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Evelyn Mennenöh
Die Kraft der Erinnerung
Eine Predigt


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

  Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 2-2004):

Evelyn Mennenöh
Die Kraft der Erinnerung
Eine Predigt

Foto: Evelyn MennenöhEvelyn Mennenöh

 

Seit über zehn Jahren hatte ich keine Predigt mehr gehalten und drei Monate zuvor hatte ich alle meine theologischen Bücher an Menschen verschenkt, von denen ich dachte, dass sie die Bücher besser gebrauchen könnten als ich. Ich war gespannt auf die Leere im Regal und auf das, was diese Leere dann füllen würde.

Dann kam die Anfrage von Pfarrerin Almut Begemann aus Dortmund, ob ich mir vorstellen könnte, eine Predigt zum Thema »Die Kraft der Erinnerung« aus der Sicht einer Psychotherapeutin zu halten. Mit zwiespältigen Gefühlen habe ich schließlich zugesagt. Interessant war für mich die Möglichkeit meine beiden Lebensfäden als Theologin und Therapeutin zu verknüpfen.

Die Predigt habe ich gehalten im Rahmen der regelmäßig stattfindenden feministischen Gottesdienste in St. Petri in Dortmund.

St. Petri ist eine »City-Kirche« und bietet Veranstaltungen für Menschen an, die sich im traditionellen Gemeindeleben mit ihren spirituellen Bedürfnissen nicht wieder finden können.

Die feministischen Gottesdienstreihen finden jeweils am letzten Sonntag im Monat statt. Die Predigerinnen kommen aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern und sind nicht nur Theologinnen.

An den Sonntagen zuvor sprachen Verena Bruchhagen über »Erinnerungsprothesen - Schöpferische Konstruktionen für die Zukunft? (Lukas 24,8. 11. und 1. Korintherbrief 15,5)«und Dr. Britta Jüngst über »Befreiende Erinnerung. Frauen vor mir erzählen von der Freiheit. (5. Buch Mose 26, 5-9)«. Besucht wird dieser Gottesdienst keineswegs nur von Frauen, sondern auch von einer großen Anzahl Männer.

Ich denke, es unterscheidet eine Predigt von einer Rede, dass sie eine Botschaft besonderer Art enthält. Wenn ich predige, frage ich mich, was kann ich als Person, aus meinem Leben, aus meiner Glaubenserfahrung zu diesem Thema oder Text wirklich aufrichtig sagen, was auch andere Menschen für sich wichtig finden könnten? Ich habe kein Interesse daran, theologische Wahrheiten zu verkündigen, da ich nicht daran glaube, dass es sie gibt. Für mich gibt es authentische Erfahrungen mit dem Glauben, die ich auf dem Hintergrund meines theologischen Ansatzes reflektiere. In einer Predigt lade ich ein, dies mit mir gemeinsam zu tun und das Eigene dabei zu finden.

Mein Anliegen bei dieser Predigt war, Menschen zu ermutigen, ihre Erinnerungen zu suchen und ihnen nachzugehen, wenn sie sich finden lassen wollen. Die Erfahrung »heil« zu werden und das Gefühl »ganz«zu sein durch Wiederaneignung von verlorenen Lebenszeiten war etwas, was ich selbst aus meinem Leben kenne. Es gibt mir Stärke und Präsenz im Leben. Für mich ist dies eine Erfahrung, wie ich die Metapher des »Anbrechens des Reiches Gottes im eigenen Leben«füllen kann.

Das Verknüpfen meiner theologischen und therapeutischen Lebensfäden im Gleichnis vom verlorenen Groschen fiel mir nicht schwer.

Der Ansatz von Wolfgang Harnisch in der Gleichnisforschung kommt mir entgegen. Er geht davon aus, dass biblische Gleichnisse autonome Sprachgebilde sind, die eine Eigenständigkeit haben und nicht aus ihrem Kontext heraus erschlossen werden müssen. Sie wirken aus sich heraus und sprechen die Zuhörenden direkt an. Sie regen an, sich mit ihnen auseinander zu setzen und haben eben keine allgemeine und eindeutige Bedeutung. Ihre Bedeutung erschließt sich jedem einzelnen und jeder einzelnen persönlich.

