eine Art natürliche Neigung dazu, das Mißgeformte, Unabgeschlossene oder Schräge zurechtzurücken, abzuschließen und wohlzuformen.

Was mich an dem vorherigen Absatz stört, ist, daß er sich einseitig anhört. Möglicherweise habe ich den Eindruck erweckt, das Gestalt überhaupt keine festen Formen, anerkannten Verfahren und gemeinschaftsbildenden Strukturen zwischen den einzelnen Therapeuten hätte – daß einfach alles ginge. Dieser Eindruck wäre aber verkehrt. Natürlich gibt es unterschiedliche Schulrichtungen, unterschiedliche Traditionen in einzelnen Orten und Ländern und vorhersagbare Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Neuerern. Dennoch gibt es auch erkennbare Konstanten theoretischer, philosophischer und methodologischer Art, die den Gestaltansatz in Theorie und Praxis zu einer abgrenzbaren Strömung machen. Es gibt individuelle Unterschiede genauso wie kollektive Gemeinsamkeiten.

Wir werden durch eine Reihe von Faktoren zu einer Berufsgemeinschaft verbunden. Daran sind zunächst einige bedauerliche, doch sehr verbreitete Vorurteile schuld, mit denen wir alle zu kämpfen haben. Und wenn ich es zum zigsten Mal erklären muß: Nein, Gestalttherapie erschöpft sich nicht in einer Handvoll Techniken von Fritz Perls, wie etwa dem Dialog mit verschiedenen Persönlichkeitsanteilen oder mit anderen, durch einen leeren Stuhl repräsentierten Menschen. Gestalttherapie besteht auch nicht nur aus Provokationen und Beschämungen, zumindest nicht so, wie die Gestalttherapie von der überwiegenden Mehrzahl der Gestalttherapeuten praktiziert wird. Auch besteht das Ziel der Gestalttherapie nicht in Gefühlsausbrüchen. Nein, sie findet auch nicht nur in Gruppen statt. Doch, sie kann eindeutig mit Erfolg in der Langzeittherapie von Persönlichkeitsstörungen eingesetzt werden. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Mißverständnisse, ihre Entstehung und ihre Überlieferung zu analysieren. Daß sie aber immer noch fortbestehen, kann entmutigend stimmen.

Noch einige andere Ähnlichkeiten zwischen Gestalttherapeuten liegen auf der Hand. Nicht zuletzt haben wir ein gemeinsames Markenzeichen. Wie manch anderer Spezialansatz, so stellt auch Gestalttherapie eine Minderheit dar. Ihre Vertreter stehen der großen Gemeinschaft von Psychotherapeuten insgesamt nicht sehr nah. Dennoch hat sie Zeichen gesetzt. Zwar hatte die Gestaltbewegung versäumt, ihren Ansatz genügend zu propagieren und verankern, doch war – zum Trost vieler Gestalttherapeuten – ihr Einfluß wohl größer, als man gewöhnlich glaubt. So knüpfen die modernen Methoden der Traumabehandlung direkt an die Methoden an, die von der Gestalttherapie begründet worden sind. Und die Idee »realer« Beziehung in der Therapie ist schon seit Jahrzehnten ein Eckstein des Gestaltansatzes. Wenn in diesem Zusammenhang Ansprüche auf geistige Urheberschaft erhoben werden, mag dies durchaus berechtigt sein. Auf der anderen Seite könnten sie jedoch, besonders bei Fortbestehen der oben besprochenen Vorurteile, leicht zu einer Ghettomentalität verführen.

In den vergangenen zwanzig Jahren haben sich Gestalttherapeuten viel Mühe gegeben, die Versäumnisse der Anfangsjahre aufzuholen: Vereinigungen zu gründen, ihre Ziele und Aktivitäten wirksamer darzustellen und mehr Publikationen zu veröffentlichen als ihre Vorgänger. In dieser Hinsicht ist die gegenwärtige Situation ermutigend. Es gibt weltweit mehr Ausbildungskurse, Ländervereinigungen, Bucherscheinungen, internationale Zeitschriften, Tagungen und Konferenzen als jemals zuvor.

Trotz vieler solcher Veränderungen, an denen teilweise auch ich in eigener Person mitgewirkt habe – unter anderem durch die Herausgabe einer internationalen Gestalt-Zeitschrift – , hat sich Gestalttherapie in der Praxis jedoch immer sehr zwiespältig zu einer Institutionalisierung ihres Berufs verhalten. Das anarchistische Erbe wirkt fort. Wir denken mit Wehmut an ihre non-konformistischen Ursprünge. Wir sind uns bewußt, daß die Notwendigkeit einer flexiblen Methodologie mit gegenwärtigen Trends im Konflikt steht, z.B. dem Beharren auf schriftlichen Berichten. Hier und an anderen Stellen wird uns

klar, wie sehr ihre radikale Subjektivität einigen modernen Auffassungen widerspricht. In den beiden Ländern, in denen Gestalttherapie einstmals blühte – in Deutschland und den USA – , erlitt sie einen tiefen Niedergang. In beiden Fällen hatten sich die Gestalttherapeuten auf keinen Kompromiß mit Staat bzw. Krankenkassen einigen können, sei es, weil sie es nicht zustande brachten, sei es, weil sie es aus ihrer Weltanschauung heraus nicht wollten.

Ich erwähne hier solche Spannungen unter Gestalttherapeuten, weil ich selber Teil dieser Gemeinschaft bin. Von diesen Spannungen bin ich persönlich betroffen. Ich lebe nicht nur die Theorie, sondern genau so das Berufsfeld mit seinen Hoffnungen, seiner Begeisterung oder Enttäuschung und seinem gesunden Vertrauen in den Wert des eigenen Ansatzes. Auch wenn – oder auch weil – ich unseren Minderheitenstatus anerkenne, ziehe ich Befriedigung daraus, an diesem gemeinsamen Experiment teilzuhaben. Ich werde mir bewußt, während ich dies schreibe, wie viele meiner Kollegen zugleich Freunde sind, teilweise sehr nahe Freunde sogar. Und ich spüre dabei, wie mich dies erwärmt und ermutigt.

