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Helga G. Matzko
Ein gestalttherapeutischer Behandlungsentwurf
für Suchterkrankungen


Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritik verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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 Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 2-2000):

Helga G. Matzko
Ein gestalttherapeutischer Behandlungsentwurf
für Suchterkrankungen

 

Foto: Helga MatzkoHelga G. Matzko

Ein mehrphasiger Transformationsprozeß

Die traditionellen, während der letzten 40 Jahre entwickelten Behandlungsformen für Suchterkrankungen basieren auf unterschiedlichen entwicklungstheoretischen Modellen. Keines dieser Modelle berücksichtigt jedoch den vielschichtigen Einfluß der Sucht auf sämtliche Aspekte des funktionalen Selbst. Der flexible »mehrphasige Transformationprozeß« (MPTP), der in diesem Beitrag vorgestellt wird, basiert auf den Grundlagen der Gestalttherapie und insbesondere dem »Zyklus des Erlebens«, der den fortschreitenden Charakter von Wachstum und Veränderung im Prozeß der Transformation beschreibt. Aus der Perspektive des MPTP wird die Bedeutung der Sucht und des Süchtigen neu definiert. Anhand von Fallbeispielen soll der Behandlungsprozeß verdeutlicht, und die den einzelnen Phasen entsprechenden Therapieschritte vorgestellt werden.

Die Entwicklung von Suchtverhalten und Abhängigkeit ist verschiedentlich als Folge früher Entwicklungsstörungen (Freud, 1920; Kohut, 1977), als Bewältigungsversuch (Adler, 1992), als fehlgeschlagenes Lernverhalten (Bandura, 1977), als Krankheit und genetische Veranlagung (Jellineck, 1969) oder auch als spirituelle Verderbtheit (Alcoholics Anonymous, 1955) dargestellt worden.

Folglich basieren die Behandlungsformen, die während der letzten 40 Jahre entwickelt wurden, auf den entsprechenden theoretischen Grundüberzeugungen. Sie alle zielen darauf ab, diejenigen Aspekte des Menschen zu verändern, die als fehlerhaft betrachtet und für selbstzerstörerische Verhaltens- und Lebensweisen verantwortlich gemacht werden, nämlich Denken, Verhalten, soziales Lernen und den Mangel an spiritueller Kraft. Zwar können diesen Ansätzen gewisse Behandlungserfolge nachgewiesen werden (Marlatt & Gordon, 1985; Miller & Rollnick, 1991), jedoch berücksichtigen sie die Vielschichtigkeit des problematischen Einflusses auf sämtliche Aspekte des (dys)funktionalen Selbst nicht in der Weise, wie eine ganzheitliche gestalttherapeutische Behandlungsperspektive das vermag.

Carlock, Klaus und Shaw (1991) zeigen, wie gestalttherapeutische Behandlungsansätze angewandt werden können, um den durch die Anonymen Alkoholiker eingeführten zwölfstufigen Heilungsprozeß zu intensivieren. Bis heute wurde jedoch noch kein ausschließlich auf gestalttherapeutischen Konzepten basierender Behandlungsentwurf entwickelt. In diesem Beitrag wird der Ansatz eines flexiblen, mehrphasigen Transformationsprozesses (MPTP) vorgestellt, der die grundlegenden Konzepte der Gestalttherapie im allgemeinen, insbesondere aber den »Zyklus des Erlebens« (Polster & Polster, 1983; Zinker, 1993; Melnick & Nevis, 1992) berücksichtigt, der den fortschreitenden Charakter von persönlichem Wachstum und Transformation beschreibt.

Dieser Ansatz soll auf folgende Weise dargestellt werden:

Zum ersten wird der Zyklus des Erlebens als Metapher beschrieben, um die Brauchbarkeit und Wirksamkeit verschiedener adaptiver Verhaltensweisen suchtkranker Menschen in ihrer Transformation zu verdeutlichen. In diesem Zusammenhang werden die Konzepte der Sucht und des Süchtigen aus der Sichtweise dieses Modells definiert.

Zweitens wird das Modell des mehrphasigen Transformationsprozesses (MPTP) beschrieben, also: was dieses Modell ausmacht und wie aus seiner Sicht Suchtprozesse einerseits, und die aufeinanderfolgende Entwicklung der Behandlungsstadien andererseits definiert werden können.

Drittens werden sowohl Fallstudien diskutiert, die den Behandlungsverlauf auf der Grundlage von MPTP verdeutlichen, als auch die den einzelnen Phasen entsprechenden therapeutischen Maßnahmen.

Um den Rahmen dieser Darstellung nicht zu sprengen, muß auf die Diskussion einer möglichen genetischen Ätiologie sowie neurologischer und physiologischer Einflüsse von Suchterkrankungen auf das Individuum verzichtet werden. Dasselbe gilt für die Berücksichtigung dieser Faktoren innerhalb der Diskussion des Behandlungsverlaufs. Die Autorin geht davon aus, daß das Fachpersonal entweder bereits um diese Faktoren weiß und die Behandlungsvorschläge entsprechend interpretieren kann, oder aber Mittel und Wege kennt, um sich die notwendigen Kenntnisse zu verschaffen.

 

Was ist Gestalttherapie?

Die Gestalttherapie basiert auf der Integration einer Vielzahl unterschiedlicher Konzepte aus der Psychoanalyse, dem Humanismus (Holismus, Existentialismus, Phänomenologie) und der Gestaltpsychologie. Gestalttherapie ist ein beschreibender Ansatz, der die Kluft zwischen Behaviorismus und Phänomenologie überbrückt, und beide Modelle in sich integriert (Latner, 1986). Sie erforscht und verdeutlicht, wie die Prozesse und die Komplexität des inneren Lebens, der persönlichen Erfahrungen und der Interaktion mit anderen in der Umgebung wahrgenommen, erlebt, interpretiert und beantwortet werden. In gestalttherapeutischer Terminologie heißt das, daß der Gestalttherapeut darauf achtet, wie das Individuum innerlich erlebte Empfindungen wahrnimmt (Rohdaten), auswählt, bearbeitet, zensiert und diese als Bedürfniszustände identifiziert, um dann eine lebendige, eindrückliche und interessante Figur (Gestalt) vor einem reichhaltig strukturierten und beweglichen Hintergrund zu formen. Dieser formlose Hintergrund setzt sich aus der Gesamtheit vergangener Erfahrungen, gegenwärtigen Erlebens und unerledigter Situationen zusammen (Polster & Polster, 1983). Der gesunde Mensch ist in der Lage herauszufinden, was er von der Umwelt benötigt, um diese Bedürfnisse auf eine wachstumsorientierte Weise befriedigen zu können. Damit dieser Kreislauf von Bedürfnis und Befriedigung stattfinden kann, muß die Person sensorisch offen sein, um in der Gegenwart einen lebendigen Kontakt herzustellen und mit der Umwelt in Interaktion zu treten.

Goodman definiert das Selbst als »System der ständig neuen Kontakte« (Perls et al., 1991, S. 17). Doch die Komplexität des einzelnen reicht weit über das bloße Empfangen äußerer und innerer Reize hinaus. Er befindet sich in einem komplexen Prozeß, in dem er die Umgebung auf ihre Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung hin überprüft, ihre Reize ordnet, ihre vielfältigen Einzelaspekte strukturiert und organisisert und das alles dann harmonisiert, um eine ich-syntone und wachstumsfördernde Erfahrung der Bedürfnisbefriedigung zu machen (Polster & Polster, 1983; Zinker, 1993; Wheeler, 1993; Yontef, 1999; Perls et al., 1991).

 

Der Zyklus des Erlebens

Wie bereits dargestellt, definiert die Gestalttherapie solide geistige Gesundheit als die Fähigkeit des Organismus, Wünsche und Bedürfnisse jederzeit klar erkennen und erleben zu können und betont die dazu notwendige Fähigkeit und Flexibilität, diese Bedürfnisse auf kontaktvolle Weise und »hinreichend gut« befriedigen zu können. Der Zyklus des Erlebens ist eigentlich nur eine Darstellungsform von Perls Modell der organismischen Selbstregulation (1969). (1)

Zum Beispiel wird man sich dann bewußt, daß man durstig ist, wenn man dem aufsteigenden Bedürfnis nach Wasser erlaubt, figürlich zu werden (Abbildung 1):

o durch das Erkennen der Empfindungen (trockener Hals)

o die richtige Erkenntnis und das Gewahrsein des Bedürfnisses (Ich habe Durst)

o die Mobilisierung von Energie (das Interesse und die Auswahl eines bedürfnisstillenden Mittels - Wasser)

o die Handlung (man dreht den Wasserhahn auf und füllt ein Glas mit Wasser)

o den Kontakt (kühles Wasser zu trinken fühlt sich gut an)

o den Rückzug (man wendet sich von der Suche nach Bedürfnisidentifizierung und -befriedigung ab), Assimilation, Begegnung mit der Leere, Anerkennung (man genießt den Prozeß der Bedürfnisbefriedigung und hat das Gefühl, etwas erreicht zu haben, was wiederum zur Offenheit für neue Figurbildungen führt).