Dieser Ansatz korrespondiert für mich mit der gestalttherapeutischen Methode der Identifikation, um unmittelbaren Zugang zu dem Text und seinen Teilen zu bekommen.

Außerdem wollte ich den Begriff »Reich Gottes«füllen. Gleichnisse sind Erzählungen, die Menschen innerlich und äußerlich bewegen können und die Tür öffnen, um das Reich Gottes im eigenen Leben anbrechen zu lassen. Was könnte das Anbrechen des Reiches Gottes in meinem Leben sein oder v.a. wie könnte es sein? Dies habe ich versucht, aus meiner Sicht zu beantworten.

Therapeutische Anregungen waren für mich in diesem Zusammenhang: der Zugang zu den eigenen Anteilen über die Identifikation, der Umgang mit offenen Gestalten, die Botschaften von Körpererinnerungen, das Erfahren von Heilung und Erkenntnisse der Traumaforschung über primäre, sekundäre und tertiäre Dissoziation bei Traumatisierungen und die Spaltung in eine »emotionale Person«und eine »anscheinend normale Person«in Folge von traumatischen Erlebnissen.

Der Gottesdienst war mit über hundert Menschen sehr gut besucht.

Schon während der offen gestalteten Mahlfeier sprachen mich viele Menschen an und erzählten vom eigenen Suchen und von eigenen Therapien, von erleichternden und schmerzhaften Prozessen. Dass dies mit Brot und Wein in der Hand geschah, schien mir bedeutsam. Die Atmosphäre war schon hier sehr dicht.

Im Anschluss an den Gottesdienst fand ein Predigtnachgespräch statt, zu dem noch ca. 25 Menschen blieben. Ich selbst bin jetzt noch berührt, wenn ich daran denke. Es erzählten ältere Männer von ihren Kriegserlebnissen, die sie am liebsten verdrängt hätten, aber dann doch angesehen und angenommen haben, weil sie für das Weiterleben wichtig waren. Eine Frau berichtete von ihrem unbedingten Bedürfnis ihre Erinnerungen aus der Kriegszeit zu finden, weil sie spürte, dass sie zu ihr gehörten und sie nur so heil und leicht werden könnte. Es flossen Tränen, die alle miteinander aushalten konnten, obwohl sich die Menschen fremd waren. In dieser dichten Atmosphäre wurden dann auch theologische und therapeutische Fragen tiefer gehend miteinander beredet. Insofern hat sich mein Wunsch, dass die Zuhörenden ihr Eigenes finden mögen durch das, was ich von mir erzähle, zumindest in dieser Gruppe erfüllt.

 

Die wiedergefundene Zeit
Von Erinnerungen, die heilen…
Lk. 15,8f.

Die Kraft der Erinnerung.

Ja, in den Erinnerungen liegt wirklich eine besondere Kraft. Erst durch unsere Lebenserfahrungen und die Tatsache, dass wir diese auch erinnern können und somit Zugriff auf sie haben, werden wir zu Persönlichkeiten. Wir bekommen eine Lebensgeschichte. Ohne Erinnerung wären wir wie ein unbeschriebenes Blatt. Insofern sind Erinnerungen identitätsbildend.

Wichtige Erinnerungen können jedoch auch verloren gehen, teilweise oder auch vollständig. Mitunter möchten sie wiedergefunden werden. Und wenn ich etwas wiederfinden will, muss ich es zuvor suchen. Insofern ist das »Auf der Suche sein" der erste Schritt auf dem Weg des Wiederfindens von Lebens-Zeiten, die mir abhanden gekommen sind.

Der Predigttext erzählt kurz und prägnant von einer Suche. Er macht deutlich, wie Suchen sich überhaupt vollzieht. Und das machte ihn für mich interessant.

Welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an, kehrt das Haus und sucht sorgfältig, bis sie ihn findet?

Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und sagt: »Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen wiedergefunden, den ich verloren hatte.«

 

Eigentlich wird hier nur berichtet, dass eine Frau etwas sucht und was sie tut, als sie es gefunden hat. Mehr nicht. Und doch hat dieses Gleichnis einen seltsamen Glanz, eine tiefe Bildsprache, die mich sofort angesprochen hat. Es drängt mich, zu antworten.