 

4

Wenn ich mir den letzten Absatz des vorhergehenden Abschnitts noch einmal durchlese, kommt mir ein weiterer Gedanke über Freundschaft. Fast alle, die zur Gestalt-»Familie« gehören, haben viel Vergnügen am Zusammensein (und damit sind wir durchaus nicht die einzigen auf der Welt). Diese Fähigkeit zu guten Kontakten untereinander setzt nicht voraus, daß man die in wohl allen psychotherapeutischen Kollegenkreisen anzutreffenden Gruppenspannungen unter den Teppich kehren müsse; wir tun das keineswegs. Es ist eher so, daß wir alle den zentralen Wert des Jetzt gelernt haben und uns deshalb den Spannungen, Gegensätze und unerledigten Geschäften leichter zu stellen vermögen, statt es dahin kommen zu lassen, daß sie die Beziehungen dauerhaft vergiften.

Die Freiheit, ganz man selbst zu sein, wird von den meisten ganz obenan gestellt. Ich glaube, das hat damit zu tun, daß die Mitglieder der Gestalt-Familie ja alle schon oft an Gruppen teilgenommen haben, sei es in Therapie- oder in Ausbildungszusammenhängen. In und um diese Gruppen herum haben sie Offenheit, Vertrauen, Selbstausdruck und ehrliche Gefühle kennengelernt. Selbst wenn der Therapieprozeß zeitweise mühsam und schwer werden kann, taucht in Gruppen oft auch ein Geist kindlicher Freude am Spielen auf. Für viele wurde solch ein reiches Gruppengeschehen zu einer prägenden gemeinschaftlichen Erfahrung und brachte einen Erwartungshorizont hervor, den sie auch in andere Situationen mitbringen und einbringen, besonders wenn sie dort Menschen wiedertreffen, mit denen sie persönliche Erfahrungen aus der Ausbildung teilen.

Wo ich gerade beschrieben habe, wie stark und befriedend die Erfahrung in gestalttherapeutischen Gruppen sein kann, merke ich, welch großen Einfluß dies auch heute noch auf meine Jahresplanungen hat. Für mich hat sich mit der Zeit herausgestellt, daß ich Gruppenarbeit lieber mache als Einzelarbeiten. Darum organisiere und leite ich jedes Jahr eine Reihe von Gruppen, einige davon fortlaufend, andere nur einmalig, aber intensiv. Etwas von der Atmosphäre, die dort geschaffen wird, fließt auch in den Rest meines Lebens ein.

In Gruppen kann sich gewöhnlich eine Kultur entwickeln, wie sie in der übrigen Welt mit ihrem Zuwachs an Zersplitterung, Vereinzelung und Zynismus immer seltener wird. Ihr Sinn für das Erleben von Gemeinschaft, für gegenseitige Achtung, für Ernst wie für Komik gleichermaßen – all das kann das Leben erfüllen wie sonst kaum etwas. Durch diese Qualitäten entsteht ein klares Gegenbild zu den Kommunikationsformen, die uns sonst in dieser Gesellschaft angeboten werden. Oft wird das Verhalten ja von Angst gesteuert und ist auf Selbstschutz ausgerichtet. Die Vermeidung von Kontakt ist allgegenwärtig, und neurotische Verhaltensmuster werden fraglos als normal hingenommen, einfach weil sie so häufig vorkommen. Nach Gestaltgruppen-Erfahrungen gehe ich oft mit neuem Schwung nach Hause. Gruppen nähren den Optimismus, wieviel doch zwischen Menschen möglich ist. Da ein kohärentes Feld prägen kann, wirken die Aufmerksamkeit für den phänomenologischen Prozeß und der Geist des Dialogs wegweisend.

Natürlich kommen auch gegenteilige Effekte zustande, wie ich nun noch hinzufügen muß. Zur Perspektive von Gestalt gehörte schließlich schon immer dazu, auf Polaritäten zu achten und auch Schattenseiten (um es Jungianisch auszudrücken) wahrzunehmen. So muß man wohl auch feststellen, daß die ganze Kultur des Gruppenlebens und der Suche nach umfassender Erfahrung mit anderen auch eine Kehrseite hat: sie führt nicht unbedingt dazu, daß man im Mainstream der Gesellschaft besser bestehen kann. Außerdem kam es gelegentlich vor, daß Gruppenprozesse ins Zerstörerische entgleisten und danach auch nie mehr aufgearbeitet wurden; sogar in Ausbildungsinstituten kam dies zwischen Teammitgliedern – leider – vor.

Trotzdem, alles in allem führt die Gestaltarbeit und insbesondere die Gruppenarbeit durch ihr Augenmerk auf die ästhetischen Gesichtspunkte von Gestalt dazu, daß man auch im Alltag genauer darauf achtet, was momentan da ist und was fehlt. Im Laufe der Zeit bekommt ein engagierter Gestaltler eine feine Nase dafür, wo der Weg zu Ganzheiten verlassen wird oder wo der Fluß von Lebensprozessen unterbrochen wird. Mir geht es ähnlich wie Gruppentherapeuten anderer Schulrichtungen auch: Ich habe ein überaus feines Gespür dafür entwickelt, wann genau eine Gruppensitzung aus dem Ruder läuft, wann eine Arbeit den Prozeß bremst oder wann ein Einspruch nicht überzeugend ist. Und dann lenke ich natürlich die Aufmerksamkeit auf das, was distanziert, energiebremsend, kontaktverhindernd getan wurde oder was völlig vermieden wurde. Solche Modellvorstellungen und ästhetischen Kriterien, die ich im Hinterkopf habe, sind für die feine phänomenologische und intersubjektive Arbeit in Einzeltherapien geradezu zentral. Wenn ich sie immer wieder beruflich anwende, fließen sie selbstverständlich auch in mein sonstiges Leben ein.