Abb. 1

 

Während der Zyklus des Erlebens klar erkennen läßt, daß einfache Aktivitäten (wie im obigen Beispiel) in mehreren Phasen ablaufen, erfordern kompliziertere Aufgaben komplexere und variationsreichere Antwortsequenzen, die dem dargestellten Kreislauf u.U. nicht ganz exakt folgen. Der Zyklus des Erlebens gleicht eher einer Spirale, die sich über die Metapher des Kreises hinausbewegt (Sonia Nevis, 1996, persönliche Mitteilung).

 

Der unterbrochene Zyklus

Ist der natürliche Prozeß der Schließung des Erlebenszyklus an einem beliebigen Punkt blockiert, dann muß zum Ausgleich auf weniger gesunde Anpassungsleistungen zurückgegriffen werden. Betrachten wir die durstige Person aus dem obigen Beispiel, die aus uns unbekannten Gründen einen anderen Prozeß durchläuft (Abbildung 2). Zum Beispiel:

o Sie hat entweder nur dumpfe oder gar keine Empfindungen. Daher ist sie nicht in der Lage, deutlich zu spüren und folgerichtig zu schließen, daß sie Durst hat (Dissoziation).

o Ihr Gewahrsein könnte sich auf den Gedanken richten, daß sie keinen Durst haben (Introjektion) und sich stattdessen um die durstleidenden Menschen in Afrika sorgen sollte (Projektion).

o Die Mobilisierung von Energie kann entweder ganz fehlen oder aber matt, übersteigert oder aufgrund von Langeweile, Verzweiflung oder Furcht fehlgeleitet sein (Retroflektion oder Deflektion).

o Die tatsächliche Handlung kann zufällig oder rigide/vorhersagbar sein, d.h. man greift zur Droge (Deflektion).

o Der Kontakt bleibt unbefriedigend, weil das wirkliche Bedürfnis nicht identifiziert bzw. fehlinterpretiert wurde. Bei dem Versuch, ungestillte und fehlinterpretierte Bedürfnisse zu befriedigen, werden schließlich zwanghafte Suchtmuster etabliert (Konfluenz).

o Rückzug und Bedürfnisbefriedigung können nicht stattfinden.

Abb. 2

 

Der beeinträchtigte SuchtkreislaufVerzerrungen können an jedem beliebigen Punkt des Erlebenszyklus auftreten. Im Selbsterleben eines Substanzmißbrauch betreibenden Menschen treten Störungen i.d.R. relativ früh, also während der Empfindungs- oder der Gewahrseinsphase auf. Im täglichen Leben sind sich die meisten Menschen ihres inneren Erlebens von Empfindungen zwar nicht sehr bewußt; dennoch sind sie aber in der Lage, Bedürfnisse richtig wahrzunehmen und zu identifizieren, wobei sie ihr Gewahrsein und ihre Energie vor allem auf die Handlung richten. Bei Menschen, deren Substanzmißbrauch sich in einem maßlosen Zugriff bzw. in Überdosierung äußert, zeigt sich generell eine eingeschränkte Fähigkeit, Empfindungen zu spüren und darauf zu reagieren. Häufig reagieren sie bereits auf kleinste sensorische Reize überempfindlich, oder aber sie benötigen außergewöhnlich starke Reize, um überhaupt reagieren zu können. Hinzu kommt, daß die wenigsten erfahrungsgesicherte und verläßliche Erkenntnisse darüber haben, wie sie Gefühle des Unbehagens angemessen mildern können (Khantzian, Halliday & McAuliffe, 1990; Khantzian, 1993). Wie bei den meisten Prozessen, deren einzelne Phasen sich überlappen, muß die Wiederherstellung oder Heilung an der frühesten Entwicklungsstörung ansetzen und sich von dort aus fortsetzen. Der Zyklus des Erlebens dient dabei als nützlicher Referenzrahmen, mit dessen Hilfe sowohl die individuellen Beeinträchtigungen als auch die persönlichen Bedürfnisse eingeschätzt werden können und ein Behandlungsentwurf konzipiert werden kann.

 

Was ist Sucht, und wer ist der Süchtige?

Entsprechend dem Gestaltprinzip, daß das Ganze größer ist als die Summe seiner Teile (Perls et al., 1991), beschreibt der MPTP-Ansatz das »Wie« und »Was« der Sucht auf wertneutrale Weise, anstatt sie mit allgemeinen Etiketten zu versehen. Bezeichnungen wie »Der Süchtige« oder »Der Drogenkonsument« z.B. gelten als einengend und insofern als kontraproduktiv. Stattdessen werden Suchtverhaltensweisen so verstanden, daß sie jeweils nur einen Aspekt des gesamten funktionalen Selbst darstellen (wie bedeutsam dieser auch sein mag) und nicht die ganze Persönlichkeit definieren. Aus Sicht des MPTP-Ansatzes resultiert die Sucht aus dem Beharren auf unangemessenen weil unzeitgemäßen sekundären Anpassungsweisen bzw. sekundären kreativen Anpassungen in dem Bemühen, die persönliche Integrität und den Kontakt mit sich selbst und anderen aufrechtzuerhalten. Diese Sichtweise unterscheidet sich deutlich von Konzepten, die Sucht als Krankheit oder Beeinträchtigung im Zusammenhang mit Charakterstörungen betrachtet.

Auf der Grundlage des MPTP-Ansatzes ist ein »Süchtiger« jemand, der zuviel Alkohol, Nahrungsmittel, Nikotin oder andere Substanzen konsumiert und sein Leben dadurch unkontrollierbar macht (»zuviel« bezeichnet hier ein Maß, das ungewollte Folgen nach sich zieht). Das meint auch Perls, wenn er den Alkoholiker als »erwachsenen Säugling« beschreibt. »Im Grunde will der Trinker seine Umwelt in sich hineintrinken - leicht und total mit ihr in eins fließen ohne die Erregung (die ihn eine mühsame Anstrengung kostet) des Kontaktaufnehmens, Zerstörens und Assimilierens« seiner Erfahrungen (Perls et al., 1991, S. 214f.). Ungeachtet der Definition herrscht unter den verschiedenen Behandlungsmethoden (Jellineck, 1969; Black, 1979; Ackerman, 1986; Khantzian, Halliday & McAuliffe, 1990, Khantzian, 1993) Einigkeit darüber, daß die Sucht als Folge schmerzlicher und leidvoller Erinnerungen an die Kindheit auftreten kann, und zwar unabhängig von der möglichen Existenz genetischer Faktoren. Dennoch vollzieht sich der Prozeß der Gewöhnung auf der Verhaltensebene. Wenn das Verlangen, den gegenwärtigen Zustand zu verändern, sehr stark ist, entscheidet man sich dafür, etwas zu trinken oder eine Droge zu nehmen. Die Substanzen gelangen ja nicht von selbst in den Körper. Außerdem, und im Gegensatz zur landläufigen Auffassung, ist es nicht eine unzulängliche Kindheit, die einen zum Süchtigen macht, sondern das Festhalten an kreativen Anpassungen, die zwar früher einmal hilfreich waren, inzwischen aber unbrauchbar geworden sind, mit dem Ziel, das eigene Erleben erträglich zu machen (Perls et al., 1991). Freud (1920), Perls et al. (1994), Khantzian (1994) und Kohut (1977) sehen das Motiv von Suchtverhalten in dem Versuch, mit leidvollen Erfahrungen aus der Kindheit fertigzuwerden oder diese zu kaschieren. Diese veränderten, selbstgewählten Verhaltensweisen vermitteln einem die Illusion, da Kontrolle ausüben zu können, wo man einst keine hatte. Wie auch immer der Kausalzusammenhang erklärt werden mag, süchtige Menschen intensivieren ihre bereits als leidvoll erlebte Existenz und entwickeln infolge ihrer giftigen Beziehung zu bestimmten Substanzen eine hochgradig gestörte Lebensweise (Khantzian, 1993).