Gleichnisse sind Erzählungen, die Menschen innerlich und äußerlich bewegen können. Ohne Deutung, durch sich selbst, ihre Bilder, ihre Sprache, die Reduktion des Geschehens, die Fokussierung des wirklich Wichtigen.

Was passiert denn, wenn ich diesem Gleichnis als ganzer Mensch, als ganze Frau oder ganzer Mann begegne? Wenn ich versuche, seine Bedeutung für mich zu erhaschen? Wenn ich nicht deute, interpretiere, erkläre, erforsche, sondern mich ihm einfach stelle. Indem ich hineinsehe, hineinhöre, hineinfühle in diese Geschichte? Deshalb identifiziere ich mich jetzt einmal mit den Teilen der Geschichte und lasse sie so durch mich hindurch sprechen.

 

Die Frau

Ich bin die Frau, die gerade einen von meinen 10 Silbergroschen verloren hat. Ich weiß genau, dass er hier ist. Ich bin ja nicht hinausgegangen. Also muss er hier sein. Aber wo? Ich bin schon ganz konfus vom Nachdenken, wo ich ihn verloren haben könnte. Aber nur Nachdenken bringt mich nicht weiter. Ich muss einfach suchen. Ich zünde jetzt eine Lampe an und suche ganz sorgfältig alles ab. Und wenn ich ihn dann immer noch nicht gefunden habe, dann fege ich alles aus. Alles, bis in die hinterletzte Ecke. Irgendwann werde ich ihn so finden.

 

Die neun Silbergroschen

Wir sind die neun Silbergroschen. Wir haben einen von uns verloren. Wo und wie, wissen wir nicht mehr genau. Irgendwie war er plötzlich fort. Wir können ihn nicht suchen, denn wir liegen gut verwahrt in einem Beutel. Wir müssen einfach warten, ob er zu uns zurückfindet. Wir fühlen uns nicht vollständig. Irgendwie ist da, wo er war, ein Loch.

 

Der verlorene Groschen

Ich bin verloren gegangen. Gewollt oder nicht? Ich weiß es selbst nicht. Ich erinnere mich nicht mehr, wie das passiert ist. Jetzt liege ich hier jedenfalls im Dunkeln und warte. Warte darauf, dass ich gefunden werde. Ich möchte wieder ans Licht, einen Wert haben für meine Besitzerin, auf den sie zurückgreifen kann.

 

Das Licht

Ich bin das Licht. Eine Öllampe. Ich gebe mir Mühe so hell zu leuchten, wie ich kann. Ich möchte dazu beitragen, dass der Groschen wiedergefunden wird. Ich beleuchte alles ganz ruhig und versuche nicht soviel zu flackern, damit die Frau alles genau sehen kann und sorgfältig suchen kann. Mein Licht bestrahlt immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit. Der wird dann aber ganz hell und die Frau kann sich auf diesen Bereich konzentrieren bei ihrer Suche. Der Rest tritt in den Hintergrund.

 

Das Haus

In mir findet all das statt: Das Verlorengehen, das Suchen, das Erleuchten, das Ausfegen, das Wiederfinden, das Feiern. In mir ist ganz schön was los: Die Fülle des Lebens. Ich habe aber auch viele verstaubte Ecken und in einigen liegen wirklich Schätze. Da bin ich immer froh, wenn die gefunden werden. Das Lebensgefühl der Frau, die in mir wohnt, verändert sich nämlich dadurch. Wenn die Frau einen solchen Schatz gefunden hat, wird sie zufriedener und stärker.

 

Die Freundinnen und Nachbarinnen

Wir sind die Freundinnen und Nachbarinnen. Wir hörten erst jetzt, dass unsere Freundin etwas verloren hatte und es vermisste. Wir sind froh, dass sie es nun gefunden hat. Denn aus irgendeinem Grund konnten wir ihr bei der Suche nicht helfen. Das musste sie wohl allein tun. Doch wir freuen uns nun so sehr mit ihr, dass sie nun wieder zum Leben das hat, was sie braucht, um ihr Leben zu gestalten.