 

5

Nach zwei Wochen Pause nehme ich mir jetzt wieder diesen Artikel vor. Ich setze mich zum Schreiben hin und warte. Wie in jeder Gestaltsitzung mit offenem Ende, ob in Gruppen- oder Einzeltherapie, lasse ich am Anfang Raum. Ich bleibe eine Zeitlang still, um zu merken, was als »Figur« auftaucht. So frage ich: Was tritt mir an diesem Sonntagmorgen Ende November aus dem Hintergrund aller Dinge meines bewußten Lebens, der Aufgabenstellung und aller sonstigen Lebenserfahrungen, als Figur entgegen?

Was heute als erstes klar ist, ist, genau diesen Punkt noch einmal klarzumachen: Gestalt beginnt mit dem, was ist – mit der unmittelbaren Wirklichkeit, so wie sie gegeben ist. Vielleicht ist dies nicht das, was gewünscht oder erwartet wurde. Vielleicht wird dies auch schon bald zur Seite gerückt, wenn man sich dazu entschließt, einem anderen Vorhaben oder Bedürfnis zu folgen. Würde man aber von vornherein über das hinweggehen, was momentan gegeben ist, wäre dies wie der Bruch einer Grundregel, nämlich daß das Feld eine gewisse unbeabsichtigte Organisation schon mitbringt, die unsere Beachtung verdient. Wenn man stattdessen über das hinweggeht, was von alleine auftaucht, muß man oft einen Preis dafür zahlen.

Als nächstes steht für mich heute an, über den Holismus der Gestalttherapie zu schreiben. Dies ist ein weiteres Beispiel für meine Sicht auf die Welt, die ich aus der Gestalttherapie gewonnen und mir zu eigen gemacht habe und inzwischen für selbstverständlich halte. Ein Kerngedanke der Gestalttheorie lautet: Was man in Gedanken oder Gefühlen erleben kann, kann man auch auf einer nervlichen und körperlichen Ebene wissen. Mit Verkörperung ist ein spezieller, sinnhafter Prozeß gemeint. Als ich gestern mit einer Gestaltkollegin sprach, berichtete sie über starke Rückenschmerzen. Sie meinte, diese hätten etwas mit ihrer seelischen Verfassung zu tun. Als sie zu den momentanen Schmerzen im Rücken hinspürte, dann mit ihrer Aufmerksamkeit zwischen den Schmerzen und ihren Einfällen hin- und herwanderte und sich auf diesen Erfahrungsprozeß kontinuierlich einließ, kam sie mehr und mehr mit ihren momentanen Lebensumständen in Kontakt und erfuhr zugleich Linderung.

Zu solch einer ganzheitlichen Selbsterforschung der Gestalttherapie gehört dazu, dem Fluß körperlicher Energien (»Chi«) aufmerksam zu folgen. Heute morgen merkte ich schon vor dem Aufwachen, daß ich unruhig war und eine ziellose Energie in mir hatte. Ich wußte zumindest, daß ich an diesem Wochenende ohne meine Partnerin bin und deshalb niemanden stören konnte. Und so wälzte ich mich im Halbschlaf herum. Als ich etwas wacher war, widmete ich mich einem Abschiedstraum und arbeitete in Gestaltmanier an ihm, um vielleicht darüber herauszufinden, was meine Unruhe bedeutete.

Diese Art von Traumarbeit mit mir selbst geht unter anderem so: Soweit ich kann, gehe ich noch einmal in den Zustand des Traumes hinein. Dabei achte ich auf das erlebte körperliche Begleitgefühl (»felt sens«, Gendlin 1981). Ich beobachte es so genau wie möglich und registriere, wie es sich weiterentwickelt und klärt. Manchmal schlüpfe ich auch in die Rolle eines Bestandteils des Traumes und spiele den Traum aus der Perspektive von diesen Personen oder Elementen des Traums. Ich male mir mögliche Verkürzungen, Ergänzungen oder Fortsetzungen aus. Währenddessen lausche ich darauf, welche Bezüge zu meinem gegenwärtigen Leben mir einfallen. Ich stelle mir Fragen wie: »Welche Botschaft hat dieser Traum für mich?« oder »Was habe ich in diesem Traum vermieden?« Manchmal stelle ich den Traum auch schriftlich dar und arbeite weiter an ihm. Meistens gehe ich diese Möglichkeiten morgens nur kurz durch oder beschränke mich auf die eine oder andere von ihnen. Insofern ich dadurch herausfinden kann, was mir im Speiseplan meines Lebens noch fehlt, halte ich Träume für überaus wertvoll.

Auch wenn man seine Körperempfindungen erkundet, kann man in ähnlicher Weise vieles herausfinden. Besonders, wenn ich mich ziellos und getrieben fühle, mache ich manchmal einfach nur Bewegungen und lausche dabei in meinen Körper mit größerer Aufmerksamkeit als sonst hinein. Heute morgen habe ich mich eine halbe Stunde lang spontan bewegt und gestreckt, dabei tiefer geatmet und beobachtet, welche Gefühle und Wahrnehmungen in mir aufsteigen. Das führte zwar zu keinem großen Aha und zu keinem karthatischen Durchbruch (wie es manchmal vorkommen kann), doch mit meiner unbestimmten Unruhe ging es mir danach viel besser. Ich fühlte mich mehr »selbst«, mehr »bei mir«, mehr »in meinem Körper« (geerdet, zentriert und im Gleichgewicht).