 

Kreative Anpassung

Freud (1920) erkannte, das die Entwicklung von Abwehrmechanismen, die zu einer zwanghaften Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen führt, einen Versuch darstellt, das persönliche Gleichgewicht herzustellen. In der Gestalttherapie wird diese Transformation von organischer Energie im Dienste des Individuums als kreative Anpassung bezeichnet (Polster & Polster, 1983; Zinker, 1993; Perls et al., 1991). Beispielsweise kann ein Kind lernen, sich als Reaktion auf schmerzhafte Schläge selbst zu betäuben und die Erfahrung abzuspalten. Solche Bewältigungsstrategien waren einmal kreativ, da sie aus einer Vielzahl möglicher Reaktionsweisen und Anpassungsmöglichkeiten ausgewählt wurden, weil sie die Erfahrung auf irgendeine Weise veränderten (Polster & Polster, 1983; Zinker, 1993; Latner, 1989; Yontef, 1999; Perls et al., 1991) und es dem Kind ermöglichten, emotional und/oder körperlich zu überleben. Bei heranreifenden Menschen allerdings erfordern streßvolle Erfahrungen differenziertere Anpassungsleistungen, die ich als sekundäre kreative Anpassungen oder als »Anpassungsstile« bezeichne, wie Wheeler (1993) vorschlägt. So stellt sich z.B. die Abspaltung als unwirksam heraus, sobald die soziale Einbindung ein höheres Maß an Flexibilität in den Wechselbeziehungen mit anderen erfordert. Und - wie bereits diskutiert wurde - ist die Frühentwicklung einmal gestört oder gehemmt, wird es zunehmend schwieriger, altersgemäße Bewältigungsformen zu entwickeln. Der Rückgriff auf Substanzen oder andere Formen von Suchtverhalten können zu willkommenen sekundären Anpassungsleistungen werden, die sich an die früheren kreativen Anpassungen anschließen. Bei Heranwachsenden oder Erwachsenen kann insbesondere Alkohol dazu dienen, die Selbstbetäubung zu intensivieren (Selbstmedikation), ebenso wie Kokain ein Mittel sein kann, sich zum Leben zu bringen. Und schließlich führen diese Arten der sekundären kreativen Anpassung, wie Drogenkonsum und/oder andere Gewöhnungspraktiken, auch zu einer gewissen Rigidisierung. Die Substanzbeschaffung rückt in den Vordergrund und geht zu Lasten anderer lebenserhaltender und -fördernder Aktivitäten. In der Terminologie der Gestalttherapie ist die Substanz damit zu einer »starren Figur« geworden, die solange wirkt, bis der einzelne die Sinnlosigkeit seines Handels erfährt, die Kontrolle verliert und sich entweder von selbst oder gezwungenermaßen einer Behandlung unterzieht.

 

Der Ansatz des mehrphasigen Transformationsprozesses

Perls (1969) schreibt, daß die Behandlung in ihren einzelnen Abschnitten sämtliche Aspekte des Lebens umfassen müsse, und an anderer Stelle (Perls et al., 1991, S. 214) erklärt er, »daß keine Behandlung dauernde Heilung oder mehr als bloß eine Unterdrückung bewirken kann, solange der Alkoholiker (der erwachsene »Säugling«) nicht in das Stadium des Beißens und Kauens [unassimilierter Lebenserfahrungen] hinüberfindet.«

Der MPTP-Ansatz für die Behandlung von Sucht gliedert sich in mehrere Phasen, die einander überlagern, und er ist geschlechterneutral. Er arbeitet beziehungsorientiert und stärkt die Fähigkeit, dem eigenen Leben die gewünschte Richtung zu geben. Dieser Behandlungsansatz eröffnet ein Gewahrsein dafür, »was ist«, und zwar im persönlichen, im familiären und im sozialen Umfeld. Völlige Abstinenz und/oder eine Reduzierung des Suchtverhaltens werden nicht vorgeschrieben. Vielmehr veranschaulicht dieser Ansatz den Respekt vor der Integrität des einzelnen und der Freiwilligkeit des Behandlungspozesses. Durch diese Haltung fördert er beim Patienten ein wachsendes Bewußtsein für das eigene Beteiligtsein an der Entstehung destruktiver Gewohnheiten und einer selbstzerstörerischen Lebensweise.

Abb. 3

 

Beisser (1997, S. 144) schreibt, daß »Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist«. Aus gestalttherapeutischer Sicht ist dies die paradoxe Theorie der Veränderung und der Prozeß, den sie hervorruft. In diesem Sinne hilft der Therapeut dem Patienten, das, was er tut und die Art, wie er es tut, im Hier-und-Jetzt zu verstärken (Perls et al., 1991).

Der mehrphasige Transformationsprozeß erkennt den Einfluß der persönlichen und familiären Geschichte im Zusammenhang von Zeit und Ort auf die Art des gegenwärtigen Erlebens und seiner Interpretation. In einem kontinuierlichen Fluß zwischen intersubjektiv erlebendem Selbst und anderen an der Kontaktgrenze innerhalb des verfügbaren Umfeldes erschafft der einzelne sich selbst und die anderen in jedem Augenblick neu (Spinelli, 1989; Wheeler, 1993; Perls et al., 1991).

Die Prozesse, die sich aus der Arbeit mit dem MPTP-Ansatz ergeben, folgen heuristisch gesehen den Entwicklungslinien des früher schon beschriebenen Zyklus des Erlebens. Die Fähigkeit, vom Empfinden zu Kontakt und Ausdruck überzugehen, läßt sich gleichermaßen auf kleine Arbeitseinheiten, auf den die gesamte Behandlung umspannenden Transformationsprozeß oder auf das ganze Leben übertragen.

 

Die einzelnen Behandlungsphasen

 

Phase 1: Exploration (Empfindungen)

Therapeutische Ansätze und Ziele:

o Zeige eine warmherzige, nicht-wertende Haltung

o Äußere Interesse; stelle motivierende Fragen, die nicht bedrohlich wirken

o Konzentriere dich auf die Bildung einer therapeutischen Allianz

o Gehe auftretenden Problemen nach

Obwohl Suchtpatienten zu Beginn der Therapie ihre Empfindungen im allgemeinen nur undeutlich und chaotisch wahrnehmen, geben diese Empfindungen klare Hinweise auf das generelle Unbehagen des Patienten, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht spezifiziert ist. Die erste Behandlungsphase des MPTP-Modells beinhaltet daher die gründliche Exploration derjenigen Probleme, die den Patienten veranlassen, zur Therapie zu kommen.

Frank kam freiwillig zur Therapie, »weil sein Leben auseinanderfiel.« Seine dritte Ehe ging in die Brüche, und er fühlte sich seinen vier Kindern entfremdet. Seine Eltern verleugneten ihn, nur »weil ich harte Zeiten durchmache.« Damit einher ging auch eine geschäftliche Notlage, die ihn an den Rand des Bankrotts brachte. Als wir seine Drogengeschichte aufnahmen, berichtete Frank mit sehr wenig Abneigung und Betroffenheit, daß er seit fast acht Jahren Kokain sniefte und rauchte, seit elf Jahren Marihuana rauchte und schon »sein Leben lang« Alkohol trank. Als Reaktion auf die Forderung seiner Frau, seinen Drogenkonsum ganz einzustellen, war er in der Lage, »das Trinken und andere Drogen etwas zu kontrollieren.« Nichtsdestoweniger war er mit den meisten Bereichen seines Lebens unzufrieden und wollte, daß ich »das« für ihn geradebiege.

Frank hatte, wie das für suchtanfällige Patienten typisch ist, wenn überhaupt, nur sehr wenig Gespür dafür, daß sein Suchtverhalten und die daraus resultierenden negativen Folgen zu seinem Untergang beitrugen. Er hoffte, durch irgend eine Art von »Magie« eine möglichst schnelle Besserung herbeiführen zu können. Diese Vorstellung beinhaltete auch den Wunsch, sich von den Konsequenzen des Drogenkonsums befreien zu können, anstatt ihn selbst einzustellen. Hinzu kam, daß Frank nur sehr wenig sensorisches Gewahrsein für sich selbst und seine Welt mitbrachte.