So spricht das Gleichnis durch mich. Und es zeigt dadurch auch Teile von mir, die im Zusammenhang mit dem Suchen und Finden für mich wichtig oder typisch sind:

Meine Verunsicherung und das Gefühl der Konfusion, wenn ich etwas suche, was ich meine verloren zu haben. Aber auch meine Beharrlichkeit, mit der ich die Suche immer wieder aufnehme und weiterverfolge. Mein Bedürfnis, meine staubigen Ecken auszuleuchten und auszufegen. Und die Erfahrung, dass ich dabei manchmal Schätze finde, die mich zufrieden und stark machen. Erfahrungsschätze, auf die ich mich berufen und auf die ich bauen kann. Erfahrungsschätze, die mir meinen Lebensgrund und meine Verankerung als Mensch in dieser Welt geben. Mein Bedürfnis, diese Erfahrungen mit anderen zu teilen oder ihnen zu ermöglichen, solche Erfahrungen selbst zu machen.

So spricht das Gleichnis durch mich. Wie spricht es durch Sie oder durch Dich?

Vielleicht haben Sie oder Ihr eben, als ich die Teile des Gleichnisses durch mich habe sprechen lassen, bemerkt, dass Sie an einer Stelle gerne hätten verweilen wollen, dass Ihnen hier oder dort noch viel mehr eingefallen wäre, dass bei Ihnen ganz andere Assoziationen auftauchten als bei mir. Das ist gut so. Da wird deutlich, dass das Gleichnis Sie und Euch anspricht als ganz eigene Person, mit ihrer eigenen Geschichte.

Vielleicht ist es auch schön, sich später noch einmal Zeit für sich zu nehmen und dieser ganz persönlichen Gleichnissprache Raum zu geben- indem Sie Ihre Gedanken dazu aufschreiben oder sich mit anderen darüber austauschen.

Wie sich Suchen und Finden mit der ganzen Person vollzieht, das macht das Gleichnis geradezu erlebbar, wenn ich mich darauf einlasse. Doch heute sind wir nicht nur auf der Suche nach dem bloßen Groschen, wir sind auch auf der Suche nach dem, was wir zum Leben brauchen - unsere Erinnerungen.

Erinnerungen, die uns verloren gegangen sind. Wie und wo, wissen wir manchmal gar nicht.

Erinnerungen, die uns stärker, zufriedener und heiler machen, wenn wir sie denn nach sorgfältiger Suche gefunden haben.

Gerade im Alltag spüre ich sehr wohl, wenn ich auf solch einer Suche bin: Ich fühle mich unausgeglichen, bin unzufrieden, fühle mich in den Strukturen meines Alltags gefangen. Das soll alles gewesen sein? Will ich das hier alles wirklich so? Oder will ich noch etwas ganz Anderes?

Mein ganzer Körper, meine Seele, mein Geist ist auf der Suche…

Manchmal, wenn die Suche den ganzen Menschen ergriffen hat, wenn die ganze Person nach Veränderung strebt, dann kann sich das auch in deutlichen psychosomatischen oder psychischen Symptomen äußern: Hautkrankheiten (wir wollen aus der Haut fahren), Herzschmerz (das Herz wird uns schwer), Magengeschwüre (wir wollen nicht mehr alles schlucken), Kopfschmerzen (wir zerbrechen uns den Kopf) oder Nervliche Anspannungen, Depressionen, Ängste.

Die Kraft, die Veränderung in uns will, bricht sowohl den Körper als auch die Psyche auf und macht sie beide dadurch erst wieder zugänglich.

Ich spüre also, dass ich auf der Suche bin.

Doch was habe ich verloren? Das ist manchmal gar nicht so klar. Was kann ich finden, was mich wieder zur Ruhe bringt, was mich zufrieden macht, was mich in eine neue Balance bringt, was mich körperlich und seelisch heilt?

Meine Erfahrung ist: Es gibt Zeiten in unserem Leben, die wir verloren haben und die uns nicht unmittelbar zugänglich sind. Doch wenn wir uns aufmachen, sie zu suchen und wenn wir sie wiederfinden können, dann kommen wir zur Ruhe und können heil werden.