Übrigens wurde mir, wie Sie vielleicht bemerkt haben, trotz all meiner Aufmerksamkeit auf den Traum und auf die wechselnden Körpererlebnisse keine aufregende Einsicht zuteil. Das mag manchem Psychotherapeuten, besonders wenn er einen psychoanalytischen Hintergrund hat, wenig befriedigend erscheinen. Es hätte auch mir so erscheinen können. Doch in dieser Situation war ich dennoch zufrieden. Gestalttherapie besteht eben genau so sehr (oder sogar noch mehr) darin, einem Prozeß zu folgen als eine Erklärung zu suchen. Mein Zustand hatte sich schon dadurch spontan geändert, daß ich einen Prozeß auf seine eigene Weise durchlief oder auf sonst irgendeine Weise von alleine wieder in Ordnung kam. Den größten Wert sehe ich nicht im Verstehen, sondern im Wachwerden für das, was normalerweise als Denken, Abwehr und Vermeidung vonstatten gehen würde. Anders gesagt: Es geht um die Hinwendung mit unmittelbarer Aufmerksamkeit auf das, was man tut. Als Folge davon kann man dann wahrnehmen, daß auch noch andere Wahlmöglichkeiten offen stehen. Solch eine selbstvollbrachte Kehrtwendung der Aufmerksamkeit wird als existentiell verantwortlich erachtet, oder wie man es auch gerne buchstabiert, als »selbstverantwortlich«. Oft wird die Wiederherstellung der Aufmerksamkeit natürlich mit Unterstützung durch andere vollzogen, durch Lebenspartner, gute Freunde oder einen Shiatsu-Therapeuten. Doch die Verantwortung dafür, daß das zu meinem Wohlbefinden Nötige in Gang kommt und daß ich andere Menschen mit meinem Tun berühren kann, liegt allein bei mir selbst.

Heute morgen fühlte ich mich noch voller Unruhe. Die gestalttherapeutische »paradoxe Theorie der Veränderung« (Beisser 1970) lehrt, daß Veränderungen nicht dadurch zustande kommen, daß wir unseren Daseinszustand bekämpfen und mit Willenseinsatz umändern, sondern daß wir ihn umfassend annehmen. Dieser Prozeß erfordert, daß wir tiefer in die ungewollte Erfahrung hineingehen und sie peinlich genau untersuchen, wodurch erst wir den Raum dafür schaffen, daß sich eine mögliche Änderung von alleine ergibt. Wird eine verfestigte Gestalt aufgelöst, kann etwas Neues geboren werden. Diese geradezu alchimistische Verwandlung ist eine der entscheidenden Erkenntnisse, die von Gestalt gelehrt und praktiziert werden: Daseinszustände können sich oft allein in Folge von konzentrierter, bewertungsfreier Aufmerksamkeit wandeln.

Wenn ich selber etwas zu meinem Wohlergehen beitragen will, mich zum Beispiel aus Angst und Verwirrung frei machen will, sobald sie auftauchen, dann kann mir die Beachtung des eben beschriebenen Prinzips unschätzbare Dienste leisten. Damit mit mir etwas anders werden kann, muß ich einen Platz abseits des Weges wählen, meine Ungeduld aufs Abstellgleis schieben und mich allein darauf vorbereiten, einen Augenblick der Unvorbereitetheit und die Leere der Unwissenheit zu ertragen. Wenn ich einmal tief Luft hole, kann ich dorthin getragen werden. Das ist es, was das Motto meiner Berufsarbeit und meines eigenen Lebens, wenn ich es noch einmal zitieren darf, meint: Vertrau dich dem Prozeß an.

Es ist sowohl phänomenologisch als auch experimentell, wenn man sich in der beschriebenen Weise mit der eigenen Verfassung befaßt. Aber eine Konzentration auf den Ursprung neuer Ganzheiten, wie sie die Gestalttherapie als zentrale Lehre praktiziert, ist auch wesenverwandt mit den Praktiken der Meditation. Gestalt ist auch stark in den Weisheitstraditionen des Fernen Ostens, insbesondere des Taoismus und Buddhismus, verwurzelt. Daher braucht solche Übereinstimmung nicht zu verwundern.

 

6

Die Zeit der Festtage naht. Wir sind spät aufgestanden, nachdem wir von einer der besten Abendgesellschaften seit vielen Jahre zurückkehrten. Jetzt mit leichten Kopfschmerzen achten meine Partnerin und ich ziemlich genau darauf, was wir bei unserem späten Frühstück am besten essen und trinken könnten. Das ist eine typische Situation, auf die das gestalttherapeutische Prinzip der organismischen Selbstregulation Bezug nimmt. Manche Möglichkeiten werden sofort verworfen. Andere, wie Eier mit gebratenem Speck, erscheinen heute als schwer einschätzbar. Schließlich entscheide ich mich für einen Apfel und eine Tasse Tee, während meine Partnerin eine kleine Schüssel Müsli und einen Becher heißes Wasser nimmt.

Wer Gestalt praktiziert, wird von dem Grundsatz, daß Bedürfnisse etwas sehr Individuelles sind, durchdrungen. Man nimmt eine sehr gewährende Haltung an, wenn man zwischen den einzelnen Menschen unterscheiden gelernt hat und die organismische Selbstregulation jedes einzelnen im Blick behält. Gestalttherapie erlaubt dies und ermutigt dazu. Allerdings setzt sich auch immer mehr die Einsicht durch, daß Ko-Regulation mindestens genau so bedeutsam ist, denn wir leben nicht isoliert voneinander, sondern sind auch immer aufeinander bezogen.

Ich könnte ein ganzes Kapitel damit füllen, wie ich in meinen persönlichen Beziehungen Gestalt verwirkliche. In der Anfangszeit von Gestalt lugte der Individualismus der Freudschen Psychoanalyse noch an allen Ecken und Enden hervor. Schließlich waren unsere Gründer ja ursprünglich Analytiker. Der Feldgedanke, der die unvermeidliche und fortwährende Bezogenheit der Menschen betont, war noch wenig entwickelt. Gestalttherapie war geradezu verschrieen für ihr Schwelgen in dem typischen 1960er-Jahre-Motto »Ich mach mein Ding, und du machst deins«. Allerdings ist in den vergangenen zwanzig Jahren das Pendel deutlich in die andere Richtung geschwungen hin zu einer dialogischen Sicht des Menschen, wie er sich stets innerhalb von Beziehungen verwirklicht (z.B. Wheeler 1991).