Seine Fähigkeit, Empfindungen wahrzunehmen reduzierte sich auf die Beschreibung eines vagen körperlichen Unbehagens. Er »sah« die Welt als »einen Haufen Kokain« und als »Fässer voll Alkohol.« Die Betonung lag von Anfang an auf der Entwicklung einer Ich-Du-Beziehung von Person zu Person (Buber, 1994), und nicht auf einer Ich-Es-Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem Süchtigen, wie sie von anderen Behandlungsmodellen gefordert wird (Alcoholics Anonymous, 1955; Jellineck, 1969; Marlatt & Gordon, 1985; Cermack, 1991). Ein nicht-wertender Ansatz betrachtet den »Widerstand« gegen die Behandlung (im Sinne eines traditionellen Suchtverständnisses) nicht als das eigentliche Problem. Vielmehr ist der nicht-direktive Therapeut daran interessiert, welche Funktionen der Widerstand hat. Diese Funktionen »werden zum Gegenstand der therapeutischen Arbeit, denn in ihnen zeigt der Patient die Störung der freien Funktion - und gleichzeitig grundlegende Aspekte seinerselbst« (Latner, 1986). Eine andere Vorgehensweise wäre nicht nur respektlos, sondern würde auch ihre eigene Vergeblichkeit unter Beweis stellen. Die Forschung zeigt, daß der Anspruch, den Substanzmißbrauch als das Problem anzusehen, das es um jeden Preis aufzugeben gilt, einen der entscheidendsten Faktoren für das Fehlschlagen der Behandlung darstellt.

 

Phase 2: Entwicklung (Figur/Grund-Entwicklung)

Therapeutische Ansätze und Ziele:

o Fördere die weitere Entfaltung der Geschichte des Patienten (Entwicklung des Grundes)

o Unterstütze die Erkenntnis von Lebensthemen und kreativen Anpassungsleistungen

o Fördere die Verdeutlichung von Einzelheiten (Auftauchen der Figur)

Um einen Kontext für die Schwierigkeiten des Patienten herzustellen, muß man dafür sorgen, daß sich das vorgebrachte Problem zu einem umfassenden, historischen Bild entwickeln kann, wobei der Fokus der Aufmerksamkeit auf Problemen innerhalb der Herkunftsfamilie wie frühen Beziehungsstörungen, Verwahrlosung, unzureichender Pflege und Trauma liegen muß.

Frank beschrieb das Leben in seinem Elternhaus als ziemlich normal. Er saß da, wie in sich selbst zusammengefallen, klang sehr flach und zeigte keinerlei Anzeichen von innerer Beteiligung. Er hatte zwei Geschwister - einen Bruder, der zwar erfolgreich, aber auch korrupt war, und eine Schwester mit drei Kindern von verschiedenen Männern. Mit beiden hatte er keinen Kontakt. Als Frank vier Jahre alt war, hatte sich sein Vater nach einem gescheiterten Geschäftsversuch das Leben genommen. Er lebte inmitten einer großen Verwandtschaft, und seine Mutter war die meiste Zeit über depressiv. Der sexuelle Mißbrauch durch mehrere Kinder und einige Erwachsene brachte seine sexuelle Identität später ins Wanken.

Als Kind aß er gerne und viel, war ein »fetter kleiner Kerl«, schüchtern, isoliert, ein armer Schüler, der »immer ins Leere starrte.« In der fünften Klasse brachten ein paar ältere Kinder ihn zum erstenmal mit Alkohol in Berührung. Später kam dann Marihuana hinzu. War er bis dahin eher introvertiert gewesen, änderte sich sein soziales Leben in seinen Zwanzigern dahingehend, daß er nun auch auch Kokain ausprobierte, zunehmend geselliger wurde und auch bei Frauen immer mehr Erfolg hatte.

Diese schwierige Geschichte zeigt Franks Kraft und Fähigkeit, sich anzupassen und verdeutlicht den Kontext seiner Bemühungen, die letztendlich zu seinem suchtbestimmten Lebensstil führten. Als er die chaotische Struktur seines persönlichen Hintergrundes aufdeckte und seine täglichen Bewältigungsmechanismen näher betrachtete, wurde er fähig, den Substanzmißbrauch als maßgeblichen Störfaktor seines derzeitigen Lebens zu erkennen. Frank benutzte den Alkohol zur Intensivierung seiner Fähigkeit, Schmerzen zu betäuben, und Kokain wurde zum willkommenen Ersatz für die Erfahrung, »innerlich tot« zu sein. Er verstand, wie er aus seinem internalisierten Glauben an Hilflosigkeit und Bestrafung und seinem tiefen Gefühl persönlicher Unzulänglichkeit Lebensthemen entwickelte. Durch diesen Prozeß erkannte er auch, daß es ihm an vielen Fähigkeiten mangelte, insbesondere wenn es darum ging, sich ein gesundes Urteil zu bilden oder Gefühlszustände zu erkennen und zu akzeptieren, aber auch in Beziehungsfragen oder Fragen der angemessenen Selbstpflege. Franks vielfältige, als negativ wahrgenommenen Charaktereigenschaften (Eigensinn, Entschlossenheit, Unverwüstlichkeit und Kreativität) wurden umgedeutet und als Stärken betrachtet. Dadurch wurden sie zu lebendigen und unterstützenden Strukturen innerhalb seines Rehabilitationsprozesses.

 

Phase 3: Erkenntnis/Differenzierung (Gewahrsein)

Therapeutische Ansätze und Ziele:

o Entwickle weiterhin Figur-Grund-Phänomene

o Fördere die Erkenntnis primärer und sekundärer kreativer Anpassungen im Kontext

o Geh mit dem auftauchenden Gewahrsein; fange an, innere und äußere Unterstützungsfunktionen zu entwickeln

o Hilf dem Patienten, sein neu auftauchendes Gewahrsein zu akzeptieren

o Baue die therapeutische Beziehung weiter aus

Die Fähigkeit, familiäre Hintergründe einerseits als Teil von, und andererseits im Unterschied zu aktuellen Problemen zu erkennen, führt ebenso wie die Erkenntnis der eigenen und einzigartigen Anpassungsstrategien zu einem kraftvollen Bewußtsein darüber, was man selbst und was andere zur gegenwärtigen Erfahrung beitragen. Das Bewußtsein der Unterschiede und Verbindungen zwischen Kindheitserfahrungen und späteren Bewältigungsversuchen geht häufig mit Erstaunen und Unglauben einher. Für den einzelnen Süchtigen ist es hilfreich, die entstandene Suchterfahrung als nachvollziehbare Anpassung an die Schwierigkeiten des Lebens zu betrachten. Das ist sowohl erleichternd als auch belastend, weil es Gefühle von Scham, Schuld, Wut und Selbstkritik über das eigene Dilemma gleichzeitig verringern und verstärken kann.

Am Beispiel von Susan, die einen völlig anderen Hintergrund als Frank hat, wird dieser Gefühlsaspekt, der aus dem Prozeß des Erkennens und Differenzierens der persönlichen Geschichte und des gegenwärtigen eigenen Dazutuns resultiert, besonders deutlich.

Susan war das einzige Kind berühmter Eltern. Sie wuchs in einer privilegierten Welt auf, wurde von Kindermädchen erzogen und besuchte Privatschulen. Um das Gefühl einer ständigen »Leere« in ihrem Leben aufzufüllen, fing Susan an, Drogen zu nehmen und sich schließlich zu prostituieren, um ihrer »geheimen« Neigung nachgehen zu können. Sie war wütend auf ihre Eltern und machte sie für ihre Misere verantwortlich. Es fiel ihr ebenso schwer, zu Männern und Drogen nein zu sagen, wie sie ihrem Vater und dem Gärtner gegenüber kein Nein herausbrachte, als diese sie in ihrer Kindheit sexuell ausgebeutet hatten. Sie hatte angefangen, den Zusammenhang zwischen ihrer heutigen Lebensweise und ihren gewohnten Strategien, mit vergangenen Erfahrungen fertigzuwerden zu sehen und wünschte sich nichts so sehr, wie dieses Chaos irgendwie in den Griff zu bekommen.

Susans Wut und ihre kritische Haltung sind nicht weiter verwunderlich, wenn man berücksichtigt, welche Einsichten sie über sich selbst, ihre aktuellen Lebensumstände und ihre Familiengeschichte gewann. Sie investierte eine Menge Energie in den Versuch, sich aus einer Position der Verantwortung für sich selbst zu befreien und eine Haltung von Hilflosigkeit und Vorwürfen einzunehmen. Indem Susan ihr Gewahrsein für sich selbst und ihr Verhalten steigerte, wurde ihr schließlich klar, daß ihre schmerzlichen Gefühle und ihre Vorwürfe aus dem Versuch resultierten, ihr von Mißhandlung gezeichnetes Leben unter Kontrolle zu behalten.