Erinnerungen an Situationen, die wir erlebt haben…

An Gefühle, die wir gespürt haben…

An Bilder, die wir gesehen haben…

An Gerüche, die uns in die Nase stiegen…

An Berührungen, die uns nahe und manchmal auch zu nahe gekommen sind.

 

Aus therapeutischer Sicht gibt es

- Erinnerungen, die uns vollständig (so wie es für uns notwendig ist) zur Verfügung stehen. Wir erinnern das Ereignis, wir sehen die Bilder, die dazugehörenden Gefühle sind uns präsent und vertraut.

Ich erinnere z.B. ein Erlebnis, das ich mit meiner Oma hatte. Ich war ungefähr 4 Jahre alt. In der Nähe unseres Hauses gab es eine große Wiese, die mit Kamillenpflanzen übersäht war. Als meine Oma uns besuchte und diese Wiese sah, meinte sie: »Da gehen wir nachher Kamille pflücken!", was wir auch taten. Sie nahm eine Schubkarre mit und meinte, wir sollten diese doch bis oben hin voll mit Kamillenblüten sammeln. Also nur die Blüten! Nicht das Kraut! Das war für mich als Kind eine riesige Menge! Diese Situation ist für mich noch heute lebendig: Ich sehe meine Oma, wie sie durch die Wolken von Kamille streift. Ich spüre die Pflanzen, die mir bis zur Hüfte gingen - so klein war ich - an meinen Beinen entlang streichen. Ich habe noch den Duft der Kamille in der Nase, spüre die Sonne auf meinem Haar. Und ich höre noch, was sie mir beim Pflücken alles erzählte: Wie ich die echte Kamille von der Hundskamille unterscheiden kann, wie ich die Blüten pflücken muss, wie sie die Blüten konserviert, welche Krankheiten durch sie geheilt werden können…. Diese Erinnerung ist noch ganz lebendig in mir und ich kann auf sie zurückgreifen!

Eine solche Erinnerung ist ein Stück Lebensgeschichte, die mir zur Verfügung steht und die mir ein Gefühl von Wurzeln, Erdung und Lebensgrundlage gibt. Diese Erinnerung gehört zu mir als Person. Sie ist identitätsbildend. Mein tiefes Zutrauen in die menschlichen Selbstheilungskräfte und die alternative Medizin rührt bestimmt auch aus diesem Erlebnis her und prägt mein Lebensgefühl.

- Es gibt aber auch Erinnerungen, die uns nicht in vollem Maße zur Verfügung stehen. Manchmal kenne ich zwar das Ereignis, aber die Bilder oder Gefühle dazu sind verloren gegangen. Manchmal habe ich Gefühle und Bilder, die ich nicht mit Ereignissen und Geschichten verbinden kann. Diese fragmentierten Erinnerungen sind ein Schutzmechanismus des Körpers und der Psyche, wenn das gesamte Erleben der Situation zu belastend für den Menschen ist. Dies geschieht häufig bei sehr stark emotional geladenen Erfahrungen, die mit Schmerz, Angst, Wut oder Trauer einhergehen. Z.B. wenn in der Kindheit der geliebte Opa stirbt oder ein Geschwister oder ein Elternteil

lebensgefährlich erkrankt.

 

Wenn wir in solchen Situationen keine Möglichkeit haben, die Gefühle oder Bilder zu verarbeiten, sprich, mit jemandem an unserer Seite auszuhalten, getröstet zu werden und zu durchleben, dann werden die belastenden Gefühle und Bilder verdrängt. In der Kindheit ist dies häufig der Fall, da ein Kind nicht weiß, was es in solchen Situationen braucht und wie es sich Hilfe organisieren kann. Im Erwachsenenalter passiert dies, wenn einfach keine Möglichkeit besteht, den nötigen Beistand zu bekommen. Z.B. in Unfallsituationen, bei Überfällen und sicher auch in Kriegszeiten.

 

Ich will nicht sagen alle, aber viele von uns tragen solche Erfahrungen, an denen ein Teil der Erinnerung fehlt, mit sich herum. Solche verdrängten Erinnerungen sind wie offene Wunden unserer Seele, die uns Energie und Kraft nehmen.