Meine Ausbildung lag in einer Zeit, bevor sich dieser Umschwung vollzog. Ich nahm damals einige Grundwerte an, die mir im Umgang mit anderen Menschen gute Dienste leisteten, auch wenn die heutige Sprache der Intersubjektivität und Beziehungen bei weitem feiner entwickelt ist. Zu meinen Werten gehören:

  • Sei echt. Sag, was du meinst, und meine, was du sagst.
  • Sag »Ich«, wenn du von dir sprichst, nicht »wir« oder »man«.
  • Bring Differenzen zur Sprache, sprich Vorbehalte aus. Umschiffe sie nicht und kehr sie nicht unter den Teppich.
  • Sieh den Menschen in die Augen. Erkenne, daß deine Eindrücke von anderen großenteils Projektionen sind, in viel größeren Maße subjektiv konstruiert als objektiv vorgefunden.
  • Bring Wertschätzungen zum Ausdruck und gehe das Risiko von Nähe ein.
  • Öffne Augen und Ohren, wenn du die Welt eines anderen Menschen kennen lernen willst, gewähre ihnen Raum, laß Mutmaßungen außen vor.
  • Erkenne den anderen als einen Menschen wie dich, als ein Du und nicht als ein Es, schon gar nicht als ein Etikett, einen Typ oder irgendeine diagnostische Kategorie.

An all das kann ich mich noch erinnern. Ich bedaure, wenn ich etwas davon vergesse, und ich fühle mich kleiner, wenn ich etwas davon nicht mehr präsent habe.

In ihren Anfängen konzentrierte sich Gestalttherapie auf Kontaktprozesse. Sie verstand es glänzend, den Blick auf die Entstehung eines vollen Kontakts zwischen Menschen zu lenken und auf den Gewinn, den Menschen daraus mitnehmen. Gestern nacht feierten wir den fünfzigsten Geburtstag eines meiner ältesten Freunde. Ich hatte viele kurze Begegnungen, und sehr viele davon waren bedeutsam und belebend. Ich ging aus ihnen berührt und beglückt hervor, und vermutlich erging es den anderen ebenso.

Das Leben besteht allerdings nicht nur aus Höhepunkten. Die in den letzten zwanzig Jahren weiterentwickelte Gestalttherapie achtet jetzt stärker auf die langfristigen Qualitäten von Kontaktaufnahmen und auch auf die Rahmenbedingungen, die für ein gutes Gedeihen von Beziehungen nötig sind. Verbundenheit kennt Phasen und eigene Rhythmen. Grenzen müssen gewahrt bleiben. Langzeitpläne und ihre Folgen müssen mitbedacht werden. Wenn man das gesamte Leben eines Menschen betrachtet, dann kann darin das kurze Hoch eines Kontakts schöpferisch, aber auch zerstörerisch wirken. Ich komme immer mehr dahin, die Notwendigkeit von Stabilität, Kontinuität und Berechenbarkeit anzuerkennen, von denen ich mich früher eher provoziert fühlte. Sie werden für die Bildung von Gemeinschaften, Familien und Paarbeziehungen gebraucht. Ich habe mich geändert, so wie sich auch Gestalt änderte.

Daß die früheren Einseitigkeiten inzwischen ausgeglichen wurden, ist von großer Bedeutung. Doch muß man auch jetzt noch Wert auf intensive und ehrliche Kontakt-Aufnahme legen. Davon bin ich ein Fan, daran halte ich fest. Ich bestehe weiterhin darauf, daß man einen unpersönlichen Bürokraten als realen Menschen behandelt, auch wenn er sich dem widersetzen will. Ich spreche mit Fremden häufiger als die meisten Briten. Für mich gehört es zur Politik im Alltag, die von Menschen hervorgebrachten Verhältnisse zu vermenschlichen und mit Leben zu füllen. Den Trends zur Entpersönlichung trete ich entgegen.

 

7

Wenn ich jetzt, nachdem einige Zeit ins Land ging, über die Umsetzung von Gestalt in meinem Leben nachdenke, dann kommt mir die Frage: Was für ein Mensch wäre ich geworden, wenn ich Theorie und Praxis von Gestalt nie kennen gelernt hätte? Um mich dieser bemerkenswerten Frage des Herausgebers zu nähern, ist zunächst noch ein kleiner Abstecher nötig.

Es gibt die in meinen Augen vernünftige Annahme, daß wir uns unsere Spezialgebiete so wählen, wie es zu unserem Charakter und unserem Temperament am besten paßt. Ich denke nun an meine erste Begegnung mit der Gestalttherapie. Mit einer gewissen Neugier ging ich zu einem Einführungs-Workshop, wollte aber alles nicht sehr ernstnehmen. Das änderte sich rasch. Nachdem die drei Tage der Veranstaltung herum waren, war mir klar: Ich hatte einen Ansatz gefunden, der mir wirklich etwas bedeutete. Ich war wie »zu Hause« angekommen. Was aber hatte mich derart tief angesprochen?

Zuvor hatte ich keine Vorstellung davon, was Gestalttherapie eigentlich ist, wenn man einmal davon absieht, daß sie eine ungewöhnliche Synthese vieler sehr unterschiedlicher Schulrichtungen, Autoren und Traditionen darstellt (darunter Freud, Reich, Rank, Sullivan, Moreno, Köhler, Friedländer, Lao-Tse, Korzybski, Goldstein, Lewin, Smuts, Dewey, Heraklit und Suzuki). Auch hatte ich noch keine Ahnung, daß mein Leben und mein Beruf bald umgekrempelt würden. Bisher hatte ich nur Erfahrungen mit der akademischen Psychologie und den Theorien der Psychoanalyse gemacht. Beide waren weit weg von meiner Lebenserfahrung. Am meisten hatte mich in der Zeit vor Gestalt noch Wiliam James beeindruckt: die Klarheit und Folgerichtigkeit seiner psychologischen Schriften. Ich sah eine große Nähe zwischen James’ Interesse am Experimentieren, dem Kerngedanken der Gestalttherapie (wie ich sie zunächst kennen lernte), und meiner eigenen persönlichen Lebensauffassung.