 

Phase 4: Interesse (Erregung)

Therapeutische Ansätze und Ziele:

o Unterstütze das Ansteigen von Interesse und Erregung

o Hilf dem Patienten, das Wie und Was seines Verhaltens einzuschätzen

o Zeige ihm, wie er körperliche Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse und nonverbale Kommunikationsformen und Signale erkennen kann

o Ermutige den Patienten, seine Körpersprache zu erforschen

o Ermutige ihn auch, den Grad seines Interesses im kontinuierlichen Transformationsprozeß zu erforschen

 

Die emotionale Energie, die dem neu erworbenen Gewahrsein entspringt, bringt Erregung mit sich und verstärkt das Interesse am therapeutischen Prozeß.(2) Dieser permanente Prozeß, in dem der Patient entsprechend seinem eigenen Tempo »bei dem bleibt, was ist«, unterstützt Interesse und Erregung und bildet die Grundlage für seine Motivation, mögliche Alternativen zu selbstzerstörerischem Verhalten in Betracht zu ziehen.

Im Laufe der Therapie erkannte Susan, inwiefern sie selbst zu ihrer belastenden Lebensweise beitrug und daß die Drogenabhängigkeit zu ihrem größten Stolperstein geworden war. Doch trotz ihres Gewahrseins und Interesses war sie sich kaum darüber im klaren, wie sie sich selbst blockierte und wie es ihr eigentlich ging. Susan hatte kein Gefühl von sich selbst als einem Menschen, der Entscheidungen fällt. Wenn sie ihre alltäglichen Erfahrungen beschrieb, bediente sie sich durchweg einer äußerst dramatischen Sprache, sie fühlte sich immer entweder erschöpft oder sehr angeregt, sah entweder sehr gepflegt oder sehr ungepflegt aus, und ihre Erfahrungen waren entweder erhaben oder äußerst kläglich. Sie gab sich verführerisch, und ihr Gespür für Klarheit in Richtung auf angemessenes Verhalten beschränkte sich darauf, daß sie sich attraktive Männer suchte, die ihr das Gefühl gaben, gebraucht zu werden. Zu dieser Zeit hatte sie keinen festen Wohnsitz, sondern lebte bei dem Mann, mit dem sie gerade zusammen war.

Susans Schwierigkeiten sind für dieses Klientel keineswegs ungewöhnlich. Das Interesse an der Erregung, die mit der Verwirrung einhergeht, bietet jedoch vielfältige Gelegenheiten für mögliche Verhaltensänderungen. Zum Beispiel war es hilfreich, Susan mit einer größeren Auswahl an Adjektiven vertraut zu machen, die es ihr ermöglichten, ihre Wahrnehmung zu differenzieren (z.B. prächtig, wunderschön, herrlich, hübsch, ansehnlich etc.). Da sie Wörter wie Verlassenheit, Zurückweisung oder Liebe gerne benutzte, lernte sie, zu beschreiben, welche Bedeutung diese Worte für sie hatten und welches körperliche Empfinden damit einherging. Sehr bald lernte Susan, daß jemand nicht »immer« etwas mit ihr machte, sondern nur manchmal, und daß nicht »jeder« sie haßte, sondern ihr Verhalten manchen Leuten nicht immer gefiel. Als ich sie einlud, ihre Körpersprache zu erforschen, um herauszufinden, wieviel von ihrer Geschichte sich in ihrer Haltung ausdrückte, zeigte sie sich interessiert und neugierig.

Gemeinsam erfanden wir Experimente, die ihr helfen sollten, ihre weitgehend abgestumpften Sinne wiederzuentdecken; zunächst in der Phantasie, und später dann, indem sie eigene Möglichkeiten entwarf, ihre Welt sehend, hörend, riechend, tastend und schmeckend zu erfahren. Um ihr Ziel in einer sicheren, strukturierten Umgebung erreichen zu können, schlug ich ihr vor, eine Zeit lang in eine Einrichtung für Drogenabhängige zu ziehen. Eine solche Umgebung hätte ihr helfen können, auf sich selbst achten zu lernen und Grenzen zu setzen. Doch Susan nahm diesen Vorschlag mit Gleichgültigkeit und Zurückhaltung auf. Zu dieser Zeit bestand das vornehmliche therapeutische Ziel darin, Susans Interesse an den vorgeschlagenen Aktivitäten so lange zu erhalten, bis sie positive und bestätigende Erfahrungen machen würde. Die Erfolge können schließlich die notwendigen Elemente für ihre innere Restrukturierung von der Unzulänglichkeit bis hin zur Angemessenheit liefern. Trotz Susans ursprünglichem und verständlichem Mißtrauen sich selbst und anderen gegenüber, unterstützte ihr Interesse an ihrem eigenen Transformationsprozeß ihr weitergehendes Engagement für unsere therapeutische Beziehung.

 

Phase 5: Vorbereitung (Mobilisierung von Energie)

Therapeutische Ansätze und Ziele:

o Hilf dem Patienten bei der Suche nach einer Peergruppe

o Unterstütze ihn, weitere Selbst-Funktionen kennenzulernen und mit Grenzkonzepten zu arbeiten

o Zeige ihm, wie er sein Verlangen und die dazugehörigen Auslöser erkennen kann

o Suche mit ihm gemeinsam nach Ersatzmöglichkeiten für Suchtmittel

Die Vorbereitungsphase beinhaltet die Mobilisierung der Energie, die während der Erregungsphase produziert wurde. Das Auftun von Möglichkeiten zur Reduzierung bzw. das Aufgeben von zwanghaftem Verhalten bildet das zentrale Thema dieses Behandlungsabschnitts. Zunächst geht es vor allem um eine sorgfältige Analyse der eigenen Entscheidungsprozesse. Erst danach kann entschieden werden, wie dieses rationale Bemühen auch emotional am besten unterstützt und in konkretes Verhalten umgesetzt werden kann.

Obwohl Frank einiges über sich selbst erfahren hatte, hatte er das Gefühl, nicht weiterzukommen. Er erklärte sich bereit, seine Möglichkeiten und die Frage, ob, wann und wie eine Reduzierung oder der Verzicht auf Drogenkonsum hilfreich sein könnte, noch genauer auszuloten. Er hielt seine Therapietermine ein und erkannte, daß seine Bemühungen, sich zu verabreden zum Scheitern verurteilt waren, solange er nicht genügend Energie investierte, um diesen nächsten Schritt genauer zu untersuchen. Das bedeutete, daß er herausfinden mußte, was ihn davon abhielt, seinen Drogenkonsum vollständig einzustellen.

Schon die Möglichkeit, eine Reduzierung seines Drogenkonsums und die daraus folgenden Konsequenzen in Betracht zu ziehen, verursachten bei Frank ein beträchtliches Unbehagen. Inzwischen hatte er genügend soziale Fähigkeiten entwickelt, daß ich ihm zutraute, an einer Selbsthilfegruppe teilzunehmen, um sich noch mehr Unterstützung zu holen. Seine Teilnahme und der Austausch innerhalb der Gruppe gaben ihm Halt in seinen Beziehungen und verminderten sein Gefühl des Alleinseins. Darüber hinaus verstärkte das Zusammensein mit anderen seine Fähigkeit, zwischenmenschliche Grenzen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Angesichts Franks traumatischer Erfahrung und seiner offensichtlichen Unfähigkeit, starke Gefühle zuzulassen, gab die therapeutische Beziehung ihm einen emotionalen Halt. In diesem Kontext von Unterstützung hatte er das Gefühl, »gehört zu werden«, wenn er über traumatische Erfahrungen sprach. Trotz seiner Neigung, sich auf Kindheitstraumata zu konzentrieren, mußte sich der primäre therapeutische Fokus auch weiterhin auf die Idee der Reduzierung oder Aufgabe seines Drogenkonsums richten (der Zeitrahmen, innerhalb dessen die Traumaarbeit beginnen kann, variiert von Patient zu Patient).

Wie bei Drogenabhängigen üblich, hatte Frank die Pflege seines Körpers völlig vernachlässigt. Er erkundigte sich nach Sport-, Entspannungs- und Meditationsprogrammen, unterzog sich einer umfassenden körperlichen Untersuchung und bekam Anweisungen für eine gesunde Ernährung. All das sind notwendige Maßnahmen zur Erhaltung der eigenen Gesundheit, die eine kontinuierliche Anstrengung verlangen und gewährleistet sein müssen, bevor man in die Konfrontationsphase einsteigen kann.