Doch verdrängt ist nur verdrängt, aber nicht verloren.

Mit anderen Worten: Verloren ist verloren, aber eben nicht weg!

 

Auch verloren gegangene Erfahrungen und Empfindungen können wir wiederfinden!

Meist nicht durch Nachdenken!

Oftmals passiert das so, dass uns irgendetwas in unserem Alltag oder in unserem Erleben an einen Teil dieser Erfahrung erinnert - nicht auf sprachlicher Ebene, sondern auf der Ebene der Körpererinnerung, der Gerüche, der Geräusche, der Bewegungen. Mit dieser nicht-sprachlichen Erinnerung werden dann die verlorenen Gefühle und Bilder an die Oberfläche des Bewusstseins gespült.

Gott sei Dank, finde ich.

Denn an diesem Punkt kann auch Heilung beginnen. Indem ich nämlich diese Erinnerungen nochmals durchlebe, z.B. in einer Therapie, und so verarbeite, eigne ich sie mir wieder an. D.h. ein Teil von mir (mein Schmerz, meine Hilflosigkeit…), der verloren gegangen war und den ich nicht aushalten konnte, dem kann ich nun begegnen. Und ich kann ihn aushalten und annehmen - heute - und somit gehört er dann wieder zu mir und steht mir als Lebens-Erfahrung wieder zur Verfügung. Dies zu erleben, löst wirklich ein Gefühl von heil werden aus. Und es bereichert mich als Person.

 

In meiner Familie gab es z.B. die Geschichte, die ich von klein auf kannte: Ein paar Stunden nach meiner Geburt fand mich eine Tante völlig blau angelaufen im Körbchen. Sie riss mich hoch, klopfte mir auf den Rücken, bis ich wieder anfing zu atmen. Ich hatte wohl Fruchtwasser eingeatmet, das sich verschleimt hatte in den Atemwegen und mir jegliche Luft zum Atmen genommen hatte.

Die Geschichte kannte ich also schon, aber all das, was diese Situation begleitet hatte an Gefühlen, Empfindungen, Geräuschen erinnerte ich nicht. »Kein Wunder", wird vielleicht manche von Ihnen sagen: »an Ereignisse vor dem dritten Lebensjahr erinnern wir uns sowieso nicht!". Tja, das dachte ich auch. Bis zu einem Tag vor ca. 10 Jahren. Ich musste einen harmlosen operativen Eingriff ambulant vornehmen lassen. Doch während der Narkose bin ich in einen Sauerstoffmangel geraten.

Ich wusste zunächst gar nicht, was nach dieser Operation mit mir los war: Ich hatte ständig Atemnot, fühlte mich so schlapp, als würden mir allmählich all meine Lebenskräfte entweichen, und sowie ich das Gefühl hatte, jemand versteht mich nicht - sowohl akustisch als auch intellektuell - bin ich in Tränen ausgebrochen. Mir kam das selbst sehr seltsam vor. In einer Einzeltherapie bin ich dann auf die Suche gegangen nach den Ursachen für mein schlechtes Befinden.

Gefunden habe ich diese alte Situation, einige Stunden nach meiner Geburt. Der Sauerstoffmangel in der Narkose hat meinen Körper an diese Situation erinnert. Das Wiederfinden geschah also über eine Körpererinnerung, die die Bilder und Empfindungen aus dieser alten Situation wieder lebendig erlebbar werden ließ: Mein Gefühl nicht genügend Luft zu bekommen, das Gefühl, dass meine Lebenskräfte mir entwichen, die Verzweiflung darüber, dass ich mich nicht verständlich machen konnte. Das waren alte Gefühle!

In der Therapie sah ich die Bilder, die ich damals gesehen hatte, spürte die Kälte und Dunkelheit um mich herum, spürte meine Hilflosigkeit, weil ich nicht mehr genug Luft hatte, um zu schreien und auf mich aufmerksam zu machen. Und ich spürte auch meine innere Stärke oder Zähigkeit, mit der ich es geschafft hatte, doch zu überleben.