Vielleicht sprach mich am meisten die Einladung an, sich der eigenen Erfahrung zuzuwenden, während sie gerade entsteht. Dadurch gelangten meine persönlichen Beziehungen auf Niveaus der Echtheit, wie ich sie bisher noch nie und in keinem anderen Lebenszusammenhang erlebt hatte. Als ich viele Jahre später ein großes Familiengeheimnis entdeckte, wurde mir klar, wie wirksam die »gestaltische« Liebe zur Wahrheit sein kann. Bis heute ist es für mich eine der größten Bereicherungen des Alltagslebens, wenn man sich seiner Gegenwart gewahr wird und dabei mit anderen Menschen im Gespräch bleibt. Das gilt um so mehr, wenn sich auch der andere Mensch seinerseits der Entstehung seiner eigenen Wahrheit widmet. Ich weiß, daß dies nicht nur für mich bereichernd ist, sondern für manch andere ebenso. Wenn man es erst einmal gelernt hat, bei seinen momentan auftauchenden Erfahrungen zu bleiben, und dies auch noch gemeinsam praktiziert, dann kann man zwischenmenschliche Spannungen und Differenzen rasch ansprechen. Oft genug lösen sie sich dann in größerer Verbundenheit und besserem gegenseitigen Verständnis auf. Das braucht auch nicht zu verwundern, denn letztlich rühren die meisten Mißverständnisse aus Projektionen und Phantasien über den anderen, aus mangelhaftem Hinhören und einer Reihe von Täuschungsmanövern. Die jeweiligen Gegensätze dazu dienen als wirkungsvolle Gegenmittel.

Schließlich: Jüngere Gestalttherapeuten haben zwar teilweise den Weg eingeschlagen, Gestaltmethoden mit spirituellen Ansätzen der einen oder anderen Richtung in Verbindung zu setzen. Doch der ursprüngliche Ansatz von Gestalt war entschieden säkular. Unter den Gründern herrschte große Skepsis gegenüber allem, was nach organisierter Religion auch nur roch. Gewiß wurden Verbindungslinien gezogen, besonders zum Zen-Buddhismus. Doch in die Praxis von Gestalt wurde das Konzept eines Dienstes am größeren Ganzen niemals ernsthaft einbezogen, und dies, obwohl die umfassende Perspektive der Feldtheorie stets betonte, daß alle Wesen gegenseitig voneinander abhängig sind. In dieser Hinsicht setzt erst allmählich ein Wandel ein. Doch er hat lange auf sich warten lassen.

 

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Ich schreibe jetzt nicht mehr zu Hause, sondern in einem Seminarhaus, in dem ich eine Gruppe mit erfahrenen Gestalttherapeuten leite. Es ist früh am Morgen, ich sitze im Bett, habe ein Blatt Papier auf den Knien und denke erneut über die Fragen des Herausgebers nach. Es wird nicht überraschen, daß sich meine Einfälle heute morgen auf die Gruppe beziehen, mit der ich mich zur Zeit befasse.

Ich hatte die Gruppe für Teilnehmer ausgeschrieben, die schon viel Gestalt-Erfahrung aus ihrer Ausbildung und ihrer persönlichen Therapie mitbringen und die »nun mit Gestalt weiterarbeiten wollen als einer Grundlage zur Erkundung und Gestaltung ihres Lebens auf längere Sicht«. Die Resonanz war groß, und die Gruppe kam zustande. Ich erwähne das deshalb, weil es Parallelen gibt zwischen dem, was ich der Gruppe anbiete, und dem, was ich mir selber anbieten möchte. Insofern ist die Anwendung von Gestaltprinzipien und -methoden zur »Erkundung und Gestaltung meines Lebens« auch eine treffende Kennzeichnung für das, was ich selber tue.

Man sollte sich vor Augen halten, daß Gestalt nicht meint, persönliche Therapie mache man einmal im Leben und schließe sie damit ab. Vielmehr sind weitergehende Entwicklungen jederzeit möglich, ja wünschenswert und nötig, um weiter zu wachsen. Im Lichte der Gegenwart kann die Vergangenheit stets neu aufgearbeitet werden, oder wie es Sir Isaiah Berlin einmal formulierte: »Die Vergangenheit ist unvorhersagbar«. Aspekte der Vergangenheit fließen in jedem gegenwärtigen Moment aufs Neue mit ein. Darum bedürfen die Gesamtheit meines Lebenslaufs und meines Selbstverständnisses einer ständigen Überholung. Um dieses niemals endende Werk der Integration fortzuführen, sind Selbst-Therapie und gelegentliche informelle Therapiesitzungen mit Freunden erforderlich.

Die Gruppe, die ich hier leite, ist der Schnittpunkt von sechzehn Lebensläufen, zusammen mit meinem sogar siebzehn. Sie alle sind voller Pläne und Perspektiven, Aktionen von Angehörigen, Veränderungen im Beruf wie in der gesundheitlichen Verfassung und Wandlungen im Status der persönlichen Partnerschaften. Die Umstände wechseln, Schicksalsschläge ereignen sich, Epochen enden oder fangen neu an. Die Oberflächengestalt persönlicher Landschaften unterliegt fortwährendem Wandel, so daß immer wieder das nötig wird, was wir in Gestalt als »kreative Anpassung« bezeichnen (Perls et al. 1951). In dieser Wortzusammensetzung kommt besser zum Ausdruck, daß man neue Lösungen für neue Herausforderungen aktiv erzeugt, als wenn man dies etwa nur als »Anpassung« bezeichnete.