 

Phase 6: Konfrontation (Handlung)

Therapeutische Ansätze und Ziele:

o Hilf dem Patienten, den Ursprung von Konflikten und Ambivalenzen zu erkennen und sich damit auseinanderzusetzen

o Fördere die Erforschung von polaren Selbsten mithilfe der Zwei-Stuhl-Technik

o Unterstütze die auftauchende Erkenntnis und den Ausdruck von Gefühlen

o Hilf beim Erreichen kleiner Arbeitseinheiten und dem Aufschieben der Traumaarbeit

o Fördere die Entwicklung von mehr innerer und äußerer Unterstützung

o Unterstütze die verstärkte Teilnahme an Gruppen

o Ermutige den Patienten, mehr positive Beziehungen aufzubauen

In der äußerst wichtigen Konfrontationsphase, die allerdings häufig übersehen wird, geht es darum, die Ambivalenzen und Polaritäten aufzuzeigen, die wirksam sind, wenn man die Entscheidung in Betracht zieht, den Drogenkonsum teilweise oder ganz aufzugeben. Gefühle von Ambivalenz werden als zentrale Themen betrachtet, die zur Verleugnung der tatsächlich vorhandenen Probleme des Drogenmißbrauchs beitragen. Bleiben diese konfliktgeladenen Kräfte unerforscht, dann garantieren sie die Fortsetzung des Dogenkonsums (Khantzian, Halliday & McAuliffe, 1990; Khantzian, 1993; Schaeffer & Robbins, 1995). Aus Sicht des MPTP-Modells ist die Verleugnung dasjenige Mittel, mit Hilfe dessen der Süchtige versucht, seinen Drogenkonsum auch weiterhin zu sichern, wenn er die Gefahr sieht, daß die gewünschte Droge nicht mehr zugänglich sein könnte.

Frank wollte seinen Drogenkonsum aufgeben, aber er wollte weder seine Freunde verlieren, noch den »einzigen« Spaß, den er in seinem öden Leben hatte. Unfähig, »nein« zu sagen, ging er immer wieder an dieselben Orte, traf dieselben Kumpels und war anschließend total frustriert, weil er sich immer wieder auf die Drogen einließ. Frank meinte dann, »der Geist sei willig, aber das Fleisch sei schwach.«

Trotz dieser Frustrationen zeigte sich Franks Vertrauen in den Transformationsprozeß in seinen wiederholten Versuchen, neue Verhaltensweisen zu riskieren. Seine Aufgabe bestand darin, aktiv bestimmte sabotierende Gegensätze ausfindig zu machen, wodurch er lernte, über die Vor- und Nachteile zu sprechen, die das Aufgeben seiner besten Freunde - Alkohol und Drogen - mit sich bringen würde, oder aber einer zweideutig definierten Zukunft entgegenzugehen. Dieser Prozeß muß notwendig Gefühlszustände und rationale Überlegungen berücksichtigen, weil Entscheidungen im allgemeinen auf gedanklichen Überlegungen beruhen und relativ schnell getroffen werden können. Ausgewählte Verhaltens- und Handlungsweisen, in denen diese Entscheidungen dann umgesetzt werden, erfordern hingegen eine emotionale Unterstützung.

In dem Maße, wie Frank ein gesteigertes Gewahrsein gegensätzlicher Aspekte seinerselbst entwickelte, wurde das Ausmaß der widerstreitenden Kräfte seiner »verschiedenen Selbste« (Polster, 1995) (3) offenkundig. Obwohl der Unterschied zwischen den Eigenschaften eines Menschen und dem Konzept der verschiedenen Selbste manchmal nur sehr fein ist, sind diese verschiedenen Selbste von weitaus beständigerer Natur und tragen entscheidend zur Erhaltung der persönlichen Integrität bei (Polster, 1995). Frank experimentierte mit Rollenspielen, um sich mit gut-entwickelten und gegensätzlichen Selbsten vertraut zu machen, die seine Entscheidungen letztlich unterstützen oder sabotieren könnten. Er lernte z.B., daß er nicht imstande war, zwischen dem selbstzerstörerischen Trinker-Selbst und dem Kind-Selbst, das sich nach schmerzloser Freiheit, Spontaneität und Zuneigung sehnte, zu vermitteln. Stattdessen mußte er den Wert der beiden unabhängig voneinander erkennen, um dann ihre konflikthaften Eigenschaften als schonungslose, letztendlich aber auch zu bewältigende Konfliktquellen »zu ertragen«. Die Prozesse, die nötig waren, um diese Impass-Momente durchzuarbeiten, erforderten eine Reduzierung der Probleme auf kleinere, überschaubare Arbeitseinheiten, so daß sich die daraus resultierenden korrigierenden Erfahrungen so oft wie nötig wiederholen ließen, um emotional akzeptabel und fruchtbar werden zu können.

 

Phase 7: Anpassung/Entscheidung (Kontakt)

Therapeutische Ansätze und Ziele:

o Zeige dem Patienten, wie er sich Neues aneignen kann

o Hilf ihm, einen verbindlichen Handlungsplan zu entwickeln, der es ihm leichter macht, Entscheidungen zu treffen

o Lehre Toleranz und verschiedene Formen des Selbstausdrucks

o Unterstütze Entschlossenheit und den entschiedenen Umgang mit Schwierigkeiten

Bei dem Versuch, den Drogenkonsum zu reduzieren oder ganz aufzugeben, können vielerlei Schwierigkeiten auftreten.

Im Laufe ihrer Therapie entwickelte Susan das Bedürfnis, frühere Gewohnheiten im sozialen Umgang aufzugeben und ihren Alkoholkonsum drastisch einzuschränken. Sie beschloß, nur noch Samstagabends auszugehen, und dann auch nur zu guten Freunden - in der Hoffnung, bei ihnen Unterstützung und Ermutigung zu finden. Sie reduzierte ihren Alkoholkonsum auf ein Glas pro Abend und arbeitete darauf hin, auf alle anderen Drogen zu verzichten. Aber sie machte sich Sorgen darüber, wie sie den Rest der verbleibenden Zeit mit sinnvollen Aktivitäten füllen konnte. Auch ihr Bemühen, nach Unterstützung zu fragen, um mehr Möglichkeiten für sich zu entdecken, stellte eine echte Herausforderung für sie dar.

Trotzdem traf Susan die Entscheidung, ihren Alkoholkonsum zu reduzieren und sich an die notwendigen Veränderungen in ihrem Leben anzupassen. Verständlicherweise empfand sie die Erfahrung, in neuen sozialen Situationen auf sich selbst zu vertrauen, als beängstigend - selbst dann, wenn sie sich gut genug darauf vorbereitet hatte. Infolgedessen regredierte sie gelegentlich und erlebte sich selbst als unsicheres kleines Kind, was sie auch in ihrer Haltung zum Ausdruck brachte. Dies geschah zu einer Zeit, als es entscheidend darauf ankam, daß sie sich selbst traute und an sich ebenso glaubte, wie an andere bedeutsame Menschen in ihrem Leben. Viele Suchtspezialisten glauben, daß die emotionale Entwicklung mit dem Beginn des chronischen Drogenmißbrauchs aufhört (Alcoholics Anonymous, 1955; Jellineck, 1969; Valliant, 1983). Meine Erfahrung in der Arbeit mit Drogenabhängigen ist, daß die emotionale Entwicklung bereits sehr viel früher erheblich eingeschränkt wird, nämlich dann, wenn der emotionale Mißbrauch beginnt. Bei Susan lag dieser Punkt etwa im Alter von zwei Jahren, als der wiederholte Mißbrauch durch wichtige Bezugspersonen anfing und ihr Vertrauen in andere gebrochen wurde. Trotz ihrer nach wie vor eingeschränkten sozialen Fähigkeiten und ihrer nur spärlichen Erfahrungen im Aufbau von Beziehungen hielt sie an ihrer Entscheidung, den zwanghaften Mißbrauch zu reduzieren bzw. endgültig aufzugeben, fest. Diese Aufgabe erforderte einen detaillierten, aber flexiblen Handlungsplan, so daß ihr Rückzug von der Aussicht begleitet war, relative Erfolge zu erzielen. Das beinhaltete notwendigerweise auch die zeitliche Planung von Aktivitäten, die regelmäßige Teilnahme an gemeinschaftlichen Unterstützungsangeboten und den Vorsatz, genügend Zeit mit wichtigen anderen Menschen zu verbringen, um ein reiches Repertoire an vorher »getesteten« Alternativen zum Drogenkonsum zu entwickeln.

