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Cornelia Muth
Technik aus dialogphilosophischer Sicht: Keine Technik, aber ein Gespräch!
Impulse - auch für die Gestalttherapie
Ein Vortrag


Aus der Gestaltkritik 1/2013:

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus Gestaltkritik 1/2013:

Cornelia Muth
Technik aus dialogphilosophischer Sicht: Keine Technik, aber ein Gespräch!
Impulse - auch für die Gestalttherapie
Ein Vortrag

Foto: Cornelia MuthCornelia Muth

Hinweis des Herausgebers:
Bitte beachten Sie auch die weiteren Beiträge von Cornelia Muth, die in unserer Zeitschrift Gestaltkritik erschienen sind.
www.gestaltkritik.de

 

Der Dialogphilosoph Martin Buber hat immer wieder betont, dass er keine Lehre hat, sondern ein Gespräch führt und den, der ihm zuhört, ans Fenster führt und dort auf eine Wirklichkeit hinweist, die übersehen wird. Diese Wirklichkeit ist der Raum zwischen Ich und Du, der Raum des Zwischenmenschlichen, dem Dazwischen, da, wo das wirkliche Leben geschieht. Das wirkliche Leben, das Ich-Du, den Dialog grenzt Buber zum Ich-Es, dem monologischen und technischen Leben ab. Bernhard Casper (1983) deutet Buber dahin, dass letzterer damit die "uneigentliche Wirklichkeit" (S. 140ID) meint.

Aber was meint Buber mit dem Terminus "wirkliches Leben" und gehört diesbezüglich Technik zum unwirklichen Leben? Martin Buber, der 1878 in Wien geboren und 1965 in Jerusalem gestorben ist, war kein Maschinenstürmer und Sozialromantiker. Er wollte vielmehr ein neues Denken entwickeln, das eine binäre Logik überwindet. Dieses Denken sieht das Ich des Menschen als eine sich relational verwirklichende Anderheit, die mit Worten nur unzulänglich erfasst wird, was der Grund sein kann, warum Buber seine Gedanken keiner Systematik unterwirft und Technik als Ich-Es selten thematisiert. Dennoch bezieht er Stellung:

Zur Technik widersprach Buber (Rabindranath) Tagores These über die "seelenlose Technisierung der westlichen Völker" und sagte: "Er (Tagore) möge sich ... einen Mann vorstellen, der auf seinem Rücken ein schweres Wahrzeichen bergaufwärts trägt, um es auf dem Gipfel einzupflanzen. Einer kommt ihm halbwegs entgegen, schüttelt den Kopf über sein wahnwitziges Verhalten und rät ihm, die schwere Last doch abzuwerfen, dann würde ihm der Aufstieg leicht werden. "Nicht so", antwortete der Mann, "ich steige ja auf, um oben dieses Wahrzeichen aufzustellen. Ich halte es und es hält mich." In dieser Lage sei heut, trotz allem, der Menschengeist. Er dürfe die Last seiner Zivilisation nicht abwerfen, denn in ihr berge sich ein hoher Wert, der erst aufstrahlen würde, wenn sie aus der Sphäre des innern Widerstreits in die reine Gipfelluft der Gerechtigkeit und des Friedens gelange" (Nachlese, S. 186).

Unter Technik selbst versteht Buber eine sich wiederholende Tätigkeit bzw. Erfahrung des Menschen mit einem Werkzeug (vgl. UB, S. 22), und diese Erfahrung ist eingeschränkter als eine mit den Menschen:

"Ein rein technisches Verhältnis aber kann kein wesentliches sein, weil hier nicht das ganze Wesen und die ganze Wirklichkeit des Dinges, zu dem man sich verhält, in das Verhältnis eingeht, sondern eben nur seine Verwendbarkeit zu einem bestimmten Zweck, seine technische Eignung. … Das Technische ist nur das leicht Überblickbare, das leicht Erklärbare, das Koordinierte" (PdM, S. 118f.)