Schöpferische Anpassung bedeutet: wir begegnen neu aufgetauchten Lebensmomenten mit neuen Ideen, neuen Verhaltensweisen und dem Mut zum Aufbruch ins Unbekannte. Gewiß ist dies nur eine Idealvorstellung, und wir alle kennen auch die Neigung, den Kopf einzuziehen und uns selber soweit anzupassen, daß die Dinge möglichst so bleiben können, wie sie sind. Doch wenn wir am Bekannten und Gewohnten festhalten, kann es uns auch passieren, daß wir erneut in alte Fallen tappen, alte Scheinlösungen wiederholen oder uns gar zurückentwickeln, selbst wenn wir uns oder anderen dabei Schaden zufügen. Ich selber habe immer wieder einmal zumindest Selbst-Therapie nötig. Wohl habe ich in meinen Therapien sehr viele alte Verletzungen und Entwicklungsstörungen überwunden. Doch bewahrt mich dies nicht davor, manchmal wieder zu einer von ihnen zurückzuwandern. Und was gar neu auftretende Verletzungen einer noch unbekannten Art betrifft: wie könnte ich gegen diese vorweg immun sein? Auch kann es vorkommen, daß eine alte Verletzung zwar dem Blick entschwunden war, doch durch ein aktuelles Ereignis wieder aufgerissen wird. Zum Beispiel erlebte ich neulich, daß mir die Erinnerung an meine Zeit als Doktorand in Cambridge erheblichen Streß bereitete. Dazu war es gekommen, nachdem ich mit einem Doktoranden aus Oxford therapeutisch gearbeitet hatte, der dort ganz ähnliche Probleme erlebte wie einst ich selbst.

Die größten Schwierigkeiten bereitet schöpferische Anpassung dann, wenn einschneidende Lebensänderungen anstehen. Sicherlich ist eine Krise die Zeit, in der man am meisten lernen kann. Doch braucht es in der Tat eine starke Entschlossenheit, sich mitten in streßreichen Zeiten auf den teilweisen Verlust bisheriger Persönlichkeitsmerkmale einzulassen, um neuen Formen des Seins und Handelns Raum zu geben. Dies ist nur möglich, wenn genügend Unterstützung bereitsteht. Dabei macht es keinen Unterschied, ob ich mit jemandem in einer Gruppe arbeite oder mit mir selbst in einer Selbst-Therapie: Wandel kann nur dann zustande kommen, wenn es für das Vorhaben genügend Unterstützung gibt. Im einzelnen muß ich folgendes kennen und benutzen: Die innere Stärke, die ich selber aufbringen kann; die Rückendeckung durch andere, die mir verfügbar ist; meine Bereitschaft, von diesen Angeboten Gebrauch zu machen; die praktischen einzelnen Schritte, mir den Boden zu bereiten und Stand zu finden. Ich habe es selbst erlebt, daß für mich und die mir nahestehenden Menschen alles von ausreichender Unterstützung in diesem Sinne abhängt. Um den genauen Bedarf an Unterstützung erkennen zu können, muß man sehr präzise arbeiten.

 

9

Dies war ein kurzer Rundblick auf die verschiedenen Aspekte, wie Gestalt fast jeden Winkel meines Lebens durchdringt. Was bleibt nun darüber zu sagen, was ich in meinem Leben gelernt und angewendet habe?

Zunächst einmal, daß sich in meinen Darstellungen meine Verantwortung für mein eigenes Leben widerspiegelt. Sie beruht durchaus nicht auf pausenloser Innenschau, Selbstanalyse und zwanghafter Ich-Bezogenheit (will ich zumindest hoffen). Vielmehr entsteht sie aus einer Haltung, die manchmal als »Zeugenschaft« bezeichnet wird. Dazu gehört insbesondere, ohne Bewertungen zu registrieren, was ich erlebe, wie ich etwas vermeide, was ich zu meinem »Schutz« unternehme, wie ich narzißtisch bin, wie ich ständig wähle, auf welche Art ich mein Leben verbringe. Wenn Gestalttherapie auf irgendetwas noch mehr Wert legen sollte als bisher, dann wäre es die Bedeutung von »unbeschränkter Selbst-Annahme«. Darin liegt eine Parallele zu traditionellen Weisheitslehren, und darin mündet die paradoxe Theorie der Veränderung ein, wenn man sie zuende denkt. Es ist eine existenzielle Grundhaltung, die licht und luftig wirkt.

Dann möchte ich zum Ausdruck »Praktizieren von Theorie« anmerken, daß ich schon immer meinen theoretischen Ansatz im eigenen Leben umsetzen wollte. Das ist mir klar seit Tag eins meiner Begegnung mit Gestalt. Von da an ging es mit meinem Lernen steil bergauf, erst inzwischen hat sich meine Lernkurve etwas abgeflacht. Allerdings kommt das Lernen nie an ein Ende, und Vergessenes muß man neuerlich lernen. Wie heißt es in einem Vers von Rumi: »Des Lebens Quell ergießt sich ständig neu«, und dieses Leben ist der höchste Lehrmeister. Meine Gestaltauffassungen und mein Leben sind ineinander verwoben und »ergießen sich ständig neu«. Für meine therapeutische Arbeit hat das zur Folge, daß ich meinen Klienten und Schülern um so besser zur Verfügung stehen kann, je mehr ich neues Material in mein Leben integriere.

Schließlich möchte ich über die Zukunft nachdenken. Für Gestalttherapie gehört, wie dargelegt, Holismus zum Kernbestand. Viele neuere Bewegungen denken in dieselbe Richtung und halten diesen Ansatz am Leben. So ist auch nicht überraschend, wenn manch ein Gestalttherapeut (mich eingeschlossen) sich als biologische Gärtner, Umweltaktivisten oder Verfechter einer ganzheitlichen Medizin engagieren. In all diesen Gebieten steht die holistische Perspektive im Mittelpunkt und wird ständig fortentwickelt.