 

Phase 8: Demobilisierung: (Abwendung)

Therapeutische Ansätze und Ziele:

o Unterstütze die Normalisierung von Empfindungen wie Faszination und Überdruß gegenüber Vergangenem

o Ermutige zur Kräftigung innerer und äußerer Unterstützungssysteme

o Erforsche das Spektrum von emotional befriedigenden Alternativen zum Drogenkonsum

o Unterstütze das Gefühl des Verlustes eines wichtigen Lebensabschnitts

o Unterstütze den Umgang mit Symptomen und die Akzeptanz von Schmerz im Laufe des Prozesses

Während dieser Phase haben die Patienten häufig Schwierigkeiten, sich von vergangenen Erfahrungen abzuwenden, insbesondere dann, wenn ihre Geschichte viele traumatische Erlebnisse aufweist (Melnick & Nevis, 1992). Gewöhnlich geht dieser Loslösungsprozeß sowohl mit Gefühlen von Faszination als auch von Überdruß und Ekel gegenüber der eigenen Vergangenheit einher. In der weitverbreiteten Sorge: »Wenn ich meine Vergangenheit und meine Sucht hinter mir lasse - was bleibt dann noch von mir? Dann bin ich ein niemand!«, zeigt sich eine konfluente Haltung (Konfluenz beinhaltet ein Verschmelzen von Grenzen und die Unfähigkeit, Unterschiede etwa zwischen Gegenwart und Vergangenheit wahrzunehmen.). Aus solchen Themen speist sich die persönliche Identität solange, bis die Fülle, die aus der Gestaltung eines befriedigenderen Lebens erwächst, genügend Bedeutung gewonnen hat, um die Vergangenheit verblassen zu lassen.

Susan kam nach einer zweijährigen Pause wieder zur Therapie, nachdem sie spontan entschieden hatte, genügend Wissen und Gewahrsein gewonnen zu haben, um ein unabhängiges Leben zu führen. Sie war nicht in der Lage, ihre Ein-Glas-pro-Abend-Methode durchzuhalten und war wieder dazu übergegangen, den Alkohol zur Selbstmedikation einzusetzen, um sich zu betäuben, wenn Verwirrung und Schmerz unerträglich wurden. Hinzu kam, daß Susan nach wie vor von einer Mißbrauchsbeziehung in die nächste geriet. Sie kam wieder zur Therapie, um an ihre früheren Fortschritte anzuknüpfen und weiterzumachen. Aber sie fühlte sich auch entmutigt, weil es fast aussichtslos erschien, »es« zu schaffen.

Das Durchhaltevermögen und die guten Vorsätze sind in diesem frühen Rückzugsstadium noch sehr zerbrechlich. Angeregt und mit einem Gefühl von Lebendigkeit verließ Susan die Therapie und betrachtete sich als »geheilt«, weil sie ihren Drogenmißbrauch aufgab und ihre sicherlich beachtlichen Unterstützungssysteme für tragfähig genug hielt, um sie zu halten. Trotz beträchtlicher Vorbereitungen auf die möglichen problematischen Folgen, die der Verzicht auf Drogen mit sich bringen kann, hatte sie immer noch die irrige, ihrem kindlich-magischen Glauben entspringende Vorstellung, daß dieser Verzicht allein schon Heilung bedeute. Doch das Gegenteil ist der Fall. In dieser Phase ist die persönliche Transformation extrem verletzlich, und häufig werden hier mächtige unbewußte Entwicklungsdefizite, Sehnsüchte und unabgeschlossene Situationen zutage gefördert. Aber Susan wurde schon bald wieder abstinent und ging kraftvoller und weiser aus ihrem »Rückfall« hervor. Sie war fest entschlossen, sich mit drängenden unabgeschlossenen Situationen auseinanderzusetzen, sofern das ihre Fähigkeit, sich vom Kreislauf des Mißbrauchs abzuwenden, stärken würde.

 

Phase 9: Assimilation

Therapeutische Ansätze und Ziele:

o Unterstütze die Fähigkeit, den Verlust von Freunden und Situationen auszuhalten

o Arbeite an unabgeschlossenen Situationen

o Hilf dem Patienten, Gefühle zuzulassen und auszudrücken

o Unterstütze ihn, erlittene und selbst verübte Ungerechtigkeiten zu ertragen

o Unterstütze die Arbeit in kleinen therapeutischen Einheiten

o Hilf dem Patienten, sein Leiden als Wachstumspotential zu betrachten und anzuerkennen

Lebenserfahrungen können nur dann assimiliert werden, wenn die unabgeschlossenen Situationen der Vergangenheit erfolgreich durchgekaut, geschluckt und verdaut worden sind (Perls, 1969; Perls et al., 1991). Diese sehr mühsame Arbeit erfordert den Willen, sowohl die eigene als auch die Zerbrechlichkeit und Begrenztheit der anderen als die einzige Realität des Lebens »hinzunehmen, aber nicht notwendig auch zu akzeptieren« (Sonia Nevis, 1994, persönliche Mitteilung). Die Wahl einer neuen Lebensweise stellt eine Herausforderung an alte Gewohnheiten, Einstellungen, Werte, Verhaltensweisen und Glaubenssätze dar. Jeder Punkt muß zuerst in seiner Energie erschöpft sein, bevor man die Kraft hat, in die nächste Phase einzutreten (Melnick & Nevis, 1992). Während sie alleine und ohne familiäre Hilfe lebte, hatte Susan die Entscheidung getroffen, die Beziehungen zu ihren Eltern und Geschwistern zeitweilig zu unterbrechen, weil diese ihr nach wie vor als nicht zu bewältigende Kraft in ihrem Leben vorkamen. Sie wollte Orientierung und Hilfe, um ihre Beziehungen neu definieren und gestalten zu können und der Arbeit an den unabgeschlossenen Situationen und Traumata ihrer Kindheit, die sie immer noch plagten, Sinn und Bedeutung abzugewinnen.

Die Phase, in der unerledigte Situationen bearbeitet werden, erfordert eine offene Haltung gegenüber dem Neuen, das an der Kontaktgrenze auftaucht (Polster & Polster, 1983). Susan mußte Trauerarbeit darüber leisten, daß sie um eine »hinreichend gute« Kindheit betrogen worden war, über frühere Alkohol-Beziehungen und über die Hoffnung, daß sie ihre Angehörigen verändern könnte, »wenn sie nur ...«. Sie lernte, ihr Bedauern auszudrücken und das Leid zu sehen, das sie anderen zufügte, indem sie so verzweifelt lebte. Ebenso wie Probleme innerhalb der Beziehungen mit anderen entstehen, bedarf es auch der anderen, um sie zu lösen. Susan kam zu einer neuen Art der Wertschätzung für unsere therapeutische Beziehung, engagierte sich mehr in Gruppen und entwickelte ihren latenten Sinn für Ästhetik im Zeichnen, Schreiben, Tanzen, im Yoga und in der Musik. Später kam sie auch zu einer neuen Beurteilung ihrer Bereitschaft, kleinere oder größere Risiken einzugehen, um ihre ständig wechselnden Bedürfnisse nach Ruhe und Anregung zu befriedigen.

 

Phase 10: Begegnung mit der Leere

Therapeutische Ansätze und Ziele:

o Hilf bei der Entwicklung von Geduld und Mitgefühl für Gefühle der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit

o Erwäge den möglichen Einsatz von Medikamenten gegen Depressionen

o Erkunde das Potential für eine spirituelle Vertiefung

o Lerne die Wichtigkeit von Ich-Du-Beziehungen

Die schmerzvolle Erkenntnis auszuhalten, das man im Leben letztlich allein ist, dem Unbekannten mutig entgegentreten zu können und die innere Stärke zu entwickeln, das Unabänderliche zu tragen - all das gehört zu den wichtigsten Lektionen, die in dieser entscheidenden Phase der Begegnung mit der Leere gelernt werden müssen. Erving Polsters kryptische Formulierung »das Leben ist eine ultimative Angelegenheit, aus der niemand jemals lebend herausgekommen ist« (1989, persönliche Mitteilung), ist für viele zu einer »bedrückenden« Wirklichkeit geworden. Unglücklicherweise wird die in dieser Phase erforderliche Betrachtungsweise in unserer handlungsorientierten Gesellschaft nicht allgemein gefördert (Melnick & Nevis, 1992; Moore, 1992), und für diejenigen, die nach der Seele suchen, wirft sie besondere Probleme auf. Das Überspringen dieser für den Transformationsprozeß entscheidenden Behandlungsphase birgt die Gefahr der Verführung zur Selbstmedikation.

Sowohl Frank als auch Susan erlebten und stellten sich ihrer existentiellen Leere nur mit großen Schwierigkeiten. Susan verlobte sich und wurde schwanger. Nachdem ihr Verlobter die Verlobung gelöst hatte, weil sie sich weigerte, das Kind abzutreiben, war sie allein, fiel in eine tiefe Depression und ging für kurze Zeit in eine Klinik. Frank flüchtete sich in die Erkundung dessen, was er als »transpersonale Philosophie« bezeichnete und versuchte, diese in sein Leben zu integrieren. Die extreme Art dieser Auseinandersetzung veränderte seine Wahrnehmung nachhaltig und reduzierte sein persönliches Verantwortungsbewußtsein im alltäglichen Leben. Schließlich wurde er rückfällig. Dennoch, als sie innerhalb der unterstützenden Umgebung der therapeutischen Beziehung ihre »dunkle Nacht der Seele« (Moore, 1992) erlebten, erholten sich beide relativ schnell und entdeckten von neuem die Fähigkeiten und Beziehungen, die sie bereits entwickelt (wenn auch kurzfristig vergessen) hatten, und die ihnen halfen, die schweren Zeiten durchzustehen.