Und noch in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts sagt er zum Thema "menschliche Werte in einer Welt von Maschinen" über die Beziehung zwischen Mensch und Werk, dass wir auf Technik nicht verzichten können, vielmehr gehe es "um die Möglichkeit einer Humanisierung der Technik" (Pfade 1985, S. 310):

"Wir können sie (die Technisierung) nicht abwerfen, und unsere schwere und verantwortungsvolle Aufgabe besteht darin, die menschlichen, humanen Werte in die Technik hineinzutragen" (ebd., 312).

Damit wird Bubers Position deutlich, wenn er betont, dass wir ohne ein Ich-Es nicht leben können, auch wenn das Ich des Menschen hier "keinen Ort zur Entfaltung" (ID, 68) findet. Um Buber diesbezüglich genauer zu verstehen, soll im Folgenden an das Menschenbild des dialogischen Denkens erinnert bzw. das Doppelverhältnis des Menschen zur Welt gedanklich entfaltet werden. In einem weiteren Schritt erfolgt eine Vertiefung der dialogphilosophischen Position zur Technik, deren kritisches Potential sich in Verbindung mit Gedanken von Dietmar Kamper abschließend zeigt.

 

Das Doppelverhältnis des Menschen zur Welt

Laut dialogischen Denkens lebt der Mensch im so genannten zweifachen Verhältnis zur Welt. Der Mensch steht entweder in einer Ich-Du-Beziehung oder in einem Ich-Es-Verhältnis. Mit Ich-Du ist Begegnung, der Dialog zwischen zwei Subjekten gemeint. Beim Ich-Es-Verhältnis macht der Mensch seine Umwelt zu einem Objekt. Dazu gehören dann auch alle Erfahrungen, die ein Mensch mit den Dingen, der Welt und auch mit seinem Mitmenschen macht. So gesehen pendelt der Mensch zwischen einer Ich-Es-Welt und einer Ich-Du-Welt. Letztere beinhaltet den Umgang mit den so genannten "geistigen Wesenheiten", zu der die Natur, schöpferisches Denken und die Kunst zählen. Distanziert sich der Mensch zu den Dingen und analysiert sie, befindet er sich im Ich-Es-Modus. Lässt er sich auf die Anderheit des Anderen wirklich ein, passiert eine Begegnung, in der das Ich am Du wird.

Die Ich-Es-Wirklichkeit ist entsprechend beherrschbar und verfügbar. Die Dinge grenzen aneinander und liegen erkennbar nebeneinander. Die Ich-Du-Wirklichkeit kann nicht gemacht werden. Sie geschieht. Infolgedessen ist Technik als Ding oder als erfahrende Fähigkeit ein Gegenstand, zu dem der Mensch in einem Ich-Es-Verhältnis steht. Allerdings entwickelt der Mensch auch die Technik und entscheidet, wie er sie einsetzt (vgl. UB, 22). Dementsprechend kann Technik, die der Mensch als Mittel benutzt, Begegnung sogar verhindern:

"Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung" (ID, 12).

Unmittelbares Leben kann jedoch ebenso laut Dialogik mit den Dingen geschehen, wenn z. B. beim künstlerischen Gestalten sich ein Zwischen entwickelt und ein Werden mit der Kunst passiert. In der unmittelbaren Hingabe kann "Gegenwartendes und Gegenwährendes" sich enthüllen (vgl. UB, 26). Solange die technische Bewegung des Menschen dem künstlerischem Modus fern bleibt und nur als Objekt behandelt wird, verliert der Mensch sein präsentes Sein mit ihr und entsprechend nimmt Buber Folgendes wahr:

"Gegenstand ist nicht die Dauer, sondern der Stillstand, das Innehalten, das Abbrechen, das Sichversteifen, die Abgehobenheit, die Beziehungslosigkeit, die Präsenzlosigkeit. Wesenheiten werden in der Gegenwart gelebt, Gegenstände in der Vergangenheit" (ID, 13).

Den Umständen gemäß akzeptiert Buber das ambivalente Sein des Menschen einerseits, und andererseits differenziert er kritisch die jeweiligen Ich-Modi im Ich-Es und Ich-Du:

"Das Grundwort Ich-Es ist nicht vom Übel - wie die Materie nicht vom Übel ist. Es ist vom Übel - wie die Materie sich anmaßt, das Seiende zu sein. Wenn der Mensch es walten läßt, überwuchert ihn die unablässig wachsende Eswelt, entwirklicht sich ihm das eigne Ich …" (ID, 44).