Unter den Philosophen ist Merleau-Ponty ein Gestaltvertreter par excellence, auch wenn er bei vielen Gestalttherapeuten leider kaum bekannt ist. Er ist auch schwer zu lesen und zu verstehen. Doch sein Ansatz ist stets, die Ganzheit und Unteilbarkeit menschlichen Lebens, wie es vom einzelnen erfahren wird, ins Spiel zu bringen. Er stellt den Gegenpol zu den objektivierenden Ansätzen dar, auch zum sogenannten gesunden Menschenverstand, in denen man sich eine Getrenntheit zwischen uns selbst und der äußeren Welt des »Es« vorstellt. Für Merleau-Ponty und viele Postmoderne, genau wie für Gestalt, bin aber ich mit der Welt innigst verbunden. Erst indem ich mich in der Welt selbst erschaffe, erscheine ich als getrennt von ihr. Wir gehen unablässig einer Tätigkeit nach, mit der wir unseren Einfluß ins Weltgefüge hineintragen (Merleau-Ponty 1962). Außerdem nimmt Merleau-Ponty den Standpunkt ein, daß das Dasein durch den Körper vermittelt sei. Der Körper sei das »Gefährt« unserer Daseinsbahn. Hier finden wir den Holismus in Großaufnahme: als lebende Wesen sind wir von der physikalischen Welt und auch von Kultur, Gesellschaft, Familie und Partnern letztlich nicht getrennt.

Kurzum, der Strom des Lebens kommt zu mir, geht durch mich hindurch, geht aus mir heraus. Er macht mein Dasein aus. Innerhalb dieses Stroms wird Moment für Moment das Selbst erst erschaffen. Mit der Gestalt-Philosophie sind solche erkenntnistheoretische Ansätze nicht verträglich, die davon ausgehen, das Selbst sei ein überdauerndes festes Etwas; auch nicht die Ansicht, die Welt sei ein stabiles Etwas außerhalb und getrennt von uns; und auch nicht die Auffassung, Lebensmuster seien durch frühere Umstände für immer festgelegt. Bis man sich aber in aller Konsequenz auf die neuen Kosmologien (die Post-Quantentheorie, die Post-Chaostheorie, usw.) einlassen wird, so daß sie das eigene Leben entscheidend prägen, ist wohl noch einiges an Erkundungen nötig. Es könnte mit Spiel und Leichtigkeit des Herzens beginnen. Während ich diese Worte schriebe, werde ich mir bewußt, daß mein Bericht sehr auf den Verstand einschwenkt, obwohl ich zunächst einen anderen Weg eingeschlagen hatte.

Gleichwie, es ist Zeit, den Artikel zu beenden. Draußen scheint die Sonne, ähnlich wie an dem Tag, als ich mit dem Schreiben begann. Während ich die letzten Sätze formuliere, spüre ich mein Bedürfnis nach Bewegung. Ein neuer Spaziergang am Fluß ruft.

 

Literatur

Beisser, A.R. (1970), Die paradoxe Theorie der Veränderung in der Gestalttherapie, in: ders., Wozu brauche ich Flügel? Wuppertal: Peter Hammer Verlag, 1997

Gendlin, E. (1981) Focusing. New York: Bantam Books.

Merleau-Ponty, M. (1962), Phenomenology of Perception. London: Routledge and Kegan Paul.

Parlett, M. / Hemming, J. (1996a), Gestalt therapy, in: W. Dryden (ed.), Handbook of Individual Therapy. London: Sage.

Parlett, M. / Hemming, J. (1996b), Developments in Gestalt Therapy, in: W. Dryden (ed.), Developments in Psychotherapy. London: Sage.

Perls, F.S., Hefferline, R., Goodman, P. (1951/1994), Gestalttherapy. München: dtv, 1980.

Perls, L. (1992) Leben an der Grenze. Köln: EHP, 1989.

Resnick, R. and Parlett, M. (1995), Gestalt Therapy (interview). British Gestalt Journal, 4(1), 3-13.

Wheeler, G. (1991), Gestalt Reconsidered. New York: Gardner Press.

Yontef, G. (1993), Awareness – Dialog – Prozess.. Köln: EHP, 1999.

Zinker, J. (1977) Gestalttherapie als kreativer Prozess. Paderborn: Junfermann, 1982.     

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 

Foto: Malcolm ParlettMalcolm Parlett

 

Malcolm Parlett Ph.D.

Malcolm Parlett Ph.D. lernte Gestalttherapie am Gestalt Institute of Cleveland, USA in den 1970er Jahren. Seine Lehrtherapeuten waren u.a. Sonia und Edwin Nevis sowie andere aus der Gruppe, die von Fritz und Laura Perls, Isadore From, sowie Paul Goodman ausgebilet worden waren.
1985 gründete Malcolm Parlett das Gestalt Psychotherapy and Training Institute in England zusammen mit Marianne Fry, Petruska Clarkson und anderen. Er war Herausgeber des British Gestalt Journal seit desen Gründung 1991, bis 2005.
Seine Schriften beschäftigen sich stark mit dem Feld-Begriff. Einer seiner Artikel ist im Handbuch der Gestalttherapie, herausgegeben von Reinhard Fuhr, Milan Sreckovic, und Martina Gremmler-Fuhr, erschienen.
Malcom Parlett ist als Therapeut und Berater tätig und in der Aus- und Weiterbildung von Nachwuchstherapeuten engagiert.
Quelle des obigen Artikels: Malcolm Parlett, On Being Present at One's Own Live; in: Embodied Theories, edited by Ernesto Spinelli and Sue Marshall, London and New York: Continuum, 2001. Wir danken dem Autor, den Herausgebern und dem Verlag für die freundliche Genehmigung der deutschen Erstveröffentlichung. Aus dem Englischen von Thomas Bliesener.

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