Erst nachdem sie ihre jeweiligen Qualen durchlebt hatten, waren die beiden in der Lage, wirklich zu begreifen, was es für sie hieß, ein geistiges Wesen zu sein. Beide machten weiterhin Therapie und lernten zu spielen, zu lachen und zu lieben. Bei beiden zeigte sich die Unverwüstlichkeit des menschlichen Geistes und seine Fähigkeit, alles zu transzendieren, selbst wenn die Persönlichkeit durch die Erfahrungen des Lebens auf die eine oder andere Weise verkrüppelt zu sein scheint. Frank und Susan entwickelten genügend persönliche Stärke, um die grundlegenden Wahrheiten eines unberechenbaren Lebens aufrichtig anzunehmen. Wie Polster es ausdrückt: »Was ist, ist, und ein Ding folgt immer dem nächsten« (1989, persönliche Mitteilung). Beide entdeckten, daß sie - wie jeder andere auch - in der Lage sind, mit Gewahrsein und lebendiger Offenheit am Leben teilzuhaben.

 

Phase 11: Anerkennung / Wertschätzung / Transformation

Therapeutische Ansätze und Ziele:

o Zeige dem Patienten, den Unterschied zwischen dem, was ist und dem, was war wahrzunehmen

o Betrachte Leben, Sein und Handeln als Prozeß

o Erkenne die Transformation und die Entfaltung des Lebens an

o Zelebriere die Transformation

Die Anerkennung der persönlichen Transformation wird zur Wertschätzung einer gut gelösten Aufgabe. Selbst bleibende Auseinandersetzungen mit den Begrenzungen des Selbst und den Beziehung zu anderen können als Bereicherung erlebt werden. Das sind die Aufgaben und Kennzeichen dieser letzten Phase des Transformationskreislaufs.

Nach fünf Jahren Therapie hatte Susan aufgehört, in die Welt der Drogen und der Prostitution zu flüchten. Sie besuchte wieder die Universität, um einen Abschluß in Psychologie zu machen, wo sie ihren Schwerpunkt auf die Behandlung von Drogenmißbrauch gelegt hatte (nach Matzko, 1991 ein sehr verbreitetes Phänomen), und fühlte sich wohl in ihrer Beziehung mit einer anderen Frau. Sie lernte, mit den Unzulänglichkeiten ihrer Familienangehörigen zu leben und konnte es zulassen, von ihnen auf ihre Art geliebt zu werden. Obwohl Susan die Therapie bei mir beendet hatte, fragte sie, ob sie wiederkommen könne, »nur für den Fall, daß ich es brauche.«

Franks Therapie dauerte - mit Unterbrechungen - insgesamt sechs Jahre. Er baute sein Geschäft neu auf und bekam schließlich das Sorgerecht für zwei seiner Kinder. In seiner Freizeit engagierte er sich ehrenamtlich in einem Drogenpräventionsprogramm für Jugendliche, wo er sein musikalisches Talent nutzte, um seine Botschaft in Wort und Musik auszudrücken. Sein Bedürfnis nach Stimulation befriedigt er jetzt durch Klettern und Bergsteigen. Er hätte es »mir zu gerne beigebracht« und wagte die Wette, daß ich langsamer lernen würde als er.

Auf unserer gemeinsamen therapeutischen Reise vom lebenslangen Leiden hin zu einem ausdauernden Leben lernten Frank und Susan, daß Glück kein illusorisches Ziel ist, dem man um jeden Preis hinterherjagen muß, sondern daß das Gewahrsein und das bewußte Erleben der kostbaren Momente des Lebens ein »gelegentlicher Bonus« (Miriam Polster, 1991, persönliche Mitteilung) dafür ist, daß man das Leben so lebt, wie es ist.

a total stranger one black day

knocked living the hell out of me -

who found forgiveness hard because

my (as it happened) self he was

- but now that fiend and i are such

immortal friends the other's each

e.e.cummings

Schluß

In diesem Aufsatz wurde ein kurzer Überblick über das Modell eines mehrphasigen Transformationsprozesses für die Suchtbehandlung gegeben und ein nicht wertender, sondern stärkender und ganzheitlicher Behandlungsansatz für Suchterkrankungen aus gestalttherapeutischer Sicht vorgestellt. Dabei diente der Zyklus des Erlebens als Metapher und grundlegende theoretische Orientierung, aus der die MPTP-Perspektive entwickelt wurde. Diese Sichtweise berücksichtigt die vor der Sucht liegenden Funktionen als Behandlungsindikatoren und als am eigentlichen Suchtprozeß beteiligte Faktoren. Gleichzeitig ermöglicht sie das In-Erscheinung-Treten von Aspekten der individuellen Fähigkeit und Bereitschaft zum Behandlungsgeschehen selbst.

Jedes dieser Elemente unterstützt und verstärkt den schließlich stattfindenden Transformationsprozeß aus der schwierigen Vergangenheit und der gestörten Lebensweise des einzelnen zu einem gesunden Leben.

 

Anmerkungen

(1) Der Zyklus des Erlebens ist eine Ausarbeitung der Cleveland-Schule auf der Grundlage des Perls'schen Modells der Bedürfnisbefriedigung, das in Das Ich, der Hunger und die Aggression (1991) vorgestellt wird. In Perls et al. (1991) definiert Goodman vier Phasen für den Ablauf des Kontaktprozesses: Vorkontakt, Kontaktnahme, Kontaktvollzug und Nachkontakt (Grundlagenband, S. 196-212). Eine weitere Interpretation des Perls'schen Modells findet sich in Gestalttherapie. Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie von E. & M. Polster (1983) unter dem Titel »Kontaktepisoden« (S. 163-193).

(2) Normalerweise werden Interesse und Energiemobilisierung innerhalb des Zyklus des Erlebens als ein Aspekt des gesamten Prozesses betrachtet. In der Arbeit mit Süchtigen ist es jedoch hilfreich, den Zyklus in kleinere Einheiten zu unterteilen. Im Kontext des Heilungsprozesses geht die Erregung (Interesse) der Fähigkeit des Patienten voraus, genügend Energie und Motivation aufzubauen, um handeln zu können.

(3) Für eine genauere Ausführung der Entwicklung der Konzepte des »eigentlichen Selbst« und seiner »verschiedenen Aspekte« siehe Polster (1995). Diese Konzepte sind besonders wichtig bei der Behandlung von Suchtpatienten. Negative Charaktereigenschaften werden häufig als Indikatoren für eine »Alkoholikerpersönlichkeit« betrachtet. Diese Annahme hält einer genaueren Untersuchung jedoch nicht stand. Dennoch sind solche Aspekte tiefer in der Persönlichkeit verankert als bloße Eigenschaften (z.B. ein Alkoholiker-Selbst). In der Therapie können ihre innere Funktion und Komplexität als Teil des gesamten Selbst entwickelt werden.

 

Literatur

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Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

Zu Beitrag und Person:

Helga M. Genannt Matzko, M.A.

arbeitet als Gestalttherapeutin in privater Praxis und ist Gründerin und Leiterin des Gestalt Therapy Training Center auf Rhode Island/USA.Gestalttherapie-Ausbildung bei Lore Perls, Erving und Miriam Polster, Sonia Nevis und Joseph Zinker.Graduierung als Paar- und Familientherapeutin und als Suchttherapeutin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Praxis der Suchttherapie. Internationale Lehrtätigkeit in den Bereichen Gestalttherapie, Traumabehandlung, Familientherapie und der Psychotherapie von Abhängigkeit. Dabei ist der von ihr entwickelte und in diesem Beitrag vorgestelle Ansatz einer gestalttherapeutischen Behandlung von Suchterkrankungen besonders hervorzuheben.

Der vorliegende Beitrag ist zuerst erschienen in der amerikanischen Zeitschrift "Gestalt Review", herausgegeben von Joseph Melnick, PhD.:

Vol. 1, No. 1, 1997
© The Analytic Press, Hillsdale/New York

Wir danken dem Herausgeber und dem Verlag für die freundliche Genehmigung der deutschen Erstübersetzung.

Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg.

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