Das Ich des Ich-Es nennt er "Eigenwesen" und das Ich des Ich-Du "Person". Das Ich des Eigenwesens ist das sich selbst bewusste Subjekt, das die Dinge benutzt und sich von den Sachen abhebt. Das Ich der Person wird sich als "Subjektivität" bewusst und lebt in Verbundenheit, die in sich Selbstzweck ist. Im Ich-Es entfernt sich der Mensch von dieser zwischenmenschlichen Verbundenheit, die für Buber das wirkliche Sein kennzeichnet. Das Abgetrenntsein des Ich-Es allein manifestiert das Festhalten an den Dingen und verhindert den Dialog. Erst wenn der Mensch beide Pole lebt, zeigt sich das geschichtliche Werden der Menschen. Nutzt der Mensch infolgedessen Technik nur als Zweck und lässt sich von ihr beherrschen, verliert er seine einzigartige Existenz und lebt im Schein einer solchen.

In seinem bekanntesten Werk Ich und Du analysiert Buber in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg eine "fortschreitende Zunahme der Eswelt …, weil die "technische Leistung … die gegenständliche Welt erweitert" (ebd. 35f.), was laut Buber nicht gestoppt werden kann:

"Es wäre absurd, sie (=die moderne Entwicklung) zurückschrauben zu wollen - und gelänge das Absurde, so wäre zugleich der ungeheure Präzisionsapparat dieser Zivilisation zerstört, der allein der ungeheuer angewachsenen Menschheit das Leben ermöglicht" (ID, 46).

Dennoch mahnt er, dass mit dem Übergewicht an gebrauchenden Fähigkeiten - für mich eine andere Ausdrucksweise für den gegenwärtigen Kompetenz-Ausbildungswahn - die "Beziehungskraft" des Menschen schwindet. Allerdings und nur aus dieser Kraft allein, so Buber, kann Dialog, das Miteinander unter den Menschen, echte Veränderung geschehen, was wiederum für den Ich-Du-Modus spricht und für Technik als Methode. Nur im gesprochenen Wort zwischen Ich und Du vermag der Mensch sich wahrhaftig erkennen und über sein eigenes Leben frei entscheiden. Solange Technik am gesprochenen Wort teilhat und nicht das Wort ersetzt, wird wirkliche Begegnung möglich. Denn nicht die Technik ist von Übel, sondern der Mensch, der unfähig ist, Du zu sagen. Für Buber gilt es, das Gespräch immer wieder zu öffnen und unsere Beziehungskraft am Gegenständlichen in der Welt zu bewähren, so auch an der Technik. Buber folgt damit, was er "Dienen einer übervernünftigen Wahrheit, die Vernunft einschließt" nennt (ID, 47f.). So gilt es, jeden Tag neu zu entscheiden, wo die Grenze zwischen Ich-Du und Ich-Es verläuft, denn der Geist kann die Eswelt durchdringen und mit Gewalt verändern, welches sich im Dusagenkönnen realisiert. Technik ohne Geist ist für Buber ein "in die Eswelt versenktes Gebiet". Aus dialogischer Sicht entsteht durch unser geistiges Loslassen der Technik erst die Zwangherrschaft der selbigen:

"… das hieße nur die in die Eswelt versenkten Gebiete endgültig der Zwingherrschaft preisgeben, den Geist aber vollends entwirklichen; denn selbständig ins Leben wirkend ist der Geist niemals an sich, sondern an der Welt; mit seiner die Eswelt durchdringenden und verwandelnden Gewalt" (ID, 48f.).

Die Anerkennung der herrschenden Technik ist daher Ausdruck eines entgeisteten Dogmas oder "betonierten Bewusstseins". Der Glaube an ein uneingeschränktes Unterwerfen zeigt, wie wenig sich der Mensch dem Du öffnet. Er schätzt die Wirklichkeit des Geistes als Lebensmacht (vgl. PdM, 154) nicht, und dadurch verwickelt er sich noch tiefer mit der Eswelt. Geist ist für Buber diesbezüglich eine Kraft, die nicht einfach ist, sondern unerwartet passiert. Entsprechend setzt Buber auf den echten Dialog: Erst neu gewonnene Beziehungskraft hilft dem Menschen diese Unfreiheit zu erkennen. Allerdings ist dies nur mit einem anderen Glauben möglich:

"Der freie Mensch ist der ohne Willkür wollende. Er glaubt an die Wirklichkeit; das heißt: er glaubt an die reale Verbundenheit der realen Zweiheit Ich und Du. … Er lauscht dem aus sich Werdenden, dem Weg des Wesens in der Welt … Er glaubt, sagte ich; damit ist aber gesagt: er begegnet" (ID, 57f.).