Vielleicht denken Sie nun. O je, das muss ja ganz fürchterlich gewesen sein!

Nein, war es nicht! Sicher war es auch schmerzhaft, aber gleichzeitig wurde auch eine ungeheure Lebenskraft in mir aktiviert. Ich war so neugierig, was ich in dieser verlorenen Zeit finden würde. Ein Staunen, meine Güte, neue alte Welten tun sich auf und zeigen sich! Was werde ich da erleben und wiederfinden? Ich war auch so dankbar, dass ich das Verlorene mir wieder aneignen konnte.

Suchen musste ich zwar allein, aber geteilt habe ich diese Erlebnisse mit meiner Therapeutin - sowohl den Schmerz als auch die Freude!

Nach diesen Prozessen hatte ich das Gefühl, eine alte Wunde würde sich schließen und konnte nun endlich heilen.

Ich selbst fühlte mich dadurch stärker, weil ich einfach mehr Lebenserfahrung zur Verfügung hatte. Dieses Erlebnis wurde zu einem Teil von mir: Ja, das gehört zu mir. Das ist eine wichtige Erfahrung für mein Lebensgefühl. Das bin ich. So bin ich geworden.

Wiedergefundene Zeit. Die Kraft der Erinnerung.

 

Ein Gleichnis ist eine Erzählung, die Menschen innerlich und äußerlich bewegen kann und die Tür öffnet, um das Reich Gottes im eigenen Leben anbrechen zu lassen.

Ich verbinde mit dem Anbrechen des Reiches Gottes im eigenen Leben gerade diese innere und äußere Stärke und Präsenz, die wächst, wenn ich wiederfinde, was eigentlich zu mir gehört.

Das Ganzwerden, das Heilwerden.

 

Frauen sind erwiesenermaßen für solche Entwicklungsprozesse besonders aufgeschlossen: Sie besuchen Selbsterfahrungskurse, nehmen an spirituellen Workshops teil, tauschen sich in Gesprächskreisen aus, begeben sich häufiger in Therapie.

Ich würde mich freuen, wenn die Stärke und die Präsenz, die sie dadurch entwickeln, mehr Raum im gesellschaftlichen Leben bekäme. Es stimmt zwar, dass ein solcher Prozess des heilsamen Erinnerns zunächst eine zutiefst persönliche Erfahrung ist. Doch das Feiern der neu gewonnenen Stärke ist doch etwas, was Frauen auch öffentlich tun könnten, damit sie Raum bekommt und Auswirkungen zeigen kann.

 

Im Gleichnis vom verlorenen Groschen ruft die Frau ihre Freundinnen und Nachbarinnen, um sich mit ihnen zu freuen. Sie geht in die Öffentlichkeit, lässt andere teilhaben an der Freude.

Ich habe gemerkt, dass bei uns Formen des Feierns nach Prozessen von wiedergefundener Zeit fehlen. Das Zeigen von neuerworbener innerer und äußerer Stärke gehört leider nicht zum gesellschaftlichen Repertoire.

Wie schade eigentlich!

Aber vielleicht kann das heute hier ein Ort sein, wo dies Raum haben könnte: Wo wir uns erinnern, wo wir Stärke und Präsenz spüren, wo wir einander locken, auf die Suche zu gehen - nach dem Reich Gottes im eigenen Leben. Dem Heilwerden durch wiedergefundene Zeit.

 

So soll es sein.

Amen.

 

Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Foto: Evelyn MennenöhEvelyn Mennenöh

Evelyn Mennenöh

Jg. 1958, Ev. Theologin, Studium in Marburg und Bochum.

Trainerin, Gestalttherapeutin (DVG), Supervisorin (DVG).

Gestalttherapie- Ausbildung bei Wendela ter Horst, Daan van Praag und Gert Mehles im Gestaltinstitut im Rheinland (GIR).

Körpertherapeutische Weiterbildung bei Eva Fischer und Daan van Praag (beide Amsterdam).

Evelyn Mennenöh arbeitet seit vielen Jahren freiberuflich in der Fortbildung, Team- bzw. Einzelsupervision und Therapie.

Die obige Predigt erscheint an dieser Stelle zum ersten Mal in Schriftform.

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