Mit dem Bild des Werdens, das Buber hier entwirft, zeigt sich die Offenheit der technischen Entwicklung und dessen Unvorhersehbarkeit der Wirkung in beide Richtungen. Technik kann die Eswelt erhöhen und die Beziehungskraft des Menschen beeinflussen, wie sie auch die Kraft zum Dusagen unterstützen kann.

Indessen ist letztere Fähigkeit nicht technisch zu erwerben und leicht zu verwirklichen. Um Du sagen zu können, muss der Mensch sich vom "erfahrenden und gebrauchenden Umgang mit den Dingen lösen" (ID, 99). Dafür braucht der Mensch die mit Einsamkeit verbundene Distanz zu den Dingen. Doch auch im Distanzieren und im Einsam-Werden zeigt sich die ambivalente Doppelbewegung des Menschen. Nicht die Einsamkeit, in der ein geistiger Selbstgenuss gesucht wird, beinhaltet die Distanzierungsbewegung, vielmehr führt der Mensch in der "Burg der Absonderung" ein Gespräch mit dem "Du seines Lebens", d. h. außerhalb seines Selbst, um zu prüfen, welche Handlung existentiell notwendig ist. Doch aus der existentiellen Position des Alleinseins drängt, laut Dialogik, eine weitere Erkenntnis in den Vordergrund: Es ist die Einsicht über die Verseelung der Welt (Buber 65, 134ff.).

Foto: Cornelia MuthCornelia Muth

 

Die Verseelung der Welt

Damit beschreibt Buber - ebenfalls in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts -, dass der Mensch nicht mehr zwischen Ich und Welt bzw. dem materiellen Sein unterscheidet. Mensch und Welt scheinen miteinander verschmolzen zu sein. Die Welt wird dann einerseits als Teil der Seele verstanden, wobei Seele die eigentliche Kontaktfläche zur Welt ist. Andererseits wird die Seele auch als Teil der Welt gesehen, was wiederum dazu führt, die Seele als Produkt der Welt zu halten. Beide Sichtweisen verhindern jedoch das Dusagen, weil kein Zwischenraum vorhanden ist. Übertragen auf ein Leben mit der Technik als materialisiertes Sein liegt infolgedessen ein Distanzierungshindernis in der mentalen, d. h. in unserer Vorstellung vollzogenen Vermengung des Ichs mit Technik. Doch steht, laut dialogischer Ontologie, dieses Ich in Kontakt mit der Welt, was gleichzeitig die Seele überhaupt erst hervorbringt. Mit anderen Worten: Die Seele ist das Ich, aber nicht ichhaft, d. h. essentiell oder materialistisch. Die Verseelung der Technik als Welt geschieht demnach, wenn der Mensch nicht mehr grundsätzlich zwischen sich und Technik unterscheidet. Sie vollzieht sich strukturell jedoch erst, wenn der Mensch gleichzeitig den Geist zwischen Ich und Du aufgibt. Das heißt, wenn Menschen nicht mehr einander das Du sagen, verflacht das nicht-welthafte Sein des Dialogs und stattdessen breitet sich das welthafte Sein, die Seele aus. Vollzieht der Mensch dabei dann keine Unterscheidung zwischen Materie und Ich, verseelt er das Welthafte, die Technik, was Buber den "Seelenwahn des Geistes" nennt: Der Mensch verwechselt die Welt der Erfahrung und des Gebrauchen der Technik mit dem Leben zwischen Ich und Du. Dabei übersieht er, dass der Dialog jenseits von Raum und Zeit geschieht und Begegnung nicht gemacht werden kann, sowie auch keine Regeln um dieser Willen möglich sind. Die echte Welt der Beziehung ist vielmehr "unzuverlässig, undicht, dauerlos, unübersehbar und gefährlich" (ID, 74). Wir können die Begegnung nicht haben. Allein die Technik als Eswelt hat eine übersehbare Ordnung, der wir uns unterwerfen können, aber nicht müssen. Hiermit wird deutlich, dass eine Humanisierung der Technik nicht eindeutig verläuft, auch diese ist nicht ohne Gefahren, was die moderne Krise des Menschen charakterisiert. Die technischen Werke entwickeln eine eigentümliche Unabhängigkeit, und der Mensch bleibt hinter seinen eigenen Werken zurück (vgl. Sontag 2008, 38). Öffnen wir uns der Welt der Technik als Eswelt im Ich-Du-Modus, geben wir Kontrolle auf und riskieren uns. Deswegen nennt Buber das dialogische Leben ein Wandern auf dem schmalen Grat. Die Hinwendung zum Du als Anderheit geschieht für Buber als freiheitlicher Akt. Wir Menschen haben seiner Ansicht nach, anders als bei Levinas, die Wahl: Wir können und dürfen uns entscheiden, ob wir uns der Du-Welt öffnen und eine Begegnung jenseits der Technik aber nicht ohne sie führen wollen. So entwickelt Buber in der Tat zu seinen Lebzeiten wahrhaftige "Pfade in Utopia", was das zwischenmenschliche Leben im Geiste betrifft. Diesbezüglich schreibt er während des Zweiten Weltkrieges in Jerusalem zum Problem des Menschen in hebräischer Sprache, dass die nachfolgenden Generationen kein Bild mehr über die Welt besitzen werden,

"… und der Mensch, der sie (= die Welt) denkt, lebt nicht mehr in ihr" (PdM, S. 35).

Und 70 Jahre später scheint sich das, was Buber kritisch visioniert hat, vergrößert zu haben: Eine Zunahme der Eswelt, die Dietmar Kamper "Bildstörungen" nennt. Statt von der Verseelung der Welt spricht er von "imaginärer Immanenz":

"Die Menschen leben heute nicht in der Welt. Sie leben nicht einmal in der Sprache. Sie leben vielmehr in ihren Bildern, in den Bildern, die sie sich von der Welt, von sich selbst und von den anderen Menschen gemacht haben, die man ihnen von der Welt, von sich selbst und von den andren Menschen gemacht hat. Und sie leben eher schlecht als reich in dieser imaginären Immanenz. Sie sterben daran" (94, 7).

Ähnlich wie Buber sucht Kamper Wege, Zeit und Geschichte nicht als Verhängnis zu betrachten. Kamper entwickelt Zuversicht durch die Forderung nach einem Denken, das des Anderen und der Zeit bedarf. In der Einbildungskraft jenseits der Verseelung der Welt, also dem Imaginären sieht er eine "Spindel der Notwendigkeit", die "Mythen, Geschichten und Theorien ‚spinnt'" (86, 15f.). Buber treibt diese Forderung noch weiter, wenn er das Spinnen als noch zu schicksalshaft bebildert sieht. Erst im Bewusstsein beider Bilder des Imaginären und der Einbildungskraft tut sich aus seiner Sicht in der Not das Rettende auf. Für ihn wie für Kamper geht der schöpferische Weg über die Ohren. Hier macht sich für Buber die Unwissenheit breit. Indem ich auf meine Existenz höre, mein Du anspreche, zeigt sich der nächste Schritt beim Vollzug desgleichen, auch wenn wir laut Kamper bodenlos wandeln oder mit Buber in der heiligen Unsicherheit.

Infolgedessen halten beide Denker ihre Modelle über die Welt und die Menschen offen. Kampers und Bubers erkenntnistheoretischen Haltungen sind existentiell und als Reflektierende an Sozialität gebunden. Dabei sind sie einerseits frei und andererseits begrenzt in Hinblick auf Zukunftsszenarien. Beide setzen auf das so genannte Dritte, auf das Unvorhersehbare bzw. auf das "unvordenkliche Leben", füllen den Begriff jedoch unterschiedlich. Kamper will sich mit dem Dritten vom einheitlichen und symmetrischen Gesetz des Imaginären absetzen, Buber zeigt damit auf eine Wirklichkeit, wie anfangs gesagt, die übersehen wird, auf den Raum zwischen Ich und Du. Allein diese, so seine Position, hilft dem Menschen, Technik menschlich zu bewältigen, und zwar so viel ich vermag, bis zu meiner Demarkationslinie. Auch im letzteren Begriff stimmen die beiden überein, wenn sie dem "toten Geist" (Kamper, 14), d. h. der technischen Logik entrinnen wollen. Kamper setzt dabei auf den Freudschen Dreischritt "Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten", Buber weist auf unsere Begegnungskraft, die "eine vernachlässigte, verdunkelte Urwirklichkeit" sichtbar macht (UB, 44).

 

Literaturliste

Buber, Martin: Nachlesen, Verlag Lambert Schneider, Gerlingen 1993.

Buber, Martin: Ich und Du, Reclam, Stuttgart 1983.

Buber, Martin: Das Problem des Menschen, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1982.

Buber, Martin: Urdistanz und Beziehung. Beiträge zu einer philosophischen Anthropologie, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1978.

Kamper, Dietmar: Bildstörungen - Im Orbit des Imaginären, Cantz Verlag, Ostfildern bei Stuttgart 1994.

Kamper, Dietmar: Die gespaltene Phantasie. Kurze Einführung in eine lange Geschichte, Hermann Luchtermann Verlag, Darmstadt und Neuwied 1986.

Muth, Cornelia: Erwachsenenbildung als transkulturelle Dialogik, Wochenschau-Verlag, Schwalbach/Ts 2011.

Muth, Cornelia: Jede mediale Beziehung ist ein Ich-Es-Verhältnis - Martin Buber als Medienpädagoge? In: Koffi Abah Edem u. a. : Im Vertrauen und in Verantwortung - 10 Jahre dialogische Pädagogik, ibidem-Verlag, Stuttgart 2005, S. 91-104.

Schrey, Heinz-Horst: Dialogisches Denken, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991.

Sontag, Dörthe: Die modernen Kommunikationsmittel und das Dialogische Prinzip. Bedrohung oder Chance für unser Menschsein? Eine dialogphilosophische Reflexion unserer zwischenmenschlichen Beziehungen im Zeitalter der Mediatisierung, ibidem-Verlag, Stuttgart 2008

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Foto: Cornelia MuthCornelia Muth

Dr. Cornelia Muth, Jahrgang 1961, Diplom-Pädagogin und Erwachsenenbildnerin, Gestaltpädagogin (IGG Berlin), Systemische Coachin (BIF). Promotion an der Freien Universität Berlin. Habilitation an der Universität Kassel. Seit 2001 Professorin an der Fachhochschule Bielefeld am Fachbereich Sozialwesen, dort zuständig für Erziehungswissenschaft und Sozialphilosophie, Schwerpunkte: Martin Buber, Dialogisches Denken, Praxisentwicklungsforschung, Transkulturalität.

1995 wurde sie ausgezeichnet mit dem Schader-Migrationspreis für das Projekt Interkulturelle Hochschulbildung, 2002 als Mitglied eines Team-Teaching zu Global Social Work mit dem Synergiepreis für beispielhafte Interdisziplinarität der Fachhochschule Bielefeld und 2004 mit gleichem Preis für Duo-Teaching zur Dialogischen Diagnostik. Mitglied in der Martin-Buber-Gesellschaft, dort arbeitet sie in der pädagogischen Sektion mit. Wichtigste Lehre/LehrerInnen: Abgeschiedenheit und Menschen, die zuhören bzw. schweigen können.

Der hier zuerst veröffentlichte Beitrag ist die überarbeitete Fassung ihres Vortrags auf der Jahrestagung 2012 der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft - Sektion Allgemeine Pädagogik - Kommission Pädagogische Anthropologie am 5. 10. 2012 in Baden-Baden. Erstveröffentlichung an dieser Stelle.

Hinweis des Herausgebers: Bitte beachten Sie auch die weiteren Beiträge von Cornelia Muth, die in unserer Zeitschrift Gestaltkritik erschienen sind (www.gestaltkritik.de